von Johann Wolfgang von Goethe

March 28, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Faus t1+11 von Johann Wolfgang von Goethe

Faust I+II von Johann Wolfgang von Goethe

Es waren besondere Umstände, unter denen diese Inszenierung von Faust I+II entstanden ist: Ein Jahr lang haben wir den Faust-Stoff mit uns herumgetragen, wenngleich die konkrete gemeinsame Probenzeit von insgesamt viereinhalb Monaten kaum länger war, als auch üblicherweise bei zwei Produktionszeiträumen für zwei Stücke vorgesehen ist. Im August 2010 haben wir unsere Arbeit begonnen, um am Ende dieser ersten Phase der Auseinandersetzung, am 23. Oktober 2010, in Hamburg eine Probe für Publikum zu öffnen, wie wir es dann – nach erneuten Proben von Mitte April an – am 16. Juni 2011 abermals taten. Zu Beginn der zweiten Probenphase, die zeitlich mit dem endgültigen Abschluss der Arbeit an „Faust I“ hätte zusammenfallen sollen – was natürlich nicht eintraf, wirkten doch die Erkenntnisse der Erarbeitung des zweiten in die Betrachtung des ersten Teils fort –, hatte ich eine Vortragsreihe organisiert: Nachdem uns der Physiker Gerhard Mack bereits im Sommer zuvor den „Faust“ naturwissenschaftlich zu lesen aufgezeigt hatte, reisten nun der Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger, der Kulturhistoriker und Jurist Manfred Osten, der Philosoph Gernot Böhme und der Sexualwissenschaftler Erwin J. Haeberle aus St. Gallen, Bonn, Darmstadt und Berlin an, um uns, kleiner Schar am Hamburger Thalia Theater, aus ihren je eigenen disziplinären Blickwinkeln den Faust zu erläutern. Die Begegnung mit den Experten – und durch sie die frappierend deutliche Bestätigung unserer Ahnung, in Goethes Faust die exemplarische Fortschrittstragödie des modernen Menschen zu erkennen – war für uns nachhaltig bereichernd. Wie viel Freude es machte, sich Faust heute intellektuell zu erobern – und um wie viel spannender es vielleicht sogar zunächst ist, „über ihn zu reden, als ihn konkret zu inszenieren“, wie Regisseur Nicolas Stemann im anschließenden Gespräch über die Inszenierung augenzwinkernd bemerkt –, daran wollen wir Sie teilhaben lassen. In diesem Programmbuch finden Sie sämtliche Vorträge abgedruckt, auch wenn ich mir gewünscht hätte, Ihnen die nicht minder erkenntnisfördernde Theatralität der gehaltenen Vorträge sinnlich adäquater zu vermitteln. Goethe, im Übrigen, befürchtete angesichts der formal wie inhaltlich avantgardistischen, man könnte sogar sagen, der postmodernen Uferlosigkeit des zweiten Teils von Faust, dass dieser genau dies bleiben müsste: nämlich gedrucktes Wort. Und es ist tatsächlich auch eine ungeheuerlich unmögliche Reise, auf die Goethe sich mit seinem, im doppelten Sinn, „Lebensprojekt Faust“, begibt: Der Tragödie erster Teil Faust will des Denkens Faden zerreißen: Stets war er Geistesmensch gewesen, er hatte ergründen wollen, was „die Welt im Innersten zusammen-

hält“, doch dieses Leben genügt ihm nicht mehr. Er, der hochbegabte, weise, rast- und ruhelose Mann, der wirkungs- und erfahrungsmächtig ist von vornherein, will nun allmächtig werden. Immer drastischer werden seine Bemühungen, sein inneres Gefängnis zu sprengen – schließlich tragen ihn Teufelsschwingen über sich selbst hinaus und in die Welt hinein. Diese „kleine Welt“, in die Mephisto den Faust führt, ist vor allem die Welt Gretchens. Ein Zaubertrank lässt ihn „Helenen in jedem Weibe“ erkennen. Alles drängt ihn nun zu diesem jungen Mädchen, kaum dass er es erblickt. Berauscht von unbekannten Gefühlen – von sich selbst –, will er Gretchen unbedingt besitzen. Faust hat Gretchen erobert – und damit ihr Unglück besiegelt. Ohnmächtig angesichts ihres Elends, fällt er in tiefen, seine Schuldgefühle jedoch wundersam verdrängenden Schlaf: Nun steht ihm auch die „große Welt“ offen.

im Außergewöhnlichen lebendig gespiegelt fühlt, lebt nun mit der Griechin Helena auf seiner mittelalterlichen Burg. Doch auch ihr gemeinsames Kind, Euphorion, möchte sich mit der Welt, wie sie ist, nicht begnügen: Es will höher hinaus – und stürzt schließlich, die Flügel versengt, in den Tod. Helena stirbt aus Trauer darüber. Vierter Akt Die Trauer um die verlorene Helena versucht Faust zu überwinden, indem er sich in neue Projekte stürzt. Er will an der Küste Land gewinnen, Eigentum erstrebt er, Weltbesitz. Da kommt ein Krieg gerade recht. Denn im Kaiserreich hat das viele neue Geld nur vorübergehend für Frieden im Land gesorgt. Es wurde – ohne dass ihm je eine Gegenleistung, ein Gegenwert entsprochen hätte – verprasst; erneut verfällt das Reich der Häresie. Obwohl der Kaiser revolutionäre Umtriebe blutig niederschlägt, halten die Aufstände an. Faust und Mephisto lassen sich in den Söldnerdienst des Kaisers nehmen.

Der Tragödie zweiter Teil Erster Akt Eines Kaisers Reich ist in der Krise. Ein jeder klagt, ist nur sich selbst der nächste; jeder Moral hat man sich entledigt, vor allem aber fehlt es an Geld. Mephisto, der sich am Kaiserhof als Narr eingeschlichen hat, weiß Rat: Im Handumdrehen schafft er wertvolles Papier, dessen Gegenwert im Boden als Gold vergraben liegen soll. Das Volk will dies gern glauben. Um auch die letzten Zweifel darüber zu vernebeln, feiern sie Mummenschanz. Und tatsächlich: Alsbald verbreitet sich im ganzen Land das neue Geld. Nun wünscht der Kaiser noch mehr: Helena, die schönste Frau, und Paris, der schönste Mann, sollen ihm erscheinen. Und dies geschieht. Auch Faust ist berückt von Helena. Bei dem Versuch sie zu ergreifen, verkennt er ihren illusorischen Charakter und fällt erneut in Ohnmacht. Zweiter Akt Auf der Suche nach Heilung für den ohnmächtigen Faust ist Mephisto in die enge Studierstube des Gelehrten Faust zurückgekehrt. Er trifft dort auf den ehemaligen Famulus Wagner, der Fausts Dienst übernommen hat und den Wissenschaftler von einst in seinem experimentellen Forschungsdrang noch übertrifft: Er ist im Begriff, einen künstlichen Menschen zu erzeugen. Diesem Homunculus aber ist ein Konstruktionsfehler zueigen: Er besitzt keinen Körper. Doch Homunculus begehrt, auch wahrhaft physisch zu entstehen. Da Wagner sich darum nicht bekümmert, macht er sich auf in griechische, chaotisch archaische Vorzeiten, um seinen Daseinsgrund und seine Daseinsmöglichkeit zu erfahren. Mephisto und der träumende Faust folgen ihm, ist Homunculus doch zugleich das Medium, um zu Helena zu gelangen. Dritter Akt Mephisto hat Helena dem Faust zugeführt; jedes erpresserische, selbst lebensbedrohende Mittel war ihm dazu recht. Faust, der sich nur

Fünfter Akt Ein Küstenstreifen ist Fausts und Mephistos Kriegslohn. Um das Ufergebiet urban zu machen, werden Arbeiter herbeigeschafft, die Dämme bauen. Das untätige Einerlei von Ebbe und Flut empört Faust! Auch die heimische Bevölkerung wird umgesiedelt, notfalls, so wie es Philemon und Baucis widerfährt, mit Gewalt. Faust, blind vor Tätigkeitswut, strebt dem höchsten ihm denkbaren Augenblick entgegen – und stirbt: Das Klirren der Spaten, von denen er glaubte, sie würden seine schöne neue Welt bauen, galt lediglich der Aushebung seines Grabes. Nun ist Mephisto im Besitz von Fausts Seele. Gegen die himmlischen Heerscharen aber wird er sie nicht verteidigen können. Dieses Jenseits ist – trotz allem – auf Erlösung aus.

Goethes Drang, das Geschick des Menschengeschlechts allumfassend in einem Werk zu bannen, ist wahrlich ein faustischer Akt. Auch Goethe wird, angesichts dieses wahnhaften Vorhabens, angesichts der Maßlosigkeit seines Anspruchs, immer wieder Ohnmacht empfunden haben vor dem Gefühl des Nichts-in-der-Hand-Habens. Das Wissen, das fragmentarisch bleiben muss, weil es eben von dieser Beschaffenheit ist: das Menschenleben, wird ihn nicht versöhnt haben. Er wollte es ganz erfassen und in Besitz nehmen! Und natürlich ersehnte er – am Ende seines Lebens und im Vollbesitz seiner geistigen und zur Mahnung neigenden Kräfte –, dass der gesamte Faust schließlich sinnliches Theater werden und nicht bloß gedrucktes Wort bleiben würde. Vielleicht ist gerade unsere Zeit genau die richtige für dieses unmögliche, angeblich nicht aufführbare FaustTheater Goethes: ein Theater und eine Zeit, die nicht vorgeben, alles zu wissen, und die ihre Befreiung eigentlich darin erkennen müssten, das eine Einzige, das Ausschließliche gar nicht erst zu erstreben. BvB

Faust I+II von Johann Wolfgang von Goethe Es spielen Faust I Philipp Hochmair Sebastian Rudolph Patrycia Ziolkowska Faust II Philipp Hochmair Barbara Nüsse Josef Ostendorf Sebastian Rudolph Birte Schnöink Patrycia Ziolkowska Gesang Friederike Harmsen Tanz Franz Rogowski / Andy Zondlag Puppenspiel, Zeichnungen Felix Loycke (Faust II) Musik Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Burkhard Niggemeier / Sven Kaiser Sängerknabe Malcolm Johst / Esra Pereira Köster / Lasse Oswald (Hamburger Knabenchor St. Nikolai) Statisterie Sebastian Brühl, Mark Fröder, Henrik Giese, Erik Liedtke, Martin Torke, Dominik Velz Regie Nicolas Stemann Bühne Thomas Dreißigacker, Nicolas Stemann Kostüme Marysol del Castillo Musik Thomas Kürstner, Sebastian Vogel Video Claudia Lehmann Videomitarbeit, Live-Kamera Eike Zuleeg Puppen Das Helmi (Florian Loycke, Felix Loycke) Choreografie Franz Rogowski Korrepetition, Arrangements Burkhard Niggemeier, Sven Kaiser Dramaturgie Benjamin von Blomberg Licht Paulus Vogt Tonmeister Nourdin Ghanem, Wilfried Herdejürgen, Mattef Kuhlmey

Regieassistenz Susanne Schwarz Bühnenbildassistenz Julia Bau, Kai Cassuben Kostümassistenz Julia Bau, Anika Marquardt Videoassistenz Hanna Linn Wiegel Inspizienz André Saunier Souffleuse Antje Kreusch Regiehospitanz Anna Pieper, Rabea Schubert, Katharina Wolff; Theresa Kost Bühnenbildhospitanz Ann-Katrin Eckert, Maria Moser Kostümhospitanz Marie-Jo Albrecht, Hanni Antrack, Stephanie Forstner, Lisa Laackmann Dramaturgiehospitanz Melmun Bajarchuu, Thomas Polajner Maske Julia Wilms Kostümwerkstätten Ann-Katrin Mohr Gewandmeister/innen Christian Pursch, Susanne Dohrn, Beate Dünnwald Ton Ullrich Hübener Requisite Ralf Gebert; Kornelia Kokott, Annika Schickerling, Daniela Hagenah Bühnentechnik Detlef Kokott Beleuchtungseinrichtung Olaf Stammerjohann Sounddesigner Nourdin Ghanem Tontechnik Hanns Clasen Videotechnik Hanna Linn Wiegel, Markward Scheck Werkstättenleitung Thomas Mundt Malsaal Marten Voigt Tischlerei Peter Bruns Schlosserei Peter Büttner Tapeziererei Michael Breiholz Kostümmalerei Klaudia Noltensmeyer Produktionsleitung Thoralf Kunze Technische Konzeption Andreas Dietz Technische Direktion Uwe Barkhahn, Oliver Canis Aufführungsdauer Faust I 3 Stunden Aufführungsdauer Faust II 4:15 Stunden, inkl. 2 Pausen Aufführungsdauer Faust I+II 8:15 Stunden, inkl. 3 Pausen (1. Pause nach Faust I: 1 Stunde, 2. Pause nach Faust II / zweiter Akt: 20 Minuten; 3. Pause nach Faust II / dritter Akt: 20 Minuten) Premiere Salzburger Festspiele 28. Juli 2011, Perner Insel Hallein Premiere Hamburg 30. September 2011, Thalia Theater Koproduktion mit den Salzburger Festspielen

Zur Ges paltenhe it ve rurt eilt Der Regisseur Nicolas Stemann und der Dramaturg Benjamin von Blomberg im Gespräch über die Inszenierung von Johann Wolfgang von Goethes Faust I+II

13 Benjamin von Blomberg: Stimmt meine Beobachtung: Ihre letzten Arbeiten dokumentieren ein entschiedenes Ausloten der Grenzen des Theaters, letztlich Ihres eigenen Theaterverständnisses. Eine Produktion wie „12 letzte Lieder“, kürzlich am Deutschen Theater in Berlin entstanden, hat diese Bewegung sogar programmatisch zum Anlass genommen: „Aufhören! Schluss jetzt!“, hieß es da im Titel. Dieses Aufhören könnte man auch als ein Anfangen beschreiben – Sie treten als Autor in Erscheinung, als Musiker und als Akteur, wie in Ihrem Jelinek-Happening „Die Kontrakte des Kaufmanns“. Und jetzt kommt „Faust“ um die Ecke, das Theaterstück schlechthin. Eine Rückbesinnung? Nicolas Stemann Also erst einmal: Theater ist das ja alles. Die Erweiterung des Begriffes von Theater und damit auch von Regieführen bzw. die Frage, was das eigentlich sein soll – all das beschäftigt mich, seitdem ich über dieses Medium nachdenke. Mich reizt das Spannungsfeld, dem Genre auf eine Art gerecht zu werden und dennoch störende, auch zersetzende Impulse wie etwa – „Was ist das denn eigentlich für ein Genre? Ist es relevant? Ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Gedanken, Ideen und Literatur darin eigentlich wirklich möglich? Vor allem: Ist Kunst möglich?“ – nicht zu deckeln, sondern sie im Gegenteil produktiv werden zu lassen. Komischerweise hat diese Art von Hader aber für mich nie dazu geführt, dass ich es sein lasse, sondern immer nur dazu, dass ich weitermache. Mein Weg dabei ist, die Form auszuweiten oder eine zu suchen, die meine Zweifel widerspiegelt. Es ist eine Bewegung raus aus dem Theater, die dazu führt, dass ich Theater mache. Ich glaube, ich bin zu dieser Gespaltenheit verurteilt. Und wenn schon „gespalten“, dann so richtig? Ab ins Gefängnis, ich mache Faust … … DEN deutschen Klassiker … … und natürlich Faust I UND Faust II! Letztlich geht es mir ja immer darum, wie ich mit diesem Medium Theater, das voller Forderungen und Konventionen ist, zu einer Freiheit gelange, um die Energien und Räume jenseits davon zu berühren. Und hierzu verhilft erfahrungsgemäß ein Textgegenstand, dem eine unzweifelhafte Größe innewohnt; auch eine ausufernde Form ist da eher zuträglich. Mir scheint in diesem Sinne Faust II sehr passend zu sein. Den ersten Teil alleine hätte ich nicht inszeniert, denn da kann ich mir

14 ungefähr vorstellen, dass und wie das gehen kann. Der zweite Teil jedoch ist das Rätsel, und das wurde vor allem auch inszenatorisch bislang nicht annähernd gelöst! Das liegt wahrscheinlich am Stück, nicht am Theater. Selbst Peter Steins im Grunde wackerer Versuch der Art: „Ich spiele den Text ohne Striche und guck mal, was da so drin steht“, ist ja eher als gescheitert anzusehen. Ein wucherndes Textkonglomerat in einen Theaterrahmen zu zwingen, als ließe es sich tatsächlich von ihm einfassen, ist nicht die Lösung. Auf diese Weise wurden weder luzide Gedanken noch deren Nachvollzug freigesetzt, es war konventionelles Theater mit einem unkonventionellen Text. Und das wird Faust II einfach nicht gerecht. Goethe hat zeitlebens immer wieder an Faust gearbeitet, in den letzten zwei, drei Lebensjahren mit dem Zeitdruck einer ultimativen Deadline, dem eigenen Tod. Er hat mit der Zeit um die Wette geschrieben: Er schreibt noch einmal alles auf, was er schon immer schreiben, unbedingt noch einmal sagen wollte, all das, was ihm – wie es in diesem berühmten Zitat heißt – durch „die Birne rauscht“. Er hat keine Zeit mehr, nein, er hat auch keine Lust mehr, auf Form zu achten. Und er weiß, dass dieser Bastard auf Unverständnis stoßen wird, aber das ist ihm egal! Es ist ihm egal, ob das verstanden, ob das aufgeführt wird, ob das überhaupt aufführbar ist. Ich habe den Eindruck, er hat auch eine diebische Freude daran gehabt, der Nachwelt diese unlösbare Rätselaufgabe zu hinterlassen. Auf jeden Fall hat man mit Faust I im Grunde formal das „well-made-play“ vorliegen … … und das auf irgendeine Avantgarde der Zukunft weisende seltsame Textkonglomerat Faust II. Das aber auf eine krude, auch zum Teil missglückte Art viel zu viel ist. Ja, man kann es zwar sicher nicht als schlechtes Stück abtun, aber in diesen – wie viele sind es eigentlich? – 12.180 Versen steckt auch viel heiße Luft. Vieles wird, so scheint mir, nur dadurch zusammengehalten, dass es sich reimt! Vielleicht hat Goethe nicht mehr die Kraft und auch nicht mehr die Zeit gehabt, das, was er schreiben wollte, theatralischdramaturgisch auf den Punkt zu bringen. Und er hat das auch gemerkt, dann aber die Flucht nach vorne angetreten: „Den Rest überlasse ich der Nachwelt, weil ich Goethe bin und es gar nicht nötig habe, mich ins Bockshorn jagen zu lassen!“ Beim Proben habe ich manchmal schon den Eindruck, dass wir vom großen Genie Goethe ein bisschen verarscht

15 werden. Denn es ist wahrscheinlich interessanter, über das Stück zu reden, als es konkret zu inszenieren! Da lässt es einen oft sehr allein. Inwieweit das jetzt aber eine Schwäche ist oder vielleicht auch – ähnlich wie das manchmal mit den Texten von Elfriede Jelinek der Fall ist – eine Herausforderung für das Theater, das wird sich zeigen. Sicher ist, Goethe hat sich irgendwann entschieden, keine Rücksicht mehr auf die praktischen Gegebenheiten des Theaters zu nehmen. Dazu gehört auch Timing, Erkennbarkeit – und irgendwie auch eine Art von Restkommunikation mit dem Zuschauer. Wir haben aber gar keine andere Chance, als das als etwas Positives zu begreifen! Eine unmögliche Frage, ich weiß, aber: Gibt es – natürlich in verdichteter Form – eine inhaltliche Spur, die Sie, bei aller Differenziertheit der Einzelaspekte, beim Inszenieren von Faust anleitet? Wie Sie wissen, bemühe ich mich gerade beim Inszenieren darum, erst einmal jede Thesenhuberei zu verhindern. Um die Autonomie des Werks zu wahren, darf man ein im Entstehen begriffenes und doch vielleicht sehr lebendiges Verhältnis zu so einem Text nicht von vornherein mit den eigenen, kleinen Gedanken pointieren! Aber natürlich gibt es eine Lesart, die sich uns heute aufdrängt. Über viele Jahrzehnte, gar Jahrhunderte hindurch, wurde Faust stets als ungebrochen positive Figur betrachtet, als der „faustische Mensch“, der vorwärts strebt, schafft und Erkenntnis gewinnt, vielleicht so ein bisschen mit dem Teufel im Bunde ist, aber doch immer unter dem Vorzeichen des „ewig strebend sich Bemühens“. Heute stellt sich das schon sehr anders dar: Die Erfahrung des beginnenden 21. Jahrhunderts ist, dass, weil keine Grenze uneinnehmbar ist, die Grenzen gerade deshalb oft zu wahren sind. Es gibt Opfer – Kollateralschäden – des ewigen Fortschreitens! Und Faust schaut nicht zurück, er sieht die Leichen nicht, taxiert nicht den Preis für seine Weltneuschöpfung. Er umreißt: Was brauche ich? Was braucht mein Streben? Und das, was ihm dabei im Wege steht, wird zur Seite gefegt. Am Anfang ist es das Schicksal Gretchens – das ist natürlich tragisch und wird auch von Faust als tragisch erlebt. Er fühlt sich dafür auch ein wenig schuldig. Gleich zu Beginn des zweiten Teils aber wird deutlich: Er kann sich darüber hinweg setzen. Ein paar Naturgeister löschen das Trauma der „kleinen“ Welt – und: auf in die große! Dort erlebt er – nach dem Drama der Liebe – diverse andere Dramen: das Drama der Wirtschaft, das Drama der Erzeugung eines künstlichen Menschen – Homunculus, der arme depressive Tropf mit genetischem Geburtsfehler –, die Helena-

16 Tragödie – worin Faust die schönste Frau aller Zeiten besitzen will, indem er sie in seine Kultur zerrt, was natürlich schiefgeht – und schließlich das Drama des Weltbesitzes im 4. und 5. Akt, worin mit kriegerisch-imperialen Mitteln ein Stück Meer gewonnen wird, um es urban zu machen. Dass diese Landgewinnung in eine ökologische Katastrophe führt – obwohl Faust dabei das Leben einer zukünftigen glücklichen Menschengeneration imaginiert! –, die die Menschen auslöscht, deutet Goethe nicht bloß an: Der blinde Faust hört das Spatenklirren und meint, Land würde geschaffen, Kanäle würden errichtet, in Wirklichkeit aber wird sein eigenes Grab geschaufelt. Bezeichnenderweise sind es auch keine Menschen, die die Spaten führen, sondern Lemuren, zombiehafte Kreaturen. Goethe ist hier schonungslos, geradezu sarkastisch. Es gibt eine gegenläufige Energie zu diesem Fortschrittstreibenden des Faust, ein Innehalten, Verzweifeln, etwas Depressives. Auch hierin ist Faust modern, im Auf und Ab des Manischen: das Gott-sein-Wollen, der aus sich selbst heraus eine ganze Welt erschafft, und das Fühlen der eigenen Unzulänglichkeit und Einsamkeit. Zu Beginn der Tragödie begegnet uns Faust als einer, der in der Depression gefangen ist. Aus ihr will er ausbrechen. Er hat nicht so sehr ein erkenntnistheoretisches, sondern vielmehr ein emotionales Problem: Ihm fehlt schlicht die Geduld! Aber vor allem sind ihm die Welt und ihre moralischen Grenzen zu eng. Ihn bremst der Zwang, sich den Vorgaben dieser Welt anzupassen. Das Treffen mit Mephisto verhilft ihm denn auch nicht zu einem: „Nun weiß ich alles“, sondern zu einem: „Jetzt ist mir mal wurscht, ob ich was weiß oder nicht. Ich muss mich nicht mehr strebend bemühen, ich muss nicht mehr nach den vorgegebenen Regeln handeln: Ich kann mir meine eigenen Regeln machen! Mein persönliches Wohlbefinden sei meine moralische Richtschnur!“ Sein Ausgangspunkt ist ein depressiver Zustand. Und, ja – wenn man in dieser Beschreibungsterminologie bleibt –, er gerät zusehends in manische Zustände, aus denen er allerdings immer wieder auftaucht: um sich dann erneut bedingungslos dem Bewusstseinsund Körperrausch zu überlassen. Weshalb erschien Ihnen, angesichts dieser inhaltlichen Implikationen, das Monologisieren als der angemessene theatrale Ausdruck für Faust? Wir lesen das ganze Stück als einen inneren Monolog. Der Schritt in die Moderne, der sich ja letzten Endes in den Dramen Goethes und Schillers spiegelt, ist ein Schritt der Selbstermächtigung des Individuums. Laut,

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18 selbstbewusst, die Welt eigenständig ermessen wollend sagt dieses Individuum: „Ich“! Und der Monolog bedeutet in aller radikalen Konsequenz: EIN Mensch ist auf der Bühne. Das ist einerseits – sinnlich – karg: ein Mensch auf einer meist leeren Bühne, der ein Stück herstellt, in dem es am Anfang auch noch heißt, „schont mir die Prospekte und die Maschinen nicht“. Das muss alles der arme Schauspieler alleine machen, aber so ist das halt mit dem Menschen in der Moderne! Andererseits aber gibt es ein ganzes Instrumentarium von Bühnenmitteln bis hin zu Puppenspielern, Sängern und Tänzern. Hier das Karge, fast Minimalistische des einzelnen Schauspielers, dort eine überbordende Kunst-Musik-Energie-Maschine, die das Ganze auf eine überfordernde Art zum Explodieren bringen kann. Wie kommuniziert denn ein Monologisierer mit der Außenwelt? Eine direkte Kommunikation kann sich nur mit den Stimmen ereignen, die in einem selbst sind und die man selbst auch ausagieren muss. Um eben diese Ich-Erweiterung geht es Faust. Er will endlich in die Welt hinein ragen. Wenn nun ein Spieler auf der Bühne ist, der nicht nur den inneren Monolog einer Figur spricht, sondern einen Dialog von zwei bis – wie viele sind das im Höchstfall? – 205 Figuren in Faust II, dann liegt in diesem Vorgang neben der Anmaßung, der Hybris, auch eine überaus konkrete Einsamkeit. Der Einzelne lädt sich das ganze Gewicht der Welt auf die Schultern und sagt: „Ich bin mir selbst genug als Welt“. Auf diese Weise kommt er nicht mehr dazu, mit den anderen Welten, die die anderen Figuren ja in Form von Monologen darstellen, in Kontakt zu treten. In Faust I sind es drei Monologe, drei Stimmen … … die man auch den Figuren Faust, Mephisto und Gretchen zuordnen kann. Aber sie sind im Grunde drei Teile des Stücks. Die eigentliche Tragödie liegt nicht so sehr im Scheitern der Liebesgeschichte, sondern vielmehr darin, dass sie von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn jeder ist verhaftet in seinem Monolog, jeder wohnt in seinem Teil des Stückes Welt. Wie letztlich Goethe ja auch: Ein Leben lang beschäftigt er sich mit dem FaustStoff, was ja schon an sich eine einsame Angelegenheit ist, die gerade im zweiten Teil womöglich noch einsamer wurde und sich schließlich zu einem Alles-sagen-Wollen-aber-nicht-mehr-sprechen-Können mit der Mitwelt steigert:

19 ein manischer Monolog an eine zum Scheitern verurteilte Welt. Das trägt geradezu apokalyptische Züge. Goethe lässt keinen Stein auf dem anderen unserer geordneten Vorstellung von zivilisierter Welt: Die Errungenschaften der Kultur entlarvt er als Unkultur, er hält einen Abgesang auf das menschliche Leben, in dem er es gewissermaßen seinem Ende zuführt, um dann – vorsichtig schwebend, utopisch – eine andere Welt anzudeuten. Goethe erlöst ja diesen katastrophalen Wüterich Faust! Ein Ausblick bitte: Was ist für Sie der endgültige Schluss der Tragödie? Bisher kann ich nur sagen, dass mich diese komische Paradoxie bei Goethe auch theatralisch sehr interessiert. Wir sehen das irdische Ende eines Menschen, nach dem es eigentlich keine Erlösung geben kann, denn es ist eine Wette mit dem Teufel im Spiel, die in dem Moment verloren ist, in dem man ausspricht: „Verweile doch, du bist so schön!“ Genau das macht Faust kurz vor seinem Tod, wenn auch im Konjunktiv und unter Voraussetzung falscher Annahmen, trotzdem, er tut es. Unmittelbar davor hat er noch schnell aus egozentrischem Interesse das anrührendste Liebespaar der griechischen Antike, Philemon und Baucis, weggesprengt, denn das Läuten ihrer Kapelle störte ihn. Den Wanderer, der sich bei den beiden aufhält und der bei Ovid Zeus selbst ist – der Oberste der Götter! –, sprengt er auch gleich mit in die Luft. Wenn es noch eines deutlicheren Hinweises bedurft hätte, ob Faust hier, am Ende seines Lebens, moralisch gut oder schlecht handelt, dann ist das deutlich genug. Er macht noch einmal alles falsch, er geht über Leichen und spricht zudem noch aus: „Verweile doch, du bist so schön!“ Und: wird trotzdem erlöst! Bitte? Dieses Happy End kann man doch im Ernst nicht wollen! Auch im Sinne der Tragödie, im Dienste einer Katharsis nicht. Faust hat kaum Nutzen, er hat vor allem Kosten verursacht. Es ging Faust nirgends um „Nachhaltigkeit“, nur der unmittelbare Nutzen zählte, der kurzfristige Gewinn: in der Wirtschaft, durch die Technik, aber auch im Geistesleben und in der Kultur. Faust kümmerte sich darum, wie es ihm ging, vielleicht auch darum, ob er ein guter Mensch gewesen ist. Aber die Frage: „Habe ich eigentlich eine gute Welt hinterlassen?“, stellte er sich nicht. Und trotzdem wird er einfach mal so erlöst, nur weil Gretchen, die er im ersten Akt so schmählich verlassen hat, am Schluss im Himmel ein gutes Wort für ihn einlegt. Das ist ja ein ganz rührender Gedanke, aber es ist zuerst einmal nur ein Gedanke, und dementsprechend findet der Schluss dieses Stückes in einem körperlosen Raum statt. Das hängt zum einen damit zusammen, dass er jenseits des Todes stattfindet, und zum anderen, dass es jetzt nur noch Poesie und Dichtung ist, Buchstaben auf Papier. Wissend kann

20 man das nicht erfassen. Aber man kann eine künstlerische Form für dieses Danach – das sich ja nur mit der Sprache des Diesseits beschreiben lässt – suchen. Deshalb denke ich, in Form der Dichtung, in Form der Kunst kann man diesen Ausblick vielleicht als rührende Hoffnung, die aber extrem unwahrscheinlich ist, stehen lassen. Bitte, uns Menschen zuliebe! Denn das Erschreckende des Stückes ist doch, dass – obwohl die Situationen zugespitzt und die Ereignisse fern entrückt erscheinen – uns Faust in seiner Grundmechanik des ErlebenWollens erschreckend ähnelt: das ständige StrebenWollen, Streben-Müssen, das rastlos Ungenügsame, das Immer-Weiter des metaphysisch Heimatlosen, das Aus-sich-selbst-schöpfen-Müssen … … auch Immer-weiter-Müssen … … Immer-weiter-Müssen … … – woanders ist es halt immer besser! Auch Fausts innere depressiv-manische Mechanik ist uns vertraut. Wie versöhnlich also, dass Goethe Faust erlöst, als würde er uns über die Jahrhunderte hinweg zuraunen: „Ihr kriegt eine zweite Chance“. Ja – vorstellen kann man sich das ja mal.

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Weh! Weh! Du h ast sie zerstö rt, die schöne Welt!

Geld u nd Ma gie Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust Hans Christoph Binswanger

25 Südlich von Freiburg im Breisgau liegt ein kleines Städtchen, Staufen genannt. Dort steht der altehrwürdige Gasthof zum Löwen, an dessen Außenwand Folgendes geschrieben steht: Anno 1539 ist im Leuen zu Staufen Doctor Faustus, so ein wunderlicher Nigromanta gewesen, elendiglich gestorben, und es geht die Sage, der obersten Teufel einer, der Mephistopheles, den er in seinem Lebzeiten nur seinen Schwager genennet hat, habe ihm, nachdem der Pact von 24 Jahren abgelaufen, das Genick abgebrochen, und seine arme Seele der ewigen Verdammnis überantwortet. Faust ist also ein Nigromant gewesen, ein Schwarzkünstler. Die Schwarze Kunst, die als Resultat eines Teufelpaktes erscheint, meint nichts anderes als die Alchemie. Ihretwegen befand sich Faust an seinem Todestag in Staufen, denn der geldbedürftige Freiherr Anton von Staufen benötigte Geld. Er hatte Faust geholt, damit er ihm künstliches Gold mache. Die alchemistischen Tätigkeiten des historischen Faust waren allgemein bekannt. Der Abt Trithemius, von dem das ausführlichste Zeugnis über den historischen Faust stammt, schreibt, Faust habe sich gerühmt, dass er in der Alchemie von allen, die je gewesen, der Vollkommenste sei. Goethe hat diesen Faust zum Helden seines großen Dramas gemacht. Warum? Ich glaube, gerade weil Faust ein Alchemist, ein Magier war. Dem Psychologen C.G. Jung zufolge ist Goethes „Faust“ ein alchemistisches Drama von Anfang bis Ende. Allerdings hat er nicht weiter ausgeführt, wieso er zu dieser Behauptung kommt, sondern es nur angedeutet. Ich denke, dass es nicht nur einer psychologischen, sondern auch einer ökonomischen Begründung bedarf. Wir stehen seit der Zeit des historischen Faust in einem ständigen Prozess der künstlichen Wertschöpfung, den wir heute wirtschaftliches Wachstum nennen. Dieser hat allerdings erst in der Industriellen Revolution einen großen Aufschwung genommen, d.h. in jener Zeit, als Goethe Minister am Weimarer Hof war, wo er sich speziell mit wirtschaftlichen Fragen befasste. Das große Thema in „Faust II“ ist die Auseinandersetzung mit dem Prozess des wirtschaftlichen Wachstums und die Aufdeckung seines alchemistischen Gehalts. Goethe weist im Faust sehr genau auf die Chancen, aber auch auf die Gefahren hin, die damit verbunden sind bzw. verbunden sein werden. Im „Faust“ geht es um einen Pakt mit dem Teufel in Gestalt des Mephistopheles. Im Unterschied zur Volkssage schließt der Goethe’sche Faust aber keinen Dienstvertrag mit dem Teufel ab, sondern einen Wettvertrag. Der Dienstvertrag ist seiner Natur nach befristet, in der Faust-Sage auf 24 Jahre, und setzt die Leistung und den dafür geschuldeten Lohn fest.

26 Die Wette von Goethes Faust wird demgegenüber auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, und es bleibt – das gehört zur Natur der Wette – auch offen, wer gewinnt. Das Ende des Pakts soll kommen, wenn das Streben Fausts zu einem endgültigen Ziel, zu einem höchsten Augenblick geführt hat. So heißt es beim Vertragsabschluss zwischen Faust und Mephistopheles: Und Schlag auf Schlag! / Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn! / Dann mag die Totenglocke schallen, / Dann bist du deines Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für mich vorbei! Die Wette dreht sich darum, ob Faust im diesseitigen Leben eine solche Steigerung seines Lebensgefühls erreicht, dass er es verewigen möchte. Um diese Verewigung geht es auch in der Alchemie bei der Herstellung des künstlichen Goldes. Es geht um die Überwindung der Zeit. Das Mittel zur Herstellung des künstlichen Goldes wurde als „Stein der Weisen“ bezeichnet. Dieser Stein, in Wirklichkeit ein Pulver oder eine Tinktur, wurde auch „Maza“ genannt, das griechische Wort für „Hefe“. Der Stein der Weisen ist also nicht etwa das Material, aus dem Gold gemacht wird, es ist vielmehr die wesentliche Beigabe, welcher die „Transmutation“, wie es im alchemistischen Sprachgebrauch heißt, die Verwandlung des unedlen in das edle Metall, bewirkt. Als unedles Metall wurde vorzugsweise Blei verwendet. Blei ist dem Planeten und damit auch dem Gott Saturn zugeordnet. Die griechische Bezeichnung für Saturn ist Kronos. „Kronos“ heißt Zeit und deutet damit auf die Vergänglichkeit hin. In alchemistischen Darstellungen wird daher Saturn als Greis mit Sanduhr und Sichel versinnbildlicht. Im übertragenden Sinne geht es im alchemistischen Prozess darum, aus dem minderwertigen Metall, dem Blei, Symbol des Vergänglichen, ein edles Metall, das Gold, Symbol des Unvergänglichen, zu machen. Es handelt sich bei der Alchemie also um den Versuch des Menschen, diesseits der Zeit, diesseits des Todes aus der Vergänglichkeit auszubrechen. Das Gold ist das Symbol des Dauerhaften, weil es weder verrostet noch verrottet. Es kann sowohl eine immaterielle wie eine materielle Bedeutung haben. Das immaterielle Ziel der Alchemie ist das Gold der Seele, von dem bereits Plato in seinem Dialog Der Staat spricht. Das Streben nach diesem spirituellen Gold zielt auf die Erkenntnis des Weges zur Erreichung der unvergänglichen Glückseligkeit im Sinne des Guten. Bezüglich der materiellen Bedeutung des Goldes hat die Alchemie zwei Zielsetzungen. Das erste Ziel ist ein medizinisches: Es handelt sich um die Herstellung des flüssigen „aurum potabile“, des Allheilmittels, des Trink-

27 goldes. Das große Elixier ist dementsprechend ein Mittel, das die Krankheiten vertreibt, die Manneskraft erhält und ewige Jugend und langes Leben garantiert. Das zweite Ziel ist ein ökonomisches: Es handelt sich um die Schaffung des festen Goldes im Sinne von Geld. Geld ist ebenfalls eine Form des Unvergänglichen, da es sich beim Gebrauch nicht verbraucht. Es wird ja nur von Hand zu Hand weitergegeben und kann beliebig aufgehäuft werden, ohne zu verderben. Wenn man sich diese doppelte Aufgabe der Alchemie vor Augen hält, wird einem plötzlich das Verhältnis der Alchemie zum Faust-Drama mit seinen zwei Teilen deutlich. Der erste Teil des „Faust“ handelt von der ersten Aufgabe der Alchemie, von der Herstellung des Trinkgoldes in der Hexenküche, von der Verjüngung und der Manneskraft. Es ist das Drama der Liebe. Im zweiten Teil des „Faust“ steht die zweite Aufgabe im Vordergrund, die Herstellung des künstlichen Goldes im Sinne von Geld, die mit der Schöpfung des Papiergeldes am Kaiserhof beginnt. Es ist das Drama der Wirtschaft. Der erste alchemistische Versuch des Mephistopheles, Faust mit Hilfe des Zaubertrankes durch die Liebe dem höchsten Augenblick entgegenzuführen und ihn so im Sinne der Wette zu Fall zu bringen, scheitert. In der Szene Wald und Höhle bekennt Faust nach der ersten Begegnung mit Gretchen: O daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird, / Empfind’ ich nun. Er endet den Monolog mit den Worten: So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde. Der Genuss der Liebe hat seinen höchsten Augenblick in der Gegenwart, nicht in der Dauer der Zeit. Das Liebesdrama endet tragisch mit dem Tod Gretchens. Der zweite Versuch des Mephistopheles hingegen, mit Hilfe des künstlichen Goldes – oder eben des Geldes – Faust die Möglichkeit zu geben, seine Mission des wirtschaftlich-technischen Fortschritts zu verwirklichen, gelingt. Faust erhält vom Kaiser das Recht zur Kolonisierung eines vom Meer immer wieder überfluteten und sumpfigen Geländes. Während die Arbeit zur Eindämmung dieses Gebietes im Gange ist, bekennt er – die künftige Besiedlung des neu geschaffenen Raumes in der Vision vor Augen: Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück, / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.

28 In diesem Moment verliert Faust die Wette und stirbt. Die wirtschaftliche Tat hat Faust den höchsten Augenblick vermittelt, den ihm die Liebe nicht zu verschaffen vermochte. Was hat es mit der wirtschaftlichen Tat auf sich, dass sie Faust so fasziniert und er in ihr den höchsten Augenblick erlebt? Es ist, meine ich, gerade der alchemistische Charakter der modernen Wirtschaft. Heute wird die Alchemie als Aberglaube abgetan. Es heißt, dass sich seit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften die Goldmacherei endgültig als Illusion erwiesen habe, dass niemand mehr sinnlos seine Zeit für solch abstruse Vorhaben vergeuden wolle. Ich behaupte etwas anderes. Die Versuche zur Herstellung künstlichen Goldes wurden nicht deswegen aufgegeben, weil sie nichts taugten, sondern weil sich die Alchemie in anderer Form als so erfolgreich erwiesen hat, dass die mühsame Goldmacherei im Laboratorium nicht mehr nötig ist. Das eigentliche Anliegen der Alchemie im Sinne der Reichtumsvermehrung besteht nicht darin, dass tatsächlich Blei in Gold transmutiert wird, sondern die Verwandlung einer wertlosen Substanz in eine wertvolle, z.B. auch Papier in Geld. Wir können den Wirtschaftsprozess als Alchemie deuten, wenn man zu wertvollem Geld kommen kann, ohne es vorher durch eine entsprechende Anstrengung verdient zu haben. Die Wirtschaft stellt sich als eine Art Zylinder dar, aus dem ein Kaninchen herausgeholt werden kann, das vorher nicht drin war. Es ist eine Wertschöpfung möglich, die das Gesetz der Erhaltung von Energie und Masse überwindet und zu einem ständigen Wachstum der Wirtschaft führt, das an keine Grenzen gebunden ist. Es geht um die Überwindung von Zeit und Vergänglichkeit. Dieser Prozess der Wertschöpfung vollzieht sich, wie Goethe im Faust deutlich macht, entsprechend den drei Stufen des alchemistischen Prozesses von Merkur, Sulfur und Sal bzw. von Quecksilber, Schwefel und Salz. Ich beschränke mich auf die wirtschaftliche Deutung der drei Stufen. Der Ausgangspunkt des alchemistischen Prozesses ist der Plan zur Papiergeldschöpfung, den Mephistopheles bzw. Faust dem Kaiser vorlegt und der ihn von seinen Geldsorgen

29 befreien soll. Das ist die erste Stufe des alchemistischen Prozesses. Der Plan besteht darin, Papiergeld in Form von Banknoten auszugeben, die sowohl durch die im Boden verborgenen Goldschätze „gedeckt“ als auch durch die Unterschrift des Kaisers legalisiert sind. Der Plan gelingt. Jeder ist bereit, die Noten als Geld anzunehmen, und der Kaiser ist seiner Schulden ledig. Diese Geldschöpfung wird ausdrücklich als „Chymisterei“ – ein anderes Wort für „Alchemie“ – gedeutet. Der Akt der Geldschöpfung wird in der Mummenschanz-Szene am Kaiserhof dargestellt. Hier unterschreibt der Kaiser im Schein des Feuers das Original des Papiergeldes, indem er sich als Pluto wähnt, als der Gott der Unterwelt und der Bergwerke, insbesondere der Goldbergwerke. Da spielen die Gnomen, die sich selbst als

30 „Felschirurgen“ bezeichnen, eine entscheidende Rolle. Sie, die sonst die hohen Berge schröpfen, um Metall aus den Erzadern zu gewinnen, zeigen dem Kaiser eine neue Goldquelle. Nun entdecken wir hieneben / Eine Quelle wunderbar, / Die bequem [!] verspricht zu geben, / Was kaum zu erreichen war. In diesem Zusammenhang ist auf die Papiergeldschöpfung hinzuweisen, die bereits vom 9. bis 14. Jahrhundert in China stattgefunden hat. Der chinesische Kaiser hatte dafür ein eigenes Amt geschaffen und nannte es „Amt für bequemes Geld“. Mephistopheles hatte zuvor dem Kaiser geraten: Nimm Hack’ und Spaten, grabe selber, Die Bauernarbeit macht Dich groß. Aber der Kaiser des Faust-Dramas hat sich, wie der chinesische Kaiser, lieber für das bequeme Geld entschieden. In Europa wurde allerdings ein anderer Weg für die Papiergeldschöpfung gewählt als in China. Es wurde nicht ein staatliches Amt geschaffen, sondern eine private Bank gegründet, die mit staatlichen Privilegien ausgestattet wurde: die Bank von England, die 1694 entstanden ist. Dieser wurde das Privileg gewährt, Banknoten, also Papiergeld, ausgeben zu dürfen, die nicht voll in Gold gedeckt waren. Für dieses Privileg musste die Bank von England dem Staat die von ihm gewünschten Kredite gewähren. Überall in der Welt wurden später Notenbanken nach dem Vorbild der Bank von England gegründet. Die englische Banknotenausgabe wurde so zum Startpunkt

31 für die Entwicklung des heutigen Weltwährungssystems, das vollständig auf Papiergeld gründet. Die Papiergeldschöpfung im Faust-Drama bildet diese europäische Entwicklung ab. Auch hier wird die Ausgabe von Banknoten nicht durch ein staatliches Amt geschaffen, sondern Faust und Mephistopheles werden vom Kaiser das Privileg zur Banknotenausgabe ohne bzw. nur mit fiktiver Deckung in Gold erteilt. Die Bank dürfte wohl „Faust und Mephistopheles AG“ geheißen haben. Der Kaiser profitiert von dieser Gründung, weil sie ihm Kredite einräumt, mit niederem oder ohne Zins. Das ist der Dienst, den Faust und Mephistopheles dem Kaiser erweisen. Sie selbst aber dürfen Banknoten für eigene Zwecke drucken, um sie zu investieren. Das ist ihr „Lohn“. Beide Seiten profitieren also von der Bankgründung. Der Kaiser ist seiner Schulden ledig, und Faust und Mephistopheles haben Geld in der Hand, mit dem sie im 5. Akt das große Werk des Neulandes der Wirtschaft schaffen werden. „Bezahle“, wird dort Faust dem Mephistopheles befehlen. Womit bezahlt er? Natürlich mit den Banknoten der eigenen Bank, die durch das kaiserliche Privileg gegründet wurde. Indem die Arbeiter mit Papiergeld bezahlt werden, die das dem Meer abgerungene Land eindämmen, kanalisieren und meliorieren, entsteht aus der Illusion des Papiergeldes eine wirtschaftliche Realität, die Realität der modernen globalen Weltwirtschaft. Die Golddeckung und die staatliche Legalisierung genügen nicht, um dem Papiergeld dauernde Geltung zu verschaffen. Eine Papiergeldschöpfung aus dem Nichts muss vielmehr, auch wenn sie zuerst Handel und Wandel beschleunigt, über kurz oder lang zur Inflation und damit zur Entwertung und zur Repudiation des Geldes führen. Die künstliche Herstellung des Geldes allein ist noch keine wirkliche Alchemie. Das Papiergeld bekommt einen echten Goldgleichwert erst dann, wenn es sich materialisiert, wenn es auf Gewinn oder Zins hin angelegt oder, wie man sagt, investiert wird, wenn es also seinen Gold- oder seinen Geldwert dem Material mitteilt, wenn sich also der alchemistische Prozess der Geldschöpfung auf die gesamte Wirtschaft ausdehnt und die Wirtschaft im Sinne der Wertschöpfung expandiert. Dies wird im 4. und 5. Akt geschildert. Im 4. Akt wird die zweite Stufe des alchemistischen Prozesses dargestellt. Hier begegnen wir dem Schlüsselwort, das die Alchemie über die bloße Geldschöpfung hinaus zur realen Wertschöpfung führt. Dieses Schlüsselwort findet sich in der Antwort Fausts auf die Frage des Mephistopheles, was denn schließlich sein höchstes Begehren sei. Faust gibt die entscheidende Antwort: „Herrschaft gewinn ich, Eigentum.“ Unter „Eigentum“

32 versteht Faust nicht ein Eigentum an einem Stück Erde, das man im Sinne eines „Patrimoniums“, eines Erbgutes von seinen Vätern ererbt und wieder seinen Kindern weitervererbt, es wohl nutzt, aber gleichzeitig pflegt, sodass es zu keinem Raubbau kommt. Vielmehr denkt Faust an das Dominium, das Herrschaftseigentum des Römischen Rechts, das dem Eigentümer die Befugnis gibt, nach Belieben über sein Eigentum zu verfügen. Es ist das Recht des ius utendi et abutendi re sua, wie es im Lateinischen heißt, nämlich das Recht nicht nur zum Gebrauch, sondern auch zum Verbrauch der eigenen Sache. Dieses Eigentumsrecht wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den Code Napoléon wieder eingeführt. Es stellt die Basis der Industriellen Revolution und des wirtschaftlichen Wachstums dar. Dieses Dominium-Recht ist heute überall in der Welt zum gültigen Eigentumsrecht, zum von der UNO verbrieften Menschenrecht geworden. Als Faust, auf Helenas Gewand durch die Luft fliegend, das Spiel von Ebbe und Flut unter sich betrachtet, fasst er den Plan, dem Meer Neuland abzugewinnen und in Eigentum zu nehmen: Die Woge […] schleicht heran, an abertausend Enden, / Unfruchtbar selbst, Unfruchtbarkeit zu spenden; / Nun schwillt’s und wächst und rollt und überzieht / Der wüsten Strecke widerlich Gebiet. / Da herrschet Well’ auf Welle kraftbegeistet, / Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet, / Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte! / Zwecklose Kraft unbändiger Elemente! / Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen; / Hier möcht’ ich kämpfen, dies möcht’ ich besiegen! Die Aneignung der Naturkräfte ist die entscheidende Voraussetzung für die Wertschöpfung ohne Arbeit. Mephistopheles geht auf den faustischen Plan ein, er hilft dem Kaiser im Krieg, wobei Faust als der siegreiche Feldherr erscheint. Der Kaiser überlässt Faust als Dank einen Küstenstreifen zum Lehen oder eben zum Eigentum. Eine weitere, die dritte Stufe der alchemistischen Wertschöpfung ergibt sich aus dem Einsatz von Energie im Zusammenhang mit dem Einsatz von Maschinen auf dem vom Kaiser übernommenen Küstenstreifen. Es geht um die Industrielle Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Baucis, eine unbeteiligte Zuschauerin, schildert die Gewinnung des Neulands der Wirtschaft wie Zauberwerk: Tags umsonst die Knechte lärmten, / Hack’ und Schaufel, Schlag um Schlag; / Wo die Flämmchen nächtig schwärmten, / Stand ein Damm den andern Tag. […] / Meerab flossen Feuergluten, / Morgens war es ein Kanal. Goethe bezieht sich hier auf die große Erfindung der Industriellen Revolution: die Dampfmaschine, welche man damals „Feuermaschine“ nannte.

33 Solche Dampfmaschinen wurden zum Bau von Dämmen und Kanälen verwendet. Das alchemistische Werk der Wertschöpfung gipfelt schließlich in dem von Faust geleiteten großen Unternehmen der Kolonisierung des dem Meer abgerungenen Küstenstreifens. Faust ist der Unternehmer, der alle Produktionskräfte auf das eine große Unternehmensziel ausrichtet. Er verkündet zum Schluss: Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß / Erfolgt der allerschönste Preis; / Daß sich das größte Werk vollende, / Genügt ein Geist für tausend Hände. Mit der Bezeichnung des Projektes als „größtes“ Werk gibt Goethe deutlich zu erkennen, dass es sich um das „Opus magnum“ der Alchemisten handelt: auch die Schaffung des Steins der Weisen wurde immer als „das große Werk“ bezeichnet. Das von Faust geplante Unternehmen ist das größte aller alchemistischen Werke. Alle Kräfte der Magie werden von Faust in seinem großen Unternehmen mit den echten Leistungen des Unternehmers – strenges Ordnen – und den echten Leistungen des Arbeiters – rascher Fleiß – zusammengefasst, um den höchsten Preis zu gewinnen. Dies scheint auf den ersten Blick nichts anderes zu bedeuten als eine Auszeichnung, als der Ruhm, mit dem das größte Werk gekrönt wird. Dies würde aber ganz im Gegensatz zu dem stehen, was Faust wirklich anstrebt. „Nichts ist der Ruhm“, hatte er vorher bekannt! Unter „Preis“ ist vielmehr das zu verstehen, was der Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet, nämlich der Wert eines Gutes ausgedrückt in Geld. Dieses Gut ist die ganze in das größte Werk einbezogene Welt. Es geht um die Maximierung des Geldwertes der Welt. In diesem Sinne ist die ganze Welt ein Goldbergwerk, aus dem nicht nur das echte Gold, sondern alles, was man in der Welt vorfindet – in vergoldetem, d.h. in Geld verwandeltem Zustand – herausgeholt und verwertet werden kann. Wenn Goethe in genauer Beobachtung der historischen Tatsachen – der Gründung der Bank von England, die Papiergeld ausgibt; der Schaffung des Code Napoléon mit dem Herrschaftseigentum und der Industriellen Revolution, die auf der Dampfmaschine aufbaut – den alchemistischen Kern der modernen Wirtschaft herauskristallisiert und deutlich beschrieben hat, stellt sich für uns die Frage: Was will uns Goethe damit sagen? Oder: Was gewinnen wir, wenn wir wissen, dass die Alchemie nicht der Vergangenheit angehört, sondern fortwirkt und wir inmitten eines alchemistischen Prozesses stehen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auf die eigentliche Bedeutung des alchemistischen

34 Bestrebens zurückbesinnen. Es handelt sich um das Streben nach Überwindung von Zeit und Vergänglichkeit, nach der Fortsetzung des Schöpfungsprozesses durch den Menschen. Diese Schöpfungstat der Wirtschaft übt auf Faust, übt auf uns alle eine ungeheure Faszination aus, die Faszination des unendlich Vermehrbaren, des ewigen Fortschritts. Die Wirtschaft gewinnt damit jenen transzendenten, d.h. grenzüberschreitenden Charakter, den die Menschen früher in der Religion gesucht haben. Nicht der Glaube an ein Jenseits, sondern das wirtschaftliche Handeln im Diesseits öffnet dem modernen Menschen den Blick in die Unendlichkeit. So weist Faust auch ausdrücklich auf die grenzenlosen Möglichkeiten der Geld- und Wertschöpfung hin: Das Übermaß der Schätze, das, erstarrt, / In deinen Landen tief im Boden harrt, / Liegt ungenutzt. Der weiteste Gedanke / Ist solchen Reichtums kümmerlichste Schranke; / Die Phantasie, in ihrem höchsten Flug, / Sie strengt sich an und tut sich nie genug. / Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen, / Zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen. Angesichts dieser Unendlichkeit hat Faust in seiner Vorstellung die Sterblichkeit überwunden. So kann er am Schluss in den Jubelruf ausbrechen:

35 Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. – In dieser Situation ist für ihn der natürliche Tod nicht mehr von Bedeutung, er hat ja, so glaubt er, die selbst geschaffene Unsterblichkeit gewonnen. Wir sehen auf der einen Seite den großen Aufschwung, die unendliche Perspektive, die der modernen Wirtschaft ihre magische Anziehungskraft verleiht. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu leugnen, dass sie die reale Begrenzung der Welt nicht aufheben kann. In einer endlichen Welt muss einem Plus immer auch ein Minus gegenüberstehen. Die Tat wird begleitet von der Un-Tat. Goethe hebt vor allem drei Bereiche hervor, in denen es zu einer verhängnisvollen Desorientierung des Menschen kommt und daher den ökonomischen Gewinnen entscheidende Verluste gegenüberstehen. Der erste große Verlust, den die Menschheit im Zuge des wirtschaftlichen Fortschrittes erleidet, ist der Verlust der Schönheit. Jeder, der den 5. Akt von „Faust II“ gelesen hat, wird sich an die Verse von Lynkeus, dem Türmer, erinnern, die der Lobpreisung der Welt dienen. Diese Lobpreisung beginnt mit den Worten: Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Turme geschworen, / Gefällt mir die Welt. und endet mit den Worten: Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn, / Es sei wie es wolle, / Es war doch so schön! Bei der Interpretation dieser Lobpreisung wird der letzte Vers und das entscheidende Wort darin immer zu wenig beachtet, das Wort, es „war“ schön und ist es nicht mehr. Denn gleich, nachdem Lynkeus diese Worte ausgesprochen hat, entdeckt er die Feuersbrunst, in der die Hütte von Philemon und Baucis mitsamt der sie überdachenden Linde verbrennt. Und Lynkeus bricht in die erschreckten Worte aus: Nicht allein mich zu ergetzen, / Bin ich hier so hoch gestellt; / Welch ein greuliches Entsetzen / Droht mir aus der finstern Welt! Faust konnte es nicht dulden, dass sich das alte Paar Philemon und Baucis seinem großen Plan entgegenstellt und eigensinnig an seinem Eigentum festhalten will, das nicht einem ökonomischen Zweck, sondern im Sinne des „Patrimoniums“ der Wahrung der alten Väter Sitte diente. Der absolute Anspruch des Eigentums im Sinne des Herrschaftseigentums, des Dominiums, wird deutlich in den Worten Fausts: Die Alten droben sollten weichen, / Die Linden wünscht’ ich mir zum Sitz, / Die wenig Bäume, nicht mein eigen, / Verderben mir den Weltbesitz. […] Des allgewaltigen Willens Kür / Bricht sich an diesem Sande hier.

36 Faust gibt Mephistopheles den Befehl, das alte Paar notfalls mit Gewalt in das neu kolonisierte Gebiet umzusiedeln. Aber angesichts der Sturheit der Alten verliert Mephistopheles die Geduld und zündet die Hütte an. Faust reagiert voller Entrüstung, ist jedoch im Grunde genommen nur allzu froh, endlich den Rücken für sein Vorhaben frei zu haben. Das Resultat dieser allgewaltigen Willkür können wir heute ringsherum beobachten. Es ist die ungeheuerliche, im Verlaufe der Menschheitsgeschichte bisher noch nie da gewesene und immer rascher voranschreitende Zerstörung der Schönheit, die wohl auch bei der letzten Denkmalschutzhütte und der letzten Naturschutzlinde nicht Halt machen wird. Der zweite Verlust, der aus dem alchemistischen Experiment resultiert, ist der Verlust der Sicherheit in Folge der von der Technik heraufbeschworenen Gefahren. Mit den technischen Errungenschaften ist stets ein Risiko verbunden. Je weiter sie fortschreiten, umso gefährlicher werden sie. Faust ist sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Er gibt ausdrücklich zu, dass, wenn er vielen Menschen neues Land erschließt, diese zwar frei sind, jedoch nicht sicher wohnen, dass sie umringt von Gefahren sind. Die Flut kann die Dämme, die ihr entgegengestellt werden, zerstören. Das Neuland der Wirtschaft hat er künstlich durch Eindeichung gewonnen. Allerdings ist Faust der Auffassung, dass die Gefahren, die dem Neuland drohen, stets gebannt werden können: Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, / Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, / Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. Doch Mephistopheles weiß es besser. Er spricht von Faust abgewendet zu sich: Du bist doch nur für uns bemüht / Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; / Denn du bereitest schon Neptunen, / Dem Wasserteufel, großen Schmaus. / In jeder Art seid ihr verloren; – / Die Elemente sind mit uns verschworen, / Und auf Vernichtung läuft’s hinaus. Für diese Worte sind wir nach den jüngsten Ereignissen in Japan zweifellos besonders hellhörig geworden. Der dritte Verlust besteht in der zunehmenden Unfähigkeit, den Reichtum, den man erzeugt, zu genießen. Wir können in diesem Zusammenhang vom Verlust der Gegenwart sprechen, denn mit dem Reichtum nimmt auch die Sorge zu. Indem man nicht mehr wie früher auf Bestellung, sondern für den Markt produziert, d.h. für den unbekannten Konsumenten, weiß man erst nach erfolgter Produktion, ob man die

37 Waren, die man hergestellt hat, auch zu kostendeckenden bzw. gewinnbringenden Preisen verkaufen kann. Mit jeder Produktion ist daher die Sorge um den künftigen Absatz verbunden. Die Sorge nimmt mit der Größe des Marktes zu – und noch mehr mit dem Ausmaß der Kapitalisierung. Der Investor ist in höchstem Maße durch die Sorge über die künftige Entwicklung der Wirtschaft geplagt. Nie kann er sich mit der Gegenwart zufrieden geben. Er wird vielmehr prognosesüchtig. Er hält nach allen Arten von Prophezeiungen Ausschau und fühlt sich ständig von Unglücksbotschaften bedroht. So geht es auch Faust, der ja zu einem Großinvestor geworden ist. Er ängstigt sich: Ein Vogel krächzt; was krächzt er? Mißgeschick. / Von Aberglauben früh und spät umgarnt: / Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08 hat uns die Dringlichkeit solcher Warnungen erneut deutlich vor Augen geführt. Während der neu gewonnene Reichtum Mangel, Schuld und Not den Eingang zu den Gemächern Fausts versperrt, schlüpft die Sorge durchs Schlüsselloch. Faust will sie abwehren, aber sie behauptet sich: Wen ich einmal mir besitze, / Dem ist alle Welt nichts nütze; […] / Ist der Zukunft nur gewärtig, / Und so wird er niemals fertig. Der wachsende Reichtum kann die Sorge nicht bannen. Im Gegenteil, er zieht sie an. Die Sorge findet auch und gerade beim Reichen Einlass. In der Begegnung mit ihr kommt es zur Entscheidung. Wird Faust sich mit der Sorge auseinandersetzen und damit die irdischen Dinge in ihrer Vergänglichkeit und Hinfälligkeit annehmen? Wird er die mit der modernen Wirtschaft verbundenen Gefahren der Vernichtung des Schönen, der Risiken der Technik, der Ungewissheit der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung erkennen und versuchen, die sich daraus ergebenden Probleme in täglicher Praxis sorgend zu bewältigen? Faust findet sich nicht dazu bereit. Er stößt die Sorge vielmehr zurück: Doch deine Macht, O Sorge, schleichend groß, / Ich werde sie nicht anerkennen. Faust sucht den Ausweg durch das Fortschreiten in die selbst geschaffene, alchemistische Welt der Wertschöpfung, von der die Sorge ausgeschlossen zu sein scheint, weil hier die Begrenzung der Zeit aufgehoben ist. Es handelt sich um die Utopie des modernen Menschen, alle negativen Folgen der Technik und des wirtschaftlichen Wachstums mit noch mehr Technik und noch mehr Wachstum überwinden zu können. Faust verlässt sich auf die Vision der Zukunft, die ihm aus seinen eigenen Plänen entgegenstrahlt. Aber die Sorge behauptet ihre Macht: Erfahre sie, wie ich geschwind / Mich mit Verwünschung von dir wende! / Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun, Fauste, werde du’s am Ende.

38 Zwar triumphiert der erblindete Faust: Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht; / Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen. Und er gibt den letzten Befehl: Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!/ Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann. / Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!/ Das Abgesteckte muß sogleich geraten. Die Knechte, die er ruft, sind die Lemuren. Mephistopheles nennt sie „geflickte Halbnaturen aus Bändern, Sehnen, Gebein“. Sie sind es, die das große Zukunftsreich des Faust erhalten werden. Sie ahnen es schon, als Mephistopheles sie herbeiruft: Es gilt wohl gar ein weites Land, / Das sollen wir bekommen. Wer sind diese Lemuren? Da sonst keine Menschen mehr da sind, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um die künftigen Generationen der Menschen handelt, die auf dem Neuland der Wirtschaft dicht gedrängt angesiedelt wurden und die auf dem technisch gewonnenen Land immer mehr selbst zu Technikprodukten werden – zu Produkten der Transplan tationschirurgie und der Gentechnologie. Sie sind halb natürlich, halb künstlich: geflickte Halbnaturen. Diesen Lemuren verkündet der erblindete Faust die Erfüllung seines höchsten Zieles: Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn./ Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick. Faust, erblindet, sieht nicht, dass es nicht um die Entsumpfung des letzten noch unmeliorierten Landstücks geht, sondern um die Aushebung seines Grabs. Gefangen von seiner Vision des ewigen Fortschritts, verliert er die Wirklichkeit aus den Augen – und verwirkt damit die Zeit. Mephistopheles aber kann feststellen, als Faust vor ihm im Sand liegt – es ist das Schlüsselwort des Faust-Dramas: „Die Zeit wird Herr“. Das alchemistische Experiment ist gescheitert und die Zeit jenseits der Zeit, jenseits des Scheiterns, beginnt. Wenn seit dem 16. Jahrhundert die Alchemie immer mehr in den Dienst materieller Ziele und damit letztlich in den Dienst der Wirtschaft gestellt wurde und der ursprünglich religiöse Inhalt in den Hintergrund geriet, so muss man auch umgekehrt sagen, die Alchemie hat immer mehr die Wirtschaft in ihren Dienst gestellt. Die Wirtschaft hat in ihrem Streben nach stetigem Wachstum selbst einen sakralen Charakter angenommen. Man könnte daher über Goethes Faust die bekannten Worte des römi-

39 schen Dichters Vergil als Motto setzen: „Auri sacra fames“. Das lässt sich auf Deutsch völlig verschieden übersetzen; gemäß der Doppelbedeutung des Wortes „sacer“ entweder als „heilig“ oder als „verflucht“. Die Worte Vergils heißen daher entweder „der heilige Hunger nach Gold“ oder „der verfluchte Hunger nach Gold“. Die korrekte Übersetzung hängt von den Entscheidungen ab, die uns heute – an einem Scheideweg der Geschichte in gleicher Weise wie bei Faust – angesichts der Sorge um die Zukunft der Menschheit und die Zukunft des Menschseins abverlangt werden.

Hans Christoph Binswanger lehrte bis 1994 Wirtschaftswissenschaften an der Universität St. Gallen. Zu den Schwerpunkten des Schweizer Ökonomen

Goethe – de r Schwarzse her d es 21. J ah r h unde rts ? Die Faust-Tragödie als Szenario heutiger Krisen Manfred Osten

43 Im Juni 2009 hatten die Deutsche Bank und das Freie Deutsche Hochstift zum Gipfeltreffen von Geist und Geld in Frankfurt eingeladen, zur Begegnung von Joseph Ackermann mit dem berühmten Sohn der Stadt, Johann Wolfgang von Goethe. Letzterer wurde bei dieser Gelegenheit vertreten durch den Wirtschaftswissenschaftler und Faust-Deuter Hans Christoph Binswanger. Bei Binswanger hatte Ackermann einst promoviert, ausgerechnet über ein Thema, das uns heute im Zeichen der Finanzkrise allen auf den Nägeln brennt. Nämlich über den Einfluss des Geldes auf das reale Wirtschaftsgeschehen. Dass Goethes Faust-Tragödie zu diesem Thema im Sinne Binswangers als eine frühe Warnung gelesen werden könnte, wollte Ackermann „mit jener Sturheit, die Schweizern als Charme gilt“, wie die FAZ schrieb, jedoch nicht gelten lassen. Dass Goethes Warnung durchaus nicht gegenstandslos ist, soll an dieser Stelle in einem größeren Zusammenhang und im Lichte weiterer Krisenwarnungen der Faust-Tragödie erörtert werden. Vorauszuschicken ist hierbei, dass Goethe schon vor rund 200 Jahren die – wenn auch charmante – Sturheit seiner Zeitgenossen in Sachen Krisenwarnungen kannte und daher vorsorglich den zweiten Teil der Faust-Tragödie versiegelte. Er war überzeugt davon, dass es Pflicht sei, anderen nur das mitzuteilen, was sie aufnehmen können. So ist er denn als Schwarzseher künftiger Krisen damals unerkannt geblieben. Mit der Folge, dass schon Ende des 19. Jahrhunderts Nietzsche bemerkte, Goethe sei in der Geschichte der Deutschen „ein Zwischenfall ohne Folgen“. Inzwischen haben die von ihm als „sehr ernste Scherze“ in der Faust-Tragödie metaphorisch thematisierten Krisen globale Dimensionen erreicht, so dass sich die Frage nach Goethes Diagnose und möglichen Therapievorschlägen für uns im 21. Jahrhundert umso dringlicher stellt. Welche Krisenszenarien hat Goethe vor allem im „Faust II“ versiegelt? Wie war es ihm möglich, die globalen Dimensionen dieser Krisen bereits zu erkennen? Hat er Hinweise hinterlassen für die Bewältigung dieser Krisen?

44 Die Möglichkeit globaler Dimensionen von Krisen hat Goethe spätestens 1825 erkannt und in einem von ihm ebenfalls sekretierten, d.h. nicht an den Empfänger abgesandten Brief formuliert. Es handelt sich um ein Schreiben an seinen Großneffen Nicolovius in Berlin: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch Eins und das Andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja, was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der Übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“ Es ist die Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das absolute Diktat der Beschleunigung, die Goethe hier bilanziert mit dem Wort „veloziferisch“, und es ist für Goethe zugleich das Betriebsgeheimnis der Globalisierung: ein Wort, mit dem er die Eile, „velocitas“, mit Luzifer, dem Teufel, verbindet. Und es ist die in dieser Verbindung lauernde Gefahr der Selbstzerstörung des Menschen, die Goethe dann mit dichterischer Konsequenz in der „Global-Village“-Tragödie des Faust als das moderne Welttheater der Ungeduld inszeniert. Den Gang dieser Tragödie der Ungeduld hat Goethe dort auf die Formel gebracht: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ Es ist Faust selbst, der mit dem modernsten aller Flüche die globale Bühne betritt: „Fluch vor allem der Geduld!“ Und es ist Luzifer-Mephisto, der diesen Fluch mit den global entfesselten Instrumenten der Beschleunigung bedient. Es sind dies: der schnelle Degen und der schnelle (fliegende) Mantel. Und schließlich auch die schnelle Liebe als selbstzerstörerische Formel humaner Interpersonalität. Es ist Mephisto, der Faust als den Repräsentanten des „Veloziferischen“ erkennt. Mephisto beschreibt das Psychogramm dieses „Global Players“ mit dem modernen Hinweis, dass ihm das „Schicksal“ einen Geist gegeben habe, der zwar ungebändigt immer vorwärts drängt, aber hierbei durch sein „übereiltes Streben“ der Erde Freuden „überspringt“. Mit dem fatalen Fazit, dass Faust auch ohne Hilfe des Teufels zugrunde gehen muss. Noch ein anderes global entfesseltes Instrument antizipiert Goethe in „Faust II“. Er beschreibt bereits ausführlich das geheim-offenbare Schwungrad der Wachstumsdynamik des globalen Dorfes: das schnelle Geld im Weltinnenraum des virtuellen Kapitals und der Verwöhnungs-

45 treibhäuser der Konsum- und Fortschrittsgesellschaft. Es war Karl Marx, der Phänomenologe des Kapitals, der diesen „wirklichen Geist aller Dinge“ in Goethes Faust entdeckte und zur Grundlage seiner eigenen Kapitalismuskritik machte. Der junge Marx hatte sich vor allem von Goethes Mephisto inspirieren lassen, der im Faust das Erfolgsrezept des Kapitals mit den Worten beschreibt: Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, Sind ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann, Als hätt’ ich vierundzwanzig Beine. Eine Erkenntnis, die Marx wie folgt kommentiert: „Was ich zahlen, das heißt, was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Ich – meiner Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße, ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer […] Geld ist also der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein?“ Ein nicht sehr schmeichelhaftes Psychogramm der Finanzeliten, das in der jüngsten Finanzkrise nicht widerlegt worden ist. Und lag nicht für den „lahmen“ und „gewissenlosen“ Besitzer des Geistes aller Dinge die Versuchung nahe, auch das Geld in Quantensprüngen von „24 Füßen“ zu beschleunigen? Mit dem inzwischen erreichten „veloziferischen“ Ergebnis, dass allein in den zurückliegenden 30 Jahren sich die globale Geldmenge vervierzigfacht, die reale Gütermenge jedoch nur vervierfacht hat. Ein Geldvermehrungskunststück, das in „Faust II“ weit übertroffen wurde. Denn über die dortige „veloziferische“ Geldvermehrung berichtet der beglückte kaiserliche Schatzmeister, das Geld sei in einer einzigen Nacht durch „Tausendkünstler schnell vertausendfacht“. Auch die „veloziferische“ Lichtgeschwindigkeit, mit der sich dieses „Tausendkünstler“Geld global verteilt, wird vom Marschalk des Kaisers bereits beschrieben: Unmöglich wär’s, die Flüchtigen einzufassen; Mit Blitzeswink zerstreute sich’s im Lauf. Und: Es ist die Kaiserpfalz, wo zum ersten Mal das Kunststück gelingt, Mephistos sechs Hengste mit ihren 24 Beinen in Geld mit unzähligen virtuellen Beinen zu verwandeln. Es ist die Geburtsstunde der modernen Finanzwirtschaft im Dienste einer Monetarisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche – mit dem Ergebnis einer rasant wachsenden Desynchronisation, d.h. einem temporalen Auseinanderklaffen zwischen turbobeschleunigten Finanzmärkten einerseits und der abgehängten

46 Realökonomie andererseits. Denn am Kaiserhof besteht in der Tat bereits ein dringender Bedarf nach beschleunigter Geldvermehrung im Dienste der Devise: „Wir müssen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr.“ Wir betreten hier die Vorstufen der modernen Anspruchs- und Forderungsgesellschaft gegenüber dem Staat. Der Staat kann jedoch den ständig wachsenden monetären Bedarf dieser Gesellschaft durch kleptokratische Umverteilung in Gestalt von Steuern nicht mehr befriedigen, mit der Folge, dass das Reich in Anarchie versinkt. Die Verschuldung des Staates wächst „veloziferisch“, und das Kaiserreich steht am Rande des Staatsbankrotts. Auf dem Höhepunkt seiner Ratlosigkeit dient sich Faust – mit Hilfe Mephistos – als Finanzberater und Haushaltsexperte an. Sein Konzept lautet: schnelle und grenzenlose Geldvermehrung durch Papiergeldschöpfung. Binswanger hat diesen Vorgang der märchenhaften Geldvermehrung durch Fausts Papiergeldschöpfung am Kaiserhof mit guten Gründen als Fortsetzung der Alchemie bzw. der Magie mit anderen Mitteln interpretiert. Statt Blei zu Gold verwandelt Faust Papier zu Geld. Goethe hat demgegenüber in Weimar als Finanzminister dieser modernen Versuchung der Geldschöpfung aus dem Nichts widerstanden. Er kannte die katastrophalen Folgen der Papiergeldschöpfung seiner Zeit: die französischen Assignaten von 1792, die preußischen Banknoten von 1806 und das österreichische Papiergeld von 1810. Er hatte den Mut, seinen Herzog von der bitteren Notwendigkeit des Schuldenabbaus zu überzeugen. Faust hingegen bedient mit seiner magischen Geldvermehrung am Kaiserhof bereits jene Leistungsverweigerungstendenz, die Oswald

47 Spengler als eines der zentralen Merkmale für den „Untergang des Abendlandes“ bezeichnen wird: den grenzenlosen „Durst nach Geld ohne Arbeit“. In Goethes Kaiserpfalz erfindet man mit dem Papiergeld das hierzu passende Finanzprodukt. Es weist der Moderne den Weg zur grenzenlosen Beschleunigung und Diversifizierung weiterer virtueller Finanzprodukte. Mit dem Ergebnis, dass sich in den letzten 30 Jahren vor der Finanzkrise das westliche Wirtschaftswachstum nach vorsichtigen Schätzungen bis zu 40 Prozent auf ein Scheinwachstum stützte, das auf dem Handel von Finanzprodukten und Vermögenstiteln beruhte, die keinerlei Beziehung mehr zum Markt der Güter und Dienstleistungen hatten. Goethe antizipiert in der Kaiserpfalz nicht nur die immer höhere Umschlaggeschwindigkeit virtuellen Kapitals, sondern gleichzeitig auch das Versagen der Aufsichtseliten beim Auseinanderdriften von Finanzund Realwirtschaft. Auch der Kaiser als höchste monetäre Kontrollinstanz versagt. Er billigt das rasant sich verbreitende Papiergeld und die von Mephisto organisierte Urkundenfälschung auf der kaiserlichen Schuldverschreibung mit den leichtsinnigen Worten: „So sehr mich’s wundert, muss ich’s gelten lassen.“ Und sein Finanzminister, der Schatzmeister, rühmt noch bedenkenloser Faust und Mephisto als die monetären Magier: Soll zwischen uns kein fernster Zwist sich regen! Ich liebe mir den Zaubrer zum Kollegen. Kaiser und Schatzmeister sind froh, dass sich der Staat auf diese Weise scheinbar seiner Schulden entledigen kann. Der Einzige, der die möglichen Folgen dieser alchemistischen Geldvermehrung erkennt, ist der Hofnarr. Er tritt eilig die Flucht in die Sachwerte an und nutzt die paradox-absurde Situation. Er erwirbt Realwert durch Zahlung mit virtuellem Geld: „Heut abend wieg’ ich mich in Grundbesitz.“ Und es ist Mephisto, der ihn ironisch lobt mit den Worten: „Wer zweifelt noch an

48 unseres Narren Witz!“ Der Kaiser hofft vergeblich, dass das neu geschaffene Geld zur Wertschöpfung genutzt wird und muss resigniert feststellen: Ich merk’ es wohl: bei aller Schätze Flor, Wie ihr gewesen, bleibt ihr nach wie vor. Das bedeutet, die Gesellschaft verlangt weiterhin Weltverbesserungen ohne die Anstrengung eigener Selbstverbesserung. Und sie entschuldigt das Fehlen von Leistungs- und Verzichtbereitschaft mit dem Hinweis auf die Sachzwänge einer grenzenlosen Konsum-Idolatrie. Die Devise kannte Goethe durch die Lektüre zeitgenössischer nationalökonomischer Schriften. Binswanger hat gezeigt, dass Goethe durch diese Lektüre – in der Zeit des Übergangs vom Metall- zum Papiergeld und damit zum Kreditwesen – den Beginn der ungeheuren Dynamik der modernen Geldwirtschaft erkannt hat. Goethe führe in Gestalt der drei Helfer Fausts (Habebald, Haltefest und Raufebold) sogar ein Beispiel der frühkapitalistischen Produktionsweise vor. Er gelangte zu diesen frühen Einsichten, weil er vor allem jene Autoren seiner Zeit studierte, die dem Geld bereits eine primäre Rolle im Wirtschaftsprozess zuerkannten. Vor allem Saint-Simon hatte 1814 schon eine Beschleunigung des Papiergeldumlaufs gefordert, „um der französischen Industrie Aufschwung zu verleihen“. Mit der Umstellung der Ökonomie von der klassischen Bedarfsbefriedigung auf die Mehrwertproduktion war (in der Frühzeit der Industrialisierung) das entstanden, was Goethe im „Faust II“ auf die lapidare Formel bringt: „Wir brauchen alle Tage mehr.“ Das heißt vor allem: mehr Geld. Denn der alte Zirkulationsprozess in der Form Ware – Geld – Ware war jetzt umgestellt auf einen völlig neuen, dynamischen, auf Geld basierenden Zirkulationsprozess: Geld – Ware – mehr Geld. Und gleichzeitig war mit diesem Umstellungsprozess die Grundlage für die spezifisch kapitalistische Ökonomie der beschleunigten Zeit geschaffen. Es galt nun das Beschleunigungsprinzip als Möglichkeit der Profitmaximierung und, damit verbunden, die immer schnellere Nachfrage nach mehr Geld für Investitionen zur Produktionsbeschleunigung. Goethe hat es jedoch nicht bei der Schilderung der Geburtsstunde der modernen Finanzkrise am Kaiserhof belassen. Er spiegelte in „Faust II“ auch die geistigen, moralischen und ökologischen Kollateralkrisen dieser Geburtsstunde einer radikalen Monetarisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche metaphorisch. Goethe erkennt auch schon den modernen Menschentyp im Weltinnenraum des virtuellen Kapitals: den Menschen als „Humankapital“. 1825 erläutert Goethe seinem Freund

49 Zelter in Berlin, dass das „Durchrauschen des Papiergeldes“ und das „Anschwellen der Schulden, um Schulden zu machen“, die ungeheuren Elemente sind, „auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.“ Um hieraus den Schluss zu ziehen: „Alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt [...]. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“ Mit der Formulierung „niemand kennt sich mehr“ gibt Goethe zugleich Einblick in das Psychogramm des Menschen als „Humankapital“. Er ahnt, dass der Zeitstrudel des „Reichtums und der Schnelligkeit“ zur Selbstentfremdung führen muss. Denn das Leben wird zwar nach vorwärts gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden. Und es ist Faust, der im Schlussakt der Tragödie als Turbokapitalist und Projektemacher im Namen des Fortschritts bereits jedes rückwärtsgerichtete Verstehen des Lebens ablehnt. Sein Vergangenheitshass gipfelt in der Liquidierung von Philemon, Baucis und Göttervater Zeus. Sie sind die Opfer einer rapiden Erosion des kulturellen Gedächtnisses. Mit Philemon und Baucis liquidiert Faust aber auch das materielle kulturelle Erbe: Seine bereits erwähnten Helfershelfer zerstören die Kapelle, die Hütte und die alten Bäume. Faust stammt offenbar aus Dresden, denn er setzt sich im Namen des Fortschritts bereits vor 180 Jahren über UNESCO-Kulturerbe-Vorschriften hinweg. Die salvatorische Vollzugsmeldung seiner eiligen Helfershelfer der Mobilmachungsgesellschaft lautet denn auch: Hier kommen wir im vollen Trab. Verzeiht, es ging nicht gütlich ab. Mit dem Verlust des kulturellen Gedächtnisses antizipiert Faust auch die Entwicklung des modernen Bildungsbegriffs: An die Stelle von Bildung als gedächtnisgestützter Urteilskraft tritt der durch den Bologna-Prozess beschleunigte Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Das Gedächtnis wird im Übrigen delegiert an elektronische Speicher mit immer rascheren Innovationszyklen und sinkenden Halbwertszeiten. Das Motto der damit einhergehenden progressiven digitalen Demenz lautet: „Gespeichert, das heißt vergessen“ (Hans Magnus Enzensberger). Die Gefahren dieses Bildungsverständnisses hatte der Goethe-Bewunderer Grillparzer bereits 1849 auf die Formel gebracht: „Der Weg der neueren

50 Bildung geht von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“ Und Goethe selber führt in „Faust II“ die Folgen der „Bestialität“ im Zeichen gedächtnisloser Bildung vor. Es sind Folgen vor allem für die alternde Gesellschaft, erläutert am Beispiel eines jungen Bachelors, der den als alten Gelehrten verkleideten Mephisto mit der Entsorgungsformel überrascht: Hat einer erst die dreißig Jahr vorüber, So ist er schon so gut wie tot. Am besten wär’s, euch zeitig totzuschlagen. Zu spät bereut Faust die Kollateralschäden seiner eigenen Fortschrittsdynamik: „Geboten schnell, zu schnell getan.“ Karl Valentin hat im 20. Jahrhundert seine Zuhörer mit der humorvollen Einsicht unterhalten, dass alle Menschen eigentlich klug seien: „Die einen vorher, die anderen nachher.“ Faust gehört bereits zur letzten Kategorie. Er ist unfähig, das Leben rückwärts zu verstehen. Mit der Folge, dass ihm sein ausschließlich profitorientiertes Zukunftsbewusstsein die modernste aller Krankheiten beschert: die Blindheit im Zeichen der Sorge. Die Sorge, die in Gestalt einer alten Frau Faust das Augenlicht raubt, erläutert diese Krankheit mit Worten, die die Frage berechtigt erscheinen lassen: Ist Goethe der Schwarzseher des 21. Jahrhunderts? Die Worte der Sorge lauten: Wen ich einmal mir besitze Dem ist alle Welt nichts nütze; […] Glück und Unglück wird zur Grille, Er verhungert in der Fülle; […] Ist der Zukunft nur gewärtig, Und so wird er niemals fertig. Faust wird nicht fertig, weil er durch seine Fortschrittsorientierung gezwungen ist, immer schneller höheren Gewinn zu erwirtschaften. Er muss daher auch den Mehrwert der Arbeit seiner Mitarbeiter steigern. Der blinde Faust glaubt zwar, mit freiem Volke auf freiem Fuße zu stehen. In Wahrheit aber stehen seine Mitarbeiter unter immer höherem Zeit- und Leistungsdruck. Sie sind bereits die Zwangsarbeiter der Moderne. Diese Wachstums- und Fortschrittsorientierung resultiert im „Faust“ allerdings nicht nur in der gezeigten Menschenunterwerfung unter das Diktat der profitorientierten Beschleunigung. Goethe weiß, dass ein entscheidender Baustein noch fehlt: die Unterwerfung der Natur. Faust, der in seiner Blindheit am Ende nicht erkennt, dass das emsige Klappern der Spaten seinem eigenen Grab gilt, hinterlässt die Erde als Riesenbaustelle seiner Naturbeherrschungsobsessionen. Wir sehen als Schlussbild der Tragödie nicht nur Fausts Palast als Denkmal seiner Profitorientierung,

51 sondern auch zerstörte Biotope und gigantische Damm- und Kanalkonstruktionen gegen das Meer, das zur Landgewinnung trockengelegt werden soll. Mephisto erkennt diese Baustelle als die Ursache künftiger Rachefeldzüge der Natur, als die Geburtsstunde globaler Klimakatastrophen aus dem Geist faustischer Fortschritts-Idolatrie. Hinter vorgehaltener Hand flüstert Mephisto die apokalyptischen Worte: Du bist doch nur für uns bemüht Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; Denn du bereitest schon Neptunen, Dem Wasserteufel, großen Schmaus. In jeder Art seid ihr verloren; – Die Elemente sind mit uns verschworen, Und auf Vernichtung läuft’s hinaus. Es ist auch Mephisto, der die dreifache Unterwerfung von Mensch und Natur unter das Diktat des Wachstums als fatales Nullsummenspiel bilanziert: Was soll uns denn das ew’ge Schaffen! Geschaffenes zu Nichts hinwegzuraffen! […] Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen, Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich lobe mir dafür das Ewig-Leere. Zum Schluss stellt sich die Frage: Hat Goethe als Krisenphänomenologe auch über Therapiemöglichkeiten reflektiert? Er war nicht nur Schwarzseher und hat den Widerspruch geliebt. So fordert er denn auch das Gegenteil apokalyptischer Szenarien: „Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!“ Aber wie lässt sich das Leben angesichts einer inzwischen alle Lebensbereiche erfassenden Lichtgeschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde bewältigen, die sich als irreversibel erweist? Das Fazit im Faust lautet: „Die kühnsten Kletterer sind jetzt konfus.“ Goethe zeigt jedoch einen Ausweg in Gestalt „sehr ernster Scherze“. Dieser ironische Ausweg trägt den Namen Homunculus. Im Faust lässt Goethe durch – den zum Molekularbiologen avancierten Famulus – Wagner ein künstliches Wesen entstehen: mit einem optimier-

52 ten Gehirn, das sich möglicherweise auch für die Bewältigung moderner Beschleunigungsturbulenzen eignet. Es ist die Vision des Eingriffs in den Genotyp des Menschen mit dem Ziel der Veränderung seines antiquierten Phänotyps. Goethe hat es allerdings nicht bei diesem „sehr ernsten Scherz“ als Therapievorschlag belassen. Er kennt auch ein ernstes – und sehr unbeliebtes – Rezept, das im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre zu finden ist. Dort lautet es: „Der verständige Mann braucht sich nur zu mäßigen, so ist er auch glücklich.“ Goethe war davon überzeugt, dass Weltverbesserung nur durch Selbstverbesserung möglich ist im Sinne von Genügsamkeit: einer Kultur des Maßhaltens, des Verzichts und der Nachhaltigkeit. Er schlägt daher im Sinne dieser neuen Genügsamkeit einen ökonomischen Paradigmenwechsel vor, wenn er behauptet: „Nur in der Mäßigkeit ist der Reichtum“. Was er damit meint, hat er anhand einer Neudefinition von „Reichtum“ und „Eigentum“ erläutert – in einem Gedicht mit dem Titel Eigentum. Es enthält eine provozierend kühne Feststellung mit einem geheimen Entschleunigungsrezept: Ich weiß, daß mir nichts angehört. Als der Gedanke, der ungestört Aus meiner Seele will fließen, Und jeder günstige Augenblick, Den mich ein liebendes Geschick Von Grund aus läßt genießen. Goethe ist andererseits zu Recht als einer der größten Realisten anzusehen. Immerhin war er fünf Jahre lang Finanzminister in Weimar. So ist bei dieser Neudefinition des Begriffs „Eigentum“ und den geringen Chancen dessen globaler Akzeptanz zu berücksichtigen, was Goethe über die Herkunft und Zukunft des Menschen 1829 gegenüber Eckermann geäußert hat: „Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht und Gott soll mich auch davor behüten.“ Optimismus in Sachen Zukunft bedeutete also im Falle Goethes nichts anderes als Mangel an Information. Aber er hätte wahrscheinlich dennoch der Maxime des österreichischen Komödiendichters Nestroy zugestimmt: „Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich auf, aber erst dann.“

53 Manfred Osten ist Autor, Jurist und Kulturhistoriker. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Musik- und Literaturwissenschaften trat er in den Auswärtigen Dienst ein und verbrachte mehrere Jahre im Ausland in deutschen Botschaften, wo er verschiedene Funktionen im diplomatischen Bereich bekleidete. Er ist durch zahlreiche Lesungen und Vorträge im In- und Ausland sowie seine Fernsehinterviews mit Alexander Kluge bekannt. Mit Goethe beschäftigt er sich in seinem Buch „Alles veloziferisch“ oder „Goethes Entdeckung der Langsamkeit: zur Modernität eines Klassikers im 21. Jahrhundert“ (2003).

Das Schic ksal Fausts als Weg de s Wissens Die Magistertragödie als Einheit des Faust-Dramas Gernot Böhme

57 Goethes Faust trägt den Untertitel „Eine Tragödie“. Damit ist das Werk eindeutig in eine der großen Gattungskategorien des Dramas eingeordnet. Gleichwohl hat man seit je Probleme damit gehabt, das Stück auf die Bühne zu bringen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass „Faust I“, der noch am ehesten als Theaterstück angesehen werden kann, erst 21 Jahre nach seiner Veröffentlichung uraufgeführt wurde – bei „Faust II“ hat es sogar 44 Jahre gedauert. Der Text ist mit so vielen – zum großen Teil sogar allegorisch dargestellten – Lehrinhalten gefüllt, dass man guten Grund hat, ihn zumindest auch als Lehrgedicht zu lesen, als Lehrgedicht über „die große und die kleine Welt“. Diese Lehrinhalte haben allerdings auch einen Bezug zu Faust als Tragödie, und zwar dann, wenn man als das zentrale Thema die Tragödie des Wissens, die Tragödie des Wissen-Wollens ansieht. Man nennt diese Tragödie traditionell die „Magistertragödie“ und unterscheidet sie von der „Gretchentragödie“. Letztere beherrscht – insbesondere für den teilnehmenden Zuschauer – ganz eindeutig „Faust I“. Dass Faust selbst ein tragischer Held ist, verblasst demgegenüber häufig, insbesondere wenn man Fausts Verzweiflung am Wissen-Können mit der Paktszene als beendet ansieht. Doch sehen wir uns die Stelle, mit der Faust den abgeschlossenen Pakt kommentiert, genauer an: Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern.

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Faust weist an dieser Stelle Mephistos Interpretation seines Weges aus dem Studierzimmer hinaus in die Welt zurück: „Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede.“ Doch wenn er sagt, dass er vom Wissensdrang geheilt sei, so geht es doch nur um den Verzicht auf ein ganz bestimmtes Wissen: nämlich das distanzierte Wissen der Wissenschaft, während er sich nun mit Mephisto auf den Weg der Selbsterfahrung macht. Zwar ist auch bei ihm vom Genießen die Rede, doch er will, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, „[m]it meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen“.

59 Mit dem „Geist“ also will er die Welt begreifen und nicht nur mit dem Gemüt oder, wie er sagt, in seinem Busen. Dieser zweite Weg der Wissensgewinnung beginnt bereits mit der Gretchengeschichte, sie führt Faust dann jedoch durch die große Welt, d.h. durch die Welt der Gesellschaft, der Politik, der Ökonomie und endet schließlich im Großprojekt der Naturbeherrschung. Welches sind nun die Wissensformen, die Magister Faust durchwandert? Einige werden gleich am Anfang im großen Monolog erwähnt, in dem Faust seine Unzufriedenheit an den ihm bis dahin bekannten Wissensformen zum Ausdruck bringt. Da ist zunächst das Wissen, das an den Fakultäten der mittelalterlichen Universität tradiert wird: Philosophie, Juristerei, Theologie und Medizin. Es handelt sich um das scholastische Wissen, das als im Prinzip abgeschlossen unterstellt wurde. Deshalb war der Mann der Wissenschaft im Mittelalter der Gelehrte, nicht der Forscher. Der Wissenserwerb erfolgte durch Lektüre und Kommentar. Die Bücher waren Hort und Basis dieses Wissens. Faust artikuliert seine Unzufriedenheit an dieser Wissensform ähnlich wie es die Londoner Royal Society mit der Maxime „nullius in verbis“ getan hatte. Er wünscht sich „nicht mehr in Worten [zu] kramen“. Es ist wichtig, dass Faust bereits in der Eingangsszene Nacht das Ungenügen jener Wissensform ausdrückt, die auch Francis Bacon dem mittelalterlichen Wissen entgegengesetzt hatte, nämlich der experimentellen Forschung im Sinne von Mechanik. Mit Blick auf die in seinem Laboratorium angesammelten Instrumente sagt er: Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihn nicht die Riegel. Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, Und was sie Deinem Geist nicht offenbar macht, Das zwingst Du ihr nicht ab mit Hebel und mit Schrauben.

60 Faust unterstellt hier, dass Natur sich auch von selbst zu zeigen vermag. Gleichwohl ist sie in ihrem Wesen nicht manifest, sie ist schamhaft weiblichen Charakters, sie verbirgt sich hinter einem Schleier. Faust bezeichnet es als vergebliches Bemühen, ihr diesen Schleier zu entreißen. Er sieht, wie schon Platon in seinem Dialog Timaios, den Versuch, mit Instrumenten der Natur ihr wahres Wesen zu entreißen, als Folter an. Weder die mittelalterliche Gelehrsamkeit noch die neuzeitliche experimentelle Forschung kann Faust geben, was er als eigentliche Erfüllung seiner Sehnsucht ansähe, nämlich das Wesen der Natur zu enthüllen. Im Eingangsdialog drückt er dies so aus: Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau’ alle Wirkenskraft und Samen […]. Wir müssen festhalten, dass Faust in der Eingangsszene die neuzeitliche Wissenschaft noch unzureichend zum Thema macht, nämlich nur in ihrem methodisch-experimentellen Vorgehen und noch nicht im Hinblick auf das darin implizierte Naturbild. Das geschieht erst in Faust II mit der Szene Laboratorium bei der Erschaffung des Homunculus. Am Anfang scheint Faust sich jedoch noch eine dritte Wissensform als Alternative anzubieten, nämlich die Magie oder Alchemie. Fausts Auseinandersetzung mit der Magie ist insofern besonders wichtig, weil im Stück vorgeführt wird, welche Erfahrungen Faust dabei macht. Bekanntlich geht es in der Alchemie nicht bloß um objektivierendes Wissen und effektives Können, vielmehr soll der Alchemist in seinem Umgang mit alchemistischen Prozessen selbst reifen. Der Stein der Weisen als Ziel dieses Wissens ist deshalb nicht bloß ein Mittel, Stoffe zu verwandeln, beispielsweise in Gold, sondern vielmehr ein Garant für die Weisheit des Alchemisten selbst. Insofern stellen Fausts Bemühungen auf diesem Gebiet bereits den Übergang zu jenem Wissenstyp dar – Wissensgewinnung durch Selbsterfahrung – , den er jenseits des Paktes mit Mephisto verfolgen wird. Fausts Umgang mit der Magie durchzieht das gesamte Drama. Erst mit dem Eintreffen der Sorge im 5. Akt von „Faust II“ sagt er sich davon los: Noch hab’ ich mich ins Freie nicht gekämpft. Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen; Stünd’ ich, Natur, vor dir ein Mann allein Da wär’s der Mühe wert ein Mensch zu sein. Wenn man den Bogen allerdings derart weit spannt, dann muss man zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher, d.h. zwischen schwarzer und weißer Magie unterscheiden. Während in ersterer der Magier durch

61 Vision und Beschwörung versucht, sich direkt mit den Naturkräften in Verbindung zu setzen, so ist es in der neuzeitlichen Magie die technische Mobilisierung von Naturkräften, welche zum Ziel führt. Diese werden in „Faust II“ als die wilden Gesellen des Mephisto eingeführt, mit deren Hilfe Faust einerseits in der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Gegenkaiser obsiegt und andererseits das großtechnische Werk der Landgewinnung und Kultivierung in die Tat umsetzt. Eine Vision der Naturkräfte erfährt Faust angesichts des Zeichens des Makrokosmos aus dem Buch des Nostradamus. Solche Zeichen waren hochkomplexe Tableaus, die das Zusammenspiel der wichtigsten Instanzen, die den Makrokosmos regieren, symbolisierten. Dazu gehörten die vier Elemente, die vier Winde, die vier Himmelsrichtungen, weiterhin die sieben Planeten, die sieben Erzengel, die sieben Organe. Das Ganze wurde umschlossen vom Tierkreis der Gestirne und beherrscht von Sympathie und Antipathie oder, in der Tradition des Empedokles gesprochen, von Liebe und Hass. Fausts Vision ist durchaus befriedigend: Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! aber letztlich doch enttäuschend: „Welch Schauspiel! Aber ach! Ein Schauspiel nur!“ Deshalb versucht er es auf dem Wege der Beschwörung, und es gelingt ihm tatsächlich, einen der Elementargeister, den Erdgeist, zur Erscheinung zu bringen. Doch diese direkte Erfahrung mit der Natur in ihrer elementaren Gewalt ist für Faust – so sehr er sich danach gesehnt hat – zu viel. Schreckliches Gesicht! […] Weh! Ich ertrag dich nicht! Schlimmer noch, der Erdgeist weist ihn verächtlich und brüsk von sich: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir! Diese Zurückweisung bringt Faust in seinem Wissensbemühen endgültig zur Verzweiflung, gar an den Rand des Selbstmordes und verleitet ihn dazu, sich mit dem Teufel einzulassen. Mit Mephisto kommt es denn auch zu einer zweiten Beschwörung, beim Gang zu den Müttern in Faust II: Finstere Galerie. Auch hier versucht Faust sich auf das, was die Natur im Innersten zusammenhält, existenziell einzulassen. Doch es ist verglichen mit der Schau des Makrokosmos und der Beschwörung eines Elementargeistes quasi der Gegenpol in der werdenden Natur, auf den sich Faust hier einlässt. Sahen Platon und Aristoteles das Werden der Natur als ein Zusammenspiel von Form und Materie an, so begegnet

62 uns in der Alchemie das Formprinzip in Tinkturen und Ingredienzen, während das Materieprinzip als „Matrix“ und letzten Endes als die „Prima Materia“ bezeichnet wird. Letztere erscheint schon bei Platon unter dem Titel der „Chora“ als ein mütterliches Prinzip, und zwar als das Aufnehmende und die Amme des Werdens. Sie ist als solche völlig unbestimmt. Zwar enthält sie Formtendenzen, kann aber ohne die „Befruchtung“ durch das männliche Formprinzip nicht zum Sein gelangen. Entsprechend sagt Mephistopheles, als er die Mütter umschreibt: Die einen sitzen, andre stehn und gehn, / Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung, / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung. / Umschwebt von Bildern aller Kreatur […]. Bei Platon sind es die Figuren der so genannten „platonischen Körper“ – Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder –, in die als Gleichgewichtsformen die regellosen Zitterbewegungen der Chora einschwingen und so zu den vier Elementen als der ersten körperlich fassbaren Materie führen. Die zweite magische Beschwörung von Natur in den Prinzipien ihres Werdens, also der „Natura naturans“, ist für das gesamte Faust-Drama von außerordentlicher Bedeutung, weil sie ein Korrektiv darstellt gegenüber dem Zugriff auf Natur mittels ihrer Formprinzipien – Zahl, Gesetz, Symmetrie – und gegenüber dem neuzeitlichen Projekt der Naturbeherrschung: Der Mensch bleibt letzten Endes auf Materie angewiesen, darauf dass ihm

63 von der Natur etwas gegeben ist und dass die Natur bei seinen Konstruktionen und Regulationen mitspielt. Das wird vor allem durch die Geschichte des Homunculus deutlich. Zuvor muss für das weitere Schicksal Fausts auf dem Weg des Wissens festgestellt werden, dass er sich mit seinem Entschluss, sich der Welt und damit der Natur in ihren sinnlichen wie gesellschaftlichen Erscheinungen zuzuwenden, von der Frage nach dem Wesen der Natur, d.h. nach dem, was die Natur im Innersten zusammenhält, verabschiedet hat. Das ist die phänomenologische Wende, die Goethes eigene Naturwissenschaft – von der Farbenlehre über die Morphologie bis zur Witterungslehre – bestimmt. Er stellt sie unter die Maxime: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.“ Da Goethe diesen Verzicht auf Wesensfragen mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft teilt – bei Newton drückt er sich durch das berühmte „hypotheses non fingo“ aus –, muss genauer gesagt werden, worin Goethes Phänomenalismus besteht. Während für die Naturwissenschaft Newton’scher Prägung Phänomene die Daten sind, die man an Messgeräten ablesen kann, hält sich Goethe strikt an die Phänomene, die uns als lebendigen Wesen, insofern wir Organismen und damit selbst Naturwesen sind, erscheinen. Charakteristisch ist dies in Goethes Definition von Farbe ausgedrückt, denn sie ist für ihn „die gesetzmäßige Natur in Bezug auf den Sinn des Auges“. Diese Zuwendung zu den sinnlich erfahrbaren Phänomenen und damit die Anerkennung der Leiblichkeit des erkennenden Subjektes manifestiert sich bei Faust

65 im Eingangsmonolog zu Wald und Höhle und bildet dann die Überleitung zu „Faust II“ im Eingangsmonolog der Szene Anmutige Gegend. Dort wird die Abkehr von der direkten Schau der Natur und die Zuwendung zu ihren Phänomenen durch Fausts Abwendung von der aufgehenden und ihn blendenden Sonne symbolisiert: „So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!“ Der Monolog schließt mit dem berühmten Vers, in dem Faust die Beschränkung seiner Wissenssuche auf die Welt der Phänomene als allgemeine menschliche Weisheit ausspricht: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ Doch in der Szene Wald und Höhle erscheint die Wendung Fausts überraschend. Während Fausts Erlebnis mit dem Erdgeist durchaus enttäuschend war, heißt es hier: Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Diese neuartige Begegnung mit der Natur, die Faust hier als Gabe des Erdgeistes dankend anerkennt, entspricht ganz dem Goethe’schen Phänomenalismus, wie er ihn paradigmatisch in seiner Farbenlehre entwickelt hat. Es geht darum, Natur nicht aus irgendwelchen Urgründen oder Prinzipien zu erkennen, sondern sie in ihrer Fülle zu erfahren und durch Aufreihung der Phänomene ihren Zusammenhang zu erkennen: Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. In diesen Versen wird sogleich das andere Charakteristikum Goethe’scher Naturerkenntnis formuliert, nämlich die Zugehörigkeit des Erkennenden selbst zur Natur und damit die Anerkennung seiner Verwandtschaft mit den Naturwesen: Sie sind nicht mehr das Andere seiner selbst, sondern Brüder. Wie kommt es bei Faust zu dieser neuen Einsicht? Die Beantwortung dieser Frage ist von größter Bedeutung, weil sie die Magistertragödie mit der Gretchentragödie verbindet: Es ist die leiblich-sinnliche Erfahrung, die Faust in der Liebe zu Gretchen erlebt, die ihn nicht nur in Gretchen die Natur, sondern auch sich selbst als Natur anzuerkennen lehrt. Wald und Höhle stellt in der Beziehung zu Gretchen den Wendepunkt dar, indem Faust von dem erotisch-kommunikativen Liebesspiel zur sinnlichen Begierde übergeht. Zynisch kommentiert von Mephisto fordert Faust die Befriedigung seiner „Begier zu ihrem süßen Leib“. Dass es die leiblich-sinnliche Begegnung mit Gretchen ist, die Fausts Wende zum Phänomenalismus einleitet, findet eine schöne Bestätigung durch eine Parallele in Novalis’ Erzählung „Die Lehrlinge zu Sais“.

Hier wird eine Schule der Naturerfahrung dargestellt, in der die Lehrlinge unterschiedliche Wege gehen. Zentral ist der Weg eines Lehrlings, der in der traumhaften Erzählung von Hyazinth und Rosenblüth dargestellt wird. Darin führt der Weg des Natursuchers durch eine Mannigfaltigkeit von Anblicken und Erfahrungen schließlich in ein Zentrum, in welchem er die Natur in Gestalt seiner Geliebten Rosenblüth erblickt. Wie bereits erwähnt, verdankt die neuzeitliche Naturwissenschaft ihre Erfolge auch einem Verzicht auf die Frage nach dem Wesen der Natur. Die Fragestellung erscheint hingegen auf dem Weg Fausts in die Welt phänomenaler Fülle noch einmal. Ihre Verabschiedung in der Eingangsszene von „Faust I“ war nur eine vorläufige, weil sie noch unter der Perspektive, was die Welt im Innersten zusammenhält, erfolgt war: Mit Hebeln und Schrauben, also auf dem Wege der experimentellen Methode, ließe sich die Natur ihres Schleiers nicht berauben. Der entscheidende Punkt, der die neuzeitliche Naturwissenschaft von der antiken und mittelalterlichen unterscheidet, ist damit jedoch nicht getroffen, nämlich der für sie charakteristische Naturbegriff. In der Antike war das, was im mechanischen Zusammenhang geschah, nicht Natur, sondern geschah „para physin“, d.h. neben oder gegen die Natur. Es wurde, wie der Ausdruck „mechanike techne“ sagt, der Natur nur „abgelistet“. Seit Galilei jedoch wurde gerade die Mechanik zum Paradigma der neuen Wissenschaft und das hieß, dass sich Natur nach diesem Konzept im mechanischen Zusammenhang gerade am Reinsten darstellte. Daraus folgte aber auch, dass Natur nicht mehr die „Natur da draußen“ war, also das von der Natur gegebene, sondern das unter bestimmten Rahmenbedingungen gesetzlich Mögliche. Auf diese Weise konnte auch als Natur angesprochen werden, was in der „Natur da draußen“ gar nicht vorkam. Dadurch wandelte sich auch das Bild des Naturwissenschaftlers. War vor Galilei ein Naturwissenschaftler jemand, der wusste, was von Natur aus ist, so wurde er danach zum Erfinder, zum Ingenieur. Deshalb betitelt Francis Bacon sein Buch über die Methode der neuen Wissenschaft auch Regulae ad directionem ingenii. „Ingenius“, das ist der Erfindungs-geist. Dieses Konzept von neuzeitlicher Naturwissenschaft erscheint erst in „Faust II“, und zwar nicht in Faust selbst, sondern in seinem Nachfolger und ehemaligen Famulus Wagner. Der Schüler, inzwischen Baccalaureus, formuliert die neue, konstruktivistische Weltsicht gegenüber Mephisto: „Die Welt sie war nicht, eh ich sie erschuf“, und über Wagner, den neuzeitlichen Wissenschaftler, sagt Faust: „Er ist es, der allein erfand“.

66 Wagners Projekt, das vor den Augen von Faust und Mephisto realisiert wird – nicht ohne die Hilfe Mephistos –, ist denn auch nicht mehr ein Projekt des Entdeckens und Ergründens, sondern ein Projekt der Herstellung. „Es wird ein Mensch gemacht“, heißt es in der Szene Laboratorium in„ Faust II“. Homunculus, das Projekt eines künstlichen Menschen, ist die Vergegenständlichung dieses Geistes neuzeitlicher Naturwissenschaft, der Idee von Erkenntnis durch Rekonstruktion und Konstruktion. War dem gerade in Bezug auf das Phänomen des Lebens noch bis in Goethes Tagen eine Grenze gesetzt, weil man meinte, dass die zu ihrer Entstehung notwendigen organischen Stoffe noch einer besonderen physikalisch-chemischen, nicht erfassbaren „Lebenskraft“ bedurften, so hat Goethe gerade mit der Synthese des Harnstoffs durch Wöhler die Durchbrechung dieser Grenze miterlebt. Konsequent geht er noch einen Schritt weiter, indem er Wagner die Idee eines Lebens auf Silizium- anstelle von Kohlenstoffbasis in den Mund legt: Und was sie sonst organisieren ließ, Das lassen wir kristallisieren. Die künstliche Herstellung eines Menschen ohne Zeugung und ohne Uterus wird am Ende jedoch scheitern. Homunculus ist nur ein Phänomen, das unter Laborbedingungen existiert, nach Goethe eine unvollständige Existenz. Was ihm fehlt, ist die Materie, das mütterliche Prinzip. Die Phiole des Homunculus zerschellt schließlich in der klassischen Walpurgisnacht am Wagen der Meeresgöttin Galathea. Erst nach seiner Zerstreuung im Element des Wassers kann sich die wahre Entstehung, die schließ-

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68 lich zum Menschsein führt, vollziehen. Der Naturphilosoph Thales kommentiert dies in der Szene Felsbuchten des Ägäischen Meeres folgendermaßen: Da regst du dich nach ewigen Normen, Durch tausend abertausend Formen, Und bis zum Menschen hast du Zeit. Die Lehre, die Goethe durch die Homunculus-Episode mitteilen will und die Faust aus ihr zieht, ist: Die neuzeitliche Naturwissenschaft enthält die Illusion, dass sie die Natur rekonstruieren und schließlich auch konstruieren könne. Sie bleibt aber auf die Natur als etwas Gegebenes angewiesen. Wenn sie der Natur künstlich ihre Form aufprägen will, so setzt sie die Natur als Materie bereits voraus, und zwar als solche, die die gewünschte Form auch aufnimmt.

Dieser Aspekt führt uns zu der letzten Wissensform, an der Faust am Ende scheitert: neuzeitliche Technologie. Sie wird in Fausts großem Landgewinnungs- und Kultivierungsprojekt vorgeführt. Diese Technologie rechnet durchaus mit Naturgewalten, doch sie glaubt, sie beherrschen zu können, und zwar indem sie ihr selbst Gewalt entgegensetzt bzw. diese Gewalten gegeneinander ausspielt. Dagegen führt der Naturphilosoph Thales bereits in der klassischen Walpurgisnacht an, dass sich die Bildungen der Erdoberfläche letzten Endes nicht der Gewalt, d.h. dem Vulkanismus verdanken: „Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt“. Dieser gewaltsame Umgang, der darauf abzielt, Natur zu beherrschen, wird zunächst von Baucis geschildert: Tags umsonst die Knechte lärmten, Hack’ und Schaufel, Schlag um Schlag, Wo die Flämmchen nächtig schwärmten Stand ein Damm den andern Tag. Menschenopfer mußten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual; Meerab flossen Feuersgluten, Morgens war es ein Kanal. Dieses gewalttätige Vorgehen in Fausts Projekt richtet sich nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen soziale Verhältnisse, die ihm im Wege stehen könnten. Deshalb beauftragt er Mephisto, das Ehepaar Philemon und Baucis umzusiedeln – ein Vorgehen, das mit deren Tod endet. Mephisto kommentiert zynisch: Nach überstandener Gewalt Versöhnt ein schöner Aufenthalt.

69 Die rücksichtslose Einstellung von Faust zu anderen Menschen wird von ihm selbst formuliert, als er nach seiner Blendung dazu antreibt, sein Werk möglichst bald zu beenden. Zu Mephisto sagt er: Wie es auch möglich sei Arbeiter schaffe Meng’ auf Menge, Ermuntere durch Genuß und Strenge, Bezahle, locke, presse bei! In diesem gewaltsamen Vorgehen gegen die Natur und seine Arbeiter manifestiert sich Fausts eigentliche Verblendung. In der Vision, in der er die Vollendung seines Werkes imaginiert und damit einen Augenblick, zu dem er sagen könnte „Verweile doch, du bist so schön“, heißt es: Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Dies aber ist eine Illusion. Fausts Kolonisierungsprojekt ist nicht durch die freiwillige und kooperative Arbeit zukünftiger Siedler entstanden, sondern durch Lohnsklaven, die Faust mit Mephistos Hilfe zusammengeholt und in äußerst repressiver Weise zur Realisierung seines Projektes eingesetzt hat. Die Tragik Fausts, der mit allen intellektuellen Kräften, mit dem Einsatz seiner Person und mit allen Sinnen nach Erkenntnis gesucht hat, besteht darin, dass er die Weisheit nicht erreicht, dass ihm keine Erleuchtung widerfährt und dass er am Ende erblindet. Es ist gerade das Programm der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik, wie es von Francis Bacon formuliert wurde und das der Aufklärung und Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse dienen sollte, welches durch die Gewaltsamkeit des Vorgehens Naturkatastrophen hervorruft und gesellschaftlich zu repressiven und ausbeuterischen Verhältnissen führt. Das Scheitern des Magisters Faust ist zugleich das Scheitern des Bacon’schen Programms.

Gernot Böhme war Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Sein Arbeitsbereich umfasst Ästhetik, Leib- und Technikphilosophie, wobei für ihn die Bewahrung von Humanität und Natur unter Bedingungen technischer Zivilisation ein zentrales Thema darstellt. Neben zahlreichen Arbeiten zu Platon und Kant veröffentlicht er auch zu Goethe, u.a. in „Goethes Faust als philosophischer Text“ (2005). Er ist Direktor des privaten Instituts für Praxis der Philosophie e.V. in Darmstadt und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft.

Himml ische „L iebe?“ Goethes „Faust“ sexualwissenschaftlich betrachtet Erwin J. Haeberle

73 Um es gleich vorweg zu sagen: Goethes Faust ist sexualwissenschaftlich uninteressant. Wir alle wissen: Es ist Deutschlands größtes sprachliches Meisterwerk. Kein anderer Text bietet so viele literarische Stilebenen, sowohl Prosa als auch die verschiedensten Versformen. Hier finden wir das einfache Volkslied ebenso wie den Spottgesang, den Kirchenchoral und die ekstatische Hymne. Dabei ist das Stück keineswegs nur ausgeklügelte Literatur, sondern es „greift hinein ins volle Menschenleben“. Mit einer überbordenden Fülle von Geschehnissen und Gedanken schreitet es „den ganzen Kreis der Schöpfung aus“. Es enthält sowohl Tragik wie Komik, spielt mit Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung, amüsiert mit historischen Anspielungen, überrascht mit unerwarteten Wendungen und verblüfft mit theatralischen Effekten. Es liefert viele Paraderollen für Schauspieler und fast unendliche Möglichkeiten für Bühnenbildner, Kostümschneider und Bühnentechniker. Es ist auch kühn in seiner Dramaturgie. Besonders der zweite Teil ist für seine Zeit geradezu avantgardistisch. Kurz: Goethes „Faust“ enthält so viel „Stoff“, so viel Gewagtes und Experimentelles, so viele denkbare Interpretationen, dass man all das nur demütig bestaunen kann. Was aber Sexualität und Erotik angeht, so bleibt alles im engen Rahmen des Konventionellen. Das ist merkwürdig, denn in Goethes anderen Dichtungen lernen wir einen ganz anderen Autor kennen, einen, dem nichts Menschliches fremd ist, der alle sexuellen Praktiken kennt, der auch von erotischen Abgründen weiß und erstaunlich offen über seine eigenen skandalösen sexuellen Gedanken und Taten schreibt. Wer den Erotikexperten Goethe kennen lernen will, muss zu seinen Romanen greifen – zu den Wahlverwandtschaften und zum Wilhelm Meister. Vor allem jedoch muss man Goethes Lyrik lesen. Hier durchbricht er die zu seiner Zeit üblichen Sittsamkeitsschranken – von den „Römischen Elegien“ bis zu den „Venezianischen Epigrammen“. Aber auch anscheinend harmlose volkstümliche Gedichte haben es in sich: Wer erkennt schon gleich, dass im „Heideröslein“ ein Mädchen ihren Vergewaltiger mit der vorher offen angedrohten Syphilis ansteckt? Auch bemerken die meisten Leser nicht, oder wollen es nicht, wie unheimlich die Ballade vom Erlkönig tatsächlich ist. Das Erschreckende darin ist die Vision des fiebrigen

74 Knaben, die der Vater als törichte Einbildung abtut. Woher hat sein kleiner Sohn die Vorstellung, dass der Erlkönig, ein Mann mit halbwüchsigen Töchtern, sich in ihn verliebt hat, ihn mit Versprechungen umwirbt und ihn schließlich, gereizt von seiner „schönen Gestalt“ vergewaltigt? Von solchen sexuellen Abwegigkeiten sind die beiden Teile des Faust völlig frei. Hier gibt es Verliebtheit, chemische Potenzverstärker und konventionellen Sex. Es gibt nichts, was nicht jeder damals als alltäglich kannte und heute als „völlig normal“ akzeptiert. Es gibt hier nichts, worüber es sich sexologisch zu diskutieren lohnt. Damit wäre nun mein bescheidener Beitrag zu Ende, denn die wirklich dramatischen Ereignisse im Faust gehören in das Gebiet anderer Fachleute. Der Sexualwissenschaftler räumt hier gerne das Feld. Dennoch: Es gibt etwas, das ihn innerlich weiter beschäftigt und das vielleicht doch in sein Fachgebiet fällt. Es ist der Schluss des zweiten Teils der Tragödie. Dieser hat etwas Rätselhaftes, Beunruhigendes, schon für den flüchtigen Leser. Erst recht gilt dies für jeden, der ihn szenisch umsetzen soll. In ihm verbindet sich höchstes Pathos mit obszöner Komik – eine Herausforderung für das Theater. Deshalb scheint es mir klug, eine Inszenierung beider Teile des Faust vom Schluss her zu konzipieren. Nach dieser Methode möchte ich nun selbst mit meinen Anmerkungen verfahren. Zunächst die Szene Grablegung: Wir erinnern uns, dass es dabei um den Ausgang zweier Wetten geht – einer großen, die Mephisto mit dem „großen Herrn“ des Himmels eingegangen war, und einer kleinen, die er mit Faust abgeschlossen und vertraglich besiegelt hatte. Diese „kleine“ Wette mit Faust gewinnt er; die „große“ mit dem Herrgott aber verliert er, und damit entgeht ihm auch noch der rechtmäßige Gewinn aus der „kleinen“ Wette. Am Ende steht er also als doppelter Verlierer da. Wie kam es dazu? Der Prolog im Himmel schildert uns die Wette des Herrn mit Mephistopheles: Wenn es diesem gelingt, Faust vom rechten Wege abzubringen und mit sich hinab zu ziehen, so darf er seine Beute behalten und triumphieren. Die zweite Wette schließt Mephistopheles mit Faust selbst in dessen Studierzimmer ab: Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! Der Ausgang dieser zweiten Wette ist eindeutig: Am Ende des Stücks erscheint auf der Bühne ein greiser, erblindeter Faust als Großunter-

75 nehmer, dessen Projekt einer Landgewinnung kurz vor dem Abschluss steht. Vor seinem inneren Auge sieht er schon die neuen, glücklichen Siedler und ruft voller Stolz auf die eigene Leistung: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick. Damit hat er sein Schicksal besiegelt. Er stirbt und wäre nun die Beute seines Wettgegners, wenn nicht Mephistopheles noch seinen ersten, großen Wettpartner hätte. Wie sich nun herausstellt, hat dieser sozusagen noch „ein As im Ärmel“ und spielt es überraschend aus. Der Herr des Himmels kannte von Anfang an eine Schwäche des Mephistopheles. Diese nutzt er jetzt, um ihm die Beute abzujagen: Er sendet eine Schar von Engeln aus – schöne junge Männer, von denen er weiß, dass sie ihn ablenken werden. In der Tat, sie erregen in ihm sofort die heftigsten Liebesgefühle, und so beschwört er sie: Ihr seid so hübsch, fürwahr ich möcht’ euch küssen! […] Auch könntet ihr anständig-nackter gehen, Das lange Faltenhemd ist übersittlich – Sie wenden sich – von hinten anzusehen! – Die Racker sind doch gar zu appetitlich! Heutzutage kann ein Theater es sich leisten, dass die engelhaften Jünglinge bei diesen Worten ihre Hemden abwerfen und ihre nackten, erotisch attraktiven Rückseiten darbieten. Das wäre jedenfalls ganz im Sinne des Dramas. Denn hier handelt es sich um eine jener volkstümlich derben Szenen, die schon Jahrhunderte vorher das Volk auf der Straße belustigt hatten. Bei Goethe nun geht es subtiler, aber auch infamer zu: Mephistopheles wird am Ende als homosexuell „geoutet“ und damit ebenfalls lächerlich gemacht. In seinem plötzlich brennenden Liebeswahn bemerkt er zu spät, dass die von ihm angeschmachteten Epheben nur gekommen sind, ihm seinen wohlverdienten Lohn zu stehlen. Während er noch versucht, sich zu fassen, schweben sie schon himmelwärts, „Faustens Unsterbliches entführend“. Heute, im Zeitalter offen schwuler Politiker, mag Homosexualität an sich kein Skandal mehr sein; aber ist es erlaubt, einen Homosexuellen auf der Bühne lächerlich zu machen, selbst wenn es sich um den Teufel handelt? Ist das noch „politisch korrekt“? Und vergessen wir nicht, wie er hier vorgeführt wird, nämlich mit dem billigsten und plattesten Klischee: Wie einem pawlowschen Hund auf Klingelzeichen der Speichel rinnt, so läuft auch Mephistopheles automatisch das Wasser im Mund zusammen, als er die schönen Jünglinge und ihre Ärsche sieht. Sagen wir es offen: Hier bewegt sich Goethe auf dem Niveau primitivster Schwulenwitze. Soll man das

76 wirklich so im Theater zeigen? Und was ist, wenn ganze Schulklassen eine solche Aufführung besuchen? Gehört nicht heute eine wachsende Homophobie zum schulischen Alltag? Soll man deren Vorurteile noch verstärken? Ausgerechnet mit Goethe? Ich möchte noch einmal auf die „große“ Wette zu sprechen kommen: Wie gesagt, viele Interpreten wollen dem Herrgott keinen Wettbetrug unterstellen, ja noch nicht einmal seine sich hier offenbarende Hinterhältigkeit zugeben. Stattdessen verweisen sie auf seine Bemerkung im Prolog: „Es irrt der Mensch, solang’ er strebt“. Dieses Streben soll nun, trotz allem, Fausts Rechtfertigung sein, denn die Engel, die sein „Unsterbliches“ in immer höhere Sphären tragen, singen dazu: Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. Da Faust aber nie aufgehört hat, zu streben, werde er völlig zu Recht dem Teufel entrissen und erlöst. Auch Goethe selbst bestätigt dies gegenüber Eckermann, betont aber zugleich die Rolle der „von oben zuhilfe kommenden ewigen Liebe“. Er fährt fort: „Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.“ Eben davon singen die Engel: Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen. Hier nun erscheint ein Wort, das auch dem Sexualwissenschaftler auffällt, obwohl es ihn nichts angeht, das Wort „Liebe“. Ich muss auch hier wieder betonen, dass Liebe und Sex nicht dasselbe sind und dass die Sexualwissenschaft sich nur mit letzterem befasst. Auffällig ist das Wort in den Schlussszenen des Faust deshalb, weil es auf einmal in wachsender Häufigkeit vorkommt. Als Mephistopheles von den Engeln in Versuchung geführt wird, spricht dieser von „allerliebsten Jungen“, „Liebsten“, „Verliebten“, „Liebschaft“, „Liebespuk“ und „Liebeselement“. Aber erst als in den Bergschluchten „Faustens Unsterbliches“ höher und höher getragen wird, entwickelt das Wort „Liebe“ durch Wiederholung in immer neuen Zusammenhängen eine eigene Suggestionskraft, einen Sog, der das Publikum mit nach oben reißt. Man hört von einem „heiligen Liebeshort“, von einem „glühenden Liebeband“, von „ewiger Liebe“, „ewiger Liebe Kern“, „allmächtiger Liebe“, „Liebesqual“, „Liebenden“ und „Liebesboten“, von „ewigen Liebens Offenbarung“, „heiliger Liebeslust“, „liebend-heiligen Büßerinnen“ und einer

77 „früh Geliebten, nicht mehr Getrübten“. Die letztere ist das einst von Faust so schnöde verlassene Gretchen, das nun bei der Heiligen Jungfrau Fürbitte für ihn einlegt. Sie hat Faust immer geliebt und so dafür gesorgt, dass die „Liebe von oben“ an ihm teilnehmen und ihn so erlösen konnte. Von der Grablegungsszene mit dem erotisch entbrannten Mephistopheles bis zum Ende des Dramas wandelt das Wort „Liebe“ zunehmend seine Bedeutung. In „höhern Sphären“ streift es die Körperlichkeit ab und wird zu einer rein geistigen Kraft. Diese wiederum strahlt von der Jungfrau Maria aus, und ihr Abglanz übergießt auch die reuige Kindsmörderin Gretchen. Sie, die „Büßerin“, lockt „Faustens Unsterbliches“ liebend nach oben zur endlichen Reinigung von jedwedem „peinlichen irdischen Rest“. Die vollkommene himmlische, nicht die unvollkommene irdische Liebe, bringt Faust die Erlösung. Es ist die entsinnlichte Liebe von entsinnlichten Frauen, die einen entsinnlichten Faust in ihrem Reich willkommen heißt, und die am Ende von einem mystischen Chor als allgemeines Prinzip beschworen wird: Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. Wenige Zeilen der deutschen Literatur haben so viele Interpretationen herausgefordert. Im Jahre 1827, erst vier Jahre bevor Goethe seinen Faust abschloss, publizierte Karl Ernst von Baer seine Entdeckung der menschlichen Eizelle. Die wahre Bedeutung dieser Entdeckung wurde zunächst noch nicht einmal von seinen wissenschaftlichen Kollegen erkannt. Erst später begannen andere Forscher durch weitere Arbeit die weibliche Rolle bei der menschlichen Fortpflanzung besser zu verstehen. Inzwischen weiß die Sexualwissenschaft mit Sicherheit eines: Das weibliche ist das erste, das ältere und das grundlegende Geschlecht. Das männliche Geschlecht entsteht nur durch Zutaten, d.h. durch bestimmte hormonelle Zugaben vor der Geburt. Bleiben diese aus, so entwickelt ein Embryo sich „automatisch“ in weiblicher Form weiter. Man

78 könnte diese Wahrheit auch als Mythos darstellen: Gott erschafft Adam aus Evas Rippe. Das entspräche der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis. Unsere patriarchalischen abrahamitischen Religionen haben von jeher das Gegenteil erzählt. Betrachten wir nur, welche Spuren davon in den Schlussszenen des Faust zu finden sind. Der homosexuelle Mephistopheles ist für sein Glück auf das Weibliche nicht angewiesen. Auch hat er kein Interesse an erotischer Vergeistigung. Die Liebe, von der er spricht, ist eine sinnliche, rein körperliche Angelegenheit. Genau genommen ist es gar keine Liebe, sondern – in unserer heutigen Alltagssprache – einfach nur „Sex“. Faust redet als Greis nicht mehr von Liebe. Sie gehört zu früheren Phasen seines Lebens, als er noch Gretchen und Helena umwarb. Erst nach seinem Tode offenbart sie unerwartet ihre Bedeutung für seine letzten Stunden. Sie ist jedoch mit der vergänglichen, irdischen Liebe, die er kannte, nicht zu vergleichen. Sie ist unvergänglich und unbeschreiblich. Sie wird ihm als Gnade zuteil, ein Geschenk des weiblichen Prinzips in der Natur. Aber worin sieht Goethe dieses Prinzip? Die gesamte Szene läuft auf eine Huldigung an die Jungfrau Maria hinaus. Diese ist nicht nur die sexuell „Unberührte“, sondern auch die „Unberührbare“. Sie ist gleichzeitig die große, ruhmreiche Mutter, die Fausts Unsterbliches immer weiter hinauf in „höhere Sphären“ locken lässt. Die auch szenisch augenfällige Erhöhung wird von dem ihr ergebenen Doctor Marianus in entsprechender rhetorischer Steigerung schwärmerisch begleitet: Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin, bleibe gnädig! Diese Steigerung muss uns den Schlüssel zu Fausts Erlösung geben. Wir erinnern uns, dass Faust in einer früheren Szene von Mephistopheles tatsächlich einen Schlüssel bekam, um mit dessen Hilfe zu „den Müttern“ zu gelangen. Auch diese Mütter nennt der Teufel „Göttinnen“, hat aber trotz seines Schlüssels keinen Zugang zu ihnen. Sie befinden sich in einer eigenen, ihm ewig verschlossenen Dimension. Nur Faust kann es wagen, in ihr ort- und zeitloses Reich einzudringen. Er nutzt diese Gelegenheit jedoch nur für den profanen Zweck eines Zauberspektakels, mit dem er die Antike beschwört. Was „Mutter“ und „Göttin“ in Wahrheit bedeuten, erfährt er erst nach seinem Tod als ein Gereinigter, dem alle irdischen Absichten fremd geworden sind. Das „ewig Weibliche“ ist also das Prinzip der Reinigung von allem Irdischen und Sinnlichen, auch vom Sexuellen. Es ist eine asexuelle Weiblichkeit, die Fausts Erlösung bewirkt, und so drängt sich die Frage auf:

79 Was ist denn daran überhaupt noch weiblich? Wird hier nicht eher ein unsinnliches, übersinnliches, damit auch geschlechtsneutrales, völlig geschlechtsloses Prinzip besungen? Beschränkung und Festigkeit kann man dieser Schlussszene ohne weiteres zugestehen, aber wie christlich-kirchlich sind Goethes Intentionen? Die Bezeichnung „Göttin“ für die Jungfrau Maria ist jedenfalls unchristlich. Heidnisch ist auch, dass Fausts Wille zum Leben weiterbesteht, indem sein „Unsterbliches“ gerettet wird. Das jedenfalls war die Ansicht Arthur Schopenhauers, für den ein wahrhaft christlicher Standpunkt die Verneinung des Willens zum Leben verlangte. Für ihn war der Traum vom ewigen Leben ein heidnisches Relikt. Goethe aber wählte für seine Tragödie einen willensbejahenden Schluss. Goethes gesamte Schlussszene ist abendländisch religiös allumfassend, also im ursprünglichen Wortsinne wahrhaft „katholisch“. Sie vermischt antike, mittelalterliche und moderne Elemente auf eine sehr eigene Weise, und eben dies löste Unbehagen nicht nur bei Schopenhauer, sondern auch bei anderen deutschen Philosophen aus. So wandte sich etwa Friedrich Nietzsche später protestierend direkt an den längst verstorbenen Autor in seinem Gedicht An Goethe: Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichniß! Gott der Verfängliche, Ist Dichter-Erschleichnis … Goethe dachte sich den sterbenden Faust als etwa hundertjährigen Greis. Wie alt ist er zu Beginn des Stückes? Hier ist der Text widersprüchlich. Einerseits spricht Faust von seinem „langen Bart“ und fragt Mephistopheles, ob man ihm in der Hexenküche „dreißig Jahre vom Leibe“ schaffen kann. Nach diesen Worten zu urteilen, wäre er also etwa 50 Jahre alt – „zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein“. Andererseits beklagt er vorher, dass er als Magister und Doktor seine Schüler „schon an die zehen Jahr“ an der Nase herumführt. Nach dieser Rechnung wäre er jedoch höchstens Anfang 30. Wie das? Der Eingangsmonolog versetzt uns eindeutig ins 16. Jahrhundert, denn Faust erwähnt ein „Buch von Nostradamus’ eigner Hand“. Damals erwarb man seine akademischen Titel sehr viel früher als heute. Nostradamus selbst wurde als Student von der Universität verwiesen, aber sein Zeitgenosse Martin Luther zum Beispiel, der von Mephistopheles in einem Spottlied erwähnt wird, erhielt seinen Magistergrad mit 22 Jahren und begann seine Lehrtätigkeit an der Universität Wittenberg mit 25. Philipp Melanchton wurde mit 17 Jahren

80 Magister und war mit 21 Professor an der gleichen Universität. Rechnet man nun jeweils „an die zehen Jahr“ Lehrtätigkeit hinzu, so handelt es sich in beiden Fällen immer noch um sehr junge Männer. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ausgerechnet der wissensdurstige Faust als „Magister und Doktor gar“ diesem damals typischen Muster nicht gefolgt sein sollte. Wie alt soll Faust bei seinem ersten Auftritt sein? Generationen großer Schauspieler haben FaustbeimEingangsmonolog als greisenhaft dargestellt, aber das widersprach immer den dazu gesprochenen Versen. Tatsächlich spielten sie so den Faust der Volkssage und des Puppenspiels. Dies ist aber nicht der Faust Goethes, der weit jünger sein muss. Wie viel jünger, ist eine Interpretationsfrage. Mir scheint es sinnvoll, die im Text gegebene Interpretationsbreite zu nutzen und ihn als möglichst jung darzustellen, d.h. als einen Mann um die 30. Dadurch ist das Folgende – Hexenküche und Liebeswerben um Gretchen –, leichter verständlich. Schon vor dem Trank in der Hexenküche ist Faust jung und lebendig genug, sich in das Bild der schönen Helena zu verlieben. Der Trank dient also weniger der Verjüngung als der sexuellen Anstachelung und Potenzverstärkung, damit er bald „Helenen in jedem Weibe“ sieht. Und in der Tat, das erste weibliche Wesen, das seinen Weg kreuzt – die Zufallsbegegnung Gretchen – erregt sofort seine „Liebeslust“. Eben darin liegt die Tragik: Für ihn ist sie ein Objekt chemisch induzierter

81 sexueller Begierde, für sie ist er „die große Liebe“. Dieses Missverständnis und Missverhältnis kann für Gretchen nur in der Katastrophe enden, Faust aber hat nach dem Abklingen seines Drogenrausches das arme Mädchen schnell vergessen. Den Beginn des zweiten Teils der Tragödie – Fausts Erwachen aus einem Heilschlaf – darf man auch als Ergebnis einer erfolgreichen Entzugstherapie sehen. In der Tat, eine solche Interpretation wirft noch einmal ein erhellendes Licht auf das Vorangegangene. Was folgt, stellt weitere Verbindungen zum ersten Teil her – eine neue Szene zwischen Mephistopheles und dem einstigen Schüler, aus dem inzwischen ein arroganter Baccalaureus geworden ist, eine zweite Walpurgisnacht, aber mit „klassischem“ Personal, und schließlich für Faust eine neue Liebe, diesmal zu Helena, und die Geburt seines zweiten Kindes. Aber auch dieses überlebt nicht lange, sondern stirbt jung bei einem Unfall vor den Augen der Eltern. Solche „Parallelszenen“ illuminieren sich gegenseitig und fordern den Zuschauer auf, das Drama im Rückblick als ein Ganzes zu sehen. Allerdings sind die Szenen im zweiten Teil weniger konkret und handfest, sondern eher phantastisch-philosophischer Natur. Das beste Beispiel dafür ist das magische Verschwinden Helenas beim Tod ihres Sohnes. Auch sonst lösen sich gegen Ende die Bühnengeschehnisse zunehmend ins Abstrakte auf, die Dramaturgie lockert sich, es stellen sich Längen ein, und manche Textpassagen sind kaum noch in Aktion umzusetzen. Die Lyrik gewinnt zunehmend die Oberhand über die Dramatik. Blutvolles Theater gibt es noch einmal beim Tod und bei der Grablegung Fausts, aber danach geht es rein lyrisch weiter bis hin zu der kaum spielbaren Schlussszene. Man könnte sagen, das Alterswerk „Faust II“ ist trotz seiner zunehmenden Abstraktion persönlicher als das Jugendwerk. Eben deshalb glaube ich, dass man die gesamte Tragödie am besten von ihrem Schluss her versteht. Vielleicht glaube ich das aber auch, weil ich inzwischen selbst alt geworden bin und sehe, wie sich mein eigenes Leben im Rückblick allmählich zu einem Muster zu ordnen scheint. Dieses Muster mag sehr wohl eine Täuschung sein, eine zum seelischen Selbstschutz bemühte „Sinngebung des Sinnlosen“ – aber gerade darin liegt das Persönliche. Mit dem Alter verschieben sich frühere Prioritäten und Gewichtungen. Im Nachhinein erscheint manches einstmals intensiv Erlebte als unbedeutend, und anderes, das man seinerzeit kaum beachtet hat, zeigt sich nun als wegweisend und entscheidend.

82 Damit komme ich bei meinem Rückwärtsgang durch den Text des Faust bei seinen allerersten Zeilen an, der Zueignung. Goethe schrieb diese Zeilen, als er nach langer Pause die Arbeit an seiner Tragödie wieder aufnahm und schon an eine Fortsetzung ihres ersten Teils dachte. Er war damals noch keine 50 Jahre alt, fühlte sich aber durch wehmütige Erinnerungen an verlorene alte Freunde zu Tränen gerührt und seinen „Busen jugendlich erschüttert“. Was er in den folgenden 30 Jahren zu Papier brachte, hat jedoch nichts Jugendliches mehr, weder im Inhalt noch in der Form. Es ist stattdessen der Versuch, dichterisch die Summe eines exemplarischen Lebens zu ziehen, den Idealtypus Faust als abgerundete Erscheinung darzustellen. Diesen Versuch müssen seither auch alle Theaterleute machen, die das Werk auf die Bühne bringen wollen. Auch sie müssen am Ende aus Jugend- und Alterswerk ein in sich stimmiges Ganzes machen, und zu diesem Zweck müssen sie auswählen und interpretieren. Ungekürzte Aufführungen, ob in Hannover oder in Dornach, inspiriert von Stein oder Steiner, sind ihrer Natur nach Ausnahmen. Alle „regulären“ Produktionen für ein möglichst breites Publikum müssen einen Standpunkt finden, von dem aus der Zuschauer das Erlebte verstehen kann, auch bei zusammengestrichenem Text. Die Handlung muss für ihn einen Sinn ergeben und ihm erlauben, Goethes Lebens- und Weltverständnis zu begreifen. Nicht nur das: Es sollte auch anschaulich werden, wie sich dies Weltverständnis des Autors in der lebenslangen Beschäftigung mit dem Stoff gewandelt hat und wie er im Alter das jugendlich Begonnene inhaltlich und stilistisch in einem kühn gewagten Wurf zur Vollendung führt. Das aber ist vor allem eine künstlerisch-praktische, keine wissenschaftlich-theoretische Aufgabe, und die Sexualwissenschaft kann hier am allerwenigsten helfen. Mich selbst hat der heutige Anlass noch einmal daran erinnert, dass die Sexualität nicht die ganze Welt beherrscht – auch nicht die Welt Goethes –, dass nicht überall etwas Sexuelles lauert, dass nicht alles und jedes sexuelle Aspekte hat und dass nicht alle Kunstwerke sexuelle Geheimnisse bergen. Wie Sie bemerken, bin ich kein Anhänger Freuds, der an meiner Stelle wahrscheinlich eine Fülle von unbewussten erotischen Symbolen in tiefenpsychologischen Urgründen aufgespürt hätte. Ich selbst aber fühle mich unbehaglich, wenn der Begriff des Sexuellen ins Allgegenwärtige, letztlich Unbestimmbare und Ungreifbare ausgeweitet wird. Ich sehe mich eher dem Erbe Alfred Kinseys verpflichtet, d.h. einer pragmatischen, rein empirischen Sexualwissenschaft, die nicht spekuliert, sondern sich vor allem an das hält, was man beobachten, zählen und messen kann. Davon aber bieten die beiden Teile des „Faust“ in all ihrer Lebensfülle nur wenig, und das mit völliger Absicht des Autors.

83 Erwin J. Haeberle ist promovierter Amerikanist und Sexualwissenschaftler, der an verschiedenen Universitäten in Deutschland, in der Schweiz und in den USA lehrte. An der Indiana University war er Mitarbeiter am KinseyInstitut. Zurück in Deutschland wurde er Leiter des Fachgebietes Information/Dokumentation im AIDS-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes in Berlin. Dort gründete er und leitet das Archiv für Sexualwissenschaft, das an der Humboldt Universität angesiedelt ist.

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Was die W elt im Inn ersten zus ammen hält Eine quantenphysikalische Perspektive auf Goethes „Faust“ Gerhard Mack

87 Neulich erschien mir Mephistopheles im Traum. Er behauptete, er käme von Johann Wolfgang von Goethe, der sich jetzt in seiner Obhut befände. Dieser lasse mich schön grüßen. Er sei sehr beeindruckt davon, wie ich nach Wahrheit suche, besonders nach dem Zusammenhang zwischen der quantenphysikalischen Wahrheit und der menschlichen Wirklichkeit. Deshalb habe er ihn geschickt, um mir zu helfen. Er hat natürlich schamlos gelogen – was kann man auch von einem Teufel erwarten. Er schlug mir einen Pakt vor. Heute nennt man das Kollaboration, zum Beispiel am DESY oder CERN. Es handelte sich um eine Kollaboration, die mir Aufschluss geben sollte über die wahre Natur der Quanten. Dazu sollte ich mit seiner Hilfe alle Quanteneffekte für ein kurzes Momentchen ausschalten. Was für ein teuflischer Plan! Ein Blitz, ein Knall, und die Welt ist weg. Innerhalb von Millionstel Sekunden ist die Welt weg, wenn man die Quanteneffekte ausschaltet. Die Frage ist also nicht nur, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Frage lautet auch, was hindert sie, in sich zusammen zu stürzen. Mit solchen kleinen Ergänzungen sind die Fragen, die Faust stellt, dieselben, die wir als seine Nachfahren – philosophisch interessierte Physiker und überhaupt alle geistig interessierten Menschen – stellen. Es sind genau die gleichen wie damals. Deshalb schlage ich vor, nach und nach diese Fragen durchzugehen. Erstmal steht vor der Frage „Warum hält die Welt zusammen, und warum stürzt sie nicht in sich zusammen?“ die Frage „Ist das überhaupt wahr?“ Die Antwort lautet: „Es ist nicht wahr.“ Jedenfalls ist es nicht immer und überall wahr. Es können Teile der Welt in sich zusammenstürzen, einerseits. Und die Welt als Ganzes fliegt auseinander, andererseits. Zeichen davon sind am Himmel zu sehen. Was passiert, wenn sich ein schwarzes Loch bildet? Ein schwarzes Loch entsteht dadurch, dass ein Teil des Universums in sich zusammenstürzt. Das kann geschehen. Dabei entsteht ein großer Lichtblitz, das nennt man eine Supernova. Wenn eine Supernova in der Milchstraße explodiert, kann man das Licht am helllichten Tage am Himmel sehen. Solche sichtbaren Supernovae gibt es etwa alle 300 Jahre. Es gab eine zu Keplers Zeiten 1603, und die letzte ereignete sich 1987, ganz am Rand der Milchstraße. Deshalb war sie nicht so hell. Das Weltall als Ganzes fliegt auseinander, dehnt sich aus. Das sieht man an der Farbe mancher Lichtpunkte am Firmament. Wie wir seit ungefähr 10 Jahren wissen, fliegt das Weltall immer schneller auseinander, man nennt dies beschleunigte Expansion. Was ist die

88 Kraft, die es beschleunigt auseinander treibt? Diese Kraft hat noch keinen Namen. Wenn aber Kräfte wirksam sind, dann verändern sie immer eine Energie. Und diese Energie hat einen Namen, man nennt sie dunkle Energie. Zurück zur ursprünglichen Frage: „Was hält die Welt im Innersten zusammen?“ Als ‚im Innersten‘ nehmen wir jetzt mal nicht ‚im Innersten‘ in dem Sinne, dass die fundamentalste Antwort gesucht wird, sondern ‚im Innersten‘ als das, was ganz nahe beieinander ist. Es sind Kräfte. Zur richtigen Beschreibung von Kräften braucht man die Quantentheorie, zumindest für die richtige Beschreibung vieler Kräfte. Ich meine die Kräfte, welche die Elektronen in der Bahn um die Kerne halten, und die Kräfte, die den Atomkern zusammenhalten. Dafür wird die Quantentheorie benötigt. Es gibt eine Kraft, für die man die Quantentheorie nicht wirklich braucht. Das ist die Schwerkraft. Die Schwerkraft ist diejenige Kraft, die alles im Universum auf großen Skalen dominiert. Sie ist für die Entwicklung des Kosmos die entscheidende Kraft. Das gilt mit Ausnahme des extremen Anfangs des Kosmos. Damals waren Quanteneffekte wichtig. Zur Schwerkraft kommt noch eine Kraft dazu – und das ist die neue Entdeckung – eben jene Kraft, die dafür verantwortlich ist, dass das Universum immer schneller auseinander fliegt. Die dazugehörige Energie ist die dunkle Energie. Diese Kraft kommt in Einsteins Theorie der Schwerkraft vor. Er hatte zunächst eine Theorie, in der sie nicht vorkam. Dann sah er, dass die allgemeinen Prinzipien, aus denen er seine Theorie ableitete, auch noch eine zusätzliche Kraft zuließen. Daraufhin führte er sie zu einem bestimmten Zweck ein. Später kam er wieder davon ab. Er meinte sogar, es sei die größte Dummheit seines Lebens gewesen, sie einzuführen. Und jetzt sehen wir, dass sie tatsächlich existiert. Was wir aber gar nicht verstehen, ist, warum sie so klein ist. Warum stürzen Atome nicht in sich zusammen? Das liegt an den Quanteneffekten. Sie beruhen auf der Unschärferelation. Es kostet Energie, wenn Dinge sehr nahe beieinander bleiben müssen. Das ist grob gesprochen das Prinzip dahinter. Deshalb fallen die Elektronen in einem Atom nicht in den Kern. Aber diese Einschränkung ist nicht unter allen Umständen kräftig genug, um Materie, die sich unter dem Einfluss der Schwerkraft bewegt, davon abzuhalten, in sich zusammenzustürzen! Wenn die Masse zu groß ist, wenn zuviel Materie da ist, dann stürzt sie in einer Supernova zusammen. Die Überbleibsel solcher Explosionen sind noch lange danach am Himmel zu sehen. Heute kennen wir die Kräfte, welche die Materie zusammenhalten. Wir

89 kennen auch den Grund, warum die Materie nicht in sich zusammenstürzt. Und wir wissen, dass es da Ausnahmen gibt. Was jedoch die tiefere Ursache dessen ist, dass die Kraft, welche die beschleunigte Ausdehnung des Kosmos antreibt, so klein ist, das wissen wir überhaupt nicht. Wenn man ver suchen würde, Schätzungen vorzunehmen, käme man auf Resultate, die um einen Faktor einer eins mit hundertzwanzig Nullen falsch wären. Das ist wirklich der größte Misserfolg, den man sich in der Physik überhaupt vorstellen kann. Es stellt sich die Frage, warum das alles so ist. Was sind die tieferen Gründe? Genau das ist auch ein Thema im „Faust“.

Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort.“ Faust ist damit nicht zufrieden. Er spekuliert: Nein, es sollte doch eher der Sinn sein. Oder vielleicht auch nicht der Sinn, sondern die Kraft. Schließlich meint er: „Im Anfang war die Tat“. Nun, ist das eine zureichende Antwort, „im Anfang war die Tat“? Ich werde argumentieren, die bessere Antwort ist diejenige, die geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort“, und zwar das sinnvolle Wort. Erstmal fragen wir: Was heißt ‚am Anfang‘? ‚Am Anfang‘ könnte heißen ‚am Anfang der Zeit‘. Es könnte aber auch im logisch tiefsten Sinne ‚am Anfang‘ heißen. Wenn wir vom ‚Anfang der Zeit‘ reden, dann ist die Frage: Wie kommt überhaupt Zeit zustande? Ist sie schon präexistent, damit wir überhaupt davon reden können, dass etwas nach dem anderen ist. Wenn wir fragen „Ist sie präexistent?“, dann fragen wir zunächst einmal „Was ist das überhaupt, Existenz?“. Eine Antwort darauf wird durch Beschäftigung

90 mit der Mathematik suggeriert. Wenn man in ein Mathematikbuch schaut, dann findet man überall Sätze wie „Es existiert ein x, derart dass ...“, oder „mit solchen Eigenschaften...“, so und so. Was ist das für ein ‚x‘ ? In welchem Sinne existiert es? Gewöhnlich konstruieren Mathematiker das ‚x‘ oder sie definieren es, indem sie bestimmte Eigenschaften fordern. Das ontologische Prinzip, das dahinter steht, ist das Postulat: „Es existiert, was sinnvoll gesagt werden kann.“ Das ist auch heute, zumindest für manche ganz abstrakte Physiker, die operative Grundlage. Das geht letztendlich auf Einstein zurück, der die Meinung vertrat, dass die Theorie sagen muss, was beobachtbar ist. Das heißt, man macht erstmal ein theoretisches Gebäude. Man schaut nicht einfach in der Natur nach, wie dort alles ist. Man versucht also etwas sinnvoll zu sagen und danach schaut man, wo in der Natur sich etwas findet, was darauf passt, was die von der Theorie vorhergesagte Eigenschaften hat. „Am Anfang war das sinnvolle Wort“ wäre die Antwort, die ich favorisieren würde. Die mögliche Antwort „Im Anfang war die Tat.“ ist aber auch interessant. Was ist ‚Tat‘? Stellen wir uns einmal vor – viele sind der Meinung, sogar Hirnforscher – , es sei so, dass die Welt deterministisch abläuft: Das, was jetzt ist, sei bestimmt durch das, was vorher war, und das, was im nächsten Augenblick sein wird, sei bestimmt durch das, was jetzt ist. Was ist dann eine Tat? Es ist nicht klar, was eine Tat sein könnte. Eine Tat setzt voraus, dass eine a priori nicht festgelegte Entwicklung möglich ist, die man eben durch eine Tat in Gange setzt. Das heißt, eine Tat setzt Freiheit voraus. Wenn man das jetzt auf den Schöpfer anwendet, würde man ihm natürlich Freiheit zubilligen. Das gehört zu seinen intrinsischen Eigenschaften. Wir Menschen denken, auch wir vollbrächten Taten. Das ist strittig. Wo ist die Freiheit? Deutsche Hirnforscher, die damit im Widerspruch stehen zu amerikanischen Hirnforschern, behaupten, Willensfreiheit gäbe es gar nicht, das sei nur eine Illusion. Das Gehirn arbeite tatsächlich deterministisch. Ich denke, dass sie sich irren. Wenn man das aus physikalischer Sicht anschaut, sieht man, dass das Gehirn 37°C warm ist. Bei 37°C gibt es Wärmebewegungen. Die Wärmebewegung führt Zufall ein. Das ist unvermeidlich. Außerdem ist das Gehirn unter dem Einfluss der Interaktion mit seiner Umgebung. Was Freiheit ist, wissen wir nicht wirklich. Dazu fehlt uns die philosophische Einsicht. Aber dass man sie wegdiskutieren kann, indem man sagt „ok, ist klar, das Gehirn ist deterministisch“, das ist nicht zulässig, das ist nicht haltbar. Die Tat, von der hier die Rede sein soll, ist die Tat in einer Welt, in der nicht alles deterministisch abläuft. Nun stellt sich die Frage, was für

91 eine Welt ist das? In der Quantentheorie gilt, dass die quantenphysikalische Wirklichkeit völlig deterministisch ist, so lange man nicht Beobachter hat, welche die quantenphysikalische Welt, die Materie, von außen beobachten. Da kommt kein Zufall vor. Wo kommt er dann vor? Nun, die quantenphysikalische Wirklichkeit ist von der Wirklichkeit, die wir gewohnt sind, fundamental verschieden. Wir verstehen sie heute gut. Damit etwas zu berechnen, das können die Studenten am Allerbesten. Das ist nicht das große Problem. Grundsätzlich besteht das Problem nicht darin, etwas auszurechnen. Es anschaulich zu machen, ist hingegen sehr schwer. Was ist der grundlegende Unterschied? In der quantenphysikalischen Wirklichkeit ist es nicht mehr wahr, dass ein Sachverhalt entweder vorliegen muss oder nicht vorliegt, dass also entweder das eine oder das andere der Fall ist. Es kann beides mit einer gewissen Amplitude vorliegen. Das nennt man das Überlagerungsprinzip: Zustände, wo ein Sachverhalt vorliegt und wo er nicht vorliegt, kann man überlagern. Es kann also Zustände geben, wo nicht das eine oder das andere der Fall ist. Wir täten uns schwer in einer solchen Welt, wo es Überlagerungen von lebendigen und toten Katzen gibt, oder gar von Löwen und Häusern. Die quantenphysikalische Wirklichkeit passt nicht zu unserem Denken. Was zu unserem Denken passt, das nenne ich die menschliche Wirklichkeit. Diese menschliche Wirklichkeit enthält nicht nur materielle Dinge, sondern auch geistige Objekte. Dass Dinge existieren können, die nicht materiell sind, habe ich im Grunde schon gesagt. Das ist das ontologische Prinzip, dass existiert, was sinnvoll gesagt werden kann. Die materiellen Objekte sind nur ein Teil dessen, was existieren kann. Man kann fragen: Wodurch sind sie ausgezeichnet im Vergleich zu den anderen? Ein materieller Körper ist irgendwo an einem Ort und zwar zu einer Zeit. Vielleicht auch zu allen Zeiten oder zu einer ganzen Reihe von Zeiten. Er hat also Beziehungen zu Raum und Zeit. Da muss nur noch geklärt werden, was Raum und Zeit ist und wodurch etwas als Raumzeit gekennzeichnet ist. Das ist eine Frage, die einem im täglichen Leben nicht begegnet. Man wird, ohne dass man gefragt wird, in diesen Raum und diese Zeit hinein geboren. Man ist dann da und hat auch nicht das Recht zu fragen: „Ist das jetzt die Raum-Zeit?“ Aber eine Antwort gibt es trotzdem für diejenigen, die Theoriegebäude konstruieren, wie es seit Einstein üblich ist. Es stellt sich die Frage, woran erkenne ich, dass das mathematische Konstrukt, das ich hier habe, Raum und Zeit beschreibt. Diese Frage kann man beantworten: Das erkennt man daran, dass da eine Geometrie ist. Und Geometrie heißt, dass ganz spezielle Arten von Beziehungen zwischen den Teilen bestehen,

92 Teilen des Raumes und Teilen der Raum-Zeit. Diese Beziehungen können präzise beschrieben werden. Es gibt Kanäle der Kommunikation, ähnlich wie Telefonleitungen, mit deren Hilfe ein Punkt im Raum zu einer Zeit mit einem anderen Punkt zu einer anderen Zeit kommunizieren kann. Damit ist die Frage beantwortet, wodurch materielle Objekte ausgezeichnet sind. Es stellen sich noch weitere Fragen. Die nächste wird im Faust durch eine Aussage des Mephistopheles suggeriert:

Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Wie es sich für einen Teufel gehört, sieht er das gänzlich verkehrt. Es ist gerade umgekehrt, zumindest wenn wir an die lebende Welt denken. Damit etwas Neues entstehen kann, muss etwas vergehen. Die vorher lebenden Generationen – Bakterien, Pilze, Tiere, Pflanzen, Menschen – müssen Platz machen für eine neue Generation. Nur auf diese Weise ist Evolution möglich. Evolution bedeutet, dass etwas anders ist als vorher, etwas was sich unterscheidet von dem, was vorher war. Das Prinzip dahinter – nach Darwin – soll sein, dass die Anpassung an die Umwelt verbessert wird und damit die Auswahl nach der Lebenstüchtigkeit erfolgt. Früher sprach man von der Auswahl des Tüchtigsten. Den Tüchtigsten schlechthin gibt es jedoch nicht. Die Tüchtigkeit ist immer relativ zu dem,

93 was um einen herum entsteht. Nun gut, wenn Zerstörung notwendig ist, dann fragt man sich: Braucht die Welt den Teufel? In Faust beschreibt sich Mephistopheles als den Geist, der stets verneint, als den Zerstörer. So kommen wir zu einer noch fundamentaleren Frage, die damit im Zusammenhang steht. Nämlich wiederum der nach der Freiheit. Die quantenphysikalische Wirklichkeit passt nicht zum menschlichen Denken. Deshalb kann sie die menschliche Wirklichkeit nicht eindeutig bestimmen. Das gibt ein gewisses Maß an Unbestimmtheit, und das ist die Basis von Freiheit. Aus theologischer Sicht lautet die zentrale Frage: Wieso hat Gott es zugelassen, dass das Böse in der Welt ist? Und die konventionelle theologische Antwort, die meiner Meinung nach schwieriger zu verstehen ist als die Physik, aber nicht inkonsistent damit, ist folgende: Das ist die Rückseite einer Medaille, deren Vorderseite die Freiheit des Menschen ist. Zurück zu der Frage, ob alles vergeht. Gibt es auch Dinge, die nicht vergehen können? Lange Zeit glaubte man, sämtliche Materie sei unzerstörbar. Das glaubt man heute nicht mehr. Man glaubt aber auch heute noch, dass es ganz spezielle Dinge oder Eigenschaften gibt, die grundsätzlich nicht zerstörbar sind. Es handelt sich um die elektrische Ladung. Es gibt noch einen zweiten Kandidaten, von dem man glaubt, dass er sich nicht ändern kann, ohne dass man einen tieferen Grund dafür kennt. Es handelt sich um die Differenz von Baryonenzahl und Leptonenzahl. Das ist es dann aber auch schon. Bei der Ladung kennt man einen fundamentalen Grund. Die ganze Theorie wäre sonst inkonsistent. Sogar die Grundgleichungen des Elektromagnetismus – Maxwells Gleichungen – wären inkonsistent, also nicht sinnvoll. Die Welt wäre dann nicht ‚sinnvoll gesagt‘, wenn die elektrische Ladung nicht exakt erhalten wäre. Aber die Materie ist nach allem, was wir wissen, nicht unzerstörbar. Es kann zum Beispiel ein Proton zerfallen, ein Baustein des Atomkerns in das Antiteilchens des Elektrons plus Strahlung. Danach sucht man fieberhaft in großen Laboratorien unter Grund, in Japan beispielsweise, und auch tief unter Wasser. Bis jetzt ist noch nie ein Ereignis gefunden worden, das zeigt, dass ein solcher Zerfall stattfindet. Aus den Experimenten ist klar, dass die Lebensdauer eines solchen materiellen Teilchens, also die typische Zeit, die es lebt, länger als die bisherige Lebensdauer des Universums ist. Wenn man jedoch sehr viele davon hat – und in diesen Laboratorien sind es große Behälter mit viel Materie – dann kann man hoffen, dass innerhalb der Zeit des Versuchs doch ein Teilchen zerfallen wird.

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Schließlich die Frage nach dem Homunculus.

Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir! Den Menschenstoff gemächlich komponieren, geht das? Gibt es den Homunculus? Kann es ihn im Prinzip geben? Abstrakter gefragt lautet die Frage: Was ist Leben? Und was ist Geist? Der Homunculus ist ja ein Bild des Menschen. Er ist nicht nur ein Lebewesen – das ist er auch –, er soll auch die Fähigkeiten eines Menschen haben, also eine Beziehung zum Geist. Nun, den Homunculus gibt es noch immer nicht. Es hat noch nie jemand einen gemacht. Es wird auch nicht demnächst passieren. Im Prinzip ist es denkbar, es stellt sich allerdings die Frage, was heißt es, ihn zu machen? Das genetische Material von lebenden Zellen wurde gegen synthetisches ausgetauscht. Es ist aber noch niemals ein Lebewesen – auch nicht ein Bakterium – vollständig im Laboratorium gemacht worden. Die Molekularbiologen sind überzeugt, wenn man es machen könnte, dann würde es auch leben. Was aber heißt, es ‚machen‘? Die allereinfachsten Lebewesen sind schon so komplex, dass es nicht wirklich denkbar ist, dass man sie komponiert, indem man einfach einen Teil zum anderen fügt, eins nach dem anderen. Es gibt unüberschaubar viele Teile. Die einzige Weise, die man sich ernsthaft vorstellen kann, wäre durch Kopieren. Selbst wenn man es irgendwie anders angeht, bräuchte man eine Blaupause. Diese müsste man dann übersetzen. Es muss auf jeden Fall eine Art von Kopier- oder Übersetzungsvorgang geben. Das ist aber genau das, was die Natur macht! Wir wissen, dass das Leben darauf beruht, dass Struktur kopiert wird und dass materielle Konstituenten, die als die richtigen erkannt werden können, in der Umgebung gefunden werden. Wir wissen, dass diese Konstituenten in einer Weise zusammengebaut werden, dass eine Kopie oder eine Variante einer Kopie – nämlich eine Übersetzung – entsteht von dem, was schon da ist. So replizieren sich Genome von Zellen. Wenn die Zelle sich teilt, dann wird erstmal das Genom kopiert und dann wird eine Zwischenwand gemacht. Zum Schluss trennen sich die zwei Zellen. Wir denken, ganz gut zu verstehen, wie Leben funktioniert. Es im Labor mit dem Schraubenzieher zusammenzufügen, wird wohl nicht gehen. Man muss kopieren. Dann erhebt sich die Frage, was ist noch der Unterschied zu dem, was die Natur macht? Schließlich noch die Frage: Was ist Geist? Es gibt eine schöne Stelle im „Faust“, in der Faust den Geist evoziert, der auch erscheint. Es folgt ein Diskurs zwischen den beiden. Das letzte Wort des Geistes, bevor er verschwindet, lautet:

Da ist etwas ganz Fundamentales und Tiefes, nämlich die Idee, dass es etwas gibt, eine geistige Welt, die nicht dem menschlichen Denken nachgebildet ist, die sich davon fundamental unterscheidet. Wenn wir heute Theorien generieren, seien es Theorien des Gehirns oder Theorien der Raum-Zeit, dann sind wir immer in diesem Gefängnis. Wir können nur Theorien herstellen, die mit der Struktur des menschlichen Denkens verträglich sind. Erstaunlicherweise ist das eine sehr scharfe Einschränkung. Das sieht man am Besten an Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Er hat nur ganz grundlegende Einschränkungen zugelassen. Im Grunde sind es Einschränkungen von der Art, dass die Theorie nur auf das Bezug nehmen kann, was sinnvoll gesagt werden kann. Das sind die wesentlichen Einschränkungen, durch die er auf seine Grundgleichungen geführt wurde. Sie enthalten nur zwei willkürliche Konstanten. Diese entsprechen den beiden Kräften: der Schwerkraft und der Kraft, die aus der dunklen Energie kommt. Die Theorien, die wir entwickeln, sind notwendigerweise so, dass sie mit der Struktur unseres Denkens kompatibel sind. Andere würden uns auch gar nicht nützen. Wir könnten sie gar nicht aufnehmen oder durch unseren Wahrnehmungsapparat verarbeiten. Es ist denkbar, dass es noch ganz andere Dinge geben könnte, die außerhalb des menschlichen geistigen Vermögens liegen. Die Quantentheorie bringt uns schon hart an die Grenze. Ich meine nicht Dinge, die wir mit unseren menschlichen Sinnen nicht wahrnehmen können. Davon gibt es viele. Gänse können Magnetfelder wahrnehmen, wir nicht. Auch das Licht, das wir sehen können, umfasst einen bestimmten Frequenzbereich. Bienen und Hummeln können ultraviolettes Licht wahrnehmen, wir nicht. Ich meine nicht das, was mit irgendwelchen Instrumenten wahrgenommen werden kann – davon haben ja Physiker viele – das gehört natürlich zum Denkbaren. Es gehört deshalb auch zur menschlichen Wirklichkeit. Zu etwas anderem haben wir einfach keinen Zugang. Deshalb ist es für uns auch nicht relevant. Der Geist würde uns nicht weiterhelfen, wir würden es auch nicht wahrnehmen. Es würde uns nur als Zufall erscheinen. Das ist das letzte Stichwort. Es berührt wieder die Quantentheorie. Die konventionelle Weisheit sagt, die quantenphysikalische Wirklichkeit – was Physiker einen quantenmechanischen Zustand nennen – bestimme nur Wahrscheinlichkeiten für Resultate von Beobachtungen. Das heißt, die menschliche Wirklichkeit ist in gewissem Umfang zufällig. Welcher Art ist

96 dieser Zufall? Gibt es „objektiven Zufall“? Oder ist auch er Konsequenz von Unkenntnis? Wir wissen es nicht. Aber vorstellbar ist Letzteres durchaus. Mutationen im Erbgut sind zufällig, sagt man. Aber sie haben durchaus physikalische Ursachen, kosmische Strahlung zum Beispiel. Zufällig zu sein ist hier keine objektive Eigenschaft eines Ereignisses. Es erscheint zufällig als Konsequenz von Unkenntnis. In Wahrheit gab es Einwirkungen aus dem Kosmos. In der Quantentheorie gibt es neue Arten von Beziehungen zwischen Teilen des Kosmos. Schrödinger sprach von Verschränkungen. Man kennt sie gewöhnlich nicht. Aber sie können das Ergebnis von Beobachtungen beeinflussen. Steckt auch hinter dem Zufall in der Quantentheorie Einwirkung aus dem Kosmos? Fausts Fragen sind noch immer aktuell. Und zu manchen davon haben wir noch immer keine endgültige Antwort.

Gerhard Mack lehrte von 1975 bis 2005 Theoretische Physik an der Universität Hamburg. Seit 1994 arbeitet er an einer einheitlichen Theorie komplexer

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Bildnachweis S.9 Barbara Nüsse, Birte Schnöink, Josef Ostendorf, Patrycia Ziolkowska, Philipp Hochmair, Sebastian Rudolph S. 11 Nicolas Stemann S. 17 Philipp Hochmair, Sebastian Rudolph S. 21 Birte Schnöink S.29 Barbara Nüsse S. 30 Josef Ostendorf S. 34 Patrycia Ziolkowska, Philipp Hochmair S. 39 Friedrike Harmsen S. 41 Barbara Nüsse S. 42 &43 Franz Rogowski, Barbara Nüsse, Josef Ostendorf S. 51 Sebastian Rudolph S.54&55 Patrycia Ziolkowska & Ensemble S.57 Birte Schnöink S. 58&59 Philipp Hochmair, Josef Ostendorf, Patrycia Ziolkowska S. 62&63 Friederike Harmsen S. 67 Sebastian Rudolph, Patrycia Ziolkowska, Philipp Hochmair S.70&71 Felix Loycke, Birte Schnöink, Franz Rogowski, Sebastian Vogel S. 73 Patrycia Ziolkowska, Sebastian Rudolph S. 77 Patrycia Ziolkowska S. 80 Philipp Hochmair, Patrycia Ziolkowska, Sebastian Rudolph S. 83 Friedrike Harmsen, Patrycia Ziolkowska S. 85 Sebastian Rudolph S. 86 Frank Rogowski S. 92 Josef Ostendorf Textnachweis Die Texte von Benjamin von Blomberg sind Originalbeiträge für dieses Programmbuch. Die Essays von Hans Christoph Binswanger, Manfred Osten, Gernot Böhme, Erwin J. Haeberle und Gerhard Mack basieren (in gekürzter Form) auf Vorträgen, die zu Beginn der Faust-Proben auf Einladung der Produktion exklusiv für die Beteiligten am Thalia Theater in Hamburg im April 2011 gehalten wurden. Der Abdruck geschieht mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Impressum Spielzeit 2010.2011 Programmheft Nr. 29 Herausgeber Thalia Theater GmbH, Alstertor, 20095 Hamburg Geschäftsleitung Joachim Lux (Intendant) Ludwig von Otting (kaufm. Geschäftsführer) Heinz-Werner Köster (Prokurist) Redaktion Benjamin von Blomberg, Melmun Bajarchuu, Christina Kaindl-Hönig (Salzburger Festspiele) Gestaltung Bureau Mirko Borsche, Andreas Brüggmann Fotos Krafft Angerer Anzeigenverkauf Antje Sievert [email protected] Druck Ernst Kabel Druck GmbH Für das Make-up der Darsteller wurden M.A.C-Kosmetikprodukte verwendet.

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