Untitled
January 11, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
Short Description
Download Untitled...
Description
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Das Büro“ ist ein Roman von Johannes Jacobus Voskuil, der jedem mit der Bereitschaft oder Lust empfohlen sei, sich auf ein in mehrfacher Hinsicht lebensbegleitendes Buch einzulassen. ‚Direktor Beerta‘ ist der Untertitel dieses ersten Bandes von sieben, die von 1996 bis 2000 in den Niederlanden erschienen und dort mehrfach preisgekrönt alle zu Bestsellern wurden. Jetzt von Gerd Busse ins Deutsche gebracht, möge diesem Romanzyklus hier ähnlicher Erfolg beschieden sein, auch wenn oder eben gerade weil eine spezielle niederländische Alltäglichkeit durch die Seiten zu streichen scheint. Denn was in diesem ‚Büro‘ genannten Institut geschieht, ist alles andere als vordergründig aufregend. Es beherbergt kulturwissenschaftliches Bemühen um die Erforschung und Bewahrung niederländischer Vergangenheit. 1957 beginnt dieser Roman mit dem Eintritt der Zentralfigur Maarten Koning in diese volkskundliche Veranstaltung. Sein Vorgesetzter ist Herr Beerta. Nicht nur er, auch die anderen Mitarbeiter, deren Aufgaben und die gesamte Situation lassen immer wieder vermuten, Franz Kafka habe paradoxer Weise post mortem das Manuskript gelesen und hier und da etwas Rätselstaub hinterlassen. Aber der wird immer wieder weggeblasen von sacht aber stetig weiter treibenden Arbeiten und Gesprächen. Subkutane Hochdramatik auch im Privaten, still wie Grachtengewässer. Immer wieder reißt der papierdünne Romanalltagsboden und gibt vergleichende Blicke aufs Leserleben frei. Eine Roman-Soap, die ihren literarischen Anspruch so uneitel wie versteckt lebensaberwitzig mit jeder ihren vielen Seiten einlöst. J.J.Voskuil: Das Büro; Direktor Beerta. 845 S. Verlag C.H.Beck 2012. 25,-- € Weltliteratur muss nicht vielhundertseitig auf Dünndruckpapier gedruckt und edel gebunden im Bücherschrank schlummern. Sie kann auch auf Sofa oder Boden liegen und nur aus acht bildreichen und textarmen bunten, kräftigen Pappseiten bestehen. Und Alltagsabenteuer aus Lasses Welt beinhalten. „Lasse“ heißt das Küken einer Kleinfamilie. Sein Kleinkindkörper ist gekrönt von einem großen, runden, dottergelben Kükenkopf. Die Ähnlichkeit mit seinen Eltern ist unverkennbar, wobei die Schnabelform eher auf seine Mutter weist, die stark reduzierte Frisur dagegen auf den Vater. Die in der Tat weltbewegenden Themen sind: Furchtlose Angst, Suchen und Finden, Weltreisen im Karton und das faszinierendste Tier im Zoo, Pipi machen und Einschlafen. Auf jeweils acht Seiten hat Illustrator und Autor Ulf K. ihnen Gestalt verliehen, mit klarer Linie und starken Farben. Das „K.“ hinter Ulf steht für Keyenburg. 1969 wurde er in Oberhausen geboren, was ihn nicht daran gehindert hat, einer der besten zeitgenössischen Comiczeichner und Illustratoren zu werden, wie auch diese kleinformatigen Episoden aus Lasses Leben belegen. Lebenspointen, überraschend, herzenswarm und Erinnerung stiftend. Denen, die Lasses Alter teilen, und denen, die sie mit ihnen anschauen, erleben und immer wiedererkennen. Fortsetzungen werden folgen. Ulf K.: Gute Nacht, Lasse. Ganz schön groß, Lasse. Keine Angst, Lasse. Musst du mal, Lasse? Im Zoo mit Lasse. Bitte einsteigen, Lasse. Gerstenberg Verlag 2011. Je 5,95 € –2–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Wim Wenders ist ein weltbekannter Filmregisseur. Und ein bedeutender Photograph, was vielleicht weniger weltbekannt ist. „Places, strange and quiet“ ist der Titel eines handlich schlanken Kataloges, der jüngste photographische Arbeiten dieses Augenmenschen versammelt. Zwar misst der Bildband nur knapp ein Zehntel der originalen C-print Größen , aber selbst in diesem stark reduzierten Format entwickeln de Aufnahmen einen gemäldehaften Sog. Sie zeigen seltsame, ruhige, geräuschversiegelte Orte, die überall auf der Erdkugel in seinen Kamerasucher geraten sind. Wenders sagt, er habe das Gefühl, als suche nicht er die Orte, sondern die Orte ihn. Gefunden haben sie ihn dann z. B. in Süd- und Nordamerika und Japan. Auch Russland, Deutschland bergen solche Zusammenkünfte. Der Blick kann in eine verödete Straßenzeile oder weit ins Land von einem Hochhausdach führen. Allen gemein ist die Abwesenheit von Menschen. Zuweilen wirken sie wie poetische Tatortaufnahmen, festgehaltene Spuren eines ungeklärten Geschehens. Photographien, die den Geist niederländischer Malerei des Goldenen Zeitalters atmen, an Edward Hopper erinnern. Komprimierte Texte, manchmal nur wenige Titelwörter, begleiten die festgehaltenen Zeitaugenblicke wie ein Staunen über deren bedeutende, über sich hinausweisende Wahrhaftigkeit. Es ist die Magie des Augenöffnens nach dem Blendenverschluss, die Ort und Zeit der Aufnahmen im Betrachter fühlbar gegenwärtig und authentisch macht. Wim Wenders: Places, strange and quiet. Verlag Hatje Cantz, 2012, 24,80 €
„Die ganze Welt zu zerstören macht viel Arbeit“ hat Hans Magnus Enzensberger einmal zu bedenken gegeben. Florian Werner bekennt am Ende seines neuen Buches ‚Verhalten bei Weltuntergang‘, dass Gleiches auch für die Verfertigung dieses Vademekums zum Thema gilt. Zwar ist nicht alles, was viel Arbeit macht, auch Kunst, wie Karl Valentin zur Schönheit derselben bemerkt hat. Aber in diesem Fall trifft es vollständig zu. Denn Werners stilistisch funkelnd erläuternde Geschichte diverser Weltuntergangsszenarien ist für sich schon höchst kunstvoll. Sie wird zudem begleitet von magisch realistischen Illustrationen Nikolaus Heidelbachs in betörend depressivem Graublau und Blaugrau. Erste Antworten auf letzte Fragen, Fabel- und andere Lebewesen werden in ihrer Weltuntergangsbedeutung vorgestellt, ein ‚Keinmaleins‘ folgt, sozusagen die Mathematik der Apokalypse; eine dunkel glosende Perlenkette lauter letzter Tage in chronologischer Reihenfolge. Bis ins kleinste Detail ist dieses wegweisende Buch bedeutend gestaltet: es beginnt mit Seite 156 und endet mit Seite – (minus) 9. Man hat also lesend den Weltuntergang überlebt! Das stiftet doch Hoffnung. Da kann man schon zum Liebhaber des bösen Endes werden, wenn man nicht unbedingt dabei sein muss und es so anmutig in zwei schwefelgelben Buchdeckeln bewahrt weiß. Das Jüngste Gericht altert eben nicht. Florian Werner: Verhalten bei Weltuntergang. Illustrationen Nikolaus Heidelbach. Verlag Nagel und Kimche, 2013. 19,90 €
–3–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Ein wenig sehen sie alle aus wie gelungene Kreuzungen von Wollmäusen und Pantoffeltierchen mit tiefsitzendem Bauchnabel. Und ob ‚Nalle‘ nun der Name des jüngsten ist, der Familienname aller oder schlicht die treffliche Bezeichnung einer Lebensform ist eigentlich egal. Es gibt jedenfalls große und kleine. Und wenn z. B. ein großer einem kleinen Nalle ein Buch zu Ende vorgelesen hat, dann ist es keine Zeit schlafen zu gehen, sondern dann fängt das Buch wieder von vorne an. Das ist zumindest die bestimmende Meinung des kleinen Nalle. Nach der zweiten Lektüre ist er dann überraschender Weise hellwach und nur dann müde, wie großer Nalle behauptet, wenn der auch müde ist. Und so weiter, es ist zumindest bekinderten Menschen nicht unbekannt, was da mit klarem Strich und knappem Text zu sehen und zu lesen ist. Alltägliche Kinder-Eltern-Freunde-Geschichten. Kleine Geschichten mit großen Gefühlen, Spannungsbögen, von denen Verständnispfeile in die Luft fliegen und als feine Lösungen durch Verstimmungswolken wieder niederkommen. Stina Wirsén ist die Schöpferin der Nalle-Geschichten, die von Maike Dörries aus dem Schwedischen übersetzt worden sind. „Nalle will Bestimmer sein, liebt Oma, spielt allein, schlaf jetzt“ sind die Titel der vier kleinen, farbigen Bilderbücher, die so treffsicher und erlebensgesättigt Augenblicke des Wiedererkennens zum gemeinsamen Vergnügen für Klein und Groß werden lassen. Stina Wirsén: Nalle… . Gerstenberg Verlag 2012. Ab 2 bis 3 J., je 5,95 €
Arno Schmidt ist einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsautoren. Aber so bedeutend er ist, so wenig bekannt ist er heute noch. Das lässt sich nun leicht ändern durch die Lektüre des ‚Großen Lesebuches‘, das jetzt seines hundertsten Geburtstages am 18.1.2014 erschienen ist. Es enthält kürzere Texte aus den 50er und 60er Jahren, die ihn als genau berechnenden Sprachspieler, als Essayisten und literarischen Widerborst zeigen. Ein Einzelgänger von Anfang an, hat er mehrfach Einladungen zur ‚Gruppe 47‘, der wichtigsten Literaturplattform nach dem zweiten Weltkrieg, abgelehnt. Er ist ein Workaholic, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit und vor allem ohne Rücksicht auf das Hochkonservative der Adenauerzeit entwickelt er provokativ und ‚verschmidtst‘ literarische Formen weiter und neu. Längere Gedankenspiele, Bewusstseinsströme, An- und Ablagerungen weltliterarischer Sedimente von Homer bis Joyce. Eine schöpferische Interpunktion und gelegentliche lautsprachliche Rechtschreibung öffnen häufig überraschende Ausblicke und verdoppeln den Erzählboden. Genaueste Beobachtung, geschliffene Analysen beleben die Texte mit kämpferischer Verve: „Es ist nichts so absurd, dass Gläubige es nicht glaubten. Oder Beamte täten.“ Oder: „Ist die Weltgeschichte Zufall oder bloßer Unsinn?“ Bernd Rauschenbach, seit Jahrzehnten ausgewiesener Schmidt-Kenner, hat dieses Lesebuch herausgegeben, das vielleicht sogar neugierig machen kann auf das opus magnum Schmidts: „Zettel‘s Traum“, ein auch im Hinblick auf seine Maße (35x27x8 cm bei gut 6 kg) gewaltiges Werk. Arno Schmidt, Das große Lesebuch. S. Fischer Verlag 2013. 9,99 Euro –4–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Mit Blick auf die Bundestagswahl am 22. 9. 2013 gewinnt ein Satz des großen Karl Kraus schöne Gestalt in einem Buch von Oliver Maria Schmitt. Der Satz heißt: „In Zweifelsfällen entscheide man sich für das Richtige!“ und das Buch: „Mein Wahlkampf“. Schmitt, Journalist und ehemaliger Chefredakteur des Satiremagazins ‚Titanic‘ berichtet darin von seinem Selbstversuch in Sachen Politik. Auf verlorenem Posten, aber als Spitzenkandidat. Man kann das beste jemals erzielte Wahlergebnis für seine Partei erreichen. Und dennoch abgeschlagen Letzter werden. Schmitt ist Ehrenvorsitzender der Partei ‚Die PARTEI‘. Das ist eine Abkürzung für „Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative“. Da bleibt kaum ein Auge trocken und keine Mutwilligkeit sinnlos. Schmitts Slogan „Freiheit für alle. Und Wohlstand für mich.“ ist von fast brutaler Überzeugungskraft. Der Spitzenkandidat erläutert beispielsweise, wie er Deutschland künftig regiert, wie man nach dem Sieg die Elefantenrunde sprengt, wo man den Wähler aufspürt und erfolgreich abfüllt. Bei der Lektüre kann Poiltikverdrossenheit durchaus in Wahllust umschlagen. Keine noch so kleine taktische Wahlkampfnische, die nicht mit souveränem satirischem Ernst unausgeleuchtet bliebe. Und keine Strategie, deren Durchsichtigkeit sie nicht albern machte. Man nähert sich Karl Kraus‘ schönem Satz so, dass man das Weiß im Auge der Wahlentscheidung erkennen kann! Oliver Maria Schmitt: Mein Wahlkampf. Rowohlt Verlag 2013. 9,99 € Wer kennt nicht Rangar Yogeshwar und seine naturwissenschaftlichen Schlaumeiereien? Ähnliches treiben die „Science Busters“, auch die „schärfste Boygroup der Milchstraße“ genannt, bestehend aus den Physikern Werner Gruber und Heinz Oberhummer und dem Satiriker Martin Puntigam. Nur ist deren erhellende Wissenschafts-Ventilation mit schwarzem Humor getränkt, wesentlich witziger und souverän selbstironisch. Das offenbart schon der Titel ihres Buches: ‚Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln‘, in welchem wir lernen können, was wir eben von Tieren und durch sie über die Naturwissenschaften und uns lernen können. Es ist eine akzentuierte Wissenschaftsrevue in (leider nur) sechs Kapiteln: Menschen, Tiere, Attraktionen, Sex, Drugs and Rock’n’Roll, Himmel und Hölle, Unsterblichkeit. Von der mit dem Nobelpreis für Physiologie/Medizin gekrönten Forschungsarbeit des Neurowissenschaftlers Eric Kandel über Lernen und Denken z. B. leitet sich der Buchtitel her. Was genau wie und zu welchem Zwecke mit Hilfe der Aplysia californica, einer Seeschneckenart, da erforscht wurde, ist nicht nur betörend klar erzählt. Die Darstellung komplexer und komplizierter naturwissenschaftlicher Zusammenhänge lässt diese zumindest für die Zeit der Lektüre auch dem geneigten Laien so selbstverständlich erscheinen, wie das tägliche Zähneputzen. Und der dergestalt erhellte Leser kann sich selbst Absatz für Absatz mit dem Lachen der Erkenntnis belohnen. Das gilt für alle Kapitel und Unterkapitel. Es gibt auch eine gelesene Version dieses Buches, in der der unvergleichliche Harry Rowohlt das Boygroup-Trio zu einem Quartett ergänzt. Puntigam, Gruber, Oberhummer: Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln, Hanser Verlag, 2012, 19,90 €./ Hörverlag, 3 CDs 19,99€ –5–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, früherer Familienvater, jetzt geschieden,…“ so beginnt jeder Hunkeler-Roman aus der Feder Hansjörg Schneiders. Sein Revier ist Basel und Umgebung, seine Ermittlungen führen durch die Schweiz, den deutschen Süden und das Elsass. Und so topographisch beschränkt sie sind, so grenzenlos loten sie menschliche Befindlichkeiten, gesellschaftliche Funktionsmuster und politische Mechaniken aus. Im scheinbar topographisch kleinen Dreiländergefilde großes Welttheater, in dem Hunkeler die Rolle des bärbeißigen Aufklärers spielt. Politisch unkorrekt, unbestechlich, einzelgängerisch, literarischer Bruder eines Jules Maigret, Hans Bärlach und Wachtmeisters Studer. Schneider, Jahrgang 1938, einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatikern, hat diesen genussfreudigen wie auch zur Schwermut neigenden Lebenserkunder 1993 mit dem Roman „Silberkiesel“ zur Welt gebracht. Knapp, lakonisch klar, dramatisch pointiert schreibt er, wie er es als Lokalreporter der Baseler National Zeitung gelernt hat. Dem Kriminal-Erstling sind im Laufe der Jahre sieben weiter gefolgt, 2010 der bislang letzte: ‚Hunkeler und die Augen des Ödipus‘, in dem der Kommissär kundige Ermittlungen im Theatermilieu anstellt. „Jedes Buch…ist eine Haut, die ich abstreife und liegenlasse. Und muss mir immer wieder einen neue Haut wachsen lassen.“ notiert Schneider einmal. So enthält auch jeder seiner Hunkeler-Romane eine nahegehende Wahrhaftigkeit. Weswegen auch alle empfohlen seien. Hansjörg Schneider: Silberkiesel. (und sieben weitere Hunkeler-Romane) à 10,--€, Diogenes Verlag Auch winzige Geschichten können zu großen Lebens-Erzählungen werden, die im Kopf der Leser über sich hinauswachsen. Betörend deutlich wird das bei Hans Stiletts gerade einmal etwas über 100 Seiten altersschlankem Bändchen „Eulenrod“. Ein ‚Biographisches Mosaik‘ nennt er es, der mit bürgerlichem Namen Hans Adolf Stiehl heißt und vor einigen Jahren durch eine epochale Übersetzung der ‚Essays‘ Montaignes ins Deutsche eine größere Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machte. Stilett ist 1922 geboren und weiß, dass ‚der Abschied naht‘. So nahe der ist, so weit entfernt von zagender Verzweiflung ist dieses Erinnerungsgewebe, das er rückschauend unter seinen Füßen zu einem schwebenden Lebensteppich zusammenfügt. Es endet mit ‚Heil Hitler‘ und ‚Rot Front‘-Rufen, da ist Stilett also noch ein Junge. ‚Gestalten und Szenen‘ überschreibt er die immer nur wenige Seiten umfassenden Textdestillate; ‚Eisenbahnattentäter‘, ‚Ein aggressives Huhn‘, ‚Ein Riesenschluck Luft‘. Die Ahnung zukünftiger Lebensvollständigkeit rührt von der erinnerten Geborgenheit in diesem fruchtbaren Kindheitsort ‚Eulenrod‘, der die Geschichten alle birgt. Die staunende, genaue Wahrnehmung und Teilnahme des Kindes am kargen Leben der Mutter, Großmutter, der Erwachsenen mündet in den leuchtenden Blick des greisen Dichters und Übersetzers durch das Brennglas seiner Kindheit. Hand Stilett: Eulenrod. Antje Kunstmann Verlag, 2013. 14,95 €
–6–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Unter dem Titel „Das Wunder von Anning“ erzählt und zeichnet Hans Traxler mirakulöse Geschehnisse in diesem kleinen, von der Welt vergessenen Ort, die verblüffende Parallelen zu biblisch überlieferten vor gut 2000 Jahren aufweisen. Dem Zimmermann Josef Moser und seiner Gattin Maria, geb. Spitzer wird am 24. Dezember ein Kind geboren, an dessen Zeugung sie sich nicht so recht erinnern können. Kurt wird es nach dem Großvater genannt, liebevoll Kurti gerufen. Die jeweils sehr zahlreiche Verwandtschaft beider Elternteile strömt herbei und überhäuft Kurti mit Geschenken. In den Folgejahren wächst dieses Verhalten zu einem Tsunami der Gaben, jeder versucht, den anderen zu übertrumpfen. Das bringt Maria und Josef in wahre Existenznöte. Das liest sich wie eine charmante Enttarnung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieses unseres Landes. Ein absurd possierlicher Wahn vom riesigen Plüscheisbären übers blinkende Neon-Plastikspielzeug bis zur anthroposophischen Keinholzidolen, je nach Gesellschaftsund Geistesverfassung. Zugleich eine Geschichte einfältiger Volksfrömmigkeit („Glauben heißt, nix wissen“ brummt Josef einmal) und vielfältiger Kirchlichkeit. Und zur Himmelfahrt entreißt ein entfesselter Heißluftballon Maria dem Erdenfleck Anning. Zum Schluss wird alles gut. Der mittlerweile pubertierende Kurti bewegt den heiligen Nikolaus zur sukzessiven Rücknahme der Spielwaren und schließlich seiner selbst. Reich an viel- und eindeutigen Wendungen hat Hans Traxler wieder ein kleines Meisterwerk des souverän gezahnten Humors geschrieben und gezeichnet, das nicht von ungefähr jetzt schon zur frühen Spekulatiuszeit erscheint. Auch wenn man es zu jeder anderen Jahreszeit mit Genuss zu sich nehmen kann.
Hans Traxler: Das Wunder von Anning. Reclam Verlag 2012. € 14,95
Als die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen auf 12 Jahre gesunken war, kam der Liebe Gott gerade noch rechtzeitig auf die Schutzengel-Idee, die er nach dem Prinzip Versuch und Irrtum zum Behufe behütenden Schicksal-Designs für die Menschenkinder in die Tat umsetzte. Nach mehr oder weniger gelungenen Kreationen und den üblichen Startschwierigkeiten bei Neuentwicklungen hat sich bis heute ein Schutzengelmodell durchgesetzt, das die Gültigkeit der göttlichen Idee zu belegen scheint. Wir können uns ein Leben ohne sie kaum noch vorstellen. In allen möglichen Situationen stehen sie parat, greifen unsichtbar ein, verhindern Schlimmeres. Oder, wenn sie gerade einmal abgelenkt sind oder nicht nachdenken, auch dessen Gegenteil. So hat sich ein Schutzengel namens Manfred am 20. Juli 1944 als dümmster Schutzengel aller Zeiten profiliert, als er beim Attentat auf Hitler in der Wolfsschanze einen auf den niederstürzenden lodernden Balken abfing. Überhaupt kann der Eindruck aufkommen, dass englische Ablenkung und menschliche Ignoranz die göttliche Idee in ihrer Umsetzung doch öfter behindert haben. Das alles hat der große Zeichner und Satiriker Hans Traxler in seinem Schutzengelbuch genial witzig festgehalten und beschrieben. Er beklagt auch z. B. die im Vergleich zu den Kronberger Villenvierteln um 97% geringere Schutzengeldichte in der New Yorker Bronx. Und er schildert nach einem Gang durch die Weltgeschichte noch sechs wahre Schutzengel-Geschichten aus höchstpersönlichem Erleben, was alles umso authentischer macht. Schließlich dankt er den Beflügelten für gute Zusammenarbeit und empfiehlt sogar die Käufer seines Buches deren schutzenglischer Beachtung. Wenn das nicht mal ein frommer Wunsch ist!
Hans Traxler: Das Schutzengelbuch. Heyne Taschenbuch, 2005, 8,-- € –7–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Das weiße Zicklein schimmerte aus dem dunklen Strauchwerk wie ein Stück verstecktes Licht, wie ein Stück verfrühter Tag.“ Es dient dem Hirten Belek als Köder für den Wolf. Den will und muss er erlegen, um seine Schuld zu tilgen und wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Die Erzählung heißt ‚Verspätetes Jagdglück‘, und ist in dem Band „Eine tuwinische Geschichte“ von Galsan Tschinag enthalten. Vor 32 Jahren zuerst erschienen, ist diese kleine Sammlung jetzt im A1 Verlag wieder erschienen. Wie auch fast in allen folgenden Veröffentlichungen erzählt der Tuwine Tschinag Geschichten seines Volkes im Altai, weit entfernt von Kommutations-Hightech, in einer Region schon archaisch anmutender Nahsprechverbindungen. Von entbehrungsreichem, einfachen Leben in einer grandiosen wie unerbittlichen Natur, die Fehlverhalten ebenso bestraft, wie die dörflichen Gemeinschaften es ächten. Von Sehnsucht nach schützender Geborgenheit, Streben nach Glück berichten diese Volksgeschichten in einer wasserklaren Sprache. Tschinag, 1944 im Altai geboren, studierte in den 1960er Jahren Germanistik in Leipzig und hat Deutsch zu seiner Erzählsprache gemacht. Sein Werk ist mit zahlreichen bedeutenden Literaturpreisen gewürdigt worden. Heute lebt er überwiegend mit seiner vielköpfigen Familie in Ulan Bator als Lehrer, Stammesoberhaupt und Schamane. So begreift er sich als Volksarzt und Volksdichter. Dem Ton seiner Geschichten kann man sich kaum entziehen, weil er unbemerkt Vergessen geglaubtes, weit Entferntes ganz nah zum Klingen bringt. Galsan Tschinag: Eine tuwinische Geschichte und andere Erzählungen. A1 Verlag 2013. 16,90 € Mit einem „Scheißtag“ in Hans D.s Bewertungsskala beginnt Steven Uhlys gerade erschienener dritter Roman „Glückskind“. Hans ist vor Jahren aus dem wohlständigen Mittelklasseleben gefallen und als Hartz Vierler im fünften Stock eines Hochhauses gelandet. Vereinsamt, verwahrlost, verbissen. ‚Er unterscheidet die Menschen nicht mehr, weil alle Menschen Fremde sind‘ . Als er Mülltüten entsorgt, findet er in den übervollen Tonnen auch eine lebensgroße Babypuppe. Seine sich blähende Zornesblase auf die Wegwerfgesellschaft platzt jäh, als die vermeintliche Puppe sich bewegt. Hans nimmt das Baby an sich, er nennt es Felizia; und binnen weniger Stunden, weniger Augenblicke ändert sich sein Leben vollständig. Nicht nur sein Aussehen wandelt sich vom vollbärtigen Karl-Marx-Replikat zum haarbereinigten sorgenden Großvaterhaupt, auch seine Beziehungen zu feindlichen Nachbarn werden zu freundschaftlichen und seine mutlos schwimmenden zu sich selbst gewinnen mehr und mehr festen Boden. Er erinnert sich an seine eigenen Kinder, die er als ‚Hausmann‘ aufgezogen hat. „Zwanzig tote Jahre in drei Tagen Leben,“ erkennt er. Als durch die Nachrichten bekannt wird, wer für diese grauenvolle ‚Kindesentsorgung‘ verantwortlich gemacht wird, entwickeln Hans und seine Mitwisser Strategien, den polizeilichen Nachforschungen zu entgehen. Erst als die geständige 24-jährige Mutter des Mordes angeklagt wird, da das Mädchen nicht auffindbar ist, muss eine Entscheidung getroffen werden. – Steven Uhly erzählt das alles in einer Berichtsform, die genau auf der Schneide vom Miterleben eines tatsächlichen Geschehens und der Fiktion dieser Wirklichkeit balanciert, hochdramatisch und spannend: die fragile Schicksalsmechanik der kleinen Felicia und ihrer glücklichen Retter.
Steven Uhly: Glückskind. Secession Verlag für Literatur, 2012. 19,95 €a –8–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Im Mai 1979 erschien im Suhrkamp Verlag „Der schöne Vogel Phönix“, der erste Roman von Jochen Schimmang. Jetzt ist endlich eine Neuauflage in der Edition Nautilus lieferbar, vermehrt um ein Vorwort des Autors. Die Erinnerungen des 30-jährigen Protagonisten Murnau an seine norddeutsche Schulzeit, Studium im studentenrevolutionären Berlin, seine Diplomarbeit zum Thema ‚Vorgeschichte und Geschichte der Studentenbewegung‘. Aufbruch, Hoffnungen und Scheitern in Zeiten zwischen ‚Mehr Demokratie wagen‘ und ‚Macht kaputt was euch kaputt macht‘. Dass der Roman 1979 ein bemerkenswerter Erfolg wurde, lag auch an der Beschreibung der Versuche einer Ichfindung und Selbstbehauptung Murnaus gegenüber Kollektivierungsbestrebungen der diversen „K-Gruppen“ in den späten 60er Jahren. Allerdings wurde er auch aus demselben Grund heftig kritisiert. Die Literaturkritik erfand für solche Texte den Begriff des ‚Neuen Subjektivismus‘. Etliche dem zuzuordnende Veröffentlichungen versoffen dann auch im Nebel diverser Nabelschauen. Schimmangs Erstling aber ist schon wegen seiner sprachlichen Qualität dagegen gefeit und lässt sich auch heute noch als eine sehr sensible und vielschichtige Geschichte dieser Zeit lesen. Ein Bildungs- und Entwicklungsroman, nicht nur die Biographie einer Lederjacke, sondern auch die ihres Inhalts und der Zeit, in der sie getragen wurde. Für einige Zeitgenossen ein Reservoir der Erinnerungen. Und für Nachgeborene vielleicht eine Blick zurück in staunendem Zorn und Verstehen. Jochen Schimmang: Der schöne Vogel Phönix. Edition Nautilus, 2013. 18,-- €
Als der Schwimmstar Johnny Weissmüller in den 30er/40er Jahren des letzten Jahrhunderts zum Leinwand-Tarzan wurde, gewann er einen besten Freund: Cheeta war der Name dieses berühmt gewordenen Schimpansen. Jetzt, lange nach des Schwimmolympioniken Niedergang und Ableben, legt Cheeta seine Autobiografie vor. In »Ich, Cheeta« memoriert er die fabulöse Hollywood-Welt. Bei der Niederschrift unterstützt hat ihn Ghostwriter James Lever. Wir erfahren nicht nur Gleichnishaftes aus dem Gedärm der Illusionsfabrik, sondern auch so Intimes wie Cheetas Vermutung, dass Weissmüller es liebte, »den Dschungelschrei auszustoßen, weil seine Stimme die einzige Unvollkommenheit seines Körpers war.« Wie so viele gealterte Filmstars kämpft Cheeta heute mit diversen Süchten und Abhängigkeiten, hat allerdings auch das abstrakte Malen für sich entdeckt. Davon, wie auch von der faszinierenden filmischen und privaten Vergangenheit legen etliche dieser romanesken Biografie zugesellte Fotos Zeugnis ab. Ein Buch für alle, die satirisch gefärbte Enthüllungen nicht meiden mögen und schon immer vermutet haben, dass ein Affe allein diese Welt gar nicht ertragen kann. Ich, Cheeta. Die Autobiografie. James Lever. Edition Tiamat 2011, 18,--€
–9–
Empfehlungen
Arndt Wiebus
1961, eine Sozialbausiedlung am Rande Oslos. Der zehnjährige Finn lebt dort mit seiner Mutter, Teilzeitschuhverkäuferin, in einer kleinen Genossenschaftswohnung. Die Mittel sind knapp, die Möglichkeiten begrenzt. Finns Eltern haben sich vor Jahren schon getrennt. Sein Vater, Kranführer, ist gestorben, nachdem er noch eine Tochter gezeugt hat, deren drogenkranke Mutter eines Tages dieses Mädchen Finns Mutter zur Pflege gibt. Linda heißt seine unverhoffte Halbschwester, ein kleines, dickliches, stilles Wesen. Und es zieht noch ein aus Geldnot geborener Untermieter, Kristian, in die beengte Wohnungswelt, ein sonderbar naher Fremdling. Der stellt für die Sommerferien sein großes Zelt auf einer kleinen Insel im Oslofjord zur Verfügung. Dieser Sommer ist der, in dem Linda schwimmen lernt, in dem die Welt sich verändert. Ein magischer Sommer ist das, wie alles, was in diesem Roman erzählt wird durch eine genaue Beobachtung des Geschehens mit einem Zauber und zugleich dessen Entschlüsselung belegt zu sein scheint. Denn alles kommt aus Finns Perspektive zur Sprache, die sich um Geschehen und Personen legt wie eine feinporige Haut aus Wörtern. Roy Jacobsen: Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. (Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs). Osburg Verlag, 19,95€
Als Stephen Joyce vier Jahre alt ist, bekommt er von seinem berühmten Großvater James einen Brief, in dem er ihm etwas von den Dänen berichtet. James Joyce schätze diese „wilden Menschen mit den sanften Stimmen“. Er schreibt seinem Enkel von den roten Briefkästen, der Gemütsruhe der dänischen Polizisten, die Buttermilch trinkend und dicke dänische Zigarren rauchend den ganzen Tag im Bett verbringen. Und jede Menge junge Jungens fahren rotgekleidet auf ihren roten Rädern und transportieren Briefe und Postkarten. Großvater James beklagt allerdings das Fehlen von dänischen Katzen. Dafür gibt’s jede Menge Fisch. Er, Opa James, würde den Dänen beim nächsten Besuch eine Katze mitbringen, die ihnen zeigen könnte, wie alles viel besser funktionieren würde. (Joyce hat diesen Brief in Ermangelung eines im Irland der Zeit beliebten Geschenkes, einer mit Süßigkeiten gefüllten Katzenfigur geschrieben. Die gab es in Kopenhagen eben nicht.) – Erst jetzt ist dieser Brief veröffentlicht worden, unter dem listigen Titel ‚Die Katzen von Kopenhagen`, von Harry Rowohlt übersetzt und großartig illustriert vom multipel preisgekrönten Wolf Erlbruch. Mit festen bunten Strichen gezeichnet sieht man James Joyce seinen Brief schreiben, die beleibten Polizisten in ihren Betten, die radelnden jungen Jungens. Und die großmächtige Katze, Zigarre rauchend, den Verkehr regelnd. Und Fisch stibitzend. (Ab 3-4 Jahre) James Joyce: Die Katzen von Kopenhagen. Hanser Verlag 2013. 14,90 Euro.
– 10 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Deutschland ist ein angestochener Fettkäfer. Noch zappelt er nicht, er staunt nur blöd.“ Wem Sätze wie diese das herbe Lachen der geteilten Erkenntnis bescheren und Lust auf einen absurd scheinenden Zukunftsmut, dem oder der sei Thomas Kapielskis ‚Neue sezessionistische Heizkörperverkleidungen‘ zu Lektüre empfohlen. Der Wort- und Bildkünstler K. erkennt die Welt vor und hinter lauter Ecken und Winkeln im Großen wie Kleinen. Mit ca. 100 zweiseitigen Textminiaturen, denen jeweils ein Photo zur irritierenden Erhellung vorangesetzt ist, leuchtet er den Lesern heim durch Tag und Nacht, Welt und Sinnverhaue. Und wenn ein Gedankengang zu verstellt erscheint, um ihn sicher zu durchschreiten, entmachtet Kapielski das Zögern mit der Wucht eines vom Leben gezeichneten Satzes: „Alles, was je war, ging bis eben vorbei…“ Aus tiefgestaffeltem Alltagswissen und überraschenden philosophischen Extrasystolen schreinert er verrückte Kopfmöbel. Die durchaus das Zeug für lebensbekleidende und daseinsbegleitende Reserven bergen können. Die ganz uneitle Kunst Kapielskis ist es eben, unter der Haut des scheinbar Banalen den Funken der Erleuchtung zu entdecken. Und umgekehrt großphilosophische Sentenzen aufs Verblüffendste in den Abraumhalden des Alltags. Thomas Kapielski: Neue sezessionistische Heizkörperverkleidungen. Suhrkamp Verlag 2012. 14,-- €
Mit Gevatter Tödlein im Gepäck zu neuem Leben Zu: Peter Kersken, Die Suche nach dem goldenen Tod Kein Mord, nirgends. Aber viele Orte lernen wir in Peter Kerskens neuem Roman kennen: Steele, Lünen, Lippstadt, Paderborn, Magdeburg, Potsdam zum Beispiel. Kersken schaut in diesem vierten Roman direkt unter den Mantel der Geschichte, Kapitalverbrechen Fehlanzeige. Auch wenn der Titel ‚Die Suche nach dem goldenen Tod‘ Drogenmilieu mit Schuss und Bahnhofsviertel näherlegt als klösterliche Beschränktheit: er spielt im Jahre 1766, also noch ein Jahrhundert vor „Tod an der Ruhr“, dem ersten Band der Ruhrgebietstrilogie von Beginn, Hochzeit und Ende des Kohle-, Eisen- und Stahlrausches. Im hochadeligen Frauenkloster zu Sterkrade erleben wir Seniorin Ludgera von Hiesfeld gleich auf der ersten Seite bei der Gestaltung einer kleinen wächsernen Leichnamsskulptur, die sie mit winzigem ebenfalls wächsernem Gewürm garniert. Dieses ‚Tödlein‘ wird Insasse eines der vielen Betrachtungssärglein, die die Seniorin schon gefertigt hat. Und die bei frommen Christenmenschen seit fast zwei Jahrhunderten im Schwange sind, um sie täglich an ihre Vergänglichkeit zu erinnern. Eines davon wird den jungen Sterkrader Bauernsohn Jacob Sander zum Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit vom Nabel seiner Welt bis zum aufklärerischen Kopf führen. Vom Sterkrader Kloster bis zur preußischen Hauptstadt Berlin. Jacob ist seit Jahren Domestik der Abtei. Der Auftrag, ein durch Missgeschick von einem reisenden Händler mitgenommenes, der Äbtissin besonders angelegenes, Betrachtungs– 11 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
särglein wiederzubeschaffen, führt ihn aus Klostermauern und Kaff in die Welt. Die ist schon nach wenigen Kilometern abenteuerlich unbekannt. „Der aufregendste Ort am Rande seiner Welt war Duisburg“, bis zu diesem Auftrag; Köln gar Verheißung. Auf geht’s also Richtung Bochum, der mutmaßlichen ersten Station des Händlers, dessen Reiseziel Berlin ist. Aus der veranschlagten Zeit von zwei bis drei Tagen für die erfolgreiche Erledigung des Auftrages werden gut 20 reiseabenteuerliche Maientage. Denn wo Jakob auch hinkommt: Händler Kümmerling war schon da und ist bereits weitergezogen. So führt die Reise entlang Ruhr und Lippe nach Bochum über Hamm Richtung Braunschweig und immer weiter. Wege, Stationen und Geschehnisse runden sich zu einem literarischen Wimmelbild-Panorama, detailreich, voll sprechender Namen und beachtlicher Tiefenschärfe, Wirtshaus Helldunkel, medizinisch-theologische Dispute geburtshilflichen Anlasses, Lippefischer, Handwerksstätten. Zuweilen kommt beim Lesen gelinde Irritation auf, als umwehe die Sprache ein bereits 1766 geborener Mundgeruch. Der lässt allerdings das Geschehen eine überraschende Authentizität und Glaubwürdigkeit gewinnen. Und man gestattet dem Jüngling Jacob gern so viel Armfreiheit, wie er braucht, um mit der Kneifzange wachgekitzelten Verstandes rostige Nägel aus morschen Glaubenskisten zu ziehen. Mit jedem Reisetag weitet sich sein Horizont, zwischen einfältiger Gottesfurcht und Verstandesmut pendeln seine Wahrnehmungen. Nicht nur in der äußeren Reisewelt ist etwas in Bewegung, auch im Reisenden selbst. Früh gesellt sich Jacob ein Reisebegleiter, der junge Mediziner Carl Arnold hinzu. Hinter dem verbirgt sich kein geringerer als Carl Arnold Kortum, Arzt, Forscher und Verfasser der „Jobsiade“, dieser Satire auf Kleingeisterei und Spießbürgertum. Ein Beispiel für Kerskens kenntnisreiche Eingliederung einer zeitgeschichtlich authentischen Figur ins Romangeschehen. Wie er auch umgekehrt die Romanfigur des ‚Anton Reiser‘ aus Karl Philipp Moritz gleichnamigen Roman beim Hutmacher Lobenstein in Braunschweig als bedrückten Lehrling auftreten lässt. Dass die historischen Daten hierbei nicht deckungsgleich sind mit dem Romangeschehen, darauf weist Kersken im Nachwort redlich hin. Wie auch das als Umschlagmotiv ausgewählte „Zwei Männer am Meer“ erst gut 50 Jahre nach der Romanzeit von Caspar David Friedrich gemalt wurde. Das tut aber der Stimmigkeit keinen Abbruch. Kersken löst seinen Anspruch ein, durch eine möglichst feingliedrige Freilegung geschichtlicher Umstände und Gegebenheiten gestaltgewinnende Geschichten zu erzählen. Jacobs Suche nach dem goldenen Tod ist letztlich von Erfolg gekrönt, endet aber nicht damit. Dafür hat Jacob Sander zu viel gesehen und gehört auf seiner Reise. Diese Hellweg-Robinsonade, in der Jacob Sander wie eine wundersam wandernde Insel immer mehr anreichert wird mit neuer Welt, aufregenden Ideen und gar einigen Körnchen Weisheit, ist nicht nur ein historischer Roman. Auch ein Bildungsroman, ein Entwicklungsroman, ein psychologischer Reiseroman, der auf den letzten Seiten gar noch Spurenelemente eines Briefromans offenbart. Und der vielleicht eine Idee zu glücklich für Sander aufhörte, wäre sein Schluss wirklich das Ende einer Reise. Ein umgekehrter Jacobsweg, der den Pilger mit den Keimen der Aufklärung besiedelt hat. Und in diesem Sinne – um dem dicken Gattungszopf noch eine Strähne hinzuzufügen – auch ein Heimatroman ganz eigener Art. „Heimat als Ort, wo noch niemand war“, wie Bloch es formuliert hat. Suche nach dem ortlosen Zuhause. Jacob Sander, der Sterkrader Bauernsohn, ist am Beginn der Suche angekommen. Ob es weitergeht? Man darf hoffen. Peter Kersken: Die Suche nach dem goldenen Tod. Emons Verlag 2013. 317 S., 11.90 € – © Arndt Wiebus 2013 – 12 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
‚Kleeorg und Kleeopatra. Eine Geschichte vom Glück‘ erschien 2011 im Zürcher Bajazzo Verlag. Bereits zwei Jahre später erfolgte die Übersetzung ins Chinesische (Mandarin). Jetzt liegt endlich die ins Ruhrdeutsche vor: ‚Kleeopold und Kleementine. En Döneken über sowat von Dusel‘ heißt sie und ist von keinem geringeren als Claus Sprick, dem langjährigen Präsidenten des Übersetzer–Kollegiums in Straelen. Der schriftdeutsche Urtext stammt von Werner Holzwarth, vielen bekannt als Texter des ‚Kleinen Maulwurf(s), der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat‘. Die sattgrünen Klee-Bilder hat Henning Löhlein gemalt, Illustrator von über 30 Büchern. In Bild und Text wird eine Geschichte vom sprichwörtlichen Glücksklee erzählt. Es ist der vierblättrige Klee-Eumel, Nachwuchs von Kleementine und Kleopold „wo gerade auffe Welt gekommen war“, und „dem noch kein Schwein wat vonne Kuh“ erzählt hat, der natürlichen Feindin der meist Dreiblättrigen. Deren rauhzungige Liebkosung überlebt Eumel. Sein Nachbar ‚Kleerberhaad‘ allerdings verliert seinen Kopf ans Kuhmaul. Und ausgerechnet der hatte noch kurz zuvor die Glück verheißende Vierblättrigkeit als ‚Kokolores‘ abgetan. Denn „Klee is Klee!“ Betroffen und etwas ratlos bleibt die restliche Kleepopulation auf der Weide zurück, als die schwarzbunte Liesel von dannen getrampelt ist. Das Glück kann offensichtlich nicht jeden treffen. Zum Glück aber auch nicht das Unglück. „Ein Büsken für alle, die am Glück dran glaum.“ Holzwarth/Löhlein/Sprick: Kleeopold und Kleementine. Klartext Verlag, 2014. 9,95€ Alljährlich verbringt ein Mann seinen Urlaub in einer kleinen Hütte auf einer Wiese an einem süddeutschen See. Genug Abstand zur Kölner Firma, bei der er angestellt ist, Zeit für sparsamen Umgang mit Nachbarn, philosophische Gespräche mit einer Katze; ein Mann namens Nurmi, der rückwärts lebt, besucht ihn gelegentlich. Als die Abreise bevorsteht, folgt er einer plötzlichen Eingebung und bittet die Firma seinem Wunsch zu entsprechen, hier am See für sie arbeiten zu können. Sie tut das unter Vorbehalt. Er richtet sich also ein, entwickelt einen der Jahreszeit und Witterung entsprechenden Arbeitsrhythmus im Grünen. Obwohl alles bestens funktioniert, wird er doch zum Störenfried für die Firma, wie er beim Besuch eines Firmenvertreters erfährt: er kann nicht betriebskonform verbucht werden. Als „freier“ Mitarbeiter könne er weiter für sie arbeiten. – Werner Kochs Roman „Seeleben I“ ist bereits 1971 erschienen und wirkt auch heute ganz aktuell in der Beschreibung der Wandlung einer idealen Utopie in eine literarische Realität. Für sein Lebens- und Arbeitsexperiment lässt Koch seinen Icherzähler eine Sprache finden, die mit luzidem Hintersinn, manchmal fast fernöstlich einfach und leicht wirkenden Wortsinnbildern und einer seltsam belebenden Schwermut der Entwicklung folgt. Wer rückwärts lebt, wie Nurmi, hat eben die Geburt noch vor sich. Aber das ist ja eher die Ausnahme. Wie kann man „richtig“ leben, wenn es doch kein richtiges Leben im falschen gibt? Werner Koch: Seeleben I. Suhrkamp Verlag. 10,--€
– 13 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Jon Klassen, ein kanadischer Bilderbuchautor und Illustrator hat einen kleinen Text des amerikanischen Poeten Ted Kooser in Bilder gesetzt. Die sind licht erdfarben, Braun- und Grünschattierungen, erinnern in der Technik an Asiatisches und sind zugleich etwas spröde, geradlinig. Mit Koosers Text in den meist doppelseitigen Bildern wird eine Geschichte erzählt, die aus einer Beobachtung gesponnen sind: „Nicht weit von hier habe ich ein Haus gesehen, das von Baumhänden hochgehoben wurde.“ Das hört sich märchenhaft an, verwunschen und mythisch. Es ist die Geschichte zweier Kinder und deren Vater, die ein Haus auf einem großen von Wald umgebenen Rasengrundstück bewohnen. Die Kinder lieben das abenteuerliche Spielen am Waldrand, des Vaters grimmer Ehrgeiz ist, den Rasen frei von Baumsamen und Schösslingen zu halten. Die Jahre vergehen, die Kinder verlassen das Haus, besuchen ab und zu den Vater, der weiter kämpft, und erinnern sich an ihren Waldspaß. Als dem Vater die absurde Pflege des perfekten Rasens zu anstrengend wird, entschließt er sich, in die Stadt zu ziehen und das Haus zu verkaufen. Aber niemand will es. Der Wald rückt immer näher, stützt das verfallende Haus mit seinen Baumstämmen, die es schließlich im Laufe der Jahre immer höher heben. Aus Verfall und Emporwachsen eines Hauses wird so eine poetische Geschichte vom Schwinden des Kindseins, vom Älterwerden, von Verlust und Gewinn, von der Kraft der Natur. Ted Kooser/Jon Klassen: Das Haus in den Bäumen. (Aus dem Englischen von Thomas Bodmer) nord-süd-verlag. 14,95 € Island ist Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Diese wundersame Insel im Nordatlantik, die in den letzten Jahren immer wieder mal ihre Vulkane in die Nachrichten spucken lässt, wurde 1955 über Nacht zum Land mit der höchsten Nobelpreisträgerdichte, als Halldór Laxness derjenige für Literatur zugesprochen wurde. Als Laxness 1998 starb, war er nur vier Jahre weniger alt als sein Jahrhundert und hatte ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen. Erzählungen, Dramen, Erinnerungen, Gedichte, Essays und vor allem Romane, die ihn zu einem der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts machen. Er war ein vielgereister ‚Nationalautor‘, er wollte sehr selbstbewusst in diesem Sinne Island „zivilisieren“, in die Neuzeit führen, er sprach viele Sprachen und seine Werke sind in über 40 übersetzt worden. Der isländische Sagas-Schatz hat seine Kapillaren in vieles getrieben, was er geschrieben hat; facettenreich, archaisch, aufrührerisch, modern. In eine wetterfeste, gletscherweiße und schwarz behenkelte Tasche sind seine Bücher gepackt, 13 Taschenbücher. Genug Stoff also, um sich lustvoll auf Laxness einzulassen, ihn wiederzuentdecken, diesen intelligenten Spötter und großen Geschichtenerzähler. Auch hochbetagt, als das Rauchen bereits streng verpönt war, ließ er gar im Fernsehen seine Zigarren in Qualm aufgehen. Was Wunder, wenn es unterm Blättern manchmal brodelt, als stiegen gleich vulkanisch-humanistische Nachrichten aus den Seiten empor. Halldór Laxness: Sein Werk, Taschenbibliothek in 13 Bdn., Steidl Verlag. 48,-- €
– 14 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Es scheint, als nähme die Anzahl der Kriege auf der Erde ständig zu. Auch wenn es wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt, die das nicht belegen, so entsteht doch der Eindruck durch die ständige Berichterstattung in allen Medien, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang, tagaus, tagein. Die Auswahl der Berichte, besonders, wenn sie von Bildern und Filmen begleitet werden, erscheint dabei gerne als gültige und tatsächliche Wirklichkeit der gesamten Region. Um wie viel anders sich alles darstellen kann, wenn man vor Ort ist, hat der niederländische Journalist und Kriegsberichterstatter Joris Luyendijk erfahren und in seinem Buch „Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges“ beschrieben. Von 1998 bis 2003 berichtete er aus dem Nahen Osten und gilt als ein maßgeblicher Kenner der Region. „Journalismus handelt von der Welt, also muss es auch einen Journalismus über den Journalismus geben, schließlich ist er ein Teil dieser Welt.“ Also berichtet er von der alltäglichen Arbeit der Korrespondenten. Oft würde das, was nicht berichtet wird, ein ganz anderes Licht auf das Geschehen werfen. Luyendijks Buch gibt Einblick in die Mechanik der Kriegsberichterstattung, die Verfälschungsstrategien und Manipulationen der Medienmacher. Spätestens nach der Lektüre dieses Buches, das schon 2006 (!) in den Niederlanden erschienen ist, sieht man die Nachrichten mit schärferen Augen und wacherem Verstand. Joris Luyendijk: Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges. Tropen Verlag, 2014. 9,95€ Wenn im Ruhrgebiet von ‚Koan‘ gesprochen wird, steht kein kurzer fernöstlicher Sinnspruch zu Rede, sondern ein klares hochprozentiges Getränk. Also schon ein Kuazer, aber kein Sinnspruch. Ein Koan ist also hier etwas, was auf dem plattdeutschen Fußboden des Ruhrdeutschen steht. Wenn Kickergott Lothar Emmerich gesagt haben soll: „Gib mich die Kirsche“, dann war das auch kein grammatischer Fehler, sondern nur Spur plattsprachlicher Vergangenheit, in der es lediglich eine Form für Dativ und Akkusativ (mi) gab. Heinz H. Menge, Sprachwissenschaftler und ehemalig Professor an der Uni Bochum, hat jetzt einen literarischen Streifzug durch die „farbigste Sprachlandschaft Deutschlands“ unter dem anheimelnden Titel „Mein lieber Kokoschinski!“ im Henselowksy Boschmann Verlag veröffentlicht. Eine Art frohgemute Summe jahrelanger wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema, die jemand zieht, der nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Gegend und deren Bewohner liebt, denen er beharrlich aufs Maul schaut. Da werden selbst sparsam eingestreute Tabellen, Diagrämmchen oder Fußnoten spannend. Auch ein Buch, das mit ruhrgebietssprachlichen Klischees aufräumt. Und sollte jemand wegen der Färbung seines hiesigen Zungenschlages verdeckte Schamgefühle haben: nach der Lektüre hat er sie sicher nicht mehr. Und kann dem Korn auch noch souverän einen Koan folgen lassen. Heinz H. Menge: Mein lieber Kokoschinski! Verlag Henselowsky Boschmann, 2013 – 15 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Größen aus Kunst, Musik und Literatur, berühmten Menschen der Zeitgeschichte sind die bibliophilen Hefte der Reihe ‚Menschen und Orte‘ gewidmet. Diese Reihe, die in der klein-feinen Edition A. B. Fischer erscheint, umfasst mittlerweile knapp dreißig Titel. Lebensorte besonderer Bedeutung, ob als Zuflucht, Inspirationshafen, Krisenlösung sind in sprechenden Schwarzweiß Fotographien von Angelika Fischer festgehalten. Die biographischen Texte stammen von Bernd E. Fischer. Das Sanssouci Voltaires, Karl Mays Radebeul, Arno Schmidts Bargfeld oder Herrmann Hesses Montagnola: die schlichte Eindringlichkeit der Fotographien bringt die jeweiligen Orte und deren Bedeutung für ihre Menschen ganz nah. Aus dem Fundus dieser Reihe ist auch für 2014 glücklicherweise ein Kalender entstanden. Ein Titelblatt und 12 Monatsblätter mit den Photographien von Angelika Fischer und einem Zitat des jeweiligen Ortsbewohners. Ein Schlussblatt bietet eine Motivübersicht mit kurzen Erläuterungen. Durch sein Format von 30 auf 40 cm findet dieser Kalender immer einen guten Platz. Aber seine Bilder können eine Aura entfalten, die einen ganzen Raum einnimmt. Und ihre Spiralbindung sorgt dafür, dass auch nach dem flüchtigen Jahr diese vielen verschiedenen Ortswelten anstandslos zusammengehalten bleiben. Menschen und Orte 2014. Monatskalender. Edition A.B.Fischer. 19,90 €
Klaus Modicks neuer Roman ist in einer Zeit angesiedelt, in der man unter CD noch eine Seifenmarke und nicht einen digitalen Silberling verstand. Und in der ein Photoapparat nach dem Geräusch benannt wurde, das er beim Auslösen machte: Klack! So heißt auch der Roman, in dem dieser „Agfa Clack“ eine wichtige Rolle spielt, genauer: einige schwarz-weiß Photos, die damit gemacht wurden und die der Ich-Erzähler Markus viele Jahre später auf dem Dachboden wiederentdeckt. Beim Betrachten lösen sie in seinem Oberstübchen Erinnerungen aus, die in 14 Kapiteln eine Geschichte dieser wirtschaftswunderlichen Zeit zwischen Gründung der BRD und 68er Aufbruch erzählen. Immer sehr konkret und aus dem Blickwinkel eines pubertierenden Schülers, mit einer verblüffend lückenlosen Registratur zeitgeschichtlicher Narbenkunde. Als eine italienische Familie in die Nachbarschaft zieht, die für Markus hauptsächlich aus der betörend schönen Tochter Clarissa besteht, grenzt seine Großmutter sich durch einen Gartenzaun von den „Spaghettifressern“ ab. Und in Berlin lässt der Staatratsvorsitzende Niemand seine Absicht umsetzen, eine Mauer zu errichten. So wechselt immer wieder die Perspektive vom familiär Privaten ins größere Weltgeschehen. Photos als Vergangenheitsanker; eigentlich wie blinde Flecken, um die herum auch Jahrzehnte später ausgedehnte Erinnerungsumgebungen wieder gegenwärtig werden. Mit gespinstfeinem Humor und stilistisch traumwandlerisch leicht ist das alles fugenlos verfasst. Klaus Modick: Klack. Kiepenheuer & Witsch, 2013, 17,99 €
– 16 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Das Leben des Doktor Wambach, verwitweter Obervertrauensarzt im Ruhestand, mäandert bedächtig durch die Tage. Alles darin hat seine Ordnung und Regelmäßigkeit, bis er eines Tages Zeuge eines Verlustes wird: bei einem Spaziergang trifft er auf die fünfjährige Ise, die das Verschwinden ihrer Puppe Rapunzel bitterlich beklagt. Der greise Arzt tröstet sie und möchte ihr über den so schwerwiegenden Verlust hinweg helfen. Ihm kommt die Idee, Rapunzel ihrer Puppenmutter Briefe schreiben zu lassen, in denen sie ihr über ihren Aufenthaltsort und ihr Ergehen berichtet. Diese sieben Briefe sind so phantasievoll und tröstlich, wie Wambachs Überlegungen bei ihrem Verfassen einfühlsam und humorvoll. Klaus Nonnenmanns Kurzroman „Die sieben Briefe des Doktor Wambach“ ist 1959 bereits zum ersten Mal erschienen. Eine stille, fast heiter-satirische Anmut liegt in diesem kleinen Roman, in dem der Doktor durch seine Briefe nicht nur die kleine Ise tröstet, sondern auch die Spuren seiner Liebe zu seiner lang schon verstorbenen Frau wiederfindet. Das ist ein Stück großer Literatur in kleinem Format, schwebend zwischen Wehmut und Heiterkeit, das nicht nur die Blüten des Auflebens literarisch duften lassen, sondern auch mit den Wechselfällen des Ablebens versöhnen kann. Klaus Nonnenmanns Texte wurden von Kollegen hoch geschätzt, von einer breiteren Öffentlichkeit aber nicht so recht wahrgenommen. Kaum zu glauben und nicht zu verstehen, wenn man den Roman gelesen hat. Klaus Nonnenmann: Die sieben Briefe des Doktor Wambach. Unionsverlag. 12,95€ Heupferdgrün ist die Verpackung der acht CDs, von denen bei sachgerechter Behandlung eine samtrauhe Bassstimme Flann O’Briens Werk „Auf Schwimmen-Zwei-Vögel“ zu Gehör bringt. Eigner der Stimme ist Harry Rowohlt, der diesen 1939 unter dem Titel ‚At Swimm-Two-Birds‘ erschienenen Roman auch kongenial ins Deutsche übertragen hat. Man kann sich keinen Besseren für beides wünschen. Worum geht es in diesem lustvoll wortreich-polyglotten, bizarren und satirischen Roman? Rowohlt selbst hat es treffend so zusammengefasst: „Eine Gruppe von Menschen geht von A nach B und quatscht sich dazwischen fest.“ Erzähltheoretische Einfälle werden zu schmackhaftem Romanfleisch. Ein erdachter Autor denkt sich einen Autor aus, der wiederum ein Romanpersonal entwirft, das sich anders als gedacht verhält; die Gestalten entwickeln kuriose Eigenleben. O’Brien ist ein Großmeister des Wortspiels. Neben weiteren Romanen und kleinerer Prosa hat erl unter wechselnden Pseudonymen für verschiedene Zeitungen zahlreiche Artikel verfasst, so z. B.. 25 Jahre lang eine satirische Kolumne für die Irish Times. Ein bedeutendes Vorbild war ihm sein Landsmann James Joyce, eine der Großgestalten der Literatur des letzten Jahrhunderts. Der hat auch den Roman seines Kollegen gelesen und gelobt. Allerdings macht Rowohlt einmal eine Aussage zum Unterschied der beiden Iren, die auf witzig pointierte Weise beider Licht jeweils unter den Scheffel des anderen stellt: „So hätte Joyce geschrieben, wenn er nicht bescheuert gewesen wäre.“ Jedenfalls ist diese vom Übersetzer selbst gelesene Aufnahme ein sehr gelungenes Beispiel dafür, wie das Hörerhirn eine ungeahnte Bevölkerungstiefe erfahren kann. Flann o’Brien: Auf Schwimmen-Zwei-Vögel. Übersetzt u .gelesen von Harry Rowohlt. Kein & Aber Verlag 2003, 8 CDs, 49,90€ – 17 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Ein Ort, der ‚Knockemstiff‘ heißt, lässt schon nichts Gutes ahnen. Es gibt ihn tatsächlich, in Ohio, und das sehnige Erzählungsgewebe, das Donald Ray Pollock mit dem Namen dieses Kaffs betitelt, lässt es schon eher als Hölle, denn nur als deren Vorhof erscheinen. Als stecke die ganze Welt in diesem heruntergekommen Ort in einer schrecklichen Pubertät, die sich durch latente Orientierungslosigkeit und ausgelebte Gewaltbereitschaft zu veredeln versucht. Rohe Väter als Zerrvorbilder, Familienbande im Wortsinn, nur Furchteinflößendes kann noch das Gefühl entstehen lassen, lebendig zu sein. Alkohol, Barbiturate, Drogen als Nahrungsmittel, alle Hoffnung wird auf den letzten Schluck aus der Flasche gesetzt. Alle Versuche, Knockemstiff zu verlassen kehren sich gegen sich selber, misslingen. Dieses Gebilde ist Horror und Heimat zugleich. So abgründig wie hier auf den Rücksitzen zerbeulter Straßenkreuzer Jugendliche bekifft und betrunken Geschlechtsverkehr erledigen, als ginge es um die Ermittlung des größeren Verlierers, so verdichtet Pollock den Text immer wieder in einen bildstarken Hoffnungsschatten, den ein anderes, vielleicht besseres Leben wirft. Auch feste, sonnige Gemüter können beim Lesen dieser Geschichten schon mal von einer wortmächtigen Wolke begraben werden. Aber das Bedrohliche, Brutale ist so feinnervig gut geschrieben (und von Peter Torberg so stark übersetzt), dass es allemal besser ist, als wäre es umgekehrt. Donald Ray Pollock: Knockemstiff. Verlag Liebeskind, 2013. 18,90 €
„Mäh!“ ist nicht nur der Befehl, Grashalme zu köpfen. Es ist auch der Titel des neuen Buches von Matthias Reuter, den wir auf dem Buchumschlag inmitten einiger Mähs sitzen sehen, wie diese Tiere gern lautmalerisch genannt werden. Noch einsilbiger kann vielschichtiges Lesevergnügen nicht betitelt werden. Der Kabarettist mit und ohne Klavier schaut auch etwas mäh mäßig aus der Wäsche, so als dürfe man ihm gar nicht zutrauen, was er in diesem Buch versammelt: eine aufs feinste frisierte satirisch-humoristische Geschichtenherde auf Umwegen immer geradeaus in Richtung Denk- und Lachmuskel. Cartoons und Liedtexte begleiten sie. Dass Reuter aus Oberhausen kommt und hier auch noch lebt hat er eigentlich gar nicht nötig; so gut und souverän ist, was er da treibt. Seine Werkzeuge sind nicht Moral-Holzhammer und das Hackebeil der Häme. Reuter ist mittendrin im Alltag und blickt dennoch durch. Und entdeckt so die Rückseite der vielgerühmten ‚Schwarmintelligenz‘: die Krisenherde! Und die führt er als kecker Hirte ins Licht der hoffentlich großen Öffentlichkeit. Bei den Lied-/Gedichttexten wünscht man sich besonders die Töne der Tasten ins Ohr, die Matthias Reuter beim Vortag unter den Fingern hat. Da kann eine CD Abhilfe schaffen, die beim Reuter‘schen Auftritt im Ebertbad aufgenommen wurde. Die Cartoons bleiben beim Hören allerdings unsichtbar. Matthias Reuter: Mäh! Satyr-Verlag, 2013. 12,90 €/ CD ‚Die Menschen sind ´ne Krisenherde, wortart, 2013. 17,99 €
– 18 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Ein gewitzt illustriertes Lob des kleineren Übels ist „Klitzekleine Superhelden“ von Loes Riphagen. Es gibt sie überall, grünhäutig, zart beflügelt und mit einer Rüsselnase ausgestattet. Maximal 17 Millimeter werden sie groß, die hilfreichen Superhelden. Sie haben für jeden erdenklichen Notfall eine entsprechende Einsatzausrüstung im Rucksack. Wie z. B. eine umfangreiche Kollektion von Tarn-T-Shirts. Die können sie sogar während des Fluges blitzschnell wechseln. Als Wespe getarnt wird so gelegentlich ein Rettungsbiß in den Unterarm eines schwer beladenen Mannes gesetzt, der sich gerade anschickt, nichtsahnend eine Treppe hinunterzustürzen. Vor jähem Schreck wirft der Gebissene seine Last von sich, die krachend am Fuß der Treppe landet. Der entlastete Träger aber bleibt nachdenklich verdutzt und unverletzt oben stehen. Die Rückseite des kleineren Übels ist das positive Denken, das Glück im Unglück. Das erfolgreiche Verschieben eines Hundehaufens vereitelt im Vorfeld schon eine mögliche katastrophale Kettenreaktion. Dass der Turm von Pisa schief bleibt und nicht umfällt ist den Klitzekleinen zu danken, ebenso wie der Erhalt des Meeresspiegels durch Abdichtung eines gefährlichen Lochs im Meeresboden. Was man alles tun kann, um diesen an der Grenze zur Unsichtbarkeit lebenden und arbeitenden Weltenretter ein ungestörtes und artgerechtes Leben zu ermöglichen, sie gar im eigenen Haushalt anzusiedeln, erfährt man auch. Heldisch-englische Abenteuer ab 3 Jahre. Loes Riphagen: Klitzekleine Superhelden. Gerstenberg Verlag 2012. 12,95 €
Welch idyllische Szenerie: ein Reed gedecktes Häuschen im Grünen, vor dem sommerfrisch ein weißer Hase und ein brauner Bär dem Frühstück frönen und eine Mehrgenerationen Hühnerfamilie sich dem Picken hingibt. Doch da springt aus dem Buschwerk ein Fuchs, schnappt sich ein Jungfern weißes Huhn und stiebt von dannen. Man denkt sogleich: was dem Bären der Honig und dem Hasen die Frühstücksmöhre, das ist dem Fuchs das Huhn. Nur dann wäre die Geschichte, kaum dass sie begonnen hat, auch schon aus. Aber gefehlt, denn Bär, Hase und Hahn machen sich zornig in Bremer Stadtmusikanten Formation auf die Verfolgung. Es geht durch den Wald bis in die Nacht, der Abstand verringert sich nicht. Weiter geht die Hatz am nächsten Morgen. Der Fuchs versteckt sich mit der Hühnerbeute in seinem Bau. Verblüfft sehen wir die beiden dort eine Partie Schach spielen, während die Verfolger vergeblich weitersuchen. Stockholm Syndrom? Tags darauf wird die seltsame Flucht übers Meer fortgesetzt, durch tosende Wellenberge; der Abstand vergrößert sich. Doch schließlich erreichen die Retter den Entführer. Als sie ihm ans Fell wollen, stellt sich das Huhn schützend vor den vermeintlichen Unhold. Und vorm flackernden Kaminfeuer wird die Geschichte einer fellwarmen und federleichten Zuneigung offenbart. Das alles ist vollkommen wortlos von Béatrice Rodriguez gezeichnet und koloriert, spielerisch dramatisch, hintersinnig einfach und bedeutend herzwirksam. Ab jedem Zuhöralter. Béatrice Rodriguez: Der Hühnerdieb. Peter Hammer Verlag. 9.90 Euro
– 19 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Im Sommer 1944 bricht in Newark, New Jersey, eine Polio Epidemie aus. Buckey Cantor, ein athletischer junger Sportlehrer, wegen seiner Schwachsichtigkeit zu seinem Bedauern nicht als Soldat zu Kriegsdiensten eingezogen, beaufsichtigt die sportlichen Ferienspiele von Jungen und Mädchen. Die sind von seiner Umsicht, Fürsorge und tatkräftigen Führerschaft tief beindruckt. Aber die heimtückische Krankheit, deren Ursache, Verbreitungsmechanik und Bekämpfung noch im therapeutischen Dunkel liegen, reißt Lücken in die heiter wettkämpfende Jugend. Unguten Gewissens, der Liebe wegen verlässt Lehrer Cantor die schwüle Stadt und kündigt seine Stelle, um eine andere, ähnliche in einem Feriencamp in den Bergen anzutreten. Ein idealtypischer Ort namens ‚Indian Hill‘, dessen sinnenbetörende Natur Sicherheit vor der Krankheit zu versprechen scheint. Aber das trügt. Jahre später, Welten von der vergangenen entfernt, treffen wir Cantor wieder. Er ist ein anderer geworden, ein gebrochener Held. Seine Zweifel an umsichtiger, menschenfreundlicher Gerechtigkeit eines Gottes, dessen Spielplatz die Welt ist, sind immer fester fundamentiert worden. Es scheint, als habe sich dieser tragische Held Cantor der zufälligen oder schicksalhaften Entwicklung seines Lebens durch Selbstbestrafung zu erwehren versucht. Als habe er, der einst nachgerade strahlende Sportler sich selbst zu besiegen versucht, wissend um die absurde Unmöglichkeit dieses Sieges. Philip Roth: Nemesis. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag 2011. 18,90€ Uroma ist mit ihren 92 Jahren zwar tatsächlich uralt, aber deswegen noch nicht von gestern. Dass sie sogar sehr von heute ist, zeigt z. B. nicht nur ihre Vorliebe für Elvis Presley und seine Musik, sondern auch ihre E-Mai an zahlreiche Freunde und Verwandte. Mit der lädt sie zu einer fröhlichen Feierrunde am 14. September ein. Denn an diesem Tage, genauer gegen 17 Uhr, beabsichtigt sie zu sterben und will das in Gesellschaft ihrer Lieben tun. Als ihr Urenkel Mikael die E-Mail liest und seine Eltern informiert, wissen die gleich, dass sie die Absenderin nicht von ihrem Vorhaben werden abbringen können. Typisch Uroma eben. Aber Mikael kann sie überzeugen, ihm zu erlauben, die zwei Wochen bis zum Einladungstermin bei Uroma zu verbringen. Dreiunddreißigtausendsiebenhundertundsiebzig Tage hat sie gelebt, rechnet Uroma mit Mikael aus. „Ich bin satt an Tagen“, sagt sie. Und die große Zahl verleiht diesem Gefühl auch glaubhafte Gestalt. So machen sich die beiden an die Arbeit. Es ist noch viel zu tun. Ein Sarg muss ausgesucht werden, ebenso ein schöner Stoff fürs Leichenhemd, das Uroma selbstverständlich selbst nähen will. Und vieles, vieles mehr. Heiter tabu los und quicklebendig ist diese Geschichte vom ersten Einatmen bis zum letzten Ausatmen erzählt Nicht nur eine Lektüre für Urenkel. Eli Rygg: Goodbye, Uroma! Aus dem Norwegischen von Nina Hoyer (ab ca.10 Jahre) Gerstenberg Verlag, 2012. 12,95€
– 20 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Wie ein Seiltänzer, der selbst auf einem kurvig gespannten Seil das Gleichgewicht nicht verlöre, unternimmt Jochen Schimmang ‚51 Geländegänge‘ in seinem jüngst erschienenen Buch „Grenzen Ränder Niemandsländer“. Geländegänge, das sind hier Such- und Meidbewegungen aus sicherem Kindheitsversteck, Ortsbestimmungen, Fremdeln, fast Hass- und Liebesbezeigungen zu diesem immer mehr die scheinbar entgrenzende Mitte vergötzenden Deutschland. Ein vorangestelltes Zitat Arno Schmidts (‚The Germany can me furchtbar leckn.‘) gibt die Perspektive frei. Schimmangs Gelände- und Grenzgänge sind auch Geschichten des aufmerksam unbemerkten Verschwindens, des Randständigen. Aus Versteck heraus beobachten. Besuche bei Peter Handke in Frankreich, häufige Aufenthalte im Groß Britannien des verheerenden Thatcher-Jahrzehnts, die Wiederverdeutschlandung der Neunziger Jahre, die ein in der britischen Besatzungszone noch Geborener erlebt. Die legendäre Flucht des Vorschul-Schimmangs auf dem Dreirad Richtung Harz, damals schon Entdeckungsflüchtiger. Ein zusammenfassendes Gedankentagebuch der letzten Jahrzehnte, aus dem soziologisch, politisch, zeitgeschichtlich und literarisch-philosophisch Licht aufs Gelände der Grenzen, Ränder und Niemandsländer fällt. Kulturgeschichtliche Fasern deutscher, europäischer Zeitgeschichte, die Schimmang zu einem auch für seine Romane und Erzählungen typischen melancholischen, etwas von den Zeitläuften beleidigten aber auch ironisch gewitzten Textteppich webt. Jochen Schimmang: Grenzen Ränder Niemandsländer. Edition Nautilus, 2014. 19,90€ Ein Seil und ein Dorf, mehr braucht Stefan aus dem Siepen nicht für seinen neuen Roman, um eine Parabel durch Hinterwäldlerisches ins Weltgeschehen zu biegen. So einfach der Vorfall – der Bauer Bernhard findet beim rituellen Abendspaziergang am Waldrand ein Seil, das sich in den dunklen Wald hinein schlängelt, anderntags macht sich die männliche Dorfbevölkerung zu einer immer dramatischer sich gestaltenden Seilverlaufsexpedition auf – so dämonisch und existenzbedrohend entwickelt sich alles. Im Scheitelpunkt der Parabel erzählt aus dem Siepen das Binnenmärchen „Der stolze Bogenschütze“, der sich von nichts und niemandem abhalten lässt, immer höher hinaus zu wollen. Erfolgreich; auch wenn das eine Spur Unwohlsein hinterlässt und eine eigenartige Spannung zwischen den Parabelschenkeln aufbaut. Auch bestärkt dieses Märchen die märchenhafte Aura des Erzählten in einer Welt ohne Autos, Telefon, Rentenversicherung und Hightech, in der die einzige und auch einfachste Maschine noch das Seil ist. Die Seilsucher, die von dort kommen, wo die Ereignislosigkeit das bedeutendste Ereignis ist, sind der Situation nicht gewachsen. Ihr Verhalten lässt innere Abgründe aufscheinen, die in Gewaltentaten gipfeln. Dennoch wollen und können sie ihre Tun nicht aufgeben, auch wenn sie die Existenz alles Bekannten aufs Spiel setzten. Wo ist das Ziel und wie sieht es überhaupt aus? Der bedachte Erzählton bannt. Und nachdenkliche Neugierde schlängelt sich suchend wie das scheinbar endlose Seil durch den kleinen Roman. Stefan aus dem Siepen: Das Seil. Deutscher Taschenbuch Verlag 2012. 14,90€ – 21 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Gerade erschienen ist der Arche Kinder Kalender 2012, eine schmucke Gedichtsammlung nicht nur für Kinderzimmerwände. Er misst etwa zwei Handspannen im Quadrat und hält für jede Woche des Jahres ein Kalenderblatt vor, auf dem unter einem deutlichen Kalendarium ein illustriertes Gedicht zu lesen ist. Die Gestaltung, die Wechselwirkung von Bild und Text, ist nicht nur drucktechnisch von beachtlicher Qualität. Wie schon für den ersten Kalender 2011 haben auch für diesen die Lektoren der Internationalen Jugendbibliothek in München die Auswahl besorgt. Im Original fremdsprachige Gedichte aus über 30 Ländern sind auch in der Muttersprache zu lesen und von kundigen Übersetzerinnen und Übersetzern ins Deutsche gebracht. Die Jahreszeiten werden thematisch begleitet von 54 Gedichten und Bildern rund um den Globus. Kinder Kalender? fragt man sich beim Blättern und Lesen als vermeintlich Erwachsener. Ein Gefühl der Flüchtigkeit umschleicht sacht den Betrachter, sind doch Kalender auch immer Vergänglichkeitsanzeiger, Woche für Woche. Aber jede umgeblätterte Woche erhöht den Gewinn an Lust auf Verse und Farben; und lenkt den Blick auf neue Perspektiven. Einfacher, schöner und preiswerter (0,05€ pro Tag) kann man Kindern jeden Alters kaum Lust auf Buchstaben- und Bilderwelten machen. Arche Kinder Kalender 2012, Arche Verlag, 18,--€ „Cherryman jagt Mr. White“, Jakob Arjounis neuer Roman, bringt mehr Licht in das aufgebrochene braune Dunkel, als der Großteil der fast erstaunt ahnungslose Betroffenheit gelobenden Politikerkommentare, Erklärungsalgorithmen und Talkshows, die immer wieder mehr überspülen, als freilegen. Arjouni lässt einfach den 18-jährigen Rick seine Geschichte erzählen. Die Geschichte seiner Straffälligkeit, entstanden aus dem Versuch, einer erpressten anderen zu entgehen und so ‚ausgleichend‘ selbst eine Art Gerechtigkeit herzustellen. In Briefen an seinen ihn begutachtenden Psychiater. So wird ihm selbst – und damit auch den Lesern – die Entstehungsgeschichte und der Fortgang seiner Taten und deren Gegenteil verständlich, nachvollziehbar. Rick, ein sensibler Einzelgänger in einem kleinen Märkischen Städtchen, steht unter der Fuchtel einer verwahrlosten Glatzen-Gang. Doch eines Tages kommt ausgerechnet aus deren Reihen das von Rick erträumte Angebot einer Ausbildungsstelle im nahen Berlin. Das ist allerdings mit einer scheinbar nebensächlichen Bedingung verknüpft. Für eine „Heimatschutz“ sich nennende Organisation soll er einen jüdischen Kindergarten beobachten und davon berichten. Ein heimtückischer Auftrag mit mörderischen Konsequenzen. Rick versucht seine ausweglos scheinende Lage durch sie illustrierende und reflektierende Comiczeichnungen, deren Titelfiguren den Romantitel ergeben, zu beherrschen und eine Lösung zu erreichen. Aber diese Hoffnung ist hohl. Rick ist mit der Verantwortung überfordert, allein gelassen in eine „lose-lose-Situation“ geraten. Jakob Arjouni beweist auch mit diesem kleinen Roman, wie genau er gesellschaftliche Entwicklungen in der Berliner Republik beobachten und wie spannend er darüber schreiben kann, auch wenn das Thema so bedrückend ist. Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White“. Diogenes Verlag 2011, 19,90€ – 22 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Was haben eine Südseeinsel und ein Leichenschauhaus gemein? Oder eine Bibliothek und eine Badewanne, ein Friedhof und Manhattan? Die Antwort ist einfacher als man vermuten mag: Alle sind sie Orte, an denen der belebende Mundgeruch eines göttlichen Hauches schöpferische Kräfte freisetzen und besonders anregen kann. Mit ihrem „Atlas inspirierender Orte“ haben Stephan und Wiebke Porombka eine Topografie solcher Stätten geschaffen. Alphabetisch geordnet von ‚Alexanderplatz‘ bis ‚Zug‘ sind die Kapitel zu Beginn immer mit den exakten Längen- und Breitengraden der jeweilig zugeordneten Einzelorte versehen. Man könnte sie auf die Bogensekunde genau auffinden. Else Stratmanns Fenster in Wanne-Eickel, Emil Noldes Garten in Seebüll, die Bastille in Paris oder auch Tim Mälzers Restaurant ‚Bullerei‘ in Hamburg. Eine kenntnisreiche Beschreibung der Örtlichkeiten, ihrer Geschichte und ihrer besonderen Wirkung auf die dergestalt und dort Inspirierten folgt. Begleitet und bereichert von exquisiten Illustrationen Stephan Hendels, dem es mit seinen geschickt und feinfühlig arrangierten Collagen aus zeitbezogenen Fotos und kartografischen Zeichnungen gelingt, eine authentische Aura zu erzeugen. Das Blättern in diesem besonderen Atlas kann ihn durchaus selbst zu einem inspirierenden Ort machen. Jedenfalls macht es Lust auf Entdeckungsreisen. Auch und besonders im Kopf. Stephan u. Wiebke Prombka, Steffen Hendel: Atlas inspirierender Orte. Verlag Meyers, Bibliographisches Institut. 2013. 29,99 €
Als Heinrich Böll 1963 für einen Rundfunksender zum 1. Mai die satirisch-Ironische „Anekdote zu Senkung der Arbeitsmoral“ schrieb, war Emile Bravo noch unterwegs. Ein Jahr später kam er dann zur Welt und ist heute ein begehrter Illustrator und Comiczeichner. Was die beiden verbindet? Bravo hat aus und mit Bölls Text ein Comic-Buch geschaffen. Textkürzungen haben sich in fabelhafte Bildfolgen verwandelt, der neue Titel ‚Der kluge Fischer‘ lässt schon die Moral der Geschichte durchscheinen. Im Hafen eines kleinen, mutmaßlich französischen Küstenortes knipst klickend ein bunter Tourist einen in seinem Boot dösenden Fischer. Der fühlt sich dadurch gestört und verlegen versucht der Knipser ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Von Wirtschaftswunderwahn befeuert phantasiert er Bilder sich steigernden Fangerfolges, wenn der Fischer nochmals hinausführe. Erfolg des Erfolges wäre dann ein weiteres Boot, dann ein Kutter, eine Flotte, ein eigenes Kühlhaus. Bis hin zum eigenen mondänen Fischrestaurant in Paris. Dann habe er es geschafft und könne sich zurückziehen, in der Sonne am Hafen sitzen und dösen. – Genau das tue er ja bereits, entgegnet der Fischer keck und klug. Nur das Klicken störe ihn. - Diese vermeintliche Erfolgsgeschichte gewinnt durch die gezeichnete Darreichungsform eine possierliche Gültigkeit, die auch noch ganz jungen Lesern zugänglich ist. Heinrich Böll/Emile Bravo: Der kluge Fischer. Hanser Verlag, 2014. 14,90 €
– 23 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
In der medialen Flut von Erziehungsratgebern, heimwerkernden Entwicklungspsychologeleien und politischen Opportunitätswettstreitereien um das angebliche Kindeswohl fühlt man sich beim Lesen des kleinen Romans „Bint“ wie auf eine karstige Insel verschlagen. Der niederländische Autor Ferdinand Bordewijk hat ihn bereits 1934 veröffentlicht, 2012 erschien er erstmals in der deutschen Übersetzung von Marlene Müller-Haas. Schulleiter Bint hat sein Kollegium auf ein archaisch rigides pädagogisches Konzept eingeschworen, eine Art Klassenerziehung. Einzelförderung ist verpönt. Auch wenn die Durchsetzung dieser Erziehungsvorstellung faschistoide Züge trägt und selbst letale Konsequenzen in Kauf nimmt. Alles wird aus dem Blickwinkel de Brees erzählt, eines neuen Lehrers, der schnell von dieser kruden Schul- und Unterrichtsstruktur fasziniert ist. Harte, kurze Sätze, verwirrende wie demaskierende Vergleiche beschwören einen magischen Realismus, ein Wechseln von Bekenntnis und zugleich dessen Fragwürdigkeit. Bint, der merkwürdig meist im Hintergrund bleibt, hat eine autoritäre Frontalpädagogik installiert, Das Kind muss sich in den Lehrer hineinversetzen, nicht umgekehrt. („Ich fordere, dass es zehnmal Gehorsam anerkennt, zehnmal Zucht,…“). Ein Nachwort Marten ´t Harts von 2012 und eine zeitgenössische Einschätzung Menno ter Baaks bieten der möglichen Irritation nach der Lektüre ein Verständnisgeländer. Das trifft insbesondere auf ter Baaks ausführlichen Essay zu, der durch seine literaturgeschichtliche Einordnung dieses Romans auch eine aktuelle Diskussion beleben kann. Gehört „Bint“ doch bis heute im Nachbarland zur Schullektüre. Ferdinand Bordewijk: Bint. C.H.Beck textura, 2012. 14,95 €uro ‚Ein Sonntag auf dem Lande‘ heißt ein kleiner Roman von Pierre Bost, der genau von dem handelt, was sein Titel ankündigt. An einem Sommersonnensonntag empfängt der betagte verwitwete Maler Urbain Ladmiral seinen Sohn, dessen Frau und deren drei Kinder zu Besuch in seinem Landhaus nahe Paris, wie fast jeden Sonntag. Etwas überraschend, aber durchaus erwünscht, stößt nach ausgiebigem Mittagsessen Ladmirals Tochter dazu. Sie ist das Gegenteil ihres Bruders, unverheiratet, quicklebendig und einfallsreich. So, wie es dem Maler an Mut gefehlt hat, künstlerisch zu neuen Ufern aufzubrechen, so vorsichtig und konventionell ist auch der familiäre Umgang miteinander. Da wird verschwiegen, aus gedachtem Nein wird gesagtes Ja, aus diametral auseinanderstrebenden Ansichten wird Einverständnis unter einer ständig einsturzgefährdeten Harmoniekuppel. Pierre Bost lässt in dieser farbzarten, sommerheißen und landluftigen Geschichte am Vorabend des ersten Weltkrieges die Konturen abgründelnder familiärer Beziehungsmechanik aufscheinen. Seltsam vereint sind alle Romanfiguren doch angesichts der sich immer wiederholenden Abschiede, die die Besuche beenden; und von denen einer der letzte sein wird. Ein feingliedriger impressionistischer Roman mit einem Schuss Ironie und zwei Tropfen Wehmut, der 1945 in Paris erschienen ist. – Wiederentdeckt, zum ersten Mal ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen hat ihn nun Rainer Moritz. Pierre Bost: Ein Sonntag auf dem Lande. Dörlemann Verlag 2013. 16,90 € – 24 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Die Suche nach einem sicher geglaubten, dann aber doch wieder vergessenen ersten Satz führt einen Schriftsteller in existentielle Nöte. Das tut seinen Schreibschwierigkeiten gar nicht gut. Seine Frau ist schon zur Arbeit, die zwei Kinder zur Schule. Nur er und der Familienhund sind noch in der geräumigen Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Und dieser schönen Wohnung geht es auch nicht gut, daumenbreite Senkungsrisse in den Wänden; und die Badewanne ist in Schräglage geraten. Hatte er gestern Abend noch Streit mit seiner Frau? Wie gelähmt liegt der icherzählende Autor auf seinem Bett und phantasiert so bizarr wie folgerichtig immer aufs Neue zwischen Ursachen und Wirkungen. „Der amerikanische Investor“ heißt Jan Peter Bremers schlanker und grotesk blühender Roman, der kürzlich Döblin-Preis gekrönt wurde. Ein amerikanischer Investor, unverschämt reich und ruhelos dauernd um den Erdball jettend, hat den gesamten Kreuzberger Altbaukomplex gekauft. (Wer erinnert sich da nicht – und zu Recht – an den Karstadt-‚Retter‘ Nicolas Berggruen?) Dem will der Schriftsteller einen Brief schreiben; ja ihn sogar Kraft seiner Prosa dazu bringen, ihm, dem kleinen, darbenden Schriftsteller einen Brief zu schreiben. Voller Verständnis und Lösungsangebote für des Schriftstellers missliche Lage. – Ein brillanter, geist- und nervenkitzelnder ironischer Entwurf, Linderung für die Härten unserer so erdgebundenen Existenz von einem außerirdisch scheinenden Großmächtigen zu erwarten. Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor. Berlin Verlag, 2011. 16,90 € Besonders um den Beginn des ersten Schuljahres kann es Tage geben, die ‚Regenwurmtage‘ heißen. Fast jeder kennt solche Tage, auch wenn sie vielleicht ganz andere Namen bekommen oder gar keine haben. Für Antje Damm heißen sie eben wie der Titel ihres Buches: ‚Regenwurmtage‘. Und die hat sie, 38 Jahre, nachdem sie sie erlebt hat, so aufgeschrieben und illustriert, dass alle, die schon (oder immer noch) selbst gerne lesen, sie nacherleben können. Ob sie nun erst vier oder fünf sind oder schon 40 oder 50. Das ist eine Geschichte von ersten Schultagen, einer unverständigen Lehrerin, die Geschichte des vermissten Duftes des arg schon müffelnden Stoffhundes Flori, der nicht mit zur Schule darf. Aber dafür als allererster vom dramatischen Schulgeschehen erfährt: vom Nebensitzer, den die Lehrerin verordnet hat. Ein Junge! Der nicht nur doof ist sondern auch noch so seltsam ‚Faruk‘ heißt! Und der sich als ganz naher Freund zeigt, der auch Regenwurminteresse hegt und versteht, wie aufregend das mit den ‚Wenigborstern‘ aus dem Stamm der Ringelwürmer ist. Mit dem man Frau Bender, die Lehrerin, schrill schreiend und sprachlos macht. Kindheitserinnerungsvermögen auf 51 Seiten, unverschlossen, plünderbar und wundervoll. Um wie viel wichtiger ist die Regenwurm Lebensrettung doch als Pünktlichkeit und Ordnung! Text und Illustration sind gedankenhautnah an der Frühform der Leser und Augentiere: den Kindern. Antje Damm: Regenwurmtage. Moritz Verlag 2011. 9,95 €.
– 25 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Deadwood“ ist ein Western-Roman von Pete Dexter betitelt, den auch gerade die gerne lesen werden, die sonst mit dem Genre ‚Western‘ nicht viel am Stetson haben. Denn weit entfernt von Groschenromanromantik zeichnet Dexter ein fein differenziertes Bild dieser Goldgräberstadt in South Dakota und ihrer Bewohner um 1876. Er lotet Whiskeyseelen und soziale Untiefen aus, ohne dass es dem Roman an Spannung und Witz gebräche. Ganz im Gegenteil wird alles nur umso glaubhafter und lebendiger, durchsetzt von schwarzem Humor und schillernden Anekdoten. Die zentrale Romanfigur ist der legendäre vielgediente Revolverheld James Butler Hickok, in die Geschichte eingegangen als „Wild Bill“. Dessen Vorhaben, an der Seite der flintenweiblich- legendären Calamity Jane in Daedwood etwas Ruhe in Revolverhalfter und Stiefel zu bringen, geht nicht auf. Das Scheitern wird aus der Perspektive seines Freundes Charley Utter erzählt, der im Gegensatz zum Rest der zur Verrohung neigenden Westerngesellschaft eine Art moralischer Integrität zu bewahren versucht. Pete Dexter hat viel historisches Quellenmaterial gesichtet, Tatsächliches gesammelt, was dem Roman unmerklich Glaubwürdigkeit verleiht. Er entkleidet den Mythos des „Wilden Westens“ bis auf dessen schmutzige Unterwäsche. Gier, Gewalt, Korruption, und das Un-Recht des Stärkeren bilden die Basis des Wahren Wilden Westens. Ein Kriminal-Western aus der Zeit, als Schießen im Öffentlichen Raum und in Lokalen weniger verboten war, als heute das Rauchen. Pete Dexter: Deadwood. (Aus dem Amerik. von Jürgen Bürger u. Kathrin Bielfeldt) Verlag Liebeskind 2011, 448 S., 22,--€ Bevor uns nach verkapptem Fury-Fleisch demnächst auch noch Pferdeäpfel als Obst verkauft werden, sei auf ein Buch hingewiesen, das sich mit unserer Ernährung beschäftigt. Es hat den programmatischen Titel „Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte“. Kein Selbstversuch mit vegetarischem Ausgang, sondern – so der Untertitel – ‚Goldene Regeln für gute Ernährung‘. Ganz undogmatisch, dafür aber witzig und anregend gibt Michael Pollan Hinweise zum Was und Wie des Essens, scharfsichtig dabei Traditionelles und Kulturelles im Blick. Eine Befreiung von den Dogmen der Lebensmittelindustrie und der Verwissenschaftlichung unserer Ernährung. Die Malerin und Illustratorin Maira Kalman hat das luftige Regelwerk mit farbenfrohen Illustrationen gespickt, die wirken, als hätten Chagall und Matisse gemeinsam etwas Schabernack mit ihrem Pinsel getrieben. Stellvertretend für die frappierende Qualität der restlichen sei die dreiundzwanzigste Regel zitiert: „Was in allen Sprachen denselben Namen hat, ist kein Lebensmittel. (Denken Sie an Big Mac, Mars oder Pringles.)“ Pollans gescheit kommentiertes Manual gibt Leitlinien und entwickelt Vorschläge, es liefert keine Rezepte. Wenn Müsli die Farbe der darüber geschütteten Milch verändert, kann man schlicht erkennen, dass lebensmitteltechnisch behandelte Bestandteile enttarnt worden sind. Es ist auch eine kleine Geschichte der Ernährung, die im Vorwort und zwischen den Zeilen mitgeliefert wird, so undogmatisch eben, wie die letzte, dreiundachtzigste Regel: „Brechen Sie ab und zu die Regeln“. Pollan/Kalman: Essen Sie nichts…, Kunstmann Verlag. 2013, 18,-– 26 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
`Kein Wort. Nirgends` ist man zu kalauern versucht, wenn man die von Frank Flöthmann gestaltete Ausgabe Grimmscher Märchen durchblättert. Denn außer den Titeln der Märchen und dem Wörtchen ‚Ende‘ an deren Ende sind alle Märchen wortlos. Sprachlos sind sie aber nicht. Denn Flöthmann ist Illustrator, Zeichner von Comicstrips. Und mit diesen Sprachzeichnungen hat er 16 der bekanntesten Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm universal verständlich nacherzählt. Nicht romantisch-biedermeierlich wie einst Ludwig Richter oder jugendstilig wie Otto Ubbelohde. Hier und jetzt wird schnörkellos und symbolklar gezeichnet. Die Märchen lassen sich lesen wie Verkehrsschilder, Piktogramme, die ja sogar Hunden klar machen sollen, dass sie auf Parkwiesen nichts zu entäußern haben. Wer kennt heute nicht alle möglichen Smiley Variationen, die bildlichen Verbote von Handygebrauch oder Rauchen usw.…. Dergestalt erzählt Flöthmann von Rapunzel, Rotkäppchen & Co. in rechteckigen Bilderfolgen, verschmitzt mit Witz, verblüffend treffsicher, signalrot, waldgrün, schwarz auf weiß oder umgekehrt. Das funktioniert selbstverständlich dann am besten, wenn man die Märchen kennt, und wer tut das schon nicht. Auch lückenhafte Erinnerungen werden hier aufs Froheste gefüllt. Wie überhaupt diese Bildsprache den Märchen alles Bedrückende und dunkel Dräuende mit Gewinn nimmt. Frank Flöthmann: Grimms Märchen ohne Worte. DuMont Verlag, 2013. 16,99 € Wem in einer Anwandlung faustischen Erkenntnisdrangs das Buch „Ganz schön zerlegt“ in die Hände fällt, der wird zwar nach der Lektüre nicht wissen, was denn nun die Welt im Innersten zusammenhält. Aber immerhin, aus wie vielen Einzelteilen zumindest Teile derselben bestehen. Denn dessen Autor Todd McLellan hat in einer Mischung von Erkenntniswahn und Ordnungszwang 50 Designklassiker zerlegt, vielleicht um deren Seele zu finden. Die man allerdings höchstens im Weiß des Untergrundes vermuten kann, auf dem er alle Einzelteile fein säuberlich nach Größe und Art angeordnet fotografiert hat, wie eine Art Familien- oder Klassenfoto. Eine zweite Aufnahmetechnik ist, die Einzelteile in freiem Fall mit einer Hochleistungskamera zu fotografieren. Die Objekte seiner Zerlegungslust hat er in vier Kategorien gruppiert: von klein bis XL. Das kleinste ist ein Feinminenstift, das größte ein zweisitziges Leichtflugzeug. Die Summe aller Einzelteile ergibt 21.959. Dieser großformatige Bildband fasziniert nicht nur durch seine Aufnahmen. Auch die den Kategorien zugesellten Aufsätze von vier Spezialisten verschiedener Professionen sind fesselnd und aufklärend bis skurril. Gedanken über Reparieren als revolutionäre Methode, Umgang mit Rohstoffen. Oder der Erkenntnisgewinn beim Auseinandernehmen der Vergangenheit, von dem Penny Bendall, eine Spezialistin für die Restaurierung keramischer Objekte, berichtet. Todd McLellan: Ganz schön zerlegt. Die Kunst, Dinge neu zu ordnen. Ullmann Verlag 2013. 24,90 €
– 27 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Deutschlandmeise“ ist nicht etwa ein nur hier vorkommender Vogel, die lustige kleine Schwester des Bundesadlers. Es ist der Titel eines Buches des Kolumnisten, Sprachpflegers und Deutschlandexperten Stefan Gärtner, der darin von den Stationen seiner Streifzüge durch „Schland“ erzählt. Und eine Diagnose ist der Titel auch. Zur Lektüre braucht man einen festen Griff. Nicht nur wegen der ernsten Lage im Lande, sondern weil die Verschriftlichung des republikanischen Geschehens so erbarmungslos erheitert, dass beim Lachen das Buch aus der Hand fallen könnte. Die erste Station ist Baltrum. Berlin, Dresden, Freiburg und Köln weitere. Insgesamt sind es 14, darunter auch das Protektorat Mallorca, wo er Peter Maffey, den Rocker-Gnom und Tabaluga- Kinder-Farmer so unvergesslich trifft, dass man hernach einen besonders liebevollen Blick für alles Kleine hat. Nicht nur für Maffey, sondern auch für Cocktailtomaten z.B. Immer wieder, in jeder Stadt, an jedem Ort bietet sich dem erkennenden Auge der Abgrund genau da, wo man ihn eigentlich nicht vermutet hätte. Besonders dann, wenn er im Betrachter selbst liegt. Jede der 14 Stationen ist eine Intensivstation. Coburg, Dresden, Köln. Zwischen Hartz IV, Stuttgart 21 und Merkel kleine Adorno-, Rühmkorf- und Nietzsche-Injektionen. Aufmarsch schillernder Schein- und Vollprominenz aus allen Bereichen. Jede Menge lustvoller und mental hochbedenklicher Analyseergebnisse „eines Landes zwischen plemplem und ballaballa“. Mit umfangreichem Personenregister. Stefan Gärtner: Deutschlandmeise. Atrium Verlag. 16,95€ In aller ängstigenden Beziehungs-Stille beruhigt Wilhelm Genazinos neuer Roman ‚Wenn wir Tiere wären‘ mit stilistischer Eleganz. So einfach wie sicher durchs Banalherz in die Sonderseele zu treffen und dabei den Getroffenen noch ein Lächeln der Selbsterkenntnis ins Gesicht zu zaubern, gelingt nur wenigen Schriftstellern unserer Tage. Wie man sich am Mittelstand doch verheben kann, dass es einem zu viel wird mit der Erträglichkeit des Seins! Man schämt sich des eben noch erworbenen Fertigsalates, ist er doch nun tatsächlich kein Ersatz für das Kaufvorhaben eines neuen Anzugs oder gar eines neuen Bettes, eher eine Art Übersprungshandlung. Ach, wären wir doch Tiere! „Eine Ente im Park, ein freundlicher Hund auf dem Sofa! Ach wenn wir die täglichen Zumutungen doch einfach gelassen übersehen könnten!“ Welch eine tröstliche, sehnsuchtsvolle Vermutung ungebrochener Daseinsleichtigkeit. Und beim Beobachten des täglich am Haus vorbeischlurfenden Obdachlosen röchelt die Kaffemaschine ihrem Ende entgegen. Draußen und Drinnen wechseln immer wieder die Rollen. Genazinos Melange von Ironie und Melancholie, veredelt von entschlossenem Vergeblichkeitsempfinden, macht jedes seiner Bücher – und so auch dieses - zu einer Lese-Lebenserfahrung. Oder Lebens-Leseerfahrung. Das Heldenhafte selbst belächelt hier seine Schwäche, seine Lächerlichkeit. „Sie küsste mich so heftig, dass ich Dankbarkeit hinter ihrem Kuss spürte, dann fuhr sie zur Arbeit.“ So endet dieser Roman. Leider. Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären. Hanser Verlag 2011, 17,90€ – 28 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Katzen sind ja seit Jahrtausenden die einzigen Haustiere, die sich Menschen halten. Und genauso lang währen die Überlegungen, die beide Spezies wechselseitig über sich anstellen. Selten sind die Glücksfälle, in denen die Zweibeiner zu Medien der Vierbeiner erkoren werden und Gelegenheit und Vermögen haben, Mitteilungen aus deren Welt niederzuschreiben. Der Satiriker, Dichter und Zeichner Robert Gernhardt war so ein Erwählter. Unter dem Titel „Was deine Katze wirklich denkt“ hat ihm „Schimmi“ 13 Lektionen zum Thema Catical Correctness in die Feder gedacht. Es beginnt mit dem Lob des ‚gegengreifenden Daumens‘. Denn wenn Schimmi und Co. überhaupt etwas fehlen sollte, so ist es dieser besagte bewegliche Daumen, der den Menschen befähigt, z. B. Dosen zu öffnen, die Katzenfutter bergen. Wenn Schimmi Gernhardt vom großen Philosophen Sokratzes schreiben lässt, von Gottkater und dem vierten und fünften Buch Mauses, dann gemahnt uns das durchaus an Gemeinsamkeiten mit dem ‚Diktator‘ Schimmi und seinesgleichen. Der unterweist seinen Schreiber Gernhardt in jeder der 13 Lektionen in der so nebensächlichen wie auch außerordentlichen Daumenbedeutung für alles, auch und besonders was das Anbieten fester Nahrung zwischen den Mahlzeiten betrifft. Von sich aus hat Gernhardt jeder Lektion eine dottergelb-zinnoberrote Katzenhuldigung gezeichnet. Man hat verstanden: wenn der Mensch denkt, er habe eine Katze, dann hat er höchstens einen Vogel. Und der ist eigentlich auch eher für die Katz. Robert Gernhardt: Was deine Katze wirklich denkt. S. Fischer Verlag. 8,--€ Mit Wut aus dem Nichts ins Amt gewählt und da dann mit Humor und Spaß erfolgreich die schwere Schlagseite einer europäischen Hauptstadt behoben! Das ist doch vorbildhaft! Aber wohl nicht so leicht zu kopieren. Denn dann müsste man schon Jón Gnarr heißen und Bürgermeister von Reykjavik sein. Den Titel seiner Autobiographie „HÖREN SIE GUT ZU UND WIEDERHOLEN SIE!!!“ hat er übrigens aus seinem Deutschunterricht übernommen. Sprühend von anarchischer Kreativität und die Menschen immer im Mittelpunkt (und das nicht nur im Zweifel, wie die Bundeskanzlerin als politisches Credo verkündet hat), so setzt er das ungewöhnliche Programm der „Besten Partei“ um. Dass er jetzt schon Monate vor dem Ende seiner ersten Amtszeit angekündigt hat, für eine zweite Wahlperiode nicht mehr zur Verfügung zu stehen, mag ob der Erfolge verwundern. Aber es belegt seine Einsicht in die Gefährdung politisch Handelnder durch Routine und Egoismus, den er als einen der Hauptfeinde allen gesellschaftlichen Handelns ausgemacht hat. In seinem Buch erzählt er sehr aufrichtig und mit Selbstironie, wie er sich vor einigen Jahren aus der Passivität aufmachte, um politisch aktiv zu werden und ‚die Welt zu verändern‘. Vom Punk und Anarchokabartettisten zum respektierten und erfolgreichen Bürgermeister, der für seine Überzeugungen in jeder Hinsicht einsteht. Eine erfrischende, anregende Lektüre, die guten Mut macht. Jón Gnarr: HÖREN SIE GUT ZU…,Tropen Verlag 2014. 14,95 €
– 29 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Wenn ein Buch den Titel „ Mein Vater, der Pirat“ hat, denkt man gleich an Schatzkarte, Enterhaken und Unterschenkelprothesen aus nachwachsendem Rohstoff. Und von solchen Piratendingen erzählt der Vater auch seinem kleinen Sohn, wenn er einmal im Jahr für zwei Wochen nach Hause kommt und ihm abenteuerliche Geschichten mitbringt. Doch eines Tages, der Sohn gerade ist neun Jahre alt, erhält seine Mutter ein Telegramm. Umgehend fahren sie viele Stunden per Eisenbahn in einen Ort, in dem der vermeintliche Piraten-Vater als Bergmann nach einem Grubenunglück zwischen Leben und Tod im Krankenhaus liegt. Die Erleichterung darüber, dass sein Vater noch lebt, wir verdunkelt von der Enttäuschung darüber, dass er ihm ja immer Piraten-Lügengeschichten erzählt hat. Aber allmählich erkennt er, dass die Geschichten von der „Hoffnung“, so der Name des Piratenschiffes, auf eine andere Art wahr sind. Die unerfüllte Kindheitssehnsucht, zur See zu fahren, hat seinen Vater bei der gefährlichen Arbeit unter Tage nie verlassen und die Geschichten geboren, die er seinem Sohn erzählt hat. Und als das Bergwerk auch noch geschlossen wird, hisst der Sohn eine Piratenflagge voller Stolz und Bewunderung für seinen Vater und dessen Kumpels.Ein Buch, in dem die farbsprechenden Illustrationen von Maurizio Querello durch ein feinfühlig überlegenes Layout eine solche Verbindung mit dem Text von Davide Calì eingehen, dass diese Geschichte von vermeintlicher Täuschung, Vertrauen, Erkennen und Hoffnung Sechs- wie Sechzigjährige nachhaltig beeindrucken kann. Calì/Querello: Mein Vater, der Pirat. Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2014. 14,95 €
In weihnachtliches oder doch vielleicht eher revolutionäres Rot gewandet hat Winand Herzog, Literaturwissenschaftler und Autor mit Oberhausener Wurzeln, sein neues Buch erscheinen lassen. „Ochsentour“ heißt es, und der Untertitel ‚Anekdotischer Roman aus der Welt des Humanismus‘ deutet nicht nur die Romanstruktur an, sondern ist auch schon Anklang des fein ironisch-aufklärerischen Duktus, in dem die Erlebnisse des Junglehrers Ferdinand Prokop von 1978 bis 1984 in der niederrheinischen Stadt Closterflühm erzählt werden. So verschlüsselt fiktiv die Namen von Auftretenden und Stadt sind, so zeitgeschichtlich konkret sind Ereignisse und Geschehen, die ums Romanpersonal geflochten werden. Die Entwicklung rivalisierend unterschiedlicher Lebensentwürfe von Schulleitung und Junglehrer in politisch deutlich bewegten Zeiten spielt eine zentrale Rolle. Intim-offene Einblicke in die Feinmechanik eines gymnasialen Schulbetriebes legen politisch programmierte Sollbruchstellen frei. Stilistisch variantenreich kleidet Herzog die tragisch-komischen Widerfahrnisse in eine feinporige Biographiehaut. Lachen und Nachdenken begleiten Hand in Hand die Lektüre. Ein Zeitspurbuch, das Kurzweil, Amüsement und tiefere Bedeutung verheißt. Wie auch immer es gewesen sein mag im beschriebenen abenteuerlichen Zeitraum: so war es, weil es genau so hätte sein können. Winand Herzog: Ochsentour. Büro für Realitäts Design, 2014. ISBN 978-930509-79-9. 241 Seiten, 15,--€ – 30 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
„Sprisht yaymant english?“ Nein? Nicht weiter schlimm, denn die Ausgabe des ‚Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944‘ ist zweisprachig. Ins Deutsche hat sie 70 Jahre nach Erscheinen kein Geringerer als Klaus Modick gebracht. Die lautsprachliche Frage ist zu finden in dem Wörterverzeichnis dieses konzisen Handbüchleins, das den britischen Besatzungssoldaten in spe Dienste leisten sollte im Umgang mit den dann besiegten Deutschen. Es steckte in rund vierhunderttausend Soldatenhosentaschen und liest sich wie ein landeskundlicher Führer, in dem auf Sitten und Gebräuche, Aufbau des Staatswesens, Geschichte und Essen und Trinken eingegangen wird. Und das ist es ja auch, erstaunlich nur die distanzierte und differenzierende Sachlichkeit, mit dem der Direktor für politische Kriegsführung es für das herausgebende britische Außenministerium zusammengestellt hat. Es liefert keine Abrechnung mit dem Feind, sondern eher den Versuch, Zusammenhänge und Entwicklungen zu verstehen. Selbstverständlich wird immer wieder gemahnt, auf nichts hereinzufallen und Abstand zu halten, nie zu vergessen, dass man Repräsentant Großbritanniens ist. „Im Umgang mit Deutschen immer streng, aber fair sein.“ Und „Sich nicht von oberflächlichen Ähnlichkeiten zwischen Deutschen und uns beeindrucken lassen.“ Das sind zwei Hinweise aus einer bündigen Liste dessen, was man tun bzw. lassen sollte. Allerdings mangelt es auch nicht an Kuriosem, wie z. B. die Adelung von Mett- und Leberwurst als hervorragende unter hunderten von Wurstsorten. Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944. KiWi Verlag 2014. 8,--€ „Kein Reporter kann auf Dauer Interviews machen, ohne ein wenig meschugge zu werden; früher oder später fängt man an, Stimmen zu hören.“ Diese Feststellung hat der legendäre Reporter Joseph Mitchell gemacht. Als junger Mann kam er Anfang der 1930er Jahre in die damals noch größte Stadt der Welt: New York. Unter dem Titel ‚New York Reporter‘ sind 2013 die Texte erstmals in deutscher Übersetzung erschienen, die er in jener Zeit der Prohibition und Großen Depression erst als Nachtreporter der ‚Herald Tribune‘, dann bei ‚The World-Telegram‘ verfasst hat. Nach wenigen Seiten schon ist man gebannt mitten in Alltag und Allnacht der brodelnden Weltmetropole. Mitchell ist ein aufmerksam feinnerviger Zuhörer, er spricht gern mit Randständigen, das Geflecht nonkonformistischer Existenzen interessiert ihn viel mehr, als Wirtschaftsmagnaten, Politiker, Prominente. Er schreibt ohne Umschweife immer gleich ins Herz der Geschichten. Das macht seine Texte auch so nah, lässt die rund 80 Jahre, vor denen sie entstanden sind, in einen Augenblick der Gegenwart zusammenschnurren. Spannend wie Kriminalromane, witzig und reich an aufregender Tiefenschärfe. Eine Zeitreise in eine vergangene Gegenwart, eine magische Metropole, stilistisch schnörkellos, klar und elegant. Joseph Mitchell: New York Reporter. Übersetzt von Sven Koch u. Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, 2013. 22,95 €
– 31 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Flavio Steimann erzählt in seinem neuen Roman „Bajass“ die Geschichte eines Verbrechens in einem kleinen Schweizer Ort Anfang des letzten Jahrhunderts. Der pensionsnahe Ermittler Albin Gauch gibt sich an die Klärung der Tatumstände, die seine Suchbewegungen aus dem dörflich Abgelegenen bis auf die ‚Liberté‘, einem Amerika-Auswandererschiff, führen. Gleich einem unbestechlichen Kameraauge nimmt der betagte Gauch die Welt wahr, kleidet seine Beobachtungen und Gedanken mit immer passgenauen Fundstücken aus einem archaisch soliden und poetisch reichhaltigen Wortschatz ein. Steimann, dessen Werk über die Jahrzehnte in nur drei schmalen Bänden Platz gefunden hat, hat auch diesen kleinen Roman über 20 Jahre bis zur Erscheinungsreife verdichtet. Das schlägt sich nieder in einer gehärteten Sprache, von der alles überflüssige Zeitsediment weggespült ist und eine melodiöse Struktur freigelegt hat. Die Sätze haben einen vielzeilig langen Atem, der das Beschriebene und Gedachte umgibt und Blick in deren Inneres freigibt. Großartig und brennglasdeutlich zum Beispiel die Beschreibung der sozialen Schichtungen auf den Decks der ‚Liberté‘. Und überraschend der Ausgang der Ermittlung, das Ende dieses kleinen aus der Literaturlandschaft wolkenkratzend aufragenden Romans, beim Landungsmanöver vor Ellis Island. Ein außerordentlicher Roman von Ende und Aufbruch, vom Suchen und Finden. Flavio Steimann: Bajass. Edition Nautilus, 2014. 19,90 €
„Kein Kuss für Mutter. Kein Kuss für Tobi.“ Das ist die finale Versicherung zwischen Mutter und Sohn in einer Geschichte über zu viel oder zu wenig Liebe, die Tomi Ungerer schon 1973 geschrieben und mit etlichen Bleistiftzeichnungen illustriert hat. Jetzt ist sie zum Glück für mit ihr älter gewordene und jüngere Hinzugekommene wieder aufgelegt worden und hat nichts von ihrem liebevoll garstigen Charme verloren. Erzählt wird von Tobi Tatze, einem heftig pubertierenden Stubentigerrüpel, der ständig von seiner Frau Mutter, Angora Tatze, geknuddelt und geknutscht wird. Als das auch noch in aller Öffentlichkeit geschieht, platzt Tobi, Mutters ‚Schätzchen, Honigschnecke und Herzblättchen‘ der Katerkragen. Das geht gegen seine Ehre als Raufbold, Maulwurfsgulaschverweigerer und Stinkbombenleger. Keine Küsse mehr zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu jeder Gelegenheit, keine schlabbrigen, pappigen Sommer- oder Winterküsse oder Danke-Küsse mehr! Die Situation eskaliert. - Als Tobi reumütig seiner Mutter einen Blumenstrauß schenken will und die ihn gerührt entgegennimmt, einigen sich beide darauf, dass es mit dem Dauerküssen ein Ende hat. Diese fabelhafte Emanzipationsgeschichte bleibt, einmal gelesen, für immer im Gedächtnis haften. Gerade weil der schmuseresistente Katerhallodri und die mutterweiche Angora Tatze so menschlich sind und Ungerers Zeichnungen so Schnurrhaar fein. Tomi Ungerer: Kein Kuss für Mutter. Diogenes Verlag, 2014. 14,90€
– 32 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Als vor zwei Jahren der erste von sieben Bänden des Romanzyklus „Das Büro“ von J. J. Voskuil im Beck Verlag erschienen war, warteten nicht wenige bald schon lesebegierig auf das Erscheinen der nächsten sechs. Jetzt ist der Band 2 im Verbrecher Verlag erschienen, der auch die weiteren verlegen wird. Das Erscheinungsbild hat sich geändert: in lichtem Ziegelsteinrot präsentiert sich der Band mit dem Untertitel „Schmutzige Hände“. Ein weiterer Baustein dieses chronologisch fortschreitenden Lebensromans, der jetzt von 1965 bis 1972 reicht. Wie im ersten und auch in den folgenden ist die zentrale Figur Maarten Koning, Schriftführer in diesem Amsterdamer Institut für Volkskunde, dem ‚Büro‘. Und ohne Änderung des verhaltenen Tons wird dessen Alltag, der der aller „normalen“ Berufstätigen sein könnte, beschrieben, miterlebt im Büro, wie auch im Privaten. Mit überlegener und teilnehmender Unaufgeregtheit registriert Voskuil seismographisch fein Stimmungsschwankungen und Gesprächsverläufe. Das gilt genauso für Charaktere und Büroroutine. Das ‚Büro‘ zieht um. Aber auch das bringt den unterströmig ruhigen Rhythmus nicht durcheinander, selbst in Zeiten revolutionärer Amsterdamer Unruhen, die nur als gedämpftes Gerumpel zu vernehmen sind, ändert sich nichts Wesentliches im Lauf der Büro-Dinge. Eine lebensbegleitende, geisthaltige Roman-Soap. J. J. Voskuil: Das Büro 2, Schmutzige Hände. Verbrecher Verlag 2014. 687 Seiten, 29,--€
„Kleine Lebewesen huschten davon.“: wir befinden uns in Montana, USA und mitten in Kim Zupans Thriller ‚Die rechte Hand des Teufels‘. Ein in seiner poetischen Beiläufigkeit beispielhafter Satz. Der alt gewordene John Gload hat das Morden vor Jahrzehnten als Seinsform gewählt und seine Opfer spurlöschend vielteilig verschwinden lassen. Der junge Deputy Val Millimaki ist immer wieder erfolglos bemüht, ihn dingfest zu machen. Unter der weit gespannten Kuppel grandioser Landschaftspanoramen tun sich dabei menschliche Abgründe auf. Die Sonne vergoldet, Weizenfelder wogen, immer wieder fliegen kleine gelbe Vögel auf, als wollten sie ein Hoffnungsland verkünden. In dessen Wasserläufen und Äckern aber immer wieder auch Hände ohne Arme und Schädel ohne Zähne gefunden werden. Die rechte Hand des Teufels ordnet Leben und Tod nach einer ganz eigenen Moral, in der jemanden nicht umzubringen der Freundschaftsbeweis für den so ahnungslos Verschonten ist. Warum nicht die schlicht töten, die die abstruse Ordnung stören? Oder eine Art Liebeswunde als sich selbst legitimierenden Vollstreckungstrieb heranziehen. Der Psychothriller steuert einem frappierenden Ende entgegen. Eine Art ungewollt befreundeter Testamentsvollstrecker Gloads, muss Millimaki dessen Anweisungen folgen. Denn wie sagt der Killer als rechte Hand seines Vorgesetzten stellvertretende Teufel? „Ist alles geregelt und so legal wie Gott!“ Kim Zupan: Die rechte Hand des Teufels. Aus dem Amerikanischen von M.-L. Bezzenberger. Knaur Verlag, 2014. 9.99 € – 33 –
Empfehlungen
Arndt Wiebus
Die Geschichte beginnt mit einem Juckreiz; der dann immer intensiver wird. Bis er zum Pelz eines sich an einem Baum kratzenden Bären und schließlich der Bär selbst wird. Wo im Anfang nur der Juckreiz ist, der sich dann zur sich kratzenden Kreatur entwickelt, ergibt sich die Frage nach der Identität. Vom Juckreiz zur Selbstfindung also. Und der stellt sich in staunender Gründlichkeit der positiv gestimmte Meister Petz, wobei er durch einen wundersam um ihn herum wachsenden Wald wandert. Erkenntnisphilosophische Gedanken besiedeln sein Hirn, angeregt durch Begegnungen mit dem ‚Bequemen Bergrind‘ und dem ‚Saumseligen Salamander‘. Oder dem ‚Vorletzten Vorzeige-Pinguin‘, der mit seiner beißenden Intelligenz dem lernlustigen Bären wahrhaft ‚Nichts‘ zum Nachdenken übrig lässt. Als er mitten im Wald den Kompassbaum, der neben den vier Himmelsrichtungen noch vier weitere – Falsch, Richtig, Mittagessen, Frühstück - weist und er sich gerade zwischen den beiden letzteren entscheiden will, erscheint hinter dem Baum das ‚Träge Schildkröten-Taxi‘. Mit dem gelangt er nach langer Irrfahrt ans Ziel: ein um einen Kratzbaum gebautes Haus! Die Reise zu sich selbst ist vollbracht und glücklich der Bär. – Ein wunderbar gestaltetes, sogar nach Wachsmalkreide duftendes philosophisches Bilderbuch mit Spurenelementen der wunderlandigen Alice. Geschrieben von Oren Lavie, übersetzt von Harry Rowohlt und erinnerungsprägend illustriert von Wolf Erlbruch. Oren Lavie: Der Bär, der nicht da war. Kunstmann Verlag, 2014. 16,95 € Wer auch immer für die Existenz von Eichhörnchen verantwortlich sein mag: er (oder sie) hat sich dabei sicher nach den Zeichnungen von Axel Scheffler gerichtet. Der hat einen Text über das Halten von Eichhörnchen, den er in einem englischen Kinderbuch vom Anfang letzten Jahrhunderts entdeckt hat, entsprechend illustriert. Und wer sonst als Harry Rowohlt hätte diesen unverzichtbaren und einzigartigen Ratgeber trefflicher ins Deutsche bringen können? Auch wenn das Büchlein nur knapp 40 Seiten hat und mit dem Satz ‚Aber eigenartig sind sie schon‘ endet, so ist es doch mit seiner subversiv ernsten Witzigkeit von Text und besonders Bild beeindruckend. Wie innig z.B. das Eichhörnchen die Hand seines im Sessel sitzenden, Zeitung lesenden und stolz gerührten Halters kost! Kündet doch die Titelseite der ‚Allgemeinen Rundschau‘ von den Katastrophen der Welt: ‚POLIZEI VERHAFTET PINGUIN‘ und ‚MANN BEISST KROKODIL‘. Dringend wird empfohlen, möglichst nur bereits in Gefangenschaft geborene, junge Exemplare zu erwerben, die mangels des genossenen Geschmacks der Freiheit viel handzahmer und gelehriger sind. In etlichen Beispielen wird das Für und Wider der Eichhornhaltung abgewogen. Schließlich ein gewitzter, empathischer Ratgeber gegen die Haltung dieser „Affen unserer Wälder“, wie F. von Tschudi diese flinken Wesen vor gut 150 Jahren nannte. Axel Scheffler: Über das Halten von Eichhörnchen. Verlagshaus Jacoby & Stuart. 4.A. 2014. Aus dem Englischen von Harry Rowohlt. 8,50 €
– 34 –
View more...
Comments