reinblättern
March 13, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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www.enorm-magazin.de
enorm
April / Mai 2012
Die Forderung der Piratenpartei nach Transparenz setzt die Wirtschaft unter Druck. Sie muss sich öffnen, sonst verliert sie weiter an Vertrauen
Wie die Gier nach Geld den Roten Thunfisch ausrottet =========================================
Vorweg oder hinterher? RWE und die Energiewende =========================================
Deutschland € 7,50 / BeNeLux € 8,20 Schweiz sfr 14,80 / Österreich € 8,50
Die Kaputt-Strategie: Sollbruchstellen in Elektronik-Geräten SPECIAL
IT-Branche: Auf grün programmiert 10 Seiten
02
Exklusiver Auszug
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4 191828 907506
April / Mai 2012 Nummer 2
Transparenz und Teilhabe: Piraten an Bord!
Nummer 2
Seite 3
Editorial
Ahoi!
FotoS privat, Thorsten Suedfels, Sabine Braun
Künstler sind mitunter scheue Wesen. Ein Foto von sich, fürs Editorial? Naja, erklärte uns der Berliner Illustrator Dieter Jüdt (Mare, SZ), ein paar Schnappschüsse gebe es zwar, aber die seien zum Teil schon zehn Jahre alt, und mehr habe er nicht. „Ich archiviere prinzipiell keine Fotos von mir. Sorry, aber so sind Zeichner.“ Wesentlich mehr Mühe verwendete er darauf, unsere Titelgeschichte „Piraten an Bord!“ zu entwerfen. Inspiration fand er bei N.C. Wyeth, einem der bedeutendsten amerikanischen Illustratoren, dessen Seeräubermotive bereits Disneys „Fluch der Karibik“ prägten. Ein wichtiger Einfluss war auch der Wälzer „Das Schiff“ des Skandinaviers Björn Landström, der, so Jüdt, demonstriert, „dass die Fotografie manchmal ganz schön überflüssig sein kann“. Die Titelgeschichte finden Sie auf Seite 16
Der Rote Thun stirbt aus, und die Fischer im Mittelmeer verlieren ihre Existenzgrundlage. Darüber sprechen will aber kaum einer, musste Philipp Kohlhöfer (GEO, Stern) feststellen, als er in Spanien, Italien und Tunesien den Folgen des Sushi-Konsums nachging. Mehr noch: Niemand hat ein Problembewusstsein. Als er in Siracusa auf Sizilien nach einem Gericht ohne Thunfisch fragte, verstand die Kellnerin nicht, was er damit bezwecken wollte. Das sei doch der König der Fische. „Eben“, erwiderte Kohlhöfer, „warum soll ich ihn dann essen?“ Irgendwann bestellte er einen Teller Pasta. Seite 54
Soziale Gerechtigkeit ist in Südafrika auch knapp 20 Jahre nach Ende der Apartheid keine Selbstverständlichkeit. Das Land steht weiter vor großen Problemen. Umso beeindruckter waren unsere Autorin Kerstin Walker (GEO Saison, Zeit) und Fotografin Sabine Braun (Spiegel, Stern), mit welchem Enthusiasmus die Sozialunternehmer, die sie trafen, an dem Wandel arbeiten. Das Duo trug selbst ein wenig dazu bei: Es wohnte eine Woche lang in FairTrade-Gästehäusern, die ihre Angestellten fair entlohnen und sie auch im Falle einer Infektion mit HIV weiter beschäftigen. Den Länderreport lesen Sie ab Seite 72
PHILIPP KOHLHÖFER
DIETER JÜDT
Kerstin Walker und Sabine Braun
Die nächste Ausgabe von enorm erscheint am 21. Juni ================================================
Seite 16
Titel
Seite 17
Titel
Mit ihrer Forderung nach mehr Transparenz und Teilhabe entert die Piratenpartei die Landtage. Diese Welle der Veränderung erfasst langsam auch die Wirtschaft – und setzt viele Unternehmen unter Druck, ihren Kurs zu ändern und sich zu öffnen Text Christiane Langrock-Kögel und Marc Winkelmann Illustration Dieter Jüdt
Seite 18
Titel
n dem kleinen Ladengeschäft an einer mehrspurigen Hamburger Ausfallstraße stehen zwei überfüllte Schreibtische. Es herrscht Computerclub-Atmosphäre, irdisches Chaos und eine gewisse Ferne des Realen. Der schmale Raum ist nur der physische Aufenthaltsort von Daniel Plötz und Claudius Holler. Sie arbeiten und kommunizieren in sozialen Netzwerken, bei Facebook, über Twitter und in Blogs. Dort sind ihre Kunden, Partner und Freunde zu Hause. Daniel ist Ende 20, Claudius Mitte 30, zwei ungleiche Brüder, der eine klein und blond, der andere groß und dunkel. Internet-Nerds, so nennen sie sich selbst. Plötz und Holler stellen Mate-Limonade her, die Coca-Cola der Computerfreak-Szene. Die goldbraune Brause auf Basis eines Mate-Tee-Auszugs schmeckt herb und ein bisschen grasig. Eine Halbliter-Flasche Mate hat in etwa soviel Koffein wie eine große Tasse starker Kaffee. „Wir lieben Mate“, sagen die Brüder.
Aber sie haben nicht vor, mit ihrer 1337Mate – ein Zahlenspiel aus dem Netzjargon – den Getränkemarkt neu aufzurollen. Oder ein klassisches LimonadenBusiness aufzuziehen. Die Geschwister statuieren eine Art Exempel: die gläserne Mate GmbH. Ihr Geschäftsmodell: transparente Herstellung, transparente Kommunikation, transparente Struktur. 1337Mate ist eine Art Gemeinschaftsprodukt. Die Kunden sind gleichzeitig Fans, Produktentwickler und Vertriebler. Will eine Mehrheit mehr Koffein, schrauben Plötz und Holler am Rezept. Sie fahren nicht selbst von Stadt zu Stadt, um Getränkehändlern ihre Mate vorzustellen, sondern fragen ihre Kunden: „Wo willst du sie kaufen? Sprich bitte mit dem Händler.“ Im vergangenen Sommer haben die GmbH-Gründer über Crowdfunding Geld eingesammelt, um die nächste Abfüllung und den Ausbau der Vertriebsstrukturen vorzufinanzieren. 30 000 Euro kamen zusammen, geliehen für ein Jahr von ihren treuesten Kun-
Seite 19
Titel
den. In ein paar Monaten sollen sie etabliert sich gerade in weiten Teilen ihren Einsatz verzinst zurückbeder Gesellschaft ein neues Bewusstkommen. „Wir bewegen uns sein. Heute wie damals geht es um nicht mehr so nah wie möglich nichts Geringeres als um eine besan, sondern mitten in unserer sere Welt. In der Politik, in der Zielgruppe“, sagt Daniel Plötz. Gesellschaft, in der Wirtschaft. Er kommt aus der Werbung. Die Piratenpartei hat die Aber mit Marketing hat das ProSchleusen geöffnet. Mitten im jekt nichts zu tun. Es ist eine Strom stehen die Unternehmen. Frage der Weltanschauung. Eine Was können sie von den Piraten Claudius Holler und Daniel Plötz, politische Frage. Seit drei Jahren lernen? Was müssen sie tun, um Gründer des Unternehmens 1337Mate, sind Plötz und Holler in der Pirasich auf Augenhöhe mit Mitarbeidas die totale Transparenz wagt tenpartei aktiv, Holler sitzt seit 2011 tern und Kunden zu bewegen? Wie sollen sie die Forderungen nach Mitbeim Hamburger Landesvorstand. Die Piraten sind eine „Freiheitspartei, die Politik stimmung und Teilhabe umsetzen? Jede namfür eine durch das Internet geprägte Gesellschaft hafte Unternehmensberatung beschäftigt inzwischen macht“, schreibt die Schriftstellerin Juli Zeh. Teilha- Experten für diese Fragen. Sie entwickeln Strategien be, Pluralismus, die Erosion von Hierarchien, Gleich- für eine möglichst kontrollierte Unternehmensöffberechtigung, Meinungsäußerung und Zugang zu al- nung. Allgemeingültige Konzepte gibt es nicht. len Informationen – mit diesem Geist und dem Slogan Auch die Piratenpartei kann kein schlüssiges Mo„Klarmachen zum Ändern!“ erobert die Piratenpar- dell einer transparent agierenden Wirtschaft präsentei Deutschland. tieren. Aber das muss sie auch gar nicht. Sie besetzt Nach ihrem Wahlerfolg in Berlin im Herbst 2011, das von den anderen Parteien vernachlässigte Thema wo sie mit knapp neun Prozent der Stimmen und 15 einfach. Selbst wenn die Piraten an ihrem in der PraAbgeordneten ins Rathaus einzog, holte sie Ende März xis höchst anstrengenden transparenten Organisati7,4 Prozent im Saarland. Im Mai geht es voraussicht- onsmodell scheitern sollten – ihre Forderungen sind lich so weiter. Für die Landtagswahlen in Schleswig- nicht mehr vom Tisch zu kriegen. Die Unternehmen Holstein und Nordrhein-Westfalen prophezeien die müssen sie ernst nehmen, in ihrem ureigensten InMeinungsforscher, dass die Orangenen dort ebenfalls teresse: um ihre wirtschaftliche Zukunft zu sichern. die Fünf-Prozent-Hürde nehmen. Wie in den AufWo kommt er her, der lauter werbruchsjahren der Grünen Anfang der 1980er-Jahre dende Ruf nach Transparenz?
Crowdfunding Unternehmen oder Projekte, die per Crowdfunding finanziert werden, erhalten Geld von zumeist vielen Internetnutzern. Die Macher des geplanten Kinofilms „Stromberg“ zum Beispiel warben bei den Fans über eine Website um Unter stützung und sammelten über diese Schwarmfinanzierung eine Million Euro ein. Ist der Film später erfolgreich, werden die privaten Kleininvestoren am Umsatz beteiligt.
Mehr dazu im neuen Heft 02/2012 ======================== Seite 22
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Titel
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nem der beiden Standorte in Münchehofe im Spreewald oder in Dechow zwischen Lübeck und Schwerin vorbeischauen – die Design-Gebäude mit Holzverkleidung und viel Glas wurden von einem Architekturbüro so offen wir möglich gestaltet, Mitarbeiter, auch aus der Buchhaltung oder dem Qualitätsmanagement, übernehmen die Führungen im Wechsel. „Zu einer Produktionsweise wie 1950 können wir nicht mehr zurückkehren“, sagt Böhmann, „aber bei uns kann man in der Käserei noch sehen, wie die Molke abgelassen oder der Käse jeden zweiten Tag gewaschen wird.“ In Deutschland, wo 50 Prozent des Käses scheibenweise in vorgefertigten Packungen im Regal liegt, ist das durchaus ein Erlebnis. Während der Grünen Woche in Berlin kamen an zwei Tagen 3000 Besucher, zu den regelmäßigen Gästen zählen Schulklassen und Kegelvereine.
investoren reisen nach Panama, um „ihren“ wald zu besichtigen Auch andere versuchen, das Thema Transparenz erlebbar zu machen. Die Friedrichshafener Firma Followfish druckt auf jede Verpackung ihrer Tiefkühlprodukte einen Tracking-Code. Gibt man ihn auf der Followfish-Website ein, wird angezeigt, woher der jeweilige Fisch stammt. Bei einem Biolachs-Filet mit dem Code „F101258“ bekommt man diese Daten: „Herkunft: Romsdalfjord, Norwegen“ und „Transportroute: Froya, Oslo, Bocholt“. Die ökologische Investmentfirma Forest Finance geht noch einen Schritt weiter und bringt ihre Kunden direkt zum Produkt. Auf sogenannten Investorenreisen können Anleger, die ihr Geld in einen Wald in Panama gesteckt haben, zu ihren eigenen Hölzern fahren und sich vor Ort von der nachhaltigen Bewirtschaftung überzeugen. Für die Werte-Index-Autoren Wippermann und Krüger bedeutet Transparenz mehr als die „offene
Darlegung von Fakten rund um Produkte und Produktion. Es geht auch um das Verhalten eines Unternehmens abseits seiner Produkte“. Entscheidend ist für den Kunden auch die Struktur einer Firma. Gibt es Verflechtungen mit anderen Firmen oder Institutionen? Wie geht man mit Kundendaten um? Wie offen ist die Preisgestaltung? Volker Klenk und seine Geschäftspartner haben im letzten Jahr nach eigener Auskunft die erste Verbraucher-Studie zum Thema Transparenz beauftragt. 3000 Personen zwischen 14 und 69 Jahren wurden bevölkerungsrepräsentativ ausgewählt und befragt. Das Ergebnis: Unternehmen müssen sich öffnen, „um Vertrauen zu gewinnen oder zu erhalten“. Um ein „positives Image aufzubauen“ und „die Loyalität der Kunden zu steigern“. Doch das funktioniert nur, wenn ein Unternehmen bereit ist, sich wirklich zu verändern. Hinter der Forderung nach mehr Offenheit steckt vor allem das Bedürfnis nach mehr Macht und Kontrolle. Für die Unternehmen heißt das, dass sie ihre Haltung und Position ganz grundsätzlich hinterfragen müssen: Wer sind wir? Wer geben wir vor zu sein? Und warum möchten wir bestimmte Dinge nicht ändern, obwohl der Kunde das gerne will? Der amerikanische Management-Berater Don Tapscott hat schon vor zehn Jahren erklärt, dass in absehbarer Zukunft jedes Unternehmen transparent agieren müsse. Er hat recht behalten: Schon heute lässt sich kaum noch etwas verbergen. Tapscotts Buch „The Naked Corporation“ erschien zu der Zeit, als in den USA der Energieriese Enron pleitegegangen war. Enron hatte 22 000 Mitarbeiter und machte einen Umsatz von 140 Milliarden Dollar im Jahr. Bilanzfälschungen, Luftbuchungen, Betrug – innerhalb von zwei Monaten war das rauschhaft gefeierte Unternehmen insolvent, eine Reihe von Top-Managern landete im Gefängnis. Das Unmögliche war passiert, und die Öffentlichkeit fragte sich, wie viel sie tatsächlich über Enron wusste. Volker Klenk, der Frankfurter Berater, war bis zum Crash für Enron tätig. Im Namen des US-Konzerns betreute er Anfragen deutscher Journalisten. Dass er für ein „Kartenhaus“ arbeitete, wie er rückblickend sagt, war ihm wie allen anderen auch nicht bewusst. Anschließend begann er, sich näher mit der Frage der Transparenz zu beschäftigen. „Jede unternehmerische Handlung ist öffentlich“, sagt er. „Aber eine umfassende Strategie hat kaum ein Manager. Dafür fehlen ihnen das Bewusstsein und der Wille.“ Frank Roebers hat diesen Willen. „Wahnsinn, was für ein Potenzial“, dachte der 44-Jährige, als er vor ein paar Jahren einen Vortrag des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales hörte. Roebers ist seit 1999 Vorstand der Synaxon AG, einem IT-Unternehmen mit
wiki Ein Wiki ermöglicht es einer großen Zahl von Usern, gemeinschaftlich an einem Text oder Projekt zu arbeiten. Die Einträge im Wiki haben lexikalischen Charakter und können von den Mitgliedern jederzeit verändert werden. Anders als bei Liquid Feedback ist es nicht das Ziel, Mehrheiten zu organisieren oder über Inhalte abzustimmen. Das bekannteste Wiki ist nach wie vor das OnlineLexikon Wikipedia.
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Hartmann!
„RWE redet Klartext“
Herr Löchte, der Atomausstieg ist beschlossen, der Anteil der erneuer baren Energie soll im Jahr 2020 in Deutschland 35 Prozent betragen. Wie viel wird RWE beisteuern? Es ist unser Ziel, dass bis 2020 mindestens 20 Prozent der RWE-Erzeugungskapazität auf erneuerbaren Quellen beruht. Nach einer Studie von Greenpeace lag der tatsächliche Anteil der erneuer baren Energien bei RWE 2009 bei nur 2,6 Prozent. Rechnet man alte Wasser kraftwerke heraus, sind es nur 0,4 Pro zent. Wie soll sich das ändern? Durch Investitionen. Wir haben 2008 RWE Innogy gegründet, ein Unternehmen für erneuerbare Energie. Wir setzen auf Offshore-Windenergie, Wasserkraft und Biomasse. RWE Innogy investiert pro Jahr etwa eine Milliarde Euro, sodass wir im Jahr 2014 eine elektrische Leistung von ungefähr 4500 Megawatt an erneuerbarer Energie haben werden. Das ist gerade mal doppelt so viel Leistung wie allein das RWE-Kohlekraft werk Neurath bereitstellt. RWE ist der größte CO2-Emittent Europas und ver
antwortlich für ein Sechstel der CO2Emissionen Deutschlands. Mehr als die Hälfte der RWE-Anlagen sind Kohle kraftwerke und weitere sind geplant. Wie kann das nachhaltig sein? Grundsätzlich gilt, dass auch neue Windparks nicht von jetzt auf gleich gebaut werden können. Und dann haben wir noch nicht über die notwendige Netzanbindung gesprochen. Zu Ihrer Frage: Nur von einem Energieträger als Volkswirtschaft ab-
„Grundsätzlich gilt, dass auch hocheffiziente fossile Kraftwerke zur Energiewende gehören“ hängig zu sein, birgt ein viel zu hohes Risiko. Deshalb sind wir von einem breiten Energiemix überzeugt. Unser Ziel ist es, die Stromerzeugung aus fossilen Quellen effizienter und emissionsärmer zu machen: Bis 2015 werden wir unsere neuen Gasund Kohlekraftwerke mit einer Gesamtka-
pazität von über 12 400 Megawatt in Betrieb nehmen. Diese neuen Kraftwerke emittieren bis zu 30 Prozent weniger CO2. Außerdem nehmen wir bis dahin 16 ältere Kohlekraftwerke vom Netz. Grundsätzlich gilt, dass auch hocheffiziente fossile Kraftwerke zur Energiewende gehören. Finanzielle Aspekte und Machbarkeit sind zudem auch Bestandteile von Nachhaltigkeitsstrategien. Die Kohleverstromung verursacht auch andere Umweltschäden: Feinstaub, Bergbauschäden, Eingriffe in den Was serhaushalt. Das Biotop Schwalm-Nette nahe des Tagebaus Garzweiler muss be reits künstlich bewässert werden. War um hält RWE an der Kohle fest? Braunkohle ist ein einheimischer und wirtschaftlicher Brennstoff. Wir haben Kunden, wie etwa die energieintensive Industrie, die eine wettbewerbsfähige Produktion benötigen. Nur wenn ich die Energie hier halten kann – und das ist politisch gewollt – kann ich sie wettbewerbsfähig bereitstellen. Zum Feinstaub: Wir haben im Tagebau umfangreiche Maßnahmen getroffen. Zum Beispiel werden die Lkw,
Foto Stephanie Fuessenich/Verlagsgruppe Random House (oben)
Der Energiekonzern RWE produziert mehr CO2 als jedes andere europäische Unternehmen, hält aber an der Stromerzeugung aus Kohle fest. enorm-Autorin Kathrin Hartmann sprach mit Joachim Löchte, Leiter Corporate Responsibility und Umweltschutz, wie das zur verordneten Energiewende passt
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bevor sie den Tagebau verlassen, abgewaschen, Böschungen werden begrünt und so weiter. Um den Tagebau durchführen zu können, müssen wir Grundwasser abpumpen. Wir leiten das Wasser in Feuchtraumgebiete und nutzen es zur Trinkwassergewinnung. Wir leiten es auch in die Erft, damit die Wasserführung konstant bleibt. Ja, das ist ein Eingriff, aber wir halten ihn so gering wie nur eben möglich. Warum gibt es dann so großen Pro test von Bürgerinitiativen? Wenn das Ausland über die German Angst diskutiert, wäre es vermessen zu sagen, es gäbe keine Proteste. Aber wenn wir mit den Anwohnern sprechen, nehmen diese die Auswirkungen in der Regel weniger stark wahr als die, die weiter weg wohnen. Ich vergleiche das immer wieder gerne mit dem Standort Biblis. Auch vor dem Ausstiegsbeschluss hatten wir vor Ort immer eine hohe Akzeptanz und einen intensiven Dialog mit den Bürgern dort. In Biblis leben viele Angestellte des Kraftwerks. Anders sieht es in Eems haven aus. An der Emsmündung der Nordsee entsteht das größte Kohlekraft werk der Niederlande. Die Proteste der Bürger waren groß, sie sehen in dem Kraftwerk eine Bedrohung für das Wat tenmeer und die ostfriesischen Inseln. Was Sie beschreiben, ist wieder die deutsche Wahrnehmung der Proteste von Greenpeace. Wir haben in den Niederlanden mit vier Naturschutzverbänden einen „Environmental Impact Vertrag“ geschlossen. Wer nicht zur Unterzeichnung kam, war Greenpeace. Proteste gegen das Kraftwerk Eemshaven gibt es sowohl auf nieder ländischer als auch auf deutscher Seite. Im vergangenen Jahr hatten Umwelt schützer vor Gericht in Den Haag zeit weise einen Baustopp durchgesetzt. Wir haben vor Gericht den Genehmigungsbescheid mit mehr Informationen unterlegt. Wir dürfen weiter bauen. Auf der deutschen Seite hatten wir eine intensive und konstruktive Diskussion mit den Bürgern in Borkum. Deren gefühlte Wahrnehmung war: Das Kraftwerk greift in ein Reinluftgebiet ein. Technisch betrachtet gibt es aber nicht mehr Immissionen vor Ort. Wir unterstützen jetzt die Borkumer
bei einem Tourismuskonzept. Es gibt eine große schweigende Mitte. Wir haben gelernt, dass wir nicht nur auf die hören müssen, die am lautesten schreien in unserer Demokratie, sondern auch auf diejenigen, die sich nicht so in die Situation einmischen. Die Europäische Umweltagentur hat ermittelt, wie hoch die sogenannten externen Kosten der europäischen In dustrie sind. Diese Kosten, verursacht durch Umwelt- und Gesundheitsschä den, betragen in Deutschland zwischen 102 und 169 Milliarden Euro und müs
sen nicht von der Industrie, sondern von der Allge meinheit getragen wer den. Ich kenne diese Studie im Detail nicht, aber den grundsätzlichen Tenor der Aussage „Externalisierung interner Kosten“ ... ... was bedeutet, dass die Risiken soziali siert werden. Unter den zehn teuersten Industrien sind die RWE-Kohlekraft werke Niederaußen, Weiß weiler, Frimmersdorf und
Mehr dazu im neuen Heft 02/2012 ======================== Seite 46
Hartmann
sionshandel ist also heute schon ein Beispiel für die Internalisierung der externen Kosten. Er hat die Brennstoffkosten nahezu verdoppelt. Ein Zertifikat für eine Tonne CO2 kostet derzeit 7,40 Euro. RWE hat – wie andere Unternehmen auch – bis 2012 Verschmutzungsrechte im Emissionshandel kostenlos zugeteilt bekommen. Die decken aber nicht die Kosten für an-
Wie nachhaltig ist RWE?
UnternehmensbewertUng
Not Prime*
Gesamtnote: C+
–
D
+
–
C
Note Sozial-Rating: C+
+
–
B
+
–
A
+
Note Umwelt-Rating: C+
STäRKEN + vorbildliches Vorgehen bei der Schließung und Renaturierung von Tagebauen + zahlreiche Maßnahmen zur Sicherung einer zuverlässigen Stromübertragung und niedrige Stromausfallzeiten pro Kunde pro Jahr + eine klare Strategie für den Ausbau der erneuerbaren Energien SCHWäCHEN - hohe CO2-Intensität der Stromerzeugung - niedriger durchschnittlicher Wärmewirkungsgrad der fossil befeuerten Kraftwerke - sehr niedriger Anteil erneuerbare Energien an Gesamtstromerzeugung (4 Prozent im Jahr 2011) - zahlreiche Arbeitsunfälle mit Todesfolge in den vergangenen Jahren AUSSCHLUSSKRITERIEN - kontroverse Wirtschaftspraktiken: mehrere Geldstrafen von Wettbewerbsbehörden, u.a. für überhöhte Preisgestaltung und Preisabsprachen - Atomenergie SCHLüSSELTHEMEN DER BRANCHE Die wichtigsten Themen der Versorger sind u.a. der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Energieeffizienz, eine zuverlässige Energie- und Wasserversorgung für alle Teile der Bevölkerung sowie faires Wirtschaftsverhalten * Unternehmen, die zu den führenden ihrer Branche zählen und die branchenspezifischen Mindestanforderungen erfüllen, erhalten von Oekom Research das Prädikat „Prime“
dere Umweltschäden. Allein das Kohlekraftwerk in Frimmersdorf verursachte 2009 externe Kosten in Höhe von 749 Millionen Euro. Müsste RWE so viel zahlen, wäre Kohle unerschwinglich. Auch hier muss ich noch mal sagen, dass ich diese Zahlen so nicht kenne. Im Übrigen ist es ja bekannt, dass wir bereits heute teilweise und dann ab 2013 alle Emissionsrechte erwerben müssen. Wir haben bisher schon große Vorleistungen erbracht. Trotzdem ist es nicht auszuschließen, dass der Druck so groß wird, dass man etwas unwirtschaftlich macht. Aber was passiert, wenn wir die modernen Kohlekraftwerke in Deutschland schließen und wir unsere Güter aus anderen Regionen beziehen? Mit welchen Eingriffen werden die im Ausland produziert? Wäre es nicht scheinheilig zu sagen, woanders auf der Welt interessiert uns das nicht? Auf die Güter wollen wir ja nicht verzichten. RWE betreibt noch drei Kernkraftwerke und hat sich lange gegen den Ausstieg aus der Atomkraft gewehrt. Wie sehen Sie das heute? Die deutsche Wahrnehmung ist massiv durch Fukushima geprägt. Diesem politischen und öffentlichen Willen wird sich RWE nicht verschließen. Wir haben unser Kernkraftwerk in Biblis vom Netz genommen. Aber was heißt das für die 700 dort direkt bei RWE Beschäftigten? Und was passiert mit den einigen Tausend Arbeitsplätzen in der Zulieferindustrie, im örtlichen Gewerbe und anderswo? Der Ausstieg aus der Kernenergie betrifft uns und auch viele andere Unternehmen massiv. Der Ausstieg wurde ursprünglich bereits vor zehn Jahren beschlossen. 2007 sagte RWE-Chef Jürgen Großmann: „Wir können den Reaktor in Biblis so fahren, dass wir mit den Restlaufzeiten über die nächste Bundestagswahl kommen.“ Hat RWE zu sehr auf den Ausstieg aus dem Ausstieg der schwarzgelben Regierung vertraut? Unsere Haltung zum Ausstiegsszenario ist bekannt. Wir schauen jetzt aber nicht mehr nach hinten, sondern widmen uns den vor uns liegenden Aufgaben. Kurzfristig gilt es, die Energieversorgung in Deutschland stabil zu halten. Mittel- und langfristig sind wir dabei, die Erzeugungs-
basis in Deutschland auf eine erneuerbare und CO2-arme Basis zu stellen. Jahrelang warnte RWE vor dem „Blackout“ nach dem Atomausstieg. Jetzt warnt RWE vor Stromüberschuss – dabei sind bundesweit nur noch neun Kernkraftwerke am Netz. Wie passt das zusammen? Es gibt sehr wind- oder sonnenreiche Regionen in den verschiedenen Teilen Deutschlands. Manchmal produzieren wir in Deutschland dann so viel erneuerbare Energie, dass das europäische Netz genutzt werden muss, um diese Kapazitäten aufzunehmen. Allerdings ist man im Ausland darüber nicht immer begeistert, da man dann eigene Kraftwerkskapazitäten drosseln muss. Es gibt aber nicht nur im November Tage mit Hochnebel, wo weder Photovoltaik noch Windkraft Strom produzieren und die Laufwasserkraftwerke zudem stillstehen. Woher bekommen wir dann den Strom? Aus Gaskraftwerken, die man schnell zu- und wieder abschalten kann. Davon haben wir aber nicht genug. Wenn sie sich rechnen, gerne! Aber gerade Kohlekraftwerke können ja nicht flexibel an- und abgeschaltet werden. Sie sind dafür konzipiert, dauerhaft und rund um die Uhr die gleiche Menge Strom zu produzieren. Jedes neue Kohlekraftwerk verhindert den Ausbau der Erneuerbaren, sagen Umweltverbände. Technisch ist das bei den neuen Kraftwerken kein Problem. Selbst Kernkraftwerke kann man flexibel hoch- und runterfahren. Es ist also so, dass gerade diese Kraftwerke überhaupt erst den Ausbau der Erneuerbaren möglich machen, weil sie als Basis und Reserve unersetzlich sind. Dagegen spricht eine Untersuchung von Wolfgang Renneberg. Der Ex-Abteilungsleiter Reaktorsicherheit des Bundesumweltministeriums belegte vor zwei Jahren, dass das häufige Anund Abschalten ein hohes Sicherheitsrisiko bedeutet. Kohlekraftwerke anzufahren, dauert demnach zu lange, außerdem sind sie nur dann wirtschaftlich, wenn sie durchlaufen. Bei Stromüberschuss stehen vor allem Windkraftanlagen still. 2009 betrug die Menge
Joachim Löchte: „Der Ausstieg aus der Kernenergie betrifft uns und auch viele andere Unternehmen massiv.“
Ökostrom, die nicht eingespeist wurde, 74 Gigawattstunden. Das ist ein Mythos. Wir haben eine gesetzliche Vorrangregelung für erneuerbare Energie. Kraftwerke in bestimmten Regionen werden sofort heruntergefahren, damit das Netz frei ist für erneuerbare Energie. Ökostrom verdrängt konventionellen. Nur wenn es einen Überschuss gibt, obwohl konventionelle Kraftwerke bereits abgeschaltet wurden, muss man die erneuerbare Energie zurückfahren, weil sonst die Netzkapazitäten überfordert sind. Ihrem Unternehmen wird häufig Greenwashing vorgeworfen. Sie sind bereits zum zweiten Mal für den EU Worst Lobbying Award nominiert, unter anderem für den Werbespot mit dem grünen Riesen: Darin stellen Sie die Kohlekraft als umweltfreundlich dar und zeigen ein Gezeitenkraftwerk, das gar nicht existiert. Wir haben darin weder eine heile Welt dar-
gestellt noch kritische Themen ausgeblendet. Es ist eine mit den Mitteln eines animierten Werbespots ausgewogene Darstellung aller Technologien, die wir im Portfolio haben. Übrigens haben wir für diesen Spot auch sehr viel Anerkennung bekommen. Er ist aber auch eine Vision. Und was ist denn Greenwashing im Kern?
Die Behauptung, etwas zu leisten, zu dem man nicht imstande ist. RWE redet aber Klartext an ganz vielen Stellen – ob Kernenergie, Kohle oder die Erneuerbaren: Wir stellen diese Themen ausgewogen dar. Sie finden all diese Informationen bei RWE. Der Vorwurf des Greenwashing trifft einfach nicht zu. /
========================================================== RWE
2011 war kein gutes Jahr für den zweitgrößten deutschen Energiekonzern, der Atomausstieg vermieste RWE die Bilanz: Der Umsatz sank um 3 Prozent auf 51,7 Milliarden Euro, der Gewinn nach Steuern brach um rund 45 Prozent auf 1,8 Milliarden Euro ein. Die vorherigen Gewinne hatte RWE maßgeblich durch seine beiden Atomkraftwerke in Biblis erzielt; laut einer Berechnung des Öko-Instituts machte jedes AKW in Deutschland täglich eine Million Euro Gewinn. RWE-Chef Jürgen Großmann forderte nach dem Beschluss der Bundesregierung in einem Brief an Kanzlerin Angela Merkel Schadensersatz für den Atomausstieg, zusammen mit E.on reichte RWE eine Klage gegen die Brennelementesteuer ein. Im Januar, als das Finanzgericht Baden-Württemberg die Steuer für rechtmäßig erklärte, kündigte man weitere Klagen an. Tatsächlich zahlt die Hauptlast des Ausstiegs die Allgemeinheit: Mindestens 30 Milliarden Euro soll der Rückbau der Atomkraftwerke den Bund kosten. Im Juli wird der Niederländer Peter Terium neuer RWE-Chef, er soll das Unternehmen um- und die erneuerbaren Energien ausbauen. / www.rwe.de
Joachim Löchte, Leiter Corporate Responsibility und Nachhaltigkeit bei RWE Foto Frank Beer
FotoS Frank Beer
Hartmann
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Shopping: Restaurants in Japan zahlen für den Roten Thun Höchstpreise
Foto ddp Images/AP/David Guttenfelder
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Resteessen Seit Sushi in aller Welt serviert wird, ist der Rote Thun bedroht. Jetzt steht er vor dem Aussterben. Trotzdem wird weitergefischt. Die perverse Logik des Marktes: je weniger Fische, desto besser fürs Geschäft. Mittendrin: Japans Multikonzern Mitsubishi. Ein Report über das Sterben einer Spezies für die Gier nach Geld TExt Philipp Kohlhöfer
Seite 56
Unternehmen
den in die japanische Hauptstadt. Dass ihn das am Ende den Job kostete, wie sollte er das wissen? Und er verstand ihr Problem. Das Meer vor Japan war leer und die Japaner brauchten Nachschub. Sie zahlten jeden Preis. Das tun sie immer noch. Erst im Januar wurde ein 269 Kilogramm schwerer Blauflossenthunfisch, wegen der Farbe seines Fleisches auch Roter Thun genannt, auf dem Tsukiji-Fischmarkt in Tokio, dem größten der Welt, für 566 000 Euro versteigert. Damit brach er den Rekord des Vorjahres von 299 000 Euro, der wiederum den Rekord des Vorjahres von 138 000 Euro gebrochen hatte. Käufer waren jeweils Sushi-Restaurants. Im Mittelmeer führte das viele Geld dazu, dass immer mehr Fischer Blauflossenthun fingen. Das Tier ist eine schwimmende Meisterleistung der Evolution: Es besteht fast ausschließlich aus Muskeln. Bis zu viereinhalb Meter lang und 700 Kilogramm schwer, kann es 1000 Meter tief tauchen und dabei seine Körpertemperatur selbst regulieren. Von Haien und man-
Das Meer vor Japan war leergefischt und die Japaner brauchten Nachschub. Sie zahlten jeden Preis. Das tun sie immer noch
Mattia Dazi verschuldete sich, um mithalten zu können mit den großen Booten und ihren modernen Fangtechniken, aber spätestens mit der Verbreitung der Thunfischfarmen zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte er keine Chance mehr. Wenn er aufs Meer fuhr, musste er fangen, auch wenn er wusste, dass das der Bestand nicht mehr zuließ. Tat er es nicht, wuchsen seine Schulden. Die Tage, an denen er nichts fing, waren bald keine Ausnahme mehr. 2006 verkaufte Dazi das Boot an einen finanzstarken Konkurrenten. Laut Weltnaturschutzorganisation IUCN, die die Rote Liste der gefährdeten Arten herausgibt, ist der Blauflossenthun „stark gefährdet“. Prognosen über das Verschwinden der Art im Mittelmeer variieren zwischen zwei und fünf Jahren. Ein Beschleuniger dieser Entwicklung: „Thunfischfarmen“, Dazi spuckt das Wort mehr als er es spricht. Tatsächlich ist die Bezeichnung „Farm“ irreführend, denn nichts wird dort gezüchtet. Im Gegenteil: Der Fisch für diese Farmen wird mit der Ringwadennetz-Methode eingeholt: Die Netze sind zwei Kilometer lang, reichen bis zu zweihundert Meter tief und werden um einen ganzen Schwarm Thunfische gezogen.
Mehr dazu im neuen Heft 02/2012 ======================== Seite 59
Unternehmen
Massenprodukt: Zwei Drittel des weltweiten Thunfischfangs landen auf Japans Märkten
Jahren. Ausschlaggebend waren zwei Entwicklungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten: Amerikanische Sportangler an der US-Ostküste entdeckten den Blauflossenthun als ebenbürtigen Gegner. Sie begannen, den Fisch tonnenweise aus dem Wasser zu ziehen. Der tote Fisch wurde entweder verfüttert oder auf den Müll geworfen. Niemand kam auf die Idee, ihn zu essen – zu blutig. Etwa zur gleichen Zeit boomte die japanische Unterhaltungselektronikindustrie. Die Expor-
te in die USA wuchsen schnell. Aber das Geschäft war einseitig. Kaum waren die Container im Hafen von Los Angeles entladen, gingen sie leer auf die Reise zurück nach Japan. Die Amerikaner produzierten wenig, was die Japaner interessierte. Bis einem japanischen Geschäftsmann auffiel, dass es Blauflossenthun gab. Die US-Fischer waren erfreut, den Thun los zu sein, die Reeder froh, ihre Container zu füllen. Durch die US-Besatzung nach dem Krieg waren die Japaner in der
Zwischenzeit fetteres Essen gewohnt, sodass der Rote Thun den neuen japanischen Geschmack mit der alten Fischtradition kombinierte. Zudem war er unschlagbar günstig. Es dauerte nicht lange, bis der Blauflossenthun sich durchsetzte und zur Sushi-Delikatesse avancierte. Kostete der Fisch damals zwanzig US-Cent das Kilo – wenn er teuer war – wird dieselbe Menge heute für 900 Dollar gehandelt. Mattia Dazi geht zum Auto. Er lässt sich mit Schwung in den Sitz fallen und dreht das Radio an. Der Moderator redet über das Wetter. Sonne folgt auf Sonne folgt auf Sonne. Besser geht es nicht, wenn man rausfahren will. Für eine Sekunde schließt Dazi die Augen, bläst Luft durch die Nase, beißt auf die Unterlippe. „Das ist unser Fisch“, sagt er. Kann man etwas privatisieren, das allen gehört? Nicht einem Dorf, nicht einem Volk, einfach allen? Er lässt den Motor an. Der Wagen quält und hustet sich zum Start. Dazi schwitzt. Tröpfchen rinnen an seiner Wange herunter. Er öffnet das Fenster, die Luft steht. „Irgendjemand bezahlt immer“, sagt er. Und er bedauert, dass er das früher nicht verstanden hat. Nicht nur der Fisch verschwindet. Nicht nur die Jobs verschwinden. Das ganze Leben verschwindet. Der Fiat arbeitet sich an der Anhöhe ab, die aus dem Stadtkern nach draußen führt, Richtung Flughafen. „Wie fühlt sich das an, wenn dein Leben aufgefressen wird?“ Ein Leben, geprägt von Tradition. Alleine die spanische Almadraba, eine Stellnetzfangmethode, in Italien unter dem Namen Mattanza bekannt, gibt es seit etwa 3000 Jahren. Dabei wird der Blauflossenthun in einem System von Kammern gefangen. Den Beständen hat das nie geschadet. Im Gegenteil: Der Fisch war so häufig, dass Gerichte mit ihm in Sizilien unter dem Namen „cucina povera“ bekannt waren, die arme Küche. Sogar in der Nordsee war er heimisch – und auch hier so oft anzutreffen, dass das Arme-Leute-Essen in Hamburg im Sommer gebratener Thunfisch mit Bohnen, Kartoffeln und Gurkensalat war. Nur bis kurz vor Helgoland mussten die Fischer fahren, um auf große Fanggründe zu treffen. Deutschland war in den 1950er-Jahren eine der größten Fangnationen der Welt. Und exportierte
Blauflossenthunfisch ausgerechnet nach Italien. Doch bald verschwand er: Hering und Makrele waren bereits stark überfischt. Kann es einen Zusammenhang geben? Und kann sich das wiederholen? Schließlich benötigt die Thunfischmast Unmengen an kleinen Fischen, denn die Roten Thune sind Muskelpakete, geschaffen nicht um zuzunehmen, sondern um schnell zu schwimmen: Um ein Kilo Fleisch anzusetzen, benötigen sie etwa zwanzig Kilo Fisch. Die Thunfischproduktion vernichtet also deutlich mehr Protein,
Flottenreduktion bedeutet nicht zwingend, dass es weniger Schiffe gibt. Oftmals wird nur umgeflaggt. Boote großer Fangnationen fahren dann einfach unter einer außereuropäischen Flagge
Foto Getty Images/AFP/Yoshikazu Tsuno
chen Walarten abgesehen hat der Blauflossenthun keine natürlichen Feinde; doch was eigentlich ein Vorteil war, wird nun zum Nachteil, denn wie alle großen Räuber ohne Fressfeinde vermehrt sich auch der Blauflossenthun sehr langsam. Die Weibchen werden erst mit etwa sieben Jahren geschlechtsreif. Eigentlich kein Problem, schließlich können die Tiere bis zu 30 Jahre alt werden. Für die moderne Fischerei aber sind sieben Jahre viel zu lang.
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r fährt Taxi jetzt. In einem kleinen Fiat Uno, cremefarben verwaschen, zwischen Flughafen und Innenstadt hin und her, wieder und wieder, ohne Lizenz. Wie ein Monopol wirkt das, denn es gibt zwar eine Buslinie, aber die fährt unregelmäßig und niemand weiß genau wann. Einen Plan gibt es nicht. Vielleicht liegt es am Busfahrer, sagt Mattia Dazi, der Taxifahrer. Vielleicht ist gerade wieder ein wichtiges Teil kaputt und muss erst mit dem Schiff nach Pantelleria geliefert werden. Er zuckt mit den Schultern. Ist ja nicht sein Problem. Und irgendwas ist sowieso immer. Ist doch so im Leben, oder? Man muss sich arrangieren, oder? Er steht am Hafen, legt den Kopf in den Nacken und inhaliert das Meer, aus dem er früher die Thunfische zog. Es riecht noch so, wie es immer roch, das schon, ja. Dazi legt die Hand über die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen und redet vom Wasser wie von einem Bruder, der schon lange gestorben ist, dessen Erinnerung ihm aber nicht aus dem Kopf will. Er sieht auf die Uhr, bald landet wieder ein Flieger, er muss los. Jeden Tag um die Mittagszeit kommt eine Maschine aus Palermo, jeden Abend eine aus Rom. Ein gutes Geschäft ist das Quasimonopol trotzdem nicht. Die Strecke ist überschaubar, man könnte auch laufen. Die Flieger sind klein und trotzdem nicht voll. Wer kommt schon nach Pantelleria, diesem Gesteinsbrocken, der zwar zu Italien gehört, aber näher an Afrika ist und zwischen Tunesien und Sizilien im Meer liegt, als hätte ihn jemand verloren? Niemand. Zu viele Sorgen, zu wenige Touristen. Nicht einmal mehr die Japaner kommen noch. Zu viele Boote, zu wenige Fische. Dazi geht zum Auto, biegt kurz davor aber in ein Café ab, ein schneller Espresso noch. Es wird ihn schon keiner vermissen am Flughafen. Er erinnert sich, als die Japaner Mitte der 1990er zum ersten Mal kamen. Sushi hatte gerade seinen Siegeszug um die Welt angetreten, es galt, sich die besten Fische zu sichern. Sie fielen auf, denn es waren meist allein reisende Männer um die 40. Sie kauften alles, was er fischte, und schafften es per Flugzeug innerhalb von 24 Stun-
als sie schafft. Selbst wenn es gelänge, die Tiere zu züchten, würde das nichts am Futterproblem ändern. Zumal Fisch im Mittelmeer bereits jetzt knapp ist. Seit Langem gibt es Versuche, die Fischerei in der EU nachhaltiger zu gestalten. Seit Langem werden die Vorschläge verwässert. Denn Fischereipolitik ist europäische Strukturpolitik, in der es darum geht, zumindest kurzfristig Arbeitsplätze in strukturschwachen Gebieten zu erhalten. Beispiele? 2007 erlaubten die spanischen Behörden die Jagd auf junge Thunfische, obwohl das eigentlich verboten ist. Und als die französische Flotte im selben Jahr die doppelte der im Vorfeld vereinbarten Menge fing, passierte: nichts. Für die andere Seite des Marktes, die Sushi-Industrie Japans, könnte diese Politik kaum besser sein: Die Thunfischfarmen sorgen für einen steten Nachschub an Tieren, und weil der Fisch ständig verfügbar ist, sind auch die Preise niedriger als es nötig wäre. Was dazu führt, dass die verbliebenen Fischer mehr fangen müssen, wollen sie ihr Einkommen halten. Was wiederum mehr Nachschub für die Kühl-
häuser bedeutet. Was dann den Einkaufspreis verbilligt… Der Flughafen Pantellerias liegt auf dem höchsten Punkt der Insel. Eine einzige Straße schlängelt sich in seine Richtung, mehr Piste als echte Befestigung. Müll rundherum, Verpackungen aller Art. Ein Auto kommt Dazi entgegen und weil die Straße zu schmal ist für beide, fährt er an den Straßenrand. Und dann steigt er aus. Er tritt nach vorne und geht nahe an den Hang. Dazi kneift die Augen zusammen. Die Sonne spiegelt sich im Wasser. Er sieht auf das Meer, das so ruhig und regungslos vor der Insel liegt wie ein Handtuch am Strand. Viele Boote auf dem Wasser? Dazi nickt. Das da hinten, das könnte sein Boot sein. Bestimmt ist es noch da, denn es ist Fangsaison. Er rührt sich nicht. Mehr zu sich selbst sagt er: „Wirklich viele Boote.“ Zu viele für die Fischbestände. Die EU zahlt daher Programme für die Reduzierung ihrer Flotte und subventioniert so die Auslistung der Schiffe, deren Bau sie zuerst mit indirekten Subventionen wie Steuererleichterungen unterstützt hatte. Flottenreduktion bedeutet dabei allerdings nicht zwingend, dass es weniger Schiffe gibt. Oftmals wird nur umgeflaggt. Boote großer Fangnationen fahren dann einfach unter einer außereuropäischen Flagge und tauchen so in der Flottenstatistik der EU nicht mehr auf – Ziel erfüllt. Im November 2009 schlugen die Wissenschaftler der International Commission for the Conservation of Atlantic Tunas (ICCAT) in Madrid ein totales Fangverbot vor, da sich der Bestand des Blauflossenthuns im Mittelmeer um mehr als 90 Prozent reduziert habe. ICCAT soll sich zwar um den Erhalt der Bestände kümmern. Anders als der Name nahelegt, sind dort aber nicht Umweltschützer organisiert, sondern die 42 Länder, die Blauflossenthunfisch fangen. Deren Fischereiminister nahmen die Empfehlungen ihrer eigenen Wissenschaftler zur Kenntnis, mehr nicht. Und legten die Fangquote auf 13 500 Tonnen fest. „Wenn es um Blauflossenthunfisch geht“, sagt selbst der ehemalige ICCAT-Vorsitzende William T. Hogarth, „scheint Wissenschaft keinen Wert zu haben. Unterm Strich fühlte ich mich, als ob ich über das Ableben eines der prachtvolls-
Früher galt Thunfisch in Japan als zu fett. Heute ist er nicht nur dort, sondern weltweit der beliebteste Sushifisch
ten Fische, die im Ozean leben, präsidierte.“ Für Umweltschützer steht die Abkürzung ICCAT daher für etwas anderes: International Conspiracy to catch all tuna. Im Flughafenterminal befindet sich ein Kiosk, der abgesehen von Kaffee und Törtchen nichts verkauft. Es gibt zwei Schalter, einer ist besetzt: Die Frau ist dieselbe, die am gegenüberliegenden Reisebüro die Tickets verkauft. Das Flugzeug aus Palermo ist gerade gelandet. Ein Taxi braucht niemand. Dazi geht vor die Tür, er zündet sich eine Zigarette an. Neben ihm hebt ein Bagger Erde aus. Rohre und Kabel hängen in der Luft, der Flughafen wird erweitert. Die Inselverwaltung erwartet eine große Zukunft. Nicht für die Fischerei. Dazi zuckt die Schultern. Er ist Fischer, kein Fahrer. Er geht zurück zum Auto. Auf dem Weg kann er übers Meer sehen. Er dreht sich um: „Der Fisch wird im Preis nicht sinken, der Preis wird die Jagd antreiben, es gibt zu viele Schiffe, zu viele Farmen, keine Schutzgebiete. Nichts wird sich ändern.“ Bis der Blauflossenthunfisch verschwunden ist. Man muss sich arrangieren, oder? Vor ihm liegt ein leerer Plastikkanister. „Nein“, sagt er mit fester Stimme. „Das muss man nicht.“ Er zertritt ihn. /
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That’s IT In Sachen Umweltschutz ist die IT-Branche auf einem guten Weg: Sie achtet verstärkt auf den effizienten Einsatz von Energie und Ressourcen. Um aber langfristig grün und nachhaltig zu werden, gibt es in einigen Bereichen noch reichlich Nachholbedarf TExt Denis Dilba Illustration Thilo Kasper
IT kann grün sein, wenn die Abwärme der Rechenzentren zum Heizen genutzt wird
Ein Rechner besteht aus gut 10 000 Teilen. Einige davon stammen aus dem Kongo, wo Kinder z. B. im Erzabbau arbeiten müssen
Neue intelligente Technologien helfen Usern, CO2 einzusparen
Mehr Smartphones, mehr Laptops, mehr Tablets: 2 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen werden von IT und moderner Kommunikationstechnik verursacht. Das ist genauso viel wie der weltweite Flugverkehr verursacht
Gefährliche Schwermetalle, Weichmacher und andere Gifte in modernen Kommunikationsgeräten wie Smartphones stehen in Verdacht, krebserregend zu sein
Rechenzentren großer Firmen entstehen zunehmend in Polarregionen. Die natürliche Kühlung spart Energiekosten
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seiner beiden Rechenzentren spare das Unternehmen bares Geld, wodurch es sein Produkt günstiger anbieten könne, so Ardisson. Energieeffiziente IT wird damit zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Wie sehr, kann man derzeit auch daran ablesen, wo die neuen Megarechenzentren dieser Tage gebaut werden. „Lag die Priorität früher auf einer guten Datenanbindung und der Sicherheit eines Standortes, entstehen neue Bauten heute vor allem dort, wo genügend Strom verfügbar und das Potenzial zum Energiesparen beUm mit dieser App im Haushalt bislang unerkannte Stromfresser zu enttarnen, ist zunächst sonders groß ist“, sagt IBM-Mann Tauer. Da teilweise bis zu 50 Prozent der geetwas Handarbeit gefragt: Drei Stromzählersamten Energiekosten eines Rechenzentstände, verteilt über insgesamt 30 Stunden, rums für die Kühlung aufgewendet wermuss der Sparwillige in das Tool eintippen. Die den müssen, zieht es die IT-Unternehmen Zeitpunkte gibt die Anwendung vor. Die App in den hohen Norden. In diesen Breiten berechnet damit den Dauerstromverbrauch. Ist kann die Computertechnik direkt mit kaldieser zu hoch, weist das auf uralte Kühlschranter Umgebungsluft oder Meerwasser und ke oder zu viele Geräte im Stand-by-Modus hin. damit mit besonders wenig Energieaufwand vor Überhitzung geschützt werden. System: Apple, eine Android-Version „Man braucht keine energiehungrigen Kälsoll folgen. Preis: kostenlos temaschinen mehr, nur noch einfache Pumpen und Lüfter“, sagt Tauer. Aus diesem Grund hat Google sein neues europäisches Rechenzentrum in der finnischen Hafenstadt Hamina erbaut, es läuft seit Mitte letzten Jahres. Gekühlt werden die Serverfarmen mit Hilfe von Meerwasser. Facebook plant ein mit Polarluft gekühltes Rechenzentrum im schwedischen Luleå. Die jährliche Durchschnitts temperatur beträgt dort zwei Grad Celsius. So eine Luftkühlung, im Fachjargon „freie Kühlung“ genannt, lohnt ======================== sich schon deutlich weiter südlich, rechnet Ardisson vor: „Wir können unser Rechenzentrum in Berlin 84 Prozent der Zeit eines Jahres allein mit der Außenluft kühlen.“ IBM will Rechen-
StandbyCheck
Mehr dazu im neuen Heft 02/2012 Seite 84
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21st Office
Diese App für Manager fragt nach, ob man selbst oder das Unternehmen nachhaltig und grün agiert. Herausfinden lässt sich das mit Tests. User können anderen Aufgaben stellen und so zum grüneren Handeln bewegen. Außerdem lassen sich in der Community vorgeschlagene Ideen für die CO2-Reduktion bewerten, verbessern und verbreiten. Zusätzlich klärt die App über schlaue IT auf. System: Apple & Android Preis: kostenlos
Web-Riese Google kühlt sein neues Rechenzentrum in der finnischen Hafenstadt Hamina mit Polarmeerwasser
direkt zum Heizen von Gebäuden einsetzen – oder mit deutlich geringerem Energieeinsatz abkühlen, da fast überall in der Welt immer weniger als 56 Grad Außentemperatur herrschen.“ Resultat ist ein besonders geringer „Power Usage Effectiveness“-(PUE)-Wert. Er setzt die insgesamt in einem Rechenzentrum verbrauchte Energie ins Verhältnis mit der reinen Energieaufnahme der Rechner. Je weniger Strom für die Kühlung eingesetzt werden muss, desto näher rückt der PUE-Wert an die bestmögliche Marke eins. „Werte von unter 1,3 sind schon sehr gut, daran arbeiten wir gerade“, sagt Tauer. Ein guter PUE-Wert allein sei aber nur bedingt aussagekräftig, so Tauer: „Wenn die Computertechnik alt ist und damit viel Energie verbraucht, kann man mit einer effizienten Kühlung trotz hoher Stromkosten sehr gute PUE-Werte erreichen.“ Webhoster Strato geht noch einen Schritt weiter: Das Unternehmen hat seine Stromspar-Hardware von Chiphersteller AMD nach eigenen Wünschen maßschneidern lassen. „Alle Komponenten sind streng auf den richtigen Strombereich optimiert und kommen ohne überflüssige Komponenten, wie etwa CD-ROM-Laufwerke, aus“, sagt Ardisson. Wie groß das Sparpotenzial ist, wenn die Hardware- und Softwareentwicklung
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von Anfang an Hand in Hand gehen, hat Ende 2011 der Softwareentwickler Q2web aus Pulheim bei Köln demonstriert. Dessen neue Datenbank Yaacomo kombiniert erstmals eine neue Programmiersprache mit einer neuen Software-Struktur, die stringent auf das Rechnen mit ultraschnellen Grafikkarten-Prozessoren ausgelegt ist. Normalerweise laufen Datenbank-Programme in mannshohen Serverschränken, die mehrere Kilowatt Strom benötigen, aufwendig gekühlt werden müssen und dabei auch noch laut brummen. „Daneben steht jetzt eine handtellergroße Box, die zehnmal weniger Strom benötigt und ohne einen Ton den Serverschrank in Grund und Boden rechnet. Und dabei spart und spart und spart“, sagt Q2web-Chefentwickler Dieter Weiler. Wenn etwa Versandhändler zur Planung ihrer Einkaufs- oder Lagerkapazitäten eine Analyse der Bestellmengen ihrer Kunden brauchen, könne das heute schnell mehrere Stunden Rechenzeit in Anspruch nehmen, so Weiler. „Yaacomo braucht für solche und vergleichbare Aufgaben nur Minuten.“ Das Interesse sei groß, nicht zuletzt weil Q2web mit ihrer Entwicklung beim Wettbewerb GreenIT Best Practice Award 2011 erfolgreich waren. „Wir testen unsere Entwicklung gerade zusammen mit Großunternehmen“, sagt Weiler. Welche das sind, sei noch geheim. Einige von ihnen seien aber unter den ersten zehn im DAX gelisteten. „Die Energieeffizienz von Rechenzentren und auch IT-Geräten zu verbessern, ist auf jeden Fall auch weiterhin wichtig“, sagt Philipp Rühle von der NachhaltigkeitsRatingagentur Oekom Research. Er sieht die Hersteller aber noch in einer anderen Pflicht: „Um wirklich nachhaltig zu werden, muss die IT-Branche an anderer Stelle noch deutlich aktiver werden.“ Beispielsweise auch bei der Vermeidung von gefährlichen Substanzen in IT-Geräten. Darunter fallen Schwermetalle wie Blei und Cadmium, bromierte Flammschutzhemmer, Arsen und Beryllium oder Weichmacher in Kunststoffen. Alle diese Stoffe stünden mehr oder weniger stark in Verdacht, toxisch, krebserregend oder hormonbeeinflussend zu sein, sagt Rühle, der in dem aktuellen Oekom-Branchenreport
FoTos Google
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und zwei Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen werden durch IT- und Telekommunikationstechnik verursacht – so viel wie auch der globale Flugverkehr produziert. Zu diesem Ergebnis kam das IT-Marktforschungsunternehmen Gartner bereits vor fünf Jahren. „Wir können heute davon ausgehen, dass dieser Anteil trotz stetig steigender IT-Nutzung nicht wesentlich größer geworden ist“, sagt Thomas Tauer, Chef des Bereichs Data Center Services bei IBM. Dass das so ist, liegt auch ein wenig an Tauer: Er baut streng auf Energieeffizienz getrimmte Rechenzentren. Früher waren diese mit Serverschränken gespickten Schaltzentralen wahre Stromfresser und für mindestens ein Viertel der IT-Emissionen verantwortlich, so die Gartner-Studie. Da sah es tatsächlich noch schlecht mit dem Energieverbrauch aus, so Tauer, seitdem habe sich aber einiges auf dem Sektor getan. Die Triebfeder ist dabei aber nicht unbedingt immer ein gestiegenes Umweltbewusstsein, weiß der Green-IT-Experte: „Unsere Kunden wollen vor allem bei den Kosten für den Strom sparen.“ Das müssen sie auch. Schließlich benötigt „Big Data“, wie die stetig und schnell anschwellende Datenlawine genannt wird, auch immer mehr Speicherplatz; verursacht durch immer mehr Smartphones, Notebooks und Tablets, immer mehr Kommunikation mit mehr verschickten Videos und Multimediainhalten. Einer in diesem März veröffentlichten Studie des US-Netzwerkausrüster Cisco zufolge war allein das mobile Datenvolumen 2011 achtmal so groß wie der gesamte weltweite Internetverkehr im Jahr 2000. „Bei gleichzeitig steigenden Energiepreisen wird der effiziente Betrieb von Rechenzentren in Zukunft der einzig mögliche sein“, ist sich Tauer sicher. Julien Ardisson, Vorstand für das Produktmanagement des Berliner Webhosting-Unternehmens Strato AG, teilt die Meinung des IBM-Experten, ergänzt aber: „Nachhaltigkeit macht für ein Unternehmen nur Sinn, wenn es dadurch auch langfristig ökonomisch am Markt bestehen kann.“ Durch den strikt reduzierten Energieverbrauch
205 IT-Unternehmen anhand von ökologischen und sozialen Kriterien analysiert hat. Zwar hätten zahlreiche Unternehmen die riskanten Inhaltsstoffe, allen voran die Flammschutzhemmer und die Weichmacher, in ihren Produkten verringert und würden teilweise die in Europa und China geltenden Richtlinien übertreffen. „Noch ist aber nicht abzusehen, wann die Computer- und Elektronikindustrie vollständig auf die Verwendung gesundheitsund umweltschädlicher Substanzen verzichten wird“, sagt Rühle. Denn solange die Verbraucher jedes halbe Jahr das neueste Smartphone, Tablet oder Notebook kauften, um immer mehr und größere Videos hin und her zu schicken, und sich per Videokonferenz unterhalten, obwohl sie im gleichen Büro sitzen, solange gleicht der Zuwachs an Endgeräten den Fortschritt durch Verzicht auf die Gefahrstoffe wieder aus. Problematisch ist die Entwicklung vor allem für Länder, in denen die Umweltstandards nicht konsequent eingehalten werden. Die gefährlichen Substanzen wirken sich nämlich weniger im Betrieb der Produkte aus, sondern erst bei einer nicht fachgerechten Entsorgung auf der Müllhalde, wo sie dann das Grundwasser verseuchen. „Auf Unternehmen, die ohne solche Stoffe auskommen, muss man deutlich hinweisen, damit die Verbraucher durch ihr Konsumverhalten Druck ausüben können“, sagt Tom Dowdall, Koordinator der Greenpeace Greener-Electronics-Kampagne. Hewlett-Packard sei in der aktuellen Ausgabe des „Guide to Greener Electronics“ unter anderem aus diesem Grund verdient auf Platz eins gelandet, so der ITExperte von Greenpeace. In die Greenpeace-Bewertung der Unternehmen aus dem Sektor der Unterhaltungselektronik floss neben dem Umgang mit schädlichen Chemikalien, dem Recycling und der Klimabilanz ihrer Produkte erstmals auch die Lebensdauer der Geräte sowie die verantwortungsvolle Beschaffung der Rohstoffe mit ein. Damit sind in erster Linie sogenannte Konfliktmineralien gemeint, erklärt Dowdall. „Zum Beispiel das Übergangsmetall Tantal aus dem Kongo“. Das Erz werde dort häufig von Kindern gefördert, die unter entsetzlichen
Bedingungen in den Minen arbeiten müssen, weiß auch Oekom-Analyst Rühle. „Diese soziale Komponente wird bei der Nachhaltigkeit leider gerne vergessen, obwohl sie eine große Rolle in der Bewertung spielt.“ Die Arbeitsbedingungen, vor allem bei den Zulieferern der IT-Industrie, seien extrem schlecht. „Letztendlich brauchen wir einen fairen Computer“, sagt Rühle. Das sei zwar eine echte Aufgabe, da die rund 10 000 Teile, die in einem Computer stecken, oft von mehreren Hundert Zulieferern kommen, die alle überprüft werden müssten. Für möglich hält Rühle das aber. Die Frage ist letztlich auch: Wird der Verbraucher dann bereit sein, mehr für so einen fairen Computer auszugeben? Rühle ist zuversichtlich: „Da fairer hauptsächlich eine Anhebung der geringen Löhne der Arbeiter bedeutet, liegt der Aufpreis bei maximal zehn Prozent. Ich kann mir schon vorstellen, dass es in Deutschland einen Markt dafür gibt.“ /
(r)evolution
Die englischsprachige App von Greenpeace will nicht weniger, als einen Umbruch starten. Wie schaffen wir den Übergang vom Ölzeitalter in das der erneuerbaren Energien? Wer sich anmeldet, erhält jede Menge Informationen, News und dazu Aufforderungen zu Aktivitäten, um die Energiewende voranzutreiben. System: Apple iPhone Preis: kostenlos
============================ sTromsparTIpps Für VErbrauchEr
1. Windows-Rechner nach 20 Minuten in Stand-by, nach 40 Minuten in den Ruhezustand versetzen. Bildschirmschoner fressen Strom. 2. Tintenstrahldrucker besser nicht ständig anund ausschalten. Bei jedem Anschalten werden die Druckköpfe gereinigt, das verbraucht vergleichsweise viel Strom. 3. Hochwertige Grafikkarten verbrauchen viel Energie, für das normale Surfen im Internet und Arbeiten am Rechner sind sie verzichtbar. 4. DSL-Router und –Modem bei Nichtgebrauch am besten ausschalten. Sie ziehen Strom, auch wenn sie nicht in Betrieb sind. 5. Energieeffiziente Computer können bis zu 50 Prozent Strom einsparen, erkennbar sind sie am Energy-Star-Label. 6. Unter Topgeraete.de finden Verbraucher energieeffiziente Geräte, gefördert wird die Seite vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie sowie der Energieagentur dena. 7. Nach dem Laden von Handy und Co. Netzstecker ziehen. Ansonsten entstehen „Leerlaufverluste“. Das bedeutet, dass das Netzteil zwar keine Funktion mehr erfüllt, aber weiter Strom zieht. Erkennbar ist das, wenn es warm wird.
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Greenit!
Eine eher spielerische App, die nicht direkt beim Stromsparen hilft, aber Raum für grüne Fantasien lässt. Nutzer können Fotos machen und sie durch umweltfreundliche Elemente und saubere Technologien wie Solaranlagen verändern. Die App richtet sich vor allem an Architekten, Landschafts- und Stadtplaner sowie Nachhaltigkeitsaktivisten. Twitter und Facebook helfen bei der Verbreitung der ergrünten Bilder. System: Apple Preis: 3,99 €
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Die Kaputt-Strategie Kurze Lebensdauer, irreparabel – elektronische Geräte entwickeln sich immer mehr zu Wegwerfprodukten. Das ist pure Strategie der Hersteller: Der Verbraucher wird zum Neukauf gezwungen. enorm-Autor Lukas Grasberger will das nicht hinnehmen TExt Lukas Grasberger Illustration Thilo Kasper
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er Frühjahrsputz fördert alten käme ja einem Eingeständnis gleich: nämÄrger ans Tageslicht: Aus ei- lich, dass jeder hochgiftigen Elektroschrott ner Schublade, die beim Ein- produziert, und zwar kiloweise. zug vor fünf Jahren noch leer Wann hat das überhaupt begonnen, dass war, wuchern jetzt Kabel von uns elektronische Geräte praktisch in der Ladegeräten, in ihr stapeln sich mehrere Hand wegaltern? Trügt der Eindruck, dass Handys und ein MP3-Spieler. Der Anblick die Technik gefühlt immer kurz nach Ende verursacht plötzlich auch ein Gefühl der Garantiezeit den Geist aufgibt? Und unbestimmten Unbehagens. Es ist die dass wir das vorschnelle Lebensende teuGeschichte eigentlich intakter Mobiltele- rer Markengeräte achselzuckend hinnehfone, die nur wenig abgegriffen binnen ei- men, statt Ersatz oder Reparatur einzufornes Jahres in der Schrankwand landeten. dern, ist doch höchst erstaunlich. Schließlich hat der Verkäufer im HandyBei meiner Spurensuche fällt mir zuerst Shop noch jede Vertragsverlängerung mit Christian Kreutzberg ein. Es liegt vor aleinem Neugerät versüßt: mehr Pixel, lem an Kreutzberg, dass es in meinem Elternhaus bis heute schneller im Interkeine Elektroschrottnet, mehr Speicher Schublade gibt. Ging und schon wieder Mehr als 80 Millionen schicker. Es ist auch ein Fernseher kaputt, elektronische Leichen die Geschichte eines Kreutzberg hat ihn iPods, der eine Wo- haben die Bundesbürger repariert. Und ging che nach Garantieenein Gerät mal wirkde schwere Ausfall- im Keller – und das sind lich den Weg aller irerscheinungen zeigt. nur die Handys dischen Dinge – der Vielleicht ist die Batgelernte Radio- und terie kaputt, vielFernsehtechniker hat leicht liegt ein Systemfehler vor: Der so es angenommen und ausgeweidet. Seinen lässige wie desinteressierte Apple-Service- Werkstattladen im oberbayerischen BurgMitarbeiter rät zum Neukauf. Der iPod hausen gibt es noch und auch den beeinwird in die Schublade gepfeffert. druckenden Berg aus Gehäusen, Platinen Mehr als 80 Millionen elektronische Lei- und Relais. Sogar ein altes Tonbandgerät chen haben die Bundesbürger im Keller, steht da. Doch Kreutzbergs Geschäft ist schätzte unlängst der Bundesverband In- schwierig geworden. Lang kann er erzähformationswirtschaft, Telekommunikati- len vom Aufkommen der Elektrodiscounon und neue Medien e.V. (Bitkom). Dabei ter und dem Niedergang deutscher Qualihat der Verband nur abgelegte, aber ei- tätsmarken. Und davon, dass seit etwa gentlich noch funktionsfähige Handys ge- zehn Jahren jeder in China fertigen lasse. zählt. Liegt es am schlechten Gewissen, „Seitdem“, sagt Kreutzberg, „ist mit guter, dass die deutschen Ramschkisten quasi kaufbarer Qualität Feierabend.“ Seitdem elektronische Sondermülldeponien im ei- wird er überschwemmt mit defekten Gegenen Heim sind? Eine echte Entsorgung räten, die er „Geiz-ist-Geil-Ware“, „Plas-
tik-Bomber“ oder „China-Kracher“ nennt. Doch auch bei sogenannten Qualitätsmarken muss der erfahrene Techniker passen: Selbst solchen Firmen telefoniere er monatelang und letztlich doch erfolglos nach Ersatzteilen hinterher. „An Reparatur und Service haben die kein Interesse mehr.“ Meinen iPod wiegt er ratlos in der Hand. Verschweißt, verklebt, wie viele neue Geräte. „Zum Wegwerfen“, sagt Kreutzberg. „Gemacht, um kaputtzugehen“. Gemacht, um kaputtzugehen – dieser Satz setzt sich fest. Bei der weiteren Recherche findet sich ein Buch gleichen Titels: „Made to break“ von Giles Slade über „Technologie und Obsoleszenz in Amerika“. Mein Unbehagen hat nun einen Namen: Obsoleszenz. „Geplante Obsoleszenz ist der gebräuchliche Überbegriff für die diversen Techniken, um künstlich die Lebensdauer von Industriegütern zu begrenzen mit dem Ziel, erneute Anschaffungen zu stimulieren“, schreibt Slade. Ich beginne, im Netz zu suchen nach Obsoleszenz, iPod und Reparatur. In Foren reißen die Vorwürfe bis heute nicht ab, der Apple-Musikspieler überstehe gerade mal die Garantiezeit. Die Klagen über Obsoleszenz-Strategien der Firma waren gar gerichtsanhängig. Schon 2003 geriet Apple in die Kritik, da für die in den ersten iPod eingebauten Akkus kein Austausch vorgesehen war. Wegen des Akkutauschs und falscher Angaben über die Laufzeit strengten US-Kunden eine Sammelklage an – die der Konzern mit einer viele Millionen schweren Schadensersatzzahlung beilegte. 2005 geißelte die „Stiftung Warentest“ den iPod als Wegwerfgerät. Ich frage schriftlich beim Konzern nach: Fertigt Apple seine Geräte tatsächlich mit
eingebautem Verfallsdatum? Sind iPods so konstruiert, dass sie nach einem Jahr kaputtgehen? Die Wartezeit überbrücke ich mit „Made to break“. Bislang, schreibt Slade, wagte es kaum ein Unternehmen, sich zur Obsoleszenz zu bekennen. Dabei werde diese Strategie unter Wirtschaftswissenschaftlern und Marketingexperten aus der Praxis seit den 1930er-Jahren offen diskutiert. Tatsächlich tauchte der Begriff 1932 in Bernhard Londons Schrift „Die Depression mit geplanter Obsoleszenz beenden“ erstmals auf. Um Konjunktur und Industrie wiederanzukurbeln, müsse die Regierung Waren nach bestimmter Zeit juristisch für „tot“ erklären und dann zerstören lassen, forderte der Immobilienkaufmann. Was wie die Einzelmeinung eines Wirrkopfs klingt, war durchaus mehrheitsfähig: „In den USA gab es damals eine starke Bewegung, die Weltwirtschaftskrise durch eine absolut offensichtliche Obsoleszenz zu überwinden. Das war eine offizielle politische Strategie“, sagt die Kon sumforscherin Lucia Reisch. Die wahrscheinlich entscheidende Schlacht auf dem Weg zur Wegwerfgesellschaft wurde Mitte der zwanziger Jahre in
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iPod haben willst, musst du mindestens jährlich einen neuen kaufen.“ Wie also hält es Apple mit der geplanten Obsoleszenz? Der Konzern hat meine Fragen mit nur einem Satz beantwortet: Apple, schreibt Pressesprecher Georg Albrecht, plant keinerlei Obsoleszenz seiner Produkte. Ein Satz, der im Widerspruch zu einer Aussage in Slades Buch steht. Die Lebensdauer gerade elektronischer Produkte werde schon seit den fünfziger Jahren nicht mehr dem Zufall überlassen, sondern systematisch geplant, „mit erschreckender Präzision durch wissenschaftliche Produkt- und Materialforschung“. Death Dating nennt Slade diese Ingenieurskunst. Bekannt ist, dass das „Todesdatum“ bei Glühbirnen festgelegt wurde: Das Phoebus-Kartell, gegründet von den führenden Herstellern, setzte 1924 durch, dass ihre Birnen künftig nur noch 1000 statt vorher 2000 Stunden leuchten sollten. Doch was hat das Beispiel der Glühbirne, deren Lebensdauer sich einfach durch dickeren oder dünneren Draht einstellen lässt, mit komplexen elektronischen Geräten von heute gemein? Lässt sich das Todesdatum, etwa meines iPod,
Zum Auswechseln des Akkus braucht man beim iPod spezielles Werkzeug
Handys, Fernseher, Telefon, Kopfhörer werden im Eiltempo durch neue Designs und bessere Technik ersetzt
wirklich im Voraus berechnen? Und wird könnte. Und das machen die Firmen dann. das praktiziert? Fragen dazu an For- Da wird gespart, wo es geht.“ schungs- und Entwicklungsabteilungen Anders sieht es bei Firmenkunden aus. versanden in höflich-ausweichende Ant- Dort kann man sich kaum geplante Obsoworten. Oder in Schweigen. leszenz leisten, für den höheren Preis wird Wer bereitwillig Auskunft gibt, ist Olaf Qualität verlangt. Die Gefahr, einen KunWittler vom Berliner Fraunhofer-Institut den durch ein Schrottprodukt zu verärfür Zuverlässigkeit und Mikrointegration gern, ist viel zu hoch, da Anschlussaufträ(IZM). Der Ingenieur ge verloren gingen sucht für Hersteller und hohe Verluste Antworten auf die Wenn ein Gerät unerwartet entstünden. „Wenn es sehr hochwertige Frage: „Wie schaffe etwa drei statt nur einem ich es, dass mein GeProdukte sind, hat rät am Ende so lange Jahr halten würde, dann sich der Kunde sehr hält, wie ich mir das genaue Gedanken wäre das schlecht wünsche?“ Dafür über die Langlebignimmt Wittler etwa keit gemacht, weil es ein Handy und steckt es in den „Drop-Tes- eben mit hohen Kosten verbunden ist, ter“. Befestigt an der Schiene in einem wenn’s nicht lange genug hält. Ein Beispiel Glaskasten saust es dann mit einem ist die Automobilelektronik. In diesem Ge„Plopp!“ gen Boden. Hundertmal. Tau- schäft wird intensiv getestet, berechnet sendmal, bis es ausfällt. Manchmal lässt und analysiert, weil man eine recht lange Wittler die Geräte auch im weißen runden Lebensdauer für relativ geringe Kosten reShaker durchschütteln, stundenlang, ta- alisieren muss. Im Consumer-Bereich ist gelang. Vibrationen, wie sie sonst bei Zug- das weniger kritisch“, sagt Wittler. oder Autofahrten vorkommen. Die Zahl Es ist der große Kostendruck der ITder gewünschten Belastungszyklen gibt Branche, der Obsoleszenz in immer gröder Hersteller vor. Die mittlere Lebens- ßerer Geschwindigkeit vorantreibt. Schon dauer von Bauteilen lässt sich so genau tes- 1965 formulierte der Gründer des Chipten – oder auf Basis der Tests mit Compu- herstellers Intel, Gordon E. Moore, einen tersimulationen systematisch berechnen. Satz, der bald Gesetz für alle späteren PlaAuch für die Hersteller von Unterhal- nungen der Branche werden sollte: Mootungselektronik hat Wittler ein Pro- res Law postulierte, dass sich die Leistung gramm zur Lebensdauer-Berechnung für den Prozessor, dem Herz jedes Comentwickelt. Das Ziel der Hersteller: puters, alle eineinhalb bis zwei Jahre vereine Lebensdauer, gerade lang ge- doppeln sollte. Damit gab Moore den Startnug, dass der Markt das Produkt schuss für den immer noch anhaltenden nicht als Schrott zurückweist. Wettlauf der IT-Unternehmen, die hohe Eine Lebensdauer, gerade Kosten in die Entwicklung immer leiskurz genug, um möglichst am tungsfähigerer Chips stecken müssen, um Material zu sparen. Und konkurrenzfähig zu bleiben. wenn ein Gerät unerwarWie diese Wachstumsspirale funktiotet etwa drei statt nur ei- niert, hat Hans Dieter Hellige, Professor nem Jahr halten würde? für Industrial Ecology, Technik und Kon„Dann“, sagt Wittler, sum an der Universität Bremen unter„wäre das natürlich sucht. „Das sind immense Investitionen, schlecht.“ Denn zum die sich nur durch einen drastischen Aneinen wäre dann das stieg der Ausstoßmengen amortisieren“, Gerät zu lange am sagt Hellige – also indem die Masse an Markt, bevor der Kunden immer mehr kauft. In den 1980er-Jahren gewöhnten MiKunde erneut kauft. „Zum anderen crosoft und Intel die Computernutzer gesind da dann noch Mate- zielt daran, Software wie Rechner alle zwei rialkosten, die ich reduzieren Jahre auszutauschen: Die immer leistungs-
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fähigere Windows-Software fraß die ebenfalls stetig verbesserten Hardware-Ressourcen schneller und schneller auf. Mit der massenhaften Verbreitung des Mobilfunks gelang dann endgültig die „Taktung des Verbraucherverhaltens durch das Moore’sche Gesetz“, wie es der Bremer Professor formuliert. Der scharfe Wettbewerb zwinge die Provider jährlich zu Gebührensenkungen, die diese durch immer neue Verträge, immer neue Tarife kompensieren müssen. Als Lockmittel dafür setzen sie subventionierte Handys ein, so Hellige. Um Kunden zu binden, halten die Anbieter diese mit einem fein abgestimmten Rhythmus neuer Features oder Scheininnovationen im „ständigen Sog des vorzeitigen Produktwechsels“. Die Folge: Vertragsdauer und Lebensdauer der Mobiltelefone haben sich angeglichen. „Apple“, sagt Hellige, „ist auf jeden Fall Treiber dieser Obsoleszenz.“ Die durch aggressives Marketing geschürte psychische Obsoleszenz gehe dabei Hand in Hand mit „Maßnahmen gezielter Produktverschlechterung, wie durch nicht erneuerbare Akkus oder durch technische Schwachstellen wie der Verwendung verformbarer Plastiksorten“. Die Umweltfolgen der Obsoleszenz-Spirale sind erschreckend: Die PC-Lebensdauer schrumpfte von zehn Jahren im Jahr 1980 auf heute zwei Jahre. Waren Telefone früher Jahrzehnte in Gebrauch, so werden Handys heute nach 18 bis 24 Monaten gewechselt. In der EU wächst der Berg aus Elektroschrott dreimal schneller als der des sonstigen Mülls, in Indien wird 2020 allein das Aufkommen aus alten Handys 18-mal höher liegen als 2010, so eine Schätzung der Vereinten Nationen.
Doch neuerdings formiert sich Widerstand gegen den geplanten WegwerfWahnsinn: Mit einem neuen Internet-Portal unter dem Motto „Murks, nein danke!“ will der Berliner Stefan Schridde nicht weniger als einen Bewusstseinswandel bei Herstellern anstoßen. Den Druck dafür will er aufbauen, indem er Meldungen von Produkten sammelt, die auf geplante Obsoleszenz setzen. Die Nutzer sollen „heraus aus der Vereinzelungsfalle“ – und erkennen, dass der vorschnelle Verschleiß Methode hat. Eine kritische und große Community könnte Hersteller dann mit fundierten Vorwürfen konfrontieren. Markus Weiher aus Weisendorf bei Erlangen geht einen anderen Weg. Weiher ist Reparier-Revoluzzer, Hunderte vermeintlich hoffnungslos kaputter MP3Spieler, Telefone und Notebooks hat er in seiner Dachgeschoß-Wohnung wieder zum Laufen gebracht. „Ich wollte diesen Konsumterror nicht mehr machtlos mitmachen. Und es gibt viele, die ticken wie ich. Die bisher einfach keine Plattform hatten“, sagt der Franke. Gleichgesinnte hat er bei ifixit.com gefunden, einer amerikanischen Internetseite, auf der die Nutzer sowohl Fragen stellen als auch Reparaturanleitungen hochladen können. 1400 Fragen hat der frühere Handy-Servicetechniker Weiher beantwortet, als einer der Ersten hatte er das neueste iPhone in der Hand. Apple-Jünger hätten es wie ein Heiligtum gehütet, Weiher hat es respektlos zerlegt. Das Fazit auf der Seite von ifixit: Apple betrachtet die Selbstreparatur als Bedrohung, „sie machen es dir immer schwerer, dein Telefon aufzubekommen. Die ifixit-Gemeinschaft ist bereit, diesen Kampf auszufechten.“ Die
Community hat sogar ein ironisches, klassenkämpferisches „Manifest der eigenständigen Reparatur“ veröffentlicht. Eine wichtige Parole: „Wenn du es nicht reparieren kannst, gehört es dir nicht.“ Weiher gibt Hilfe zur Selbsthilfe – für iPhones, auch für iPods. „Wenn jemand keine Anleitung hat, kriegt er es nie selber auseinander. Wenn er es versucht, macht er es kaputt.“ Wäre auch mein iPod wieder zum Leben zu erwecken? Ifixit sei gerade für Laien gemacht, sagt Weiher. „Mach es. Du schaffst das!“ Eine Woche später liegt ein neuer Akku auf meinem Schreibtisch, daneben zwei Werkzeuge, die Plastik-Skalpellen ähneln. Knapp zehn Euro hat das Set im Internet gekostet. Butterweich gleitet das Plastikwerkzeug in die Seitennaht, vorsichtig löse ich die Platte. Es fühlt sich neu und ein wenig verboten an, Zögern und Bangen stehen vor jedem Schritt. Eine gefühlte Ewigkeit später löst sich der Akku tatsächlich aus dem Gehäuse, der neue passt. Nach einer weiteren halben Stunde ist die Abdeckplatte wieder geschlossen. Das Gerät läuft. Mein iPod gehört wieder mir. / ============================ sElbsThIlfE Im nETz
Nicht alle wollen sich damit zufrieden geben, dass man Dinge neu kaufen muss, wenn der Akku oder ein anderes Teil seinen Dienst versagt. Einige Websites bieten Hilfe und Anleitung zur Selbstreparatur: www.murks-nein-danke.de www.ifixit.com www.teamhack.de www.deutschland-repariert.de www.insidemylaptop.com
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Projektorientierter Projektorientierterberufsbegleitender berufsbegleitenderStudiengang Studiengang Projektorientierter berufsbegleitender Studiengang Master MasterofofPublic PublicPolicy Policyfür fürpolitisches politischesund undsoziales sozialesUnternehmertum Unternehmertum Master of Public Policy für politisches und soziales Unternehmertum Verwirklichen VerwirklichenSie SieIhre IhreIdeen Ideenund undbewerben bewerbenSie Siesich sichbis biszum zum31.Mai 31.Mai2012 2012 Verwirklichen Sie Ihre Ideen und bewerben Sie sich bis zum 31.Mai 2012 HUMBOLDT-VIADRINA HUMBOLDT-VIADRINA Wilhelmstraße Wilhelmstraße 6767 HUMBOLDT-VIADRINA Wilhelmstraße 67 School School of of Governance Governance 10117 10117 Berlin Berlin School of Governance 10117 Berlin
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Weitere Highlights der Ausgabe 2/2012
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Anschauungsmaterial
Anschauungsmaterial ======================================
Sunshine-Tour
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mmer nur Weißbrot“. Tim Skerra schüttelt es ein wenig, wenn er an die Tour durch die USA denkt. „Deutsches Essen hat mir echt gefehlt“, schiebt er hinterher und es klingt verwundert. Ist ja nun Gottseidank vorbei – zumindest gibt es für ein paar Tage heimische Küche, ehe der 23-jährige Teamleiter einer 30-köpfigen Studentengruppe der Hochschule Bochum weiterreist Richtung Osten nach China. Die Truppe hat sich Großes vorgenommen: innerhalb eines Jahres mit einem selbst gebauten Solarfahrzeug die Welt umrunden. Ein Jahr lang haben sie am Solar World Gran Turismo herumgetüftelt, finanziert von Sponsoren wie Solarworld und DHL. Das kanariengelbe Fahrzeug ähnelt einem Rennwagen mit vertauschtem Vorder- und Hinterteil, doch die Form dient weniger dem Tempo, vielmehr der Effizienz. Sonnenenergie, eingespeist über Solarpaneele auf dem Autodach, treiben den Solar World GT auf bis zu 50 km/h an. Mit der Weltumrundung wollen die Bochumer die Alltagstauglichkeit und Effizienz von solarbetriebenen Fahrzeugen demonstrieren. Seit Oktober letzten Jahres hat das Team Australien, Neuseeland und jetzt eben die USA durchquert. Ende April startet sein Team die Europa-Tour in Italien: „Dichter Verkehr und kürzere Strecken, das wird nochmal richtig spannend“, sagt Tim. Ein Zwischenstopp in Bochum ist auch geplant – auf ’ne Currywurst. Alles zur Tour: www.solarworld-gt.de /
AUFTAKT Erdumrundung Bochumer Studenten haben ein Solarfahrzeug entwickelt, mit dem sie in 12 Monaten einmal um die Welt fahren
TexT Lillian Siewert FoTo Hochschule Bochum
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Unternehmen
Unternehmen
Die Leiden des Ioannis Eine Klinik-Vereinigung in Thessaloniki behandelt Alzheimer-Patienten erfolgreich mit einem einzigartigen Konzept, finanziert vom griechischen Staat. Aufgrund der Finanzkrise hat der aber nun alle Zahlungen eingestellt. Es schlägt die Stunde der Sozialunternehmer TExT Urs Fitze FoTos Grigoris Siamidis
Unternehmen
W
Die Leiden des Ioannis
Mit Hirn und Controller: Sozial-Innovator Ioannis Tarnanas hofft auf Rettung Seite 48
3 Jeansproduktion
Kettentaucher
Die Reise der Jeans
TÜRKEI, 15,4 MIO
Jeans sind bequem, robust, sexy, beliebt. Keine andere Hose ziehen die Deutschen häufiger an, zwischen drei und fünf Exemplare besitzt jeder im Schnitt. Die sozialen und ökologischen Folgen der Produktion sind dagegen kaum bekannt. enorm zeichnet die Lieferkette einer Jeans nach
PAKISTAN, 14,7 MIO BANGLADESCH, 34,8 MIO
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Die fünf wichtigsten JeansImportländer Deutschlands (Stückzahlen 2010)
RECHERCHE Juliane Franze, Henrik Beermann / GreenDeltaTC ILLUSTRATION Nina Eggemann
Die Reise einer Jeans 1 Baumwollproduktion
Kleidung wird seit Jahrtausenden aus Baumwolle hergestellt, der Rohstoff deckt heute etwa 40 Prozent des gesamten Textilfaserverbrauchs ab. Die Produktion benötigt viel Wasser: Pro Kilo Baumwolle sind es zwischen 10 000 und 17 000 Liter, in trockenen Gegenden wie dem Sudan bis zu 29 000 Liter. Auch der Einsatz von Pestiziden ist hoch: Laut WHO sterben jedes Jahr rund 10 000 Menschen allein durch Schädlingsbekämpfungsmittel im Baumwollanbau. Weit mehr Arbeiter tragen Erkrankungen der Atemwege, Haut, Augen und Nerven davon und haben ein hohes Risiko, an Krebs zu erkranken. In Usbekistan verpflichtet der Staat Kinder dazu, die Baumwolle auf den Feldern zu pflücken.
2 Garnproduktion/ Stoffproduktion
Nutzung
Um Baumwolle spinnen zu können, müssen die Fasern gesäubert und gelockert werden, zum Teil wird Kunstfaser beigemischt. In China, Indien und Pakistan werden mehr als dreiviertel aller Garne gesponnen, China ist auch der weltgrößte Produzent für Baumwollgewebe. Bei der Reinigung der Fasern und ihrer Veredelung kommen Waschmittel und zahlreiche Chemikalien zum Einsatz, zudem wird auch hier viel Wasser verwendet: Um ein Kilo Baumwolle zu färben, sind 60 bis 100 Liter Wasser nötig.
Transport/Handel Eine Jeans legt im Schnitt per Flugzeug, Lkw und Schiff 19 000 Kilometer zurück, bevor sie im Handel ankommt. Die ökologischen Auswirkungen des Transports sind trotzdem vergleichsweise gering. Der durchschnittliche Einfuhrwert einer Jeans lag 2008 bei 9,57 Euro; Hosen aus China kosteten im Schnitt 6,93 Euro, aus Bangladesch 4,72 Euro.
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Entsorgung/Recycling
400 000 bis 600 000 Tonnen Alttextilien landen in Deutschland jährlich auf dem Müll, bei der Verbrennung entstehen zum Teil hochgiftige Substanzen. Von den gesammelten Kleidern landen 40 Prozent als tragbare Gebrauchtkleider zumeist in Osteuropa und Afrika, 35 Prozent als Rohstoff in der Putzlappenindustrie und 10 Prozent als Rohstoff in der Vliesindustrie. Von den Textilien und Jeans, die in der Altkleidersammlung landen, werden rund 30 Prozent in Afrika zu Preisen verkauft, die Arme sich nicht leisten können.
Rund 80 Prozent des Energie- und Wasserverbrauchs entlang der Wertschöpfungskette entfallen auf das Waschen, Trocknen und die Pflege der Jeans durch den Konsumenten. Jeder Deutsche verbraucht im Schnitt fast acht Kilogramm Waschmittel im Jahr, hinzu kommen Weichspüler und weitere Hilfs- und Pflegemittel.
QUELLEN Baumwollboerse.de, Cottonusa.de, Wupperinst.org, Oeko-fair.de, Wilabonn.de, Waterfootprint.org, Umweltinstitut.org, Dol.gov, Kampagne Saubere Kleidung, Bettercotton.org, Destatis, Greenpeace.at, Eco-info.de, Südwind Institut, Levi Strauss, Umweltbundesamt, Abfallshop.de
Politik & Gesellschaft
Seite 73
Länderreport
Kap des guten Willens
Kap des guten Willens Knapp 20 Jahre nach der Apartheid werden die sozialen Probleme in Südafrika kaum von der Regierung gelöst. Vielmehr packen die ehemals Unterdrückten sie an
Knapp zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid bekommt Südafrikas Regierung die sozialen Probleme nur langsam in den Griff. Die großen Unternehmen packen kaum mit an, umso mehr aber die ehemals Unterdrückten. Schließlich kennen sie die Gründe für das Leid im Land am besten TexT Kerstin Walker FoTos Sabine Braun
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Länderreport
Pretoria
Johannesburg
SüD AfRiKA
LäNDERPROFIL
SüDAFRIKA
Stolze Besitzerin: Magrieta Leeuschit gehören heute 25 Prozent der Taschenmanufaktur, in der sie früher als Näherin beschäftigt war
Asien. Ihre Ermächtigung ist aber nicht bloß moralisch motiviert, sondern soll Wachstum bringen. Zwar gilt Südafrika als wirtschaftliche Lokomotive des Kontinents; das Wachstum lag in den vergangenen Jahren stets bei mehr als 3 Prozent, für 2012 sieht die Prognose ein Plus von 4,1 Prozent vor. Doch die positiven Zahlen können kaum kaschieren, dass die sozialen Probleme, mit denen Regierungschef Jakob Zuma konfrontiert ist, weiterhin groß sind: Es gibt 5,7 Millionen Steuerzahler, aber fast 15 Millionen Sozialhilfeempfänger. Die Arbeitslosenquote liegt zwischen 30 und 40 Prozent, in den Townships sind es bis zu 80 Prozent. Angesichts dieser Zahlen wurde der BEE-Act deshalb von der Regierung immer weiter modifiziert, um besser und gezielter einer breiten Bevölkerung zu dienen. So steckt man inzwischen zum Beispiel viel Energie in die Stärkung der Arbeitsmarkt-Agenturen. Den Menschen soll eine bessere Ausbildung zukommen, auch das ist eine Aufgabe der Agenturen. Gleichzeitig steckt man seit 2003 mithilfe der Europäischen Union 70 Millionen
Dollar in Arbeitsbeschaffungsprogramme, die 2,5 Millionen neue Jobs bringen sollen. „Auf jeweils drei Jahre angelegte Pläne fördern die Branche der Small and Medium Enterprises und die der Sozialunternehmen“, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium DTI (Department of Trade and Industry) in Pretoria. Weil die junge Demokratie auf sich allein gestellt überfordert ist, ging der Staat früh dazu über, auch die Wirtschaft in die gesellschaftliche Arbeit einzubinden. Neben dem BEE existieren eine Reihe von Gesetzen, die die Verantwortung von Unternehmen benennen und regeln. Doch noch immer haben viele CSR-Maßnahmen einen für Südafrika typischen karitativen Charakter. Und die meisten dienen lediglich dazu, das Image der Unternehmen in puncto Nachhaltigkeit zu polieren. Das gilt nicht für das Wirken der zahlreichen Sozialunternehmen, die in Südafrika in den letzten Jahren mehr und mehr entstehen. Viele werden zunächst als NGOs gegründet, entwickeln aber im Laufe der Jahre Modelle für soziales Unternehmertum, mit denen sie die sozialen
BIP: 396 828 Mio. Euro (2010) Nominales BIP pro Kopf: 5420 Euro (2010) Reales Wachstum: 4,1% (Prognose 2012) Arbeitslosenquote: 24% (2012) Wirtschaft: Grundsätzlich nagt ein Strukturwandel an den großen Branchen Bergbau und Agrarwirtschaft, dafür nimmt die Bedeutung von verarbeitender Industrie und Tourismus zu. Den größten Beitrag des BIP leistet gegenwärtig der Dienstleistungssektor mit rund 65 Prozent. Dazu zählt auch der Tourismus, der mit über 7 Millionen Gästen und 2,3 Mrd. US-Dollar zum BIP beiträgt. Hinsichtlich der Biodiversität ist Südafrika eines der reichsten Länder der Welt.
Zentrum des Wandels: Kapstadt mit Town und Tafelberg
Die Ermächtigung der Benachteiligten ist nicht nur moralisch motiviert, sondern soll Wachstum bringen
Nummer 2
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Geschichte: Bis 1994 herrschte in Südafrika eine strenge Rassentrennung (Apartheid). Die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten, Nelson Mandela, markierte das Ende des von der weißen Bevölkerungsminderheit getragenen ApartheidRegimes. Wirtschaftlich und sozial betrachtet ist Südafrika noch 18 Jahre nach dem Ende der Apartheid gespalten: Die Schere zwischen Arm und Reich ist dort weltweit am größten. Politik: Seit dem Ende der Apartheid versucht die ANC-Regierung durch die gezielte Förderung von Nicht-Weißen deren ökonomische Benachteiligung abzubauen. Seit 2003 unterstützt ein Gesetz, der BEE-Act, diese Bestrebungen. Die Politik der Broad Based Black Economic Empowerment ist allerdings heute umstritten. Kritiker beklagen Korruption und einseitige Elitenförderung sowie eine Diskriminierung der Weißen.
April / Mai 2012
Die Forderung der Piratenpartei nach Transparenz setzt die Wirtschaft unter Druck. Sie muss sich öffnen, sonst verliert sie weiter an Vertrauen
Wie die Gier nach Geld den Roten Thunfisch ausrottet =========================================
Vorweg oder hinterher? RWE und die Energiewende =========================================
Die Kaputt-Strategie: Sollbruchstellen in Elektronik-Geräten SPeCiAL =================================
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IT-Branche: Auf grün programmiert 10 SeiteN
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Die Recycling-Taschen bringen en passant Arbeitslose wieder in Lohn und Brot
klärt, welche Wege er einschlägt, um sich tatsächlich nachhaltig nennen zu dürfen: Von Recycling, sparsamem Wassermanagement und sozialen Entwicklungsprojekten in Gemeinden ist da unter anderen die Rede. Zwar wirtschaftet Woolworths angeblich seit der Firmengründung 1931 verantwortungsbewusst. „Echte Nachhaltigkeit aber ist nicht über Nacht umzusetzen“, räumt Smith ein.
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Ebenso wenig wie eine Karriere als Sozialunternehmer wie die von Magrieta Leeuschit. Sie ist inzwischen Miteigentümerin von Isikhwama. 25 Prozent der Taschenmanufaktur gehören ihr, 75 Prozent halten zwei weitere Shareholder. Zweimal im Jahr erhalten alle Mitarbeiter einen Anteil des Gewinns ausbezahlt – die 44-Jährige nutzt ihren, um den Beteiligungskredit nach und nach abzuzahlen. In Südafrika sind Aufstiege wie diese nicht selten. Fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid spielt Wiedergutmachung an der schwarzen Bevölkerung nach wie vor eine wichtige Rolle. Das Ziel: Die „historisch benachteiligten Gruppen“, wie sie offiziell heißen, sollen am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben. Dafür schuf die Regierung des African National Congress (ANC) 2003 den „Black Economic Empowerment“ Act (BEE). Das Gesetz regelt die Wahl des Personals und die Kultur in den Unternehmen. Kritiker sagen, es fördere so wiederum die positive Diskriminierung. Rund 90 Prozent der Bevölkerung sind Schwarze, Coloureds oder stammen aus
Hauptstadt: Pretoria Fläche: 1,22 Mio. km2 (3,4-mal so groß wie Dtld.) Bevölkerung: 50,59 Mio. Einwohner Amtssprachen: Zulu, Xhosa, Afrikaans, Englisch, Ndebele, Nordsotho, Südsotho, Setswana, Swati, Tsonga, Venda Währung: Südafrikanischer Rand Staatsform: Präsidialdemokratie mit föderativen Elementen Staatsoberhaupt: Jacob Zuma (ANC)
„Nachhaltigkeit ist nicht über Nacht umsetzbar.“ Justin Smith vor der Woolworths-Zentrale
Die Zusammenarbeit der beiden Unternehmen basiert auf einem Versprechen. Woolworths, nicht zu verwechseln mit dem fast gleichnamigen britischen Konzern, hat angekündigt, den Verbrauch von Plastikflaschen und -tüten in seinen landesweit 400 Filialen zu senken. Gleichzeitig recycelt das Unternehmen seine anfallenden Kunststoffabfälle und bereitet sie für die Taschenproduktion auf. Justin Smith, Chef des Nachhaltigkeitsressorts, suchte für die Herstellung der sinnvollen wie farbenprächtigen Taschenmodelle einen Partner. Fündig wurde er vor fünf Jahren bei Isikhwama Manufacturing. Im Hauptgebäude bei Woolworths, einem mehrstöckigen glänzenden Kubus in der quirligen City von Kapstadt, lehnt sich Justin Smith entspannt zurück. Seine rechte Hand ruht auf einem fingerdicken Magazin. Der „Good Business Journey Report“, 84 Seiten dick, puristisch-modernes Layout, ist gespickt mit Fakten und Erfolgsgeschichten. „Isikhwama ist nur eine davon“, sagt Smith. Seit 2007 gibt der börsennotierte Konzern den jährlichen Bericht heraus und er-
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Port Elizabeth
agrieta Leeuschit war Näherin. Mit wenigen Stichen brachte sie Henkel an Tragetaschen aus Recyclingmaterial an. War sie in Form, wie an so vielen Tagen, schaffte sie mehr als 700 in der Stunde. Vor einem Jahr stieg sie auf. Sie wechselte vom Näh- an den Schreibtisch in die Firmenleitung von Isikhwama Manufacturing. Ihr Büro liegt im Kapstadter Industrieviertel Milnerton. Ein schmuckloser Raum mit einfachen Sperrholzschreibtischen und ein paar Urkunden an der Wand. Nebenan zwei Lagerhallen, die Produktionsstätten. Hier stellt das 76 Angestellte starke Sozialunternehmen, das vor allem Arbeitslosen über den Job wieder eine Perspektive geben will, rund eine Million Taschen pro Jahr für den südafrikanischen grünen Einzelhändler Woolworths her. Magrieta Leeuschit, tiefschwarzes Haar, schimmernder Goldzahn, türkisfarbenes Kleid, hält ein buntes Modell hoch, darauf gedruckt sind Afrikas vom Aussterben bedrohte Rhinozerosse. „Einer unser Bestseller“, sagt sie lächelnd.
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Kapstadt
FoTo imago/Gallo Images Quellen DIW Berlin, Auswärtiges Amt, Germany Trade & Invest, BMZ, Impact Investing
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Der Mann mit dem Fünf-Tagebart und den melancholischen Augen öffnet eine der Türen. Mit dem Mauszeiger verbindet Pascalina Tsotsiou am Computer zwei geometrische Figuren mit geraden Linien: Rechteck zu Rechteck, Quadrat zu Quadrat. Dann wechselt die 70-Jährige zu ihrem Lieblingsspiel: Es gilt, verschiedene geometrische Formen so zu ordnen, dass sie sich ineinanderfügen. Tsotsiou bemerkte es vor drei Jahren. Sie war vergesslich ge-
Pflicht, 80 bis 100 Stunden Gesamtarbeitszeit pro Woche keine Seltenheit. Verträge besitzen die Arbeiter häufig nicht, die Sicherheitsvorkehrungen sind schlecht. Junge Frauen, die beschäftigt werden, sind nach mehreren Jahren Arbeit ausgelaugt. Erkranken sie, müssen sie unbezahlten Urlaub nehmen. Um den gebrauchten Look einer Jeans zu erzeugen, werden die Hosen häufig mit Sandstrahlern bearbeitet. In Europa ist die Technik verboten, weil Arbeiter häufig an Staublungen erkranken und zum Teil daran sterben. In Bangladesch wird das Sandstrahlen laut der NGO Kampagne für Saubere Kleidung unvermindert fortgesetzt. Ein Arbeiter sagte, dass es in seiner Fabrik aussieht „wie in einer Wüste während eines Sandsturms“.
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Jeans trägt jeder, die sozialen und ökologischen Auswirkungen sind den wenigsten bewusst. enorm zeichnet den Lebensweg einer Jeans nach
„Es mag erstaunen, aber mithilfe der virtuellen Realität können wir bestimmte Vorgänge im Gehirn im Maßstab eins zu eins real auslösen und trainieren“
worden, verschwitzte Arzttermine oder verstaute Dinge im Kühlschrank, die da nicht hingehörten. Nichts Schlimmes, aber ein untrügliches Anzeichen für eine „leichte kognitive Beeinträchtigung“ (englisch Mild Cognitive Impairment, MCI), der Vorstufe zu allen Formen von Demenz. Seither kommt sie regelmäßig in die Klinik, eine von vier auf Alzheimer-Patienten spezialisierten ambulanten Einrichtungen in Thessaloniki. Betreiberin ist die griechische Alzheimer-Vereinigung, die, angeschoben mit Geldern der Europäischen Union, dieses europaweit einmalige Pionierprojekt seit 2007 aufgebaut hat. 2000 Patienten werden ambulant und ohne Abgabe von Medikamenten therapiert. Es sei besser geworden mit ihrer Vergesslichkeit, sagt Tsotsiou. Der 75-jährige Georgios Tertopoulos am Nebentisch pflichtet ihr bei: „Ich bin fast täglich hier. Und das Rechnen wird immer besser“. Ihren Alltag meistern die beiden weitgehend problemlos. Doch so richtig von Alzheimer wollen sie nicht sprechen. Sie reden sich heraus, spielen ihre Befindlichkeit herunter, tun so, als ob sie nichts wirklich Ernstes hätten. Alzheimer ist in Griechenland eine aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte Krankheit – und wer an ihr leidet, ist mit seiner Familie mental auf sich alleine gestellt. Tsotsiou und Tertopoulos ahnen es: Der Tag wird kommen, an dem sie ihr Leben nicht mehr alleine meistern können; der Tag auch, an dem ihr Gehirn so geschädigt sein wird, dass praktisch alles, was mit Bewusstsein, Verstand und Denken zu tun hat, verschwunden sein wird.
Kettentaucher
Jeans werden mit zahlreichen Chemikalien behandelt, etwa um Falten zu fixieren, die Stoffe zu bleichen oder knitterfrei zu halten. Der Verdienst in den Fabriken ist meistens niedrig, er liegt zum Teil unter den gesetzlichen Mindestlöhnen. Wer Fehler macht, wird mit Lohnabzügen bestraft. Überstunden sind
CHINA, 76,5 MIO
TUNESIEN, 5,1 MIO
so viele sein. Die Experten sind sich einig: Es ist höchste Zeit, neue Wege zu gehen in der Behandlung, die über das bloße Verwahren der Patienten hinausgehen. Sozial-Innovator Tarnanas und seine Kollegen von der Klinik haben einen dieser vielversprechenden Wege gefunden – und drohen nun im Sog der Finanzkrise unterzugehen. Wenn es nicht zu abgedroschen klänge, man müsste von einer griechischen Tragödie sprechen. Eine Tragödie, die nur noch durch ein Wunder abgewendet werden könnte – und das vielleicht nicht nur für Ioannis Tarnanas Rettung und Chance auf ein Leben als Sozialunternehmer bedeuten würde.
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Eine griechische Klinik behandelt erfolgreich Alzheimerpatienten – und steht wegen der Finanzkrise vor dem Aus. Jetzt wollen es Mitarbeiter als Sozialunternehmer versuchen
o war sie nochmal, die Cornflakes-Schachtel? Und in welchen der Schränke gehört sie? Ioannis Tarnanas wiegt den Kopf und sagt: „Gar nicht so einfach, wenn man nicht gut aufgepasst hat.“ Der 37-jährige Psychologe und Software-Ingenieur mit Spezialgebiet virtuelle Realität hat die Schachtel beiläufig am ComputerBildschirm vom Küchen- auf den Salontisch einer mediterranen Wohnung verschoben. Als Steuer dient ihm ein Controller, wie man ihn von Ballerspielen kennt. Doch hier sollen am Controller keine jungen Menschen mit ein paar wild gewordenen Fabelwesen kämpfen, sondern alte Menschen gegen das Vergessen. Tarnanas sitzt in einem schmucklosen Büro im fünften Stock der Tagesklinik Heiliger St. Johann im Zentrum der nordgriechischen Stadt Thessaloniki. Wenige Türen weiter sitzen Alzheimer-Patienten, die hier ambulant betreut werden, an den Computern und trainieren ihr Gehirn mit dem Computer-Programm von Tarnanas, das er gemeinsam mit Kollegen in Italien und Kalifornien entwickelt hat. Sie wandeln mit dem Joystick durch eine virtuelle Alltags-Welt und müssen Aufgaben lösen. Tarnanas sagt: „Es hilft ihnen, ihr Gedächtnis zu verbessern und so den Weg in die absolute Finsternis möglichst lang zu machen.“ Es sind Programme, die eine der größten Volkskrankheiten des Globus bekämpfen sollen: 60 Prozent der weltweit 24 Millionen Demenzpatienten leiden an Alzheimer, in Deutschland sind es 1,3 Millionen. Im Jahr 2050 werden es doppelt
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