MO NR.12|03_RZ

March 21, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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MitOst magazin Weggefahren Titelthema Auslandsaufenthalt Hingefahren

(Seiten 14 – 33)

Deutscher Kabarettist in Polen

Heimgefahren Harte Landung in Deutschland Abgefahren

(Seiten 32/33) (Seite 18)

Mammutprojekt Mezium Rychnov

(Seite 6)

Zug gefahren Lektorenprogramm feiert 10jähriges Jubiläum

(Seiten 42/43)

EDITORIAL

Liebe Leser, Foto: Doreen Blask Das ist nicht die Chefredakteurin

Man kann MitOst als „Vagabunden-Verein“ bezeichnen: fast alle Mitglieder waren für mehr oder weniger lange Zeit im Ausland. Entsprechend viele und vielfältige Artikel haben wir zu unserem Schwerpunktthema „Auslandsaufenthalt“ erhalten. Lesen Sie auf den Seiten 14 bis 33 persönliche Erfahrungsberichte, Reportagen und Interviews über das Weggehen, Wo-Anders-Sein und Zurückkommen sowie Tipps zum Umgang mit dem Kulturschock. In dieser Ausgabe haben wir erstmals parallel zum Schwerpunktthema einen Fotowettbewerb durchgeführt. Die Teilnehmer sollten charakteristische Motive eines Landes oder einer Stadt schicken. Das Siegerbild von Doreen Blask finden Sie auf dieser Seite. Die weiteren Gewinner sind Dominik Kretschmann (S. 46), Anja Kretzer (Seite 8), Kamila Nevludova (S. 5, 15), Darius Polok (S. 18), B. Stoklosa (S. 28), Natalija Pintschuk (S. 16), Robert Teschner (S. 19, 22), Roger Just (S. 15) und Corinna Lambernd (S. 4). Auch dieses Mal kommen die Projekte von MitOst nicht zu kurz. Auf den ersten Seiten des Heftes erfahren Sie mehr über ein Filmprojekt, eine Mega-TanzPerformance-Schreib-und-Gestalt-Veranstaltung in Tschechien, eine literarische Veranstaltungsreihe in der Schweiz – MitOst bleibt bunt und vielfältig. Die verbleibenden Seiten des Heftes sind wie immer gut gefüllt mit Ausschreibungen für Projekte, Praktika und Arbeitsangebote, Buchbesprechungen und Reportagen. das Magazinteam (v.o.n.u.) Dorothea Leonhardt, München (Redaktion) Arndt Lorenz, Dresden (Redaktion) Susanne Töpfer, Dresden (Gestaltung)

Viel Spaß beim Lesen! Das Redaktionsteam Dorothea Leonhardt und Arndt Lorenz.

INHALT

Inhalt MitOst-Projekte 2003 - Grenzen erfahren – ein Projekt über Grenzorte und Grenzreisen

Geschäftsstelle MitOst e.V. Schillerstraße 57 D-10627 Berlin Tel.: +49 - (0)30 - 31 51 74 - 70 Fax +49 - (0)30 - 31 51 74 - 71 [email protected] w w w. m i t o s t . d e

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- Kwass, Kaviar und leere Kartons – Reise nach Sibirien

5

- Lasset uns singen, tanzen und springen – Kulturspektakel Mezium Rychnov

6

- Doswidanija Berlin – Ein deutsch-russisches Filmprojekt

7

- Zeit und Wunden – Gedenkdienstseminar in Polen

8

- Störche, Stasi und bunte Trachten – Reise nach Weißrussland und Litauen

8

- litauRATURen – Fortsetzung folgt: Übersetzung litauischer Lyrik

9

- Nase hoch beim Übersetzen – Züricher Veranstaltungsreihe Okno mit russischer Kultur MitOst Intern - Das Erreichte im Auge behalten Junge Wege in Europa - Fährtensucherin zwischen West und Ost – „Junge Wege in Europa“ – neue Ausschreibungen Thema: - Ein paar Zahlen vorab – Statistik zum Auslandsaufenthalt Auslandsaufenthalt - Filzstiefel und Sommerfrische – Leben in Sibirien - Zwischen den Kulturen – wie sich ein Auslandsaufenthalt am besten meistern lässt - Harte Landung in Deutschland – was Rückkehrer erwartet

10/11 12 13 14 15 16/17 18

- Ausland ist immer auch Rausland – Flucht aus der Heimat

19

- Du wirst es nie bereuen! – Ein Jahr in Moskau - Highlife oder lieber gut behütet? – Die Qual der Wahl zwischen Gastfamilie und Wohnheim

20 20/21

MitOst e.V.

- Gehen oder Lesen

22/23

Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-,

- Liebe? Überflüssig! – Heiratsagenturen locken ins Ausland

24/25

Ost- und Südosteuropa, gegründet von ehemaligen

- Die vierte Chance – Auslandsaufenthalt ist oft kein Zuckerschlecken

Impressum MitOst-Magazin Heft Nr. 12 | November 2003 Herausgeber:

Stipendiaten der Robert Bosch Stiftung Verantwortlich: Gereon Schuch, Vorstandsvorsitzender MitOst e.V. Schillerstraße 57 D-10627 Berlin [email protected] Projektleitung, Redaktion: Dorothea Leonhardt, München Arndt Lorenz, Dresden/Aachen Korrekturen: Susanne Hausner, Julia Holzem, Volker Joksch,

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- Deutsche Pennergesellschaft – erste Bekanntschaften mit Deutschland

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- Ich war im Ausland – welche Satire sich dahinter verbirgt

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- Keine Spur alltäglich – Schulalltag in der Ukraine Interview - Lernen, mit sich selbst klar zu kommen – ein deutscher Unternehmer in Russland - Das absolute Italien! – Gespräch mit dem in Polen lebenden Kabarettisten Steffen Möller Feuilleton - Versäumte Lektionen – der Historiker L. Boia über rumänische Geschichtsschreibung

28/29 30/31 32/33 34

Robert m. Sobotta, Sabine Toussaint, Alexandra Zander

- Lob der Unvollkommenheit – eine Biographie über den tschechischen Pfarrer S. Karásek

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Titelfoto:

- Im Mittelpunkt der Welt – der Autor J. Andruchowytsch über Galizien

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Reise - Roma-Kinder im Kosovo – eine Reise zu vergessenen Volksgruppen

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Stephanie Kraus, Markus Sedlaczek,

Andreas Metz Gestaltung: Susanne Töpfer, Grafik-Design, Dresden Tel: +49-(0)351-310 22 60 [email protected] Preis: Einzelpreis EUR 3,50, bei Vereinsmitgliedern ist der Bezugspreis im Mitgliederjahresbeitrag enthalten Druck: Union Druckerei Dresden GmbH Auflage: 2.500 Exemplare Wir danken der Robert Bosch Stiftung für die Unterstützung

Feuilleton - Pani Jola verkauft Erleichterung – Polen vor dem EU-Beitritt - Selbstbilder – ein neues Buch stellt Menschen jüdischer Herkunft vor - Solidarität für Russland – die Russland-Kampagne von amnesty international Theodor-Heuss-Kolleg - Ideen verwirklichen – Richtung Südost Lektorenprogramm - 10 Jahre Lektorenprogramm – eine Zugreise - Ausstellungsprojekt „Moj Gorod/Moje Miasto/Meine Stadt“ Kooperationspartner - Angebote, Ausschreibungen und Projekte der Kooperationspartner MitOst Intern - Mitgliedsantrag Leserbrief - Anmerkung zum Heft Nr. 11 Kochrezept - Litauischer Honig-Wodka Lyrik - In Warschau – ein Gedicht von Laurynas Katkus Anmerkung: Einige Texte sind in der originalen Orthographie von Autoren aus Ländern in Mittel- und Osteuropa wiedergegeben.

37 38 39 40/41 42/43 43 44/45 45/46 46 47 48

Foto: Katja Ezel Blick über die Grenze von Görlitz auf Zgorzelec

Grenzen erfahren to: Corinna Lambernd

Katja Ezel, seit 2002 Boschlektorin in Rzeszow/Polen

Heiße Ware, gut gekühlt

Die Teilnehmer des MitOst-Projektes „Grenzorte – Grenzreisen“ machen an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen die Erfahrung, dass Menschen von Grenzen leben, wenn auch auf bescheidenstem Niveau.

PROJEKTINFO Grenzorte und Grenzreisen“, ein rinationales MitOst-Projekt, führte eilnehmer aus der Ukraine, Polen und Deutschland nach Lemberg, Krakau, elenia Gora und Görlitz. Vom 28. April bis zum 4. Mai 2003 wurde das vielschichtige Phänomen „Grenze“ n seiner ganzen Breite thematisiert, rlebt und diskutiert. In Lemberg stand die Grenze zwischen Mann und Frau im Vordergrund, in Krakau erlebten die eilnehmer im Theaterspiel und malend hre Körpergrenzen, in Jelenia Gora und Görlitz drängte sich schließlich der politische Aspekt des Grenzthemas auf. Weitere Informationen: Katja Ezel, k a e z e l @ g m x . d e

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MitOst Nr. 12 | November 2003

Es ist ein drückend heißer Tag, als wir nach drei Projekttagen in Lemberg (Ukraine) in den Zug nach Polen steigen, um über Przemy´sl nach Krakau weiter zu reisen. Zuvor gilt es jedoch, die Bahnbeamtin zu besänftigen, die sich im quirligen Gewimmel des Lemberger Bahnhofs fauchend vor unserer Gruppe aufbaut. Reservierungsscheine? Daran hatten wir nicht gedacht, was ich nun angesichts der uniformierten Gefahr schwer bereue. Nach langem Hin und Her lässt sie uns schließlich in den Zug. Es gibt ein Abteil, für das keine Platzkarten nötig sind, was noch lange nicht bedeutet, dass es tatsächlich Platz für uns gibt. Das Abteil ist vom grau verschmutzten Boden bis unter das gewölbte Zugdach vollgestopft mit Waren: Paletten von Wodka lassen die kleinen ausklappbaren Zugtischchen fast zusammenbrechen, Unmengen von Gardinenrollen belagern die Sitzbänke, überall liegen Zigarettenstangen. Die Besitzer der Waren rücken aber, als sie uns sehen, höflich zur Seite. Wir nehmen den Platz dankbar an, aber das Glücksgefühl hält nicht lange vor. Da sich die Fenster nicht einen Spalt breit öffnen lassen, gleicht die Temperatur im Zug der einer Sauna, nur dass es dort nach Tannennadeln riecht. Im Zug von Tannengeruch keine Spur – Schweiß vermischt mit ukrainischer Knoblauchwurst strapaziert unsere Geruchsnerven. Bald rinnt auch uns der Schweiß in Bächen vom Körper. Dabei sitzen wir nur da, schauen und können nicht glauben, was wir sehen: Sämtliche Mitreisende im Abteil kleben ihre Gardinenrollen möglichst kunstvoll mit Paketklebeband zu. Mir war bisher nicht klar, welch Gänsehaut erregendes Geräusch das Abziehen von Klebeband erzeugt. Auf meine Frage, was die Klebeaktion bringe, erklärt man mir, dass die Rolle, in deren Hohlraum Wodka oder sonstiges Schmuggelgut versteckt sei, so gut zugeklebt werden müsse, dass es den polnischen Zollbeamten zu blöd sei, sie zu öffnen. Klingt logisch und das Geräusch ist nun besser zu ertragen. Langsam zeigen wir uns solidarisch mit den schmuggelnden Mitreisenden. Nicht, dass das Rechtsbewusstsein bei verknappter Luftzufuhr abnimmt – die Schmuggler sind allesamt sehr sympathisch. Trotz der Arbeit haben sie Zeit für ein Schwätzchen mit uns. Mein Gesprächspartner interessiert sich für den Kilopreis für Walnüsse in Deutschland und die Möglichkeiten, deutsche Zollbeamte zu bestechen. Ungern glaubt er, dass ich mit beidem keine Erfahrung habe. Nachdem die Gardinenrollen besser verpackt sind, als es Christo jemals gelingen würde, kommen die Zigarettenstangen an die Reihe. Alle Mitreisenden im Abteil beginnen, sich auszuziehen. Allerdings nicht wegen der Hitze, sondern um sich die Zigarettenpäckchen sorgfältig um den Körper zu binden. In ein, zwei oder sogar drei übereinander liegenden Schichten. Inzwischen haben wir die Grenze auf der ukrainischen Seite erreicht. Ukrainische Zollbeamte kontrollieren die Pässe, während die Schmuggler unbeeindruckt weiter kleben. Dann ein erschrockener Schrei „Polacy“. In Sekundenschnelle verschwindet, was verschwinden kann, unter den Sitzen und in karierten Riesentaschen. Ein Kind wird noch schnell gekämmt, der angebliche Vater zieht Anzug und Krawatte über die Zigarettenschichten und die Mutter pudert sich frisch. Eine richtig gediegene Familie, nicht fürs Familienfoto, sondern für den Grenzübertritt frisiert. Dann kommen die gefürchteten „Polacy“, werfen einen kurzen Blick in die Pässe und der Zug fährt in Przemy´sl ein. Dort müssen alle Reisenden aus der Ukraine durch die Zollabfertigung. Hier entscheidet sich, ob ein gekämmtes Kind die polnischen Zollbeamten von den ausgebeulten Röcken, Hosen und Jacken ablenkt.

PROJEKTE 2003 Foto: Monika Kozaczka

Kwass, Kaviar und leere Kartons

Almut Ingelmann, 1998/1999 Boschlektorin in Karviná/Tschechien, pädagogische Mitarbeiterin im Bereich Weiterbildung

Was ist das? Es findet in der Regel im Freien statt. Auf Tischen, manchmal auch auf notdürftig dafür hergerichteten Kisten wird eine bunte Vielfalt unterschiedlicher Waren angeboten. Und es riecht gut, verdammt gut. Ja richtig, das ist ein Markt. Das Phänomen „Markt“ scheint international zu sein oder vielleicht auch nicht. Das dachten zumindest die Nowosibirsker Marktleute: „Warum fotografieren die den Markt, kennen die so was nicht?!“ warfen sie sich auf Russisch zu, nachdem sie ins Visier unzähliger Kameraobjektive geraten waren. Für sie stand fest: Den Deutschen ist das unbekannt. Irgendwie hatten sie damit recht, aber irgendwie auch wieder nicht. So was nennt man Fremdheitserfahrung. Wo gibt es in Deutschland schon Kwass? Das aus gegorenem Brot hergestellte Erfrischungsgetränk wird aus riesigen, schmutzig-gelben Fässern ausgeschenkt. Es prickelt leicht auf der Zunge und hinterlässt einen säuerlichen Geschmack. Der ideale Durstlöscher bei sommerlichen Temperaturen! Gesundheitsbewusste Deutsche kennen Kwass auch unter dem Namen „Brottrunk“. Sie müssen diesen allerdings teuer aus dem Reformhaus beziehen und können sich sicher sein, dass er von allen schmackhaften Bestandteilen, wie etwa Gewürzen und Alkohol, befreit ist. Eben ein typisch deutsches Ökoprodukt.

Foto: Kamila Nevludova

PROJEKTINFO Vom 24. Mai - 16. Juni 2003 fand die

Fisch und vor allem Kaviar gibt es natürlich in rauen Mengen. Der Begriff Kaviar geht auf den iranischen Volksstamm der Khediven zurück. Das Störei hieß bei ihnen Cahv-Jar und bedeutete „Kuchen der Freude“. Aber woher weiß die hilflose Konsumentin, welcher „Kuchen der Freude“ der beste ist? Da hilft nur der Selbstversuch. Der Rote hat dann mit seinem kräftigen, würzigen Geschmack das Rennen gemacht.

Studienreise „Sibirien“ statt. MitOst-Mitglieder konnten sich für bis zu drei „Bausteine“ bewerben: 1 Woche Anreise mit der Transsib, Kulturund Begegnungsprogramm in den Städten

Und die Nowosibirsker Marktleute? Verstört waren sie nicht nur durch die unerklärliche Fotografierwut der Fremdlinge, sondern auch durch deren abstruse Wünsche. So gerieten kirgisische Marktleute ins Staunen, als sie gebeten wurden, einen Karton mit getrockneten Aprikosen zu leeren. Nicht für die Aprikosen, nein für den buntbedruckten Karton selbst sollten sie den stolzen Betrag von 100 Rubel erhalten. Ihren Gesichtern war anzusehen, dass sie sich bis dahin nicht bewusst gewesen waren, ein wertvolles Sammlerobjekt zu besitzen. Ein besseres Geschäft haben sie an diesem Tag wohl nicht mehr gemacht.

Nowosibirsk und Tomsk, Übernachtung teilweise in Gastfamilien; 1 Woche Irkutsk und Baikalsee, interkultureller Workshop mit russischen Teilnehmern, Einblicke ins russische Arbeitsleben, Ökologie am Baikal; 1 Woche Baikalinsel Olchon, Burjatische Kultur, Trekking, Natur, Erholung.

Übrigens: Wer über einen sibirischen Markt streift, sollte auf jeden Fall Zedernnüsse, jungen Farn und die georgische Spezialität „Tschurtschcheda“ probieren. Was sich hinter diesem unaussprechlichen Wort verbirgt? Ja, wenn das keine Reise nach Sibirien wert ist.

Die Reise führte 16 MitOstler aus 4 Ländern in eine Region, die eigentlich gar nicht mehr zu Osteuropa gehört. Sibirien ist widersprüchlich, es schreckt ab durch eine geballte Portion Jahrhunderte alter

Der erfahrene Spezialveranstalter für Russland und GUS seit über 20 Jahren

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Foto: Kamila Nevludova

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Gruselklischees. Aber gleichzeitig lockt es mit ebenso ewigen Bildern von Freiheit, Weite und Natur. Die Klischees sitzen tief, deswegen erscheint Sibirien vielen heute fremder als die meisten anderen Regionen der Welt. Die Reise wurde gefördert aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung und der DeutschRussischen Gesellschaft e.V. in Pforzheim. Zusätzliche Unterstützung leisteten das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Nowosibirsk und die Fluggesellschaft SibAvia.

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Weitere Informationen: Heike Mall und Roger Just, j j h r @ i r k . r u

PROJEKTE 2002

Lasset uns singen, tanzen und springen ...

otos: Ales Cernohous, Eda Cupak PROJEKTINFO Die 5. Sommerakademie unter dem

Frank Weiße, musizierender, dichtender, kulturorganisierender Deutschlehrer mit Projekthaus

Motto „Gleichgewicht. Nicht immer einach im selben bleiben, denn ...“ fand om 9. bis 23. August 2003 in Rychnov m Fuße des Adlergebirges/Tschechien statt. An der Veranstaltung nahmen insgesamt 174 Personen teil: Organisatoren, Helfer, Mitarbeiter des Info-Zentrums, Webmaster, Dolmetscher, Workshopleiter, Küchenkräfte, Beleuchter, Tonmeister und natürlich die Teilnehmer. Auch viele inheimische nutzten die Gelegenheit,

Die 5. Internationale Sommerakademie MEZIUM Rychnov 2003 war das größte Mit OstProjekt in diesem Jahr. Insgesamt glänzte die Veranstaltung mit 29 Kursen, von denen eine kleine Auswahl hier beleuchtet werden soll. Bereits zum fünften Mal waren dabei: Dr. Richard Rothenhagen von der Pädagogischen Universität Brno als Chefdolmetscher, Deutschlehrer und Übersetzer sowie Florian Tilzer, einer der geistigen Väter der Sommerakademie, der als Regisseur der Abschlussveranstaltung seine Schüler auch nicht mit Fischers Fritzen in Cottbusser Postkutschen und anderen Zungen(zer)brechern verschonte.

die insgesamt 29 Kurse zu besuchen. Unterstützt wurde das Projekt auch von der Robert Bosch Stiftung, der Deutschen Botschaft in Prag, dem TschechischDeutschen Zukunftsfonds, der Stadt Rychnov und vielen anderen. m nächsten Jahr findet die 6. Internationale Sommerakademie MEZIUM Rychnov vom 17. Juli bis zum 8. August 2004 statt. Weitere Informationen und Anmeldung ür das MEZIUM Rychnov 2004: [email protected]

Der unzerbrechliche Vater Klaus Tilzer als guter Flaschengeist formte Durchsichtiges und kam mit seinem Glasworkshop auch beim fünften Male gut zum Zuge. Er brannte mit seinen Teilnehmern so ˇ manche Nacht hindurch. Katerina Linhartová, 1999 seine Schülerin, kam bereits zum zweiten Male als Workshopleiterin. Ihre Teilnehmer malten, was das Glas hielt, und außerdem noch eine Seide nach der anderen, so dass die begleitende Ausstellung gut betucht war. Offensichtlich: der Unsichtbare-Theater-Regisseur (Name s.o.) zum fünften Male überall und nirgends zu sehen, nebenbei der Hauptorganisator des Ganzen, war mit Schreibkursteilnehmern intuitiv unterwegs, die ihre real entstandenen Texte in ein Buch einbinden konnten. Dass jenes Buch diesen Namen verdient, verdankt man der Binderin Ivona Gazdíková, die auch theoretische Vorträge verbuchen konnte. ´ Dieser Sommer war der heißeste seit 500 Jahren, nicht zuletzt vielleicht wegen Ivo Novotnys ˇ Keramikbrennofen. Lad’a Valásek, mit seinem kleineren Ofen nicht etwa E-Mails gestaltend, aber Emaille formend, weiß, dass es auch bei ihm heiß herging. Wohl fühlte sich bei dem Wetter auch Thomas P. Sunar, der aus Griechenland gefahren kam, um sich bei „Yoga meets Tantra“ nicht eben abzukühlen. Uta Kühn aus Deutschland nannte ihren Workshop anstelle von Bauchtanz „Orientalisch tanzen“, weil frau ja nicht nur mit dem Bauch tanzt. Was die Teilnehmerinnen abschließend ganzkörperlich vortanzten, diente ebenfalls nicht der Abkühlung. Ein MEZIUM-Höhepunkt waren zweifellos die 17 Schlangen, die längste ca. 8 m lang, 72 kg schwer, des Artisten Rainer Scheller, der meint, Gleichgewicht sei zum Leben relativ wichtig und schaffe man es, indem man Balance hält und niemanden aus dem Gleis wirft. Denn wenn man in der Schlange steht, ist es zu spät.

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MitOst Nr. 12 | November 2003

Jeden Abend gab es im Stadttheater von Rychnov und einer Kirche Konzerte und Vorführungen: Musik des Volkes Canki, afrikanische Trommelmusik, indische Sitar-Musik, ein Konzert mit dem elektronischen Dudelsack, Lesungen, Tanz, fünf Schlangenshows, Vorführungen einer Luftartistin – und natürlich die furiose Abschlussveranstaltung. Dies und vieles andere wird uns in guter Erinnerung bleiben.

PROJEKTE 2003

Doswidanija Berlin – Ein deutsch-russisches Filmprojekt

Jewgenij Muratow, Fotograf, und Torsten Wenzel, Student der Geschichte, Germanistik und der Medienwissenschaften

Fotos: Jewgenjs Muratow PROJEKTINFO: Junge Russen und Deutsche sollten über

Die zwei Städte Berlin und St. Petersburg - dazu zwei Personen, deren Leben eng mit diesen Orten verknüpft ist. Der Petersburger Sergej kommt nach Berlin, um dort Geschichte zu studieren. Sandra aus Berlin wiederum reist in die russische Stadt an der Ostsee, um ihr freiwilliges soziales Jahr in einem Kinderheim abzuleisten. Beide verlassen ihre Heimat zum ersten Mal und müssen sich im Ausland zurechtfinden. Besonders die Sprache führt zu großen Schwierigkeiten. Ob beim Einkaufen oder auf der Post – Verwechslungen und Missverständnisse sind unvermeidlich.

Dreharbeiten zusammengeführt werden und einen Film über das „Fremdsein im Ausland“ produzieren. Der fiktionale 20minütige Kurzfilm wurde im Sommer 2003 in Berlin und St. Petersburg aufgenommen. Zum Drehteam gehörten 15 Schüler, Studenten und Berufstätige. Insgesamt beteiligten sich 40 Leute am Zustandekommen des Filmes, neben

So die Handlung eines Filmprojektes von jungen Russen und Deutschen, das vom Fremdsein im Ausland erzählt. Gezeigt wird die Konfrontation mit einer neuen Kultur und Sprache, das Auf-SichAllein-Gestellt-Sein in einer fremden Umgebung, das Knüpfen der ersten Kontakte und Freundschaften. Der Film macht das mit skurrilen, teils dramatischen Szenen deutlich. Die beiden Städte werden abseits von Stereotypen und Klischees dargestellt. Nicht die bekannten Wahrzeichen und schönen Fassaden sollten als Schauplätze dienen, sondern Orte, die kaum wahrgenommen werden, wie z. B. Hinterhöfe. Die Dreharbeiten gestalteten sich manchmal schwierig. In St. Petersburg hatte das Team mit der russischen Bürokratie zu kämpfen. So gelang es nicht, Genehmigungen für alle gewünschten Drehorte zu bekommen, was zum Improvisieren zwang. Die Projektteilnehmer übernahmen während des Filmens spezielle Aufgaben wie Ton, Licht, Ausstattung oder Kamera, um Erfahrungen zu sammeln. Ingesamt wurde an 20 Tagen zum Teil bis zu 10 Stunden täglich gedreht. Das Filmen in den zwei verschiedenen Städten und Ländern bedeutete eine enorme Organisationsleistung im Vorfeld. Drehbuch und Drehplan mussten ausgearbeitet, Technik und Requisiten beschafft, Drehgenehmigungen eingeholt sowie die Reise und Unterbringung für die Teilnehmer organisiert werden. Der Film soll zeigen, wie wichtig es ist, sich gegenüber einer neuen Kultur zu öffnen und mit Unvoreingenommenheit auf die Dinge zuzugehen. Besonders Jugendliche ohne Auslandserfahrungen sollen durch das positive Filmbeispiel ermutigt werden, auch einmal den Gang in die Fremde zu wagen.

Russen und Deutschen auch Franzosen, Georgier, Spanier und Brasilianer. Die Produktion soll auf mehreren Filmfestivals in Deutschland und Russland zu sehen sein. Unterstützt wurde das Projekt auch von der Flick-Stiftung und der Stiftung West-Östliche Begegnungen. Weitere Informationen: [email protected]

MitOst Nr. 12 | November 2003

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PROJEKTE 2003

Zeit ohne Wunden, Wunden ohne Zeit – heilt die Zeit alle Wunden? Eine Auseinandersetzung mit dem jüdischen Leben in Polen einst und heute

„Der Beginn von Auschwitz fängt damit an, wenn ich jemandem das Gefühl gebe, weniger wert zu sein. Das ist die Straße nach Auschwitz.“ Einige Tage später zeigte uns Offen seine „Erfahrungsorte“, wo er 1944 fast drei Monate interniert war. Der nach Kalifornien emigrierte Offen kümmert sich dann in Führungen und Rundgängen um ein erweitertes Geschichtsverständnis. Er setzt dabei auf Dialog und kritische Rezeption statt auf bloßes touristisches Besuchen von Auschwitz. Und man merkt es ihm an: Die Vergangenheit hinterlässt Spuren bis heute. Beim Betreten der Holzbaracke 5, seiner ehemaligen „Wohnstätte“, macht er zaghafte Schritte und erklärt verhalten: „Ich hatte viele Engel, die mir halfen.

Marianne Heinzlmeier, Journalistin

Niemals blickte ich jemandem in die Augen“. Aber: „Everything goes on.“ Diese Form der Aufarbeitung treibt ihn seit 1981 immer wieder für einige

Vor dem 2. Weltkrieg lebten gut 70.000 Juden im jüdischen Viertel Kazimierz in Krakau. Aus dem Ghetto und dem KZ kehrten nur 3.000 zurück. Inzwischen zählen sich 5.000 jüdische Bürger zu den Mitgliedern der religiösen Gemeinschaften. Weitere 20.000 leben eher unauffällig.

Monate zurück in die alte Heimat. Seine tätowierte Lager-Nummer erinnert ihn permanent daran. Wohl aber nicht mehr mit dem Gefühl: Eine Nummer zu sein. Beliebig austauschbar. Be-Zeichnend. PROJEKTINFO In Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Auslandsdienst organi-

Als wir mit dem Holocaust-Überlebenden Bernard Offen einen knapp

sierten Anna Sosna und Miroslaw Gugula für MitOst-Mitglieder im

siebenstündigen Marsch von Kazimierz beginnend durch das ehemalige

dritten Gedenkdienst-Seminar in Südpolen (23.-31. Juli 2003) die Teil-

Krakauer Ghetto in Podgórze und das KZ Plasów antreten, wird die

nahme am Themenkomplex „Schoah (Holocaust) und ostjüdische

Verwahrlosung und Missachtung jüdischer Kultur überaus deutlich. Oder

Kultur“. Teilnehmer aus Österreich, Deutschland, Polen, der Slowakei

wie kann man sich sonst erklären, dass das einstige KZ-Gelände als Picknick-

und Russland setzten sich in Vorträgen, Diskussionen und Stadtführungen

und Motocross-Gelände missbraucht wird. Eigentlich ein Friedhof, noch

mit Holocaust-Überlebenden auseinander und informierten sich in

dazu mit einem überdimensional großen Kreuz samt Dornenkrone ver-

Filmen und Workshops über die Geschichte von 1933-1945 sowie

sehen. Bernard Offens Meinung dazu: „Wer leidet eigentlich mehr? Die

über die gegenwärtige jüdische Lebensweise. Veranstaltungsorte

Polen, die Juden…?“

waren Krakau, Tarnów und Nowy S˛acz sowie Auschwitz-Birkenau.

„A Journey of Witnessing and Healing“ nennt Bernard Offen seinen per-

Weitere Informationen.

sönlichen Aufarbeitungsprozess und plädiert gleichzeitig für das sensi-

Marianne Heinzlmeier, s o n n e n b l u m e _ m a r i a n n e @ g m x . d e

ble Wahrnehmen diskriminierender Äußerungen auf kleinstem Nenner:

Störche, Stasi und bunte Trachten – Reise nach Weißrussland und Litauen

Glücklicherweise gab es auch schönere Eindrücke: Am nächsten Morgen ging es auf Landpartie ins weißrussische Umland: sonnige Eichenalleen, Seen und Flüsse mit badenden Kindern, Schlösser und Burgen, katholische und orthodoxe Kirchen, heilige Quellen und heidnische Kultstätten mit ihren Legenden hinterließen bei uns einen unvergesslichen Eindruck. Auf den Kriegsfriedhöfen suchte ich unwillkürlich nach mir bekannten Namen. Auch in Nida an der Kurischen Nehrung ertappte ich mich wieder bei dieser

Saskia Dau, Psychologin

Beschäftigung. Die deutschen Teilnehmer waren scheinbar mehr von den verstaubten Gräbern beeindruckt als von der schönen Umgebung an der Ostsee. Unser Projektabschluss wurde würdig im Thomas-Mann-Haus

Das Projekt ermöglichte den Teilnehmern eine Reise mit unter-

gefeiert. Am Kamin werteten wir gemeinsam unser Projekt bei Wein und

schiedlichsten Eindrücken. Es gab mehrere Anlaufstationen: Weißruss-

Käse aus, es war ein voller Erfolg!

land mit seiner Hauptstadt Minsk und dem wunderschönen, romantischen Umland mit vielen Sümpfen und Storchennestern, Litauen mit seiner Hauptstadt Vilnius und letztlich die Kurische Nehrung an der Ostsee.

PROJEKTINFO Ziel der MitOst-Mitgliederreise war das Kennenlernen der belorussis-

Weißrussland und Litauen sind geschichtlich stark miteinander verbun-

chen, litauischen und polnischen Kultur. Die Teilnehmer aus ver-

den. Um so stärker wirkt auf den Besucher der derzeitige politische Unter-

schiedenen Ländern setzten sich dabei auch mit dem Leben der

schied beider Systeme, welcher sich auch im alltäglichen Leben der Bür-

Minderheiten in den jeweiligen Staaten auseinander. Bei Gesprächen

ger bemerkbar macht. Litauen, westlich orientiert, bereitet sich auf die

mit Künstlern und Wissenschaftlern wurden interessante Einblicke in

Europäische Union vor. Bei der 750-Jahrfeier der Stadt Vilnius anlässlich

den Alltag der Menschen dieser Regionen gegeben.

der Krönung von Mindaugas, des ersten Königs von Weißrussland und

Weitere Informationen:

Litauen, bestaunten wir die fröhlichen Menschen in ihren bunten Trachten,

Saskia Dau, s a s k i a _ d a u @ y a h o o . d e

die überall tanzten und sangen. Trotz der nationalen Volkstümlichkeit war eine gewisse Internationalität zu spüren. Im Gegensatz zum bunten Treiben in Litauen beeindruckte uns in Minsk eine nächtliche Militärparade. Streng marschierten die jungen Soldaten im Takt und übten für den „Tag der Befreiung durch die Rote Armee“. Dieser Nationalfeiertag zelebriert die Befreiung der Stadt Minsk von den deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Uns befiel eine beängstigende Faszination. Einige Meter weiter, die Hauptstraße aufwärts, kann man das alte Gebäude der Staatssicherheit bewundern. Noch am gleichen Abend stand ich vor diesem Haus und wollte gerade ein Foto machen, als mich ein steinaltes Mütterchen auf Russisch ansprach: Ich solle ein Foto vom dunklen Kellergewölbe machen, denn wer da reinkomme, sehe nie wieder das helle Tageslicht!

Kurische Nehrung – Was ist hier verboten ?

litauRATURen – Fortsetzung folgt Junge litauische Lyrik in deutscher Übersetzung Fotos: Viktor Kalinke Laurynas Katkus

• Silke Brohm, 1997 Kultur- und Sprachassistentin des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in Klaip eda und Silute/Litauen, derzeit Promotion

In diesem und im letzten Jahr wurden über den MitOst-Soforthilfe-Pool Theateraufführungen im Rahmen des „off-beats-Festival für experimentelle Kunst aus Litauen“ mitfinanziert (s. MitOst-Magazin Nr. 11). Kleine Ursache – große Wirkung: aus dem Festival entstand die Idee, einen Gedichtband mit junger litauischer Lyrik herauszugeben. Der Gedichtband entstand ohne finanzielle Unterstützung von MitOst, aber es würde ihn ohne die Mitfinanzierung des Festivals durch den Soforthilfe-Pool kaum geben. Als wir im September 2002 das „off-

gebiet. Das eigene Leben, vor und nach der politischen Wende, verwebt

beats-Festival für experimentelle Kunst

sich mit dem historischen Geschehen zu einer privaten Weltgeschichte,

aus

Lesung

die intime Einblicke in das Woher eines jungen Europäers gewährt. Ein

eröffneten, ahnten wir nicht, dass fast

kleiner Vorgeschmack findet sich am Ende dieser Ausgabe des Magazins.

Litauen“

mit

einer

80 Leute den Weg in den Berliner Kunstverein ACUD finden würden, um

Weitere Informationen zu off-beats:

den deftigen „Deutsch als Fremd“-

Silke Brohm, off-beats-Verein für Kulturkontakt,

Dialogen von Arna Aley, einer in Berlin

[email protected]

lebenden litauischen Dramatikerin, und Gintaras Grajauskas

den leisen Tönen des Klaipedaer

Mehr zu den Büchern unter w w w. e r a t a . d e .

Dichters und Musikers Gintaras Grajauskas zu lauschen. Der Erfolg der Veranstaltung und das große Interesse an mehr Texten in deutscher Übersetzung bestärkten uns, über den Rahmen des Festivals hinaus in Sachen Veröffentlichung aktiv zu werden, auch wenn klar war, dass

DER SOFORTHILFE-POOL

diese bis zur kurz darauf stattfindenden Buchmesse in Frankfurt nicht mehr zustande kommen würde.

Viele Projekte müssen langfristig geplant werden. Die Anmeldezeit dafür beträgt oft mehrere Monate oder gar Jahre. Um

Erfreulicherweise fanden wir in der Leipziger Edition Erata einen Partner,

jedoch spontane Aktionen besser unterstützen zu können, rief der

der sich als kleiner Verlag nicht vor dem „Zuschusssektor“ Lyrik (und

MitOst-Verein 2002 einen „Soforthilfe-Pool“ ins Leben. Hier

auch nicht vor „unverständlicher“ litauischer Lyrik) scheute. In Zusammen-

können MitOst-Mitglieder ohne komplizierte Antragsverfahren

arbeit mit Books from Lithuania, einer staatlichen Institution, die sich

dringend benötigtes Geld für kleinere Initiativen beantragen. Im

um die Verbreitung litauischer Literatur im Ausland kümmert, konnten

Jahr 2003 wurden folgende Projekte unterstützt:

zur Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2003 zwei Bände mit litauischer Poesie in zweisprachigen Ausgaben präsentiert werden.

Filmseminar Kino der moralischen Unruhe und der moralischen Beunruhigung (Krakau/Polen)

Gintaras Grajauskas, von dem wir im letzten MitOst-Magazin eine Kostprobe lesen konnten, balanciert leichtfüßig-tiefsinnig auf dem schmalen Grat lakonischer Melancholie, ohne in trashigen Zynismus oder ins Privat-Depressive abzugleiten. Stattdessen strahlen die Texte Ruhe und Gelassenheit aus und überraschen immer wieder durch ihre in feine Ironie und Klarheit gesetzte Einsicht in die Dinge. Hier hat jemand sein Metrum auch ohne klassische Metrik gefunden.

Podiumsdiskussion „Frankfurt/Oder liegt an der Seidenstrasse“ (Deutschland) Übersetzungsworkshop in Nida (Litauen) MitOst-Salon Sprach- und Kulturbörse Berlin (Deutschland) off-beats2 Experimentelle Kunst aus Litauen, Weißrussland und Kaliningrad in Berlin (Deutschland)

Ganz anders Laurynas Katkus (1972 geboren), der als Vertreter einer neuen Dichtergeneration aus Vilnius gilt. In seinen „Tauchstunden“

Weitere Informationen zum Soforthilfe-Projekt:

beschreibt er mit kraftvollen Bildern das Aufwachsen in der Sowjetunion

[email protected]

zwischen Indianergeheul und Panzerparade, Punkkonzert und NeubauMitOst Nr. 12 | November 2003

9

PROJEKTE 2003

Die Organisatorin Arina Kowner (li.) stellt Swetlana Geier (re.) vor

Foto: Sabine Witt

Nase hoch beim Übersetzen Ulrich Schmid, Professor für Slawistik in Bern

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Okno – Fenster zur russischen Kultur“ führte Swetlana Geier, die „grande dame“ der russisch-deutschen Kulturvermittlung, ein großes Publikum in die Welt der russischen Märchen ein. Die Übersetzerin ließ dabei ihr ganzes Charisma spielen, das auch in ihren Literaturübersetzungen zum Tragen kommt. Swetlana Geier verfügt über eine enorme Präsenz im Raum. Mit ihren bald achtzig Jahren geht sie zwar leicht gebückt, spricht aber mit einer geistigen Energie, von der manch Dreißigjähriger träumen könnte. Ihre hellen blauen Augen mustern jedes Gegenüber kurz; wenig später signalisiert ein kurzes Aufblitzen der Pupillen, dass sie sich ein Bild von ihrem Gesprächspartner gemacht hat. Swetlana Geier strahlt jene gütige Strenge aus, die als Grundlage jedes Charismas gelten darf. Ihre Menschenkenntnis hat Swetlana Geier während eines ebenso ungewöhnlichen wie abenteuerlichen Lebens erworben. 1923 wurde sie in Kiew geboren. Die eine Großmutter hatte die prestigereichste Ausbildung absolviert, die im vorrevolutionären Russland für Frauen überhaupt möglich war, die andere Großmutter konnte weder lesen noch schreiben. Swetlanas Eltern boten ihr eine glückliche Kindheit in der Ukraine – sofern von Glück während der grausamen stalinistischen Kollektivierung überhaupt die Rede sein konnte. Bereits in ihrer Kindheit erhielt sie von einer Hauslehrerin aus Bromberg Deutschunterricht. Von ihr übernahm sie zunächst nicht nur den ostpreußischen Akzent, sondern auch 10

MitOst Nr. 12 | November 2003

die wichtigsten Regeln des Übersetzens. „Nase hoch!“ – lautete die Devise: Beim Übersetzen dürfe man nicht an der Reihenfolge der Wörter oder am Satzbau kleben. Auch heute noch plädiert Swetlana Geier dafür, das Ganze zu überblicken und vor diesem Hintergrund einen Text in der anderen Sprache zu rekonstruieren – nicht sklavische Nachahmung, sondern ein gültiger Ausdruck des Originals in der Zielsprache sei das Ziel einer literarischen Übersetzung. Swetlana Geier vergleicht das Übersetzen mit einer musikalischen Interpretation: „Auch ein Geiger muss den Schlussakkord kennen, bevor der den Bogen ansetzt – sonst stimmt das ganze Stück nicht.“ An einem Samstag im Jahr 1941 schloss Swetlana ihre Schulausbildung ab, am Sonntag marschierten die Deutschen in Kiew ein. Die Mutter arbeitete als Köchin, Swetlana dolmetschte für das „Reichskommando Süd“. Dort wurde man bald auf die sprachbegabte Russin aufmerksam und bot ihr ein Stipendium in Deutschland an, das sie sich zuerst aber durch harte Arbeit verdienen musste. 1943 wurde Swetlana mit ihrer Mutter in ein Ostarbeiterlager nach Dortmund überführt, wo alle Russen als Erkennungszeichen eine blaue Raute tragen mussten. „Ich habe mich geschämt“, sagt Swetlana Geier, „– für die Deutschen. In ihrer aggressiven Rassenpolitik war ihre große Bildungstradition völlig untergegangen.“ Im selben Jahr erhielt Swetlana in Berlin einen Pass für Staatenlose und ein Alexander von Humboldt-Stipendium, mit dem sie ihr Philologiestudium in Freiburg im Breisgau antrat. Dort gründete sie eine Familie, dort arbeitete sie als Russisch-Lektorin an der Universität, und dort begann sie russische Literatur zu übersetzen. Aus Russland hatte sie zwei Jahrgänge einer exklusiven symbolistischen Zeitschrift nach Deutschland mitgenommen und war dort auf Erzählungen von Leonid Andrejew gestoßen, die sie ins Deutsche übertrug. Zunächst von Hand – allerdings erschien ihr ihre Handschrift nicht fremd genug, deshalb tippte sie den Text nochmals ab und korrigierte dann die maschinengeschriebenen Blätter. Am Übersetzen interessiere sie eigentlich am meisten der Verlust, „das, was nicht geht,“ sagt Swetlana Geier noch heute – nach der Veröffentlichung von über dreißig Büchern: Sie hat Tolstoj übersetzt, die Modernisten Belyj und Bulgakow, den „russischen Kafka“ Platonow, die Nobelpreisträger Bunin und Solschenizyn sowie das Gesamtwerk von Andrej Sinjawskij. Mit ihrem jüngsten

Projekt hat sie ihren eminenten Rang in der russisch-deutschen Kulturvermittlung auf beeindruckende Weise bestätigt. Seit 1990 übersetzt Swetlana Geier die großen Romane von Dostojewski neu – in diesem Herbst erscheinen die „Brüder Karamasow“. In ihren Texten gelingt es Swetlana Geier, die harte Fügung von Dostojewskijs Sprache in ihrer ganzen Widerborstigkeit im Deutschen fühlbar zu machen. Die Arbeit der Übersetzerin ist aber immer eine Arbeit im Hintergrund. Swetlana Geier vergleicht ihre Kunst mit der Praxis mittelalterlicher Steinmetze, die an einem grandiosen Bau heimlich Verzierungen anbrachten. Dasselbe gelte für den übersetzen Text: „Man sitzt und weiß: Niemand wird es sehen, nicht einmal der Lektor.“ Der Artikel wurde in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht.

„okno – Fenster zur russischen Kultur“ ist eine Veranstaltungsreihe, die in verschiedenste Facetten russischer Kultur Einblick geben soll. Okno schließt eine Lücke in der kulturellen Landschaft der Schweiz. Seit der ersten Veranstaltung finden sich jeweils 80 bis 100 Gäste zu den einmal monatlich stattfindenden Veranstaltungen ein. An einigen beteiligt sich Sabine Witt für MitOst. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem „Arina Kowner KulturAtelier“ durchgeführt. Die erste OknoVeranstaltung gab es im Mai 2002 mit einer Lesung von W. Kuprijanow. Weitere MitOst-Veranstaltungen bei Okno waren: 06.10.2002 Literatur zwischen Staatskultur und Verschwörungstheorien Podiumsrunde über das Verhältnis zwischen Literatur und Macht in Russland u.a. anhand des Romans „Der himmelblaue Speck“ von W. Sorokin. Teilnehmer: Michail Berg (Literaturkritiker und Schriftsteller, St. Petersburg), Schamma Schahadat (Slawistin, Universität Konstanz), Ulrich M. Schmid (Slawist, Universität Basel) und Dorothea Trottenberg (Slawistin und Übersetzerin). 26.01.2003 Anna Achmatowa – Alexander Lokschin. Literarisch-musikalische Anspielungen Der von der Dichterin Anna Achmatowa in den Jahren 1935–1940 geschaffene Gedichtzyklus „Requiem“ wurde von Alexander Lokschin in seinem Opus „Mater Dolorosa“ vertont. Der Klavierauszug wurde interpretiert durch den Pianisten Boris Chnaider (St. Petersburg/ Basel) und die Sängerin Tatjana Polt Lutzenko (Kiew/Basel). Die

Unterstützen Sie uns! MitOst ist ein gemeinnütziger Verein, der sich aus Fördergeldern, Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. Die MitOst-Erfolgsgeschichte lebt vom ehrenamtlichen Engagement der über 900 Mitglieder in mehr als 20 Ländern. MitOst wächst – und damit auch die Zahl der zukunftsweisenden Projektideen. Mit Ihrer Hilfe wollen wir möglichst viele dieser wertvollen Initiativen in die Tat umsetzen. Ihre Spende ermöglicht, dass junge Menschen von Köln bis Kaliningrad, von Novi Sad bis Novosibirsk auch weiterhin kleine und große Brücken zwischen Ost und West bauen können. Was wird durch Ihre Spende möglich? MitOst-Projekte überschreiten politische und kulturelle Grenzen. Sie leisten Basisarbeit, verbinden Menschen und Regionen, stiften tragfähige Beziehungen zwischen alten und neuen Nachbarn. Nähere Informationen zu den Projekten erhalten Sie auf den vorhergehenden Seiten des MitOst-Magazins. Im Internet (www.mitost.de) gibt es außerdem ausführliche Dokumentationen unserer ehrenamtlichen Kultur- und Begegnungsarbeit seit 1997. Mit Ihren Fragen und Anregungen können Sie sich auch gern telefonisch oder per E-Mail an uns wenden.

Schauspielerin Lilly Friedrich las den Gedichtzyklus auf Deutsch. 23.02.2003 Felix Philipp Ingold und sein Russland In einer Diskussion mit dem Slawisten Ulrich M. Schmid sprach Felix Philipp Ingold über seine Leidenschaft für Russland und die Bedeutung der russischen Literatur für sein eigenes Schaffen. Er zeigte verschie-

Jede Spende trägt zum Gelingen eines MitOstProjekts bei! Projektkonto: MitOst e.V., Deutsche Bank Berlin, BLZ 100 700 24, Konto-Nr. 101 50 15 00, Stichwort „Projektspende“

dene Facetten seiner Übersetzertätigkeit an Gedichten von O. Mandelstam, M. Zwetajewa, G. Ajgi und las aus seinen neuesten Gedichtbänden. 13.04.2003 Swetlana Geier und das russische Märchen Siehe Text 25.05.2003 Russisches Kulturschaffen in der Emigration. Literarischmusikalische Anspielungen Der in Leningrad geborene, seit 1993 als freier Schriftsteller und Übersetzer in Salzburg lebende Schriftsteller Wladimir Wertlib las deutsch und russisch aus seinen Werken. Alex Schlesinger, Romanist, führte mit Wertlib ein Gespräch über Emigration. 28.09.2003 Traktat über Engel Vera Zubarewa (Odessa/Philadelphia) las mit ihrer Übersetzerin Kirstin Breitenfellner (Wien) aus ihrem neuen Buch „Traktat über Engel“. Die letzten beiden MitOst-Oknos fanden im Oktober (Lesung mit

Ihre Unterstützung kommt zu hundert Prozent den Projekten zugute, kein Cent bleibt in der Verwaltung hängen. Selbstverständlich übersenden wir Ihnen eine Zuwendungsbestätigung zur Vorlage beim Finanzamt. Geben Sie dazu bitte auf der Überweisung Ihre Anschrift an. Auf Wunsch schicken wir Ihnen gerne einen vorbereiteten Überweisungsträger zu. MitOst e.V. Geschäftsstelle Anne Stalfort Schillerstr. 57 10627 Berlin Tel.: 030-31 51 74 70 g e s c h a e f t s s te l l e @ m i t o s t . d e

Wladimir Makanin „Underground oder Ein Held unserer Zeit“) und November 2003 statt (Inszenierte Lesung aus den unveröffentlichten Notizen und Tagebüchern von Wenedikt Jerofejew). Weitere Informationen: w w w. k u l t u r a te l i e r. c o m

MitOst Nr. 12 | November 2003

11

MITOST INTERN

Liebe MitOstler, Gereon Schuch, 1. Vorsitzender im Jahr 2003 (1. von links)

wieder geht ein MitOst-Jahr zu Ende – oder besser gesagt, beginnt ein neues! Etwas Neues ist auch das MitOst-Festival in Pécs/Ungarn, das eine Woche lang (November 2003) ein riesiges Angebot für Osteuropa-Interessierte und Vereinsmitglieder bereithält. In Pécs treffen sich viele von Euch, neue Bekanntschaften entstehen. Unser Zusam-menkommen bietet Gelegenheit, das Erreichte im Auge behaltend nach vorne zu blicken: MitOst hat sich in den vergangenen zwei Jahren bedeutend weiterentwikkelt, aber dennoch stehen wir vor großen Aufgaben: Ziele müssen konkretisiert, neue Finanzierungsmöglichkeiten diskutiert und das Sinnvolle und Machbare umgesetzt werden.

Foto: Anne Stalfort Der MitOst-Vorstand 2003

MitOstler vor Ort möglich, denen wir an dieser Stelle nochmals ganz herzlich für ihr Engagement danken möchten. Wir sind überzeugt, MitOst wird in Pécs zu einer Brücke zwischen Menschen aus Ost und West. Damit möchten wir unseren bescheidenen Anteil zur Verständigung zwischen den Kulturen, Regionen und Ländern beitragen. Euer MitOst-Vorstand

Das Festival in Ungarn macht erneut auf eindrucksvolle Weise deutlich, worin das Besondere und Lebendige von MitOst liegt, denn die Vorbereitung und Organisation war nur mit Hilfe der

Anzeige

Junge Wege in Europa, junge Wege in Berlin Sieht man sich die Karte Europas genauer an, so sind darauf zahlreiche junge Fußspuren zu erkennen, die emsig von Ost nach West, von St. Petersburg nach Lüneburg, von Plovdiv nach Landsberg führen. Spuren, die so zahlreich und mit sicherem Tritt gezogen wurden, dass daraus Wege entstanden sind: Junge Wege in Europa.

Fährtensucherin zwischen West und Ost „Junge Wege in Europa“ haben neue Programmleitung Astrid Stefani

Seit dem 1. August 2003 leite ich das Programm „Junge Wege in Europa“ der Robert Bosch Stiftung, das jetzt in Trägerschaft des MitOst e.V. geführt wird.

Im Programm „Junge Wege in Europa“ fördert die Robert Bosch Stiftung seit 1998 gemeinsame Projekte von Schüler- und Jugend-gruppen aus Deutschland und Mittel- und Osteuropa. Die Teilnehmer können sich mit spannenden Themen beschäftigen sowie interessante Leute und neue Orte kennen lernen.

Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft, dem anschließenden Referendariat für das Lehramt an Gymnasien und einer zweijährigen Tätigkeit im Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart begleite ich das Programm auf seinem Weg von der Schwabenstadt nach Berlin.

„Junge Wege in Europa“ will die junge Generation bei der Gestaltung des gemeinsamen Europa unterstützen, indem es über die Projektförderung jungen Menschen die Möglichkeit bietet, ihre Ideen, Interessen und Zukunftserwartungen in Partnerschaften zwischen Ost und West einzubringen.

Räumlich gesehen nähere ich mich meiner Arbeit auch noch aus einer zweiten Richtung: Geboren in Rumänien, kann ich auf die Frage nach meinen Osteuropa-Erfahrungen spontan mit „14 Jahre Rumänien!“ antworten. Die Verbindung nach Osteuropa hielt ich inhaltlich während meines Studiums und bei der Tätigkeit im ifa aufrecht – hier war ich für das Kultur- und Medienassistenzprogramm sowie das Kulturmanagerprogramm der Robert Bosch Stiftung zuständig.

Seit dem 1. August 2003 führen die „Jungen Wege“ auch verstärkt nach Berlin: Von hier aus wird das Programm jetzt in Trägerschaft des MitOst e.V. geleitet. Wer mitwirken will, die Verbindungen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn in Mittel- und Osteuropa zu verstärken und zu vertiefen, kann sich seit Oktober 2003 für das Programm bewerben. Ausschreibungen 2003/2004 Der Förderwettbewerb wird zweimal jährlich im Herbst und im Frühjahr ausgeschrieben. Bewerben können sich Schüler- und Jugendgruppen im Alter von 13-21 Jahren aus Deutschland und Mittel- und Osteuropa, die zusammen ein Projekt durchführen möchten. Der gemeinsam ausgearbeitete Projektplan kann bis zum 15. Dezember 2003 eingereicht werden. Ende März 2004 werden die Einsender der besten Vorschläge zu einer Beratung eingeladen. Dort können Schüler und Jugendliche aus Ost und West ihre Pläne weiterentwickeln sowie Unterstützung für ihre Vorhaben finden. Die Projekte der Ausschreibung im Dezember 2003 sollen vom 1. Mai 2004 bis zum 30. April 2005 stattfinden. w w w. j u n g e w e g e . d e

Dass sich diese persönliche Ost-West-Verbindung auch im Programm „Junge Wege in Europa“ und nicht zuletzt auch in der Stadt Berlin widerspiegelt, finde ich besonders spannend. Ich freue mich auf zahlreiche Wegbegleiter und lade alle herzlich ein, das Programm mit frischen Projektideen und wertvollen Kontakten zu bereichern!

Weitere Informationen: a s t r i d . s te f a n i @ j u n g e w e g e . d e

MitOst Nr. 12 | November 2003

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AUSLANDSAUFENTHALT

Ein paar Zahlen vorab Dorothea Leonhardt, Marketing-Managerin, München, Arndt Lorenz, Journalist, Dresden/Aachen

Wer hält sich wann, wo auf? Das haben wir uns bei der Vorbereitung auf das Schwerpunkthema "Auslandsaufenthalt" gefragt. Zahlen des Statistischen Bundesamts und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) geben darauf einige Hinweise. Zum Einstieg also ein bisschen Statistik. Die Zahlen beziehen sich in erster Linie auf Studenten. Wer, wo, warum war und wie es wem, wo gefallen hat – darüber finden Sie dann mehr in den Artikeln auf den nachfolgenden Seiten. Auch immer mehr deutsche Studenten gehen ins Ausland2. 1980 kamen auf 1.000 Studierende in Deutschland 18, die sich ins Ausland wagten, im Jahr 2000 waren es mit 31 fast doppelt so viel, insgesamt etwa 50.000. Das Studieren in Osteuropa jedoch bleibt exotisch: Die meisten Studenten, nämlich 73 Prozent (Angaben für das Jahr 2000), gehen in die USA, nach Großbritannien, Österreich, Frankreich und die Schweiz. Im östlichen Nachbarland Polen wurden bis 1994 gar keine deutschen Studenten gezählt, ab 1995 sind es immerhin rund 150. Ein ungewöhnlich beliebtes Land ist Ungarn. Aufgrund des Numerus Clausus für Medizin in Deutschland gehen viele Studenten dieser Studienfächer zunächst nach Ungarn, wo an manchen Unis sogar eigene deutschsprachige Kurse eingerichtet wurden.

In Deutschland haben im Wintersemester 2002/2003 insgesamt 227.026 Ausländer studiert, davon:1

Albanien Armenien Aserbaidschan Bosnien-Herzegowina Bulgarien Estland Georgien Kasachstan Kirgistan Kroatien Lettland Litauen Mazedonien Moldawien Polen Rumänien Russische Föderation Serbien und Montenegro Slowakei Slowenien Tadschikistan Tschechien Ukraine Ungarn Usbekistan Weißrussland

491 353 257 2.206 9.897 617 2.551 759 289 4.730 839 1.465 660 464 12.601 3.449 9.601 3.310 1.481 561 40 2.243 6.071 3.129 402 1.327

Überhaupt sprechen die Zahlen des DAAD eine deutliche Sprache: Nur knapp über 2.000 Deutsche gingen im Jahr 2001 nach Mittel- und Osteuropa für ein Studium. Am unattraktivsten war Moldawien. Dort war im Sommersemester 2001 kein einziger deutscher Student. In der Gegenrichtung förderte der DAAD fast 10.000 Osteuropäer für ein Studium in Deutschland. Spitzenreiter unter den deutschen DAAD-Stipendiaten war Russland mit knapp 800 Geförderten im Jahr 2001. Die Zahlen zeigen: Der Trend geht nach wie vor von Osten nach Westen. Insofern hat hier die Robert Bosch Stiftung, die für ihre Lektoren- und Tutorenprogramme und Projekte einen starken Schwerpunkt auf die MOELänder setzt, eine Ausnahmestellung. Gleiches gilt für MitOst mit seinen osteuropabegeisterten Mitgliedern. Ob sich der Trend in Zukunft ändern wird, wird sich zeigen – vielleicht kann MitOst einen kleinen Beitrag leisten.

Warum ins Ausland gehen? Einen kleinen Einblick bieten zwei Zitate aus der Auswertung der Verbleibstudie der Robert Bosch Stiftung über ehemalige Boschlektoren 2:

Was waren für Sie die drei wichtigsten Erfahrungen Ihrer Lektoratszeit? (147 ausgewertete Antworten)

Aus welchen Gründen haben Sie sich dazu entschlossen, das Lektorat anzutreten? Bitte nennen Sie die drei wichtigsten Gründe.

Lehrerfahrung Kennenlernen von MOE-Ländern Erleben anderer Kulturen Selbstständigkeit Persönliche Erfahrungen und menschliche Beziehungen Sprach- und Landeskenntnisse verbessert Berufliche Bestätigung und Orientierung Freundschaften und Erlebnisse Arbeiten im Ausland Gesellschaftliche Konflikte Außenperspektive auf Deutschland Sonstiges Konfliktbewältigung Politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen Eigene Grenzen kennenlernen Organisation und Kreativität Völkerverständigung Historischer Hintergrund Freiheit Horizonterweiterung Zusammen- und Projektarbeit Aufbau eines Netzwerkes Selbstdisziplin und Kompromissfähigkeit

(151 ausgewertete Antworten)

Interesse an Mittel- und Osteuropa Sammeln von Lehrerfahrung Interesse an einem Auslandsjahr Interesse am Gastland Verbesserung bzw. Erwerb von Sprachkenntnissen Verbesserung der beruflichen Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Aus persönlichen Gründen Vorbereitung auf ein DAAD-Lektorat Fortsetzung des Promotionsvorhabens unter gesicherten finanziellen Bedingungen Keine andere berufliche Alternative nach Abschluss des Studiums Sonstiges: (z.B. Transformation in MOE)

1

2

3

91 76 69 61 53

60,26 50,33 45,69 40,4 35,1

% % % % %

35 21 12

23,18 % 13,91 % 7,95 %

11

7,28 %

11 11

7,28 % 7,28 %

Statistisches Bundesamt: Ausländische Studierende und Studienanfänger/innen nach Hochschularten und Herkunftsland, Wintersemester 2002/2003 Bundesministerium für Bildung und Forschung: Statistischer Überblick 1991 bis 2000, Deutsche Studierende im Ausland Auswertung des Evaluierungsbogens: Weiterführende Fragen zur Lektoratszeit und zum Berufseinstieg, Robert Bosch Stiftung, 2001

64 44 41 39 32 28 25 20 16 15 15 13 9 8 8 6 6 6 5 5 4 3 3

43,54 29,93 27,89 26,53 21,77 19,05 17 3,6 10,88 10,2 10,2 8,84 6,12 5,44 5,44 4,08 4,08 4,08 3,4 3,4 2,72 2,04 2,04

% % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % %

THEMA

Fotos: Kamila Nevludova

Filzstiefel und Sommerfrische Heike Mall, 2000-2003 Boschlektorin in Irkutsk/Russland

„Papa, wann fangen sie endlich an, die Rutsche zu bauen?“ fragt Julja und stapft mit ihren Filzstiefeln durch den frisch gefallenen Schnee auf der Uliza Karla Marksa. „Wenn das Eis auf dem Fluss dick genug ist.“ antwortet Roger. Roger ist mein Mann. Und er unterhält sich mit unserer älteren Tochter über die 10 Meter lange Eisrutschbahn, die jedes Jahr an Silvester feierlich eröffnet wird. Auf diesen Moment wartet Julja sehnsüchtig. Bis dahin dauert es noch eine Weile. Es ist November. Das Semester an der Uni ist Foto: Roger Just in vollem Gange und ich bin Burjate mit Pelzmütze froh, dass bis Neujahr mit der Prüfungszeit noch eine Zeit hin ist. Meine Studenten auch. Sie studieren in Irkutsk an der Staatlichen Uni, an der ich Boschlektorin bin. Inzwischen schon im dritten Jahr. Dass wir so lange bleiben würden, war uns nicht klar, als wir kurz nach der Geburt unserer jüngeren Tochter Jette unsere Wohnung ausgeräumt und Julja erklärt hatten: „Wir fahren nach Russland. Das ist gaaanz weit weg. So weit, dass man mit dem Zug fünf Tage fahren müsste.“ Roger, bis dahin Altenpfleger, nahm Erziehungsurlaub und stürzte sich ins Abenteuer: Hausmann in Sibirien mit einem Säugling und einem Kindergartenkind. Schon im Oktober, nach wenigen Wochen sonnigen Herbstwetters, fiel der erste Schnee. Zeit, sich mit Winterkleidern zu beschäftigen. Was zieht man den Kindern hier an? Irgendwie überleben die sibirischen Kinder den Winter ja auch. „Also“, meinten die anderen Eltern im Kindergarten, „zu Anfang reicht noch ein dicker Schneeanzug und Winterstiefel. Aber dann muss schon eine Felljacke her. Und natürlich Walenki, Filzstiefel.“ „Filzstiefel?“ „Klar, das ist das Beste bei minus 30°C. Ihr werdet schon sehen.“ Der Winter kam. Und wir sahen: Schnee, Eis, Rauhreif und viel, viel Sonne! Nie hätten wir uns das so schön vorgestellt. Die Kinder sahen in erster Linie Rutschbahnen. Überall. Aus Eis, aus Schnee oder aus einfachen, mit Wasser begossenen Brettern. Inzwischen haben wir auch einige Sommer hier erlebt. Sie dauern genau drei Monate, sind kurz, aber dafür sehr intensiv. Meistens

packt Roger Ende Juni mich, die Kinder und die Rucksäcke und wir fahren Zelten. Er findet, das hat er sich dann verdient. Nach einem Jahr Einkaufen, Putzen, Kochen und Kinder abholen, ganz zu schweigen von Extra-Widrigkeiten wie Behörden, Handwerkern, Geldwechseln, abgestelltem Wasser und Überraschungsbesuchen – der russische Alltag ist nicht ohne. Aber es ist wohl so, dass man mit den Aufgaben wächst, die sich einem stellen. Und eine Tatsache ist, dass ich Roger nie überreden musste, wenn sich mal wieder die Frage stellte, ob wir verlängern. „Warum nur?“ fragen viele Freunde aus Deutschland. „Was ist es, was euch dort hält, in diesem Plattenbau, in dieser furchtbar versmogten Stadtluft, bei dem Gehalt und den Flugpreisen?“ Vielleicht weil die Kinder nicht wissen, was Teletubbies sind, vielleicht weil

Kleine Burjaten

sie Seen kennen, aus denen man einfach so trinken kann, weil sie Russisch sprechen und wissen, wie man einen Ofen heizt. Vielleicht weil wir merken, dass wir als Muttersprachler an Unis und Schulen hier so richtig gebraucht werden. Oder vielleicht der etwas geruhsamere Lebensrhythmus und die Gesellschaft, die – all die Widrigkeiten in Betracht ziehend – doch viel nachsichtiger ist gegenüber der Unvollkommenheit des Einzelnen. Russland ist, so absurd das klingen mag, oft ein sehr menschliches Land. Und natürlich ist es die Faszination, so ganz in eine fremde, bisweilen sehr fremde Kultur einzutauchen und dabei so ganz nebenbei sehr viel über die eigene zu erfahren.

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AUSLANDSAUFENTHALT

Von der Kunst, sich zwischen den Kulturen zu bewegen ... Karen Oßmann, 1994-1995 Boschlektorin in Banská-Bystrica/Slowakei und von 1995-1998 DAAD -Lektorin in Bratislava/Slowakei, Referentin Personalentwicklung, Robert Bosch GmbH

Foto: Natalija Pintschuk

…und von den Schwierigkeiten des Anpassungsprozesses. Wie sich ein Auslandsaufenthalt am besten meistern lässt. Wenn man für längere Zeit ins Ausland geht, um dort zu leben und zu arbeiten, begibt man sich in eine fremde, nur zum Teil überschaubare Umwelt: Nicht nur das Essen schmeckt ungewohnt, es gibt auch andere Gesellschaftsstrukturen, neue Regeln (wer darf wann was), ungewohnte Riten (Begrüßung, Konfliktbewältigung) und Werte. Häufen sich Situationen, in denen der Rückgriff auf das eigene Kulturwissen nicht weiterhilft, löst dies Stress aus. Dieser Stress wird auch als Kulturschock bezeichnet. Der Kulturschock lässt sich beschreiben als Verlust von Orientierungsklarheit und Verhaltensangemessenheit.1 Während beide sich im Heimatland auf einem konstanten, relativ hohen Niveau befinden – man ist zuversichtlich, normgemäß zu handeln und die Rückmeldungen aus der Umwelt bestätigen das – kann es im Ausland zu einer drastischen Veränderung kommen.

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Die Symptome des Kulturschocks können relativ harmlos sein:  Heimweh  Gefühle von Hilflosigkeit und Rückzug,  Müdigkeit, Antriebslosigkeit, ständiges Schlafbedürfnis  Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit Sie können aber auch von gravierenderer Natur sein:  große Besorgnis um Sauberkeit und Gesundheit  Angst davor, überfallen, ausgeraubt, betrogen zu werden  Angst und Paranoia In jedem Fall desorientieren Kulturschocksymptome und verhindern zunächst die effektive Kontaktaufnahme vor Ort und damit die Anpassung an die neue Umwelt. Die Phasen eines Auslandsaufenthalts Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das erwartungsvolle Vorbereiten des Auslandsaufenthalts, durch Vorfreude gepaart mit Befürchtungen, ob man die neue Aufgabe auch wirklich bewältigen wird. Die zweite Phase, der sogenannte „Honeymoon“, kann ein paar Wochen bis sechs Monate dauern und ist geprägt durch vorwiegend euphorische Gefühle: Alles ist neu und aufregend und erscheint wundervoll, die Leute sind nett, viel offener und herzlicher als zu Hause, das Essen schmeckt toll. Ganz anders dann die dritte Phase, in der der Kulturschock oder die „Depression“ einsetzt: Alles wird als schrecklich empfunden, Enttäuschung macht sich breit, Ungeduld und Frustration kommen dazu: Die sprachliche Verständigung klappt doch nicht so gut wie erwartet, Einkaufen ist schwierig, die öffentlichen Verkehrsmittel sind eine einzige Katastrophe, das Essen schlägt auf den Magen, die Umwelt interessiert sich nicht für die eigenen Probleme. Diese Phase der „Depression“ kann zwischen ein paar Wochen und mehreren Monaten dauern und unterschiedlich stark sein, abhängig von der Euphorie des Honeymoon und der Vorbereitungsphase vorher.

AUSLANDSAUFENTHALT

Wie kommt man aus dieser Phase wieder heraus? Paradoxerweise, in dem man sie wahrnimmt, bewusst durchlebt und akzeptiert. Für die Anpassung an das Neue ist die Wahrnehmung der Unter-schiede und der eigenen Prägungen unabdingbar. Menschen, die mit dem Motto leben „Ich komme überall zurecht.“, sind oft gar nicht in der Lage, sich auf Neues einzulassen. So zeigen neuere Studien aus den USA, dass Auslandsaufenthalte keinesfalls automatisch die interkulturelle Kompetenz steigern.2

LESETIPP: Storti, Craig: The Art of Crossing Cultures. Yarmouth, Intercultural Press, 1990.

Auch die Überanpassung („go native“) ist kein Königsweg: Sie verhindert die Auseinandersetzung mit Unterschieden und erhöht nicht gerade die Akzeptanz der Umwelt: Hippies in Indianerkleidung werden keinesfalls von den Indios als ihresgleichen akzeptiert ... Erfolgversprechender sind drei andere Wege3: Die neue, fremde Kultur nicht wertend betrachten, sondern mit offenen Augen und Ohren versuchen zu erfassen, wie die Menschen „ticken“ – das führt zu einem tieferen Verständnis der Kultur. Etwas für sich tun, das Spaß macht (Sport, Kochen, Musik, Tanzen gehen, Lesen, Wandern ...) und Stress reduziert (Meditieren, Tagebuch oder Briefe schreiben, mit zu Hause telefonieren ...) – das bringt Selbstvertrauen und innere Ruhe. Sich um die anderen kümmern: Beziehungen zu Kollegen und Bekannten ausbauen und aktiv auf andere Menschen zugehen – das schafft ein Netzwerk vor Ort, das einen bei der nächsten Krise auffangen kann. Wenn der Kulturschock schließlich (vorläufig) überwunden ist, beginnt die vierte Phase, die Anpassung: Man genießt die Akzeptanz der Umwelt, weil das eigene Verhalten angemessen erscheint, man hat für sich selbst Orientierungsklarheit gewonnen, das Verständnis für die jeweilige Kultur ist gewachsen, es ist zu einem Ausgleich der positiven und negativen Eindrücke gekommen.

Aber nichts währt ewig: Die Anpassung vollzieht sich als ein Prozess, der auch nach Jahren noch nicht komplett abgeschlossen ist – und dementsprechend können Kulturschockphänomene immer wieder auftreten, dargestellt ist. Allerdings werden sie weniger bedrohlich wahrgenommen und führen zu einem immer tieferen Verständnis der eigenen und der anderen Kultur. Übrigens: Auch bei der Rückkehr nach Hause kann es zu einem Rückkehrerschock kommen, der umso intensiver ist, als er unerwartet auftritt, schließlich kennt man doch die Heimat. Aber immer wieder berichten Rückkehrer, dass sie nach der ersten Wiedersehensfreude frustriert waren, weil:  ihre Auslandserfahrungen nicht gebraucht werden  sie selbst sich verändert hatten, die Daheimgebliebenen aber scheinbar kaum  Kontakte abgebrochen sind und es schwerer fiel als erwartet, diese wieder anzuknüpfen. Aber ein Trost zum Schluss: Die Vorbereitung der Rückkehr beginnt mit der Ausreise: Wer Kontakte hält und sich regelmäßig austauscht, fühlt sich später weniger „abgehängt“!

Der Prozess der Anpassung wird oft in einem U-KurvenModell dargestellt:4 Degree of Adjustment 7,0 6,5

Mastery 6,0

Honeymoon 1

5,5

vgl. Grove und Torbiörn, zitiert in:

Günther K. Stahl, Internationaler Einsatz 5,0

von Führungskräften, München 1998

Adjustment

4,5

2

vgl.: Andrea Graf:

Trugschluss Auslandserfahrung. In:

4,0

management & training 3/2003: 19-21 3,5 3

Marc Mendenhall / Gary Oddou:

The Dimensions of Expatriate

3,0

Acculturation. In: Academy of 2,5

Management Review, 1985:10, 1: 39-47

Culture Shock

2,0

4

Black, J.S / M. Mendenhall:

The U-curve adjustment hypothesis revisi-

1,5

ted: A review and theorectical

1,0

Frameweork. In: Journal of International 0-2

3-4

4-6

6-9

10-12

13-24

25-36

36-48

49+

Business Studies, Vol. 22, 1991: 225-247

Time in Month MitOst Nr. 12 | November 2003

17

Logo: Boris Bartels, dreimarketing GmbH

Fotos: Darius Polok

Stipendien in Kasachstan und Mittelosteuropa, Boschlektorin in Charkow/Ukraine seit 2003

Auf die Frage des Frankfurter Zollbeamten, wie viele Zigaretten ich mitgebracht hatte, reagierte ich übermäßig gereizt. Und das lag nicht daran, dass er mich für eine russische Zigarettenschmugglerin hielt. Es war das erste Anzeichen eines nicht erwarteten Problems in Deutschland: Heimkehrerfrust. Ich wurde vom Flughafen abgeholt und begrüßte die Menschen, die mich erwarteten, mit den Worten: „Ich will zurück.“ Nach neun Monaten Leben und Arbeiten in Kasachstan kam ich in meiner Heimat an und litt plötzlich unter allem. Die Sprache, die Ordnung, die Pünktlichkeit, die Sauberkeit – all die so genannten „deutschen Tugenden“ waren mir einfach nur unangenehm. Mein Einkaufsbummel in der Heidelberger Fußgängerzone dauerte ganze zwei Minuten, denn nach nur 100 Metern glaubte ich, die miesepetrigen Gesichter und die durch unsichtbares Gesetz geregelte Laufrichtung nicht ertragen zu können. Ich fuhr zurück in mein Zimmerchen und legte eine russische CD auf. Dann ging es mir besser. Mein Freundeskreis wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen – ich war schlecht gelaunt und von all dem genervt, was für meine Freunde ihr geliebter Alltag war. Sie behandelten mich meist wie ein rohes Ei. Nur eine Person schrie mich regelrecht an und ich hatte es verdient. Sie hatten sich auf mich gefreut. Ich hatte mich auch gefreut, doch davon merkte man nichts.

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Inzwischen bin ich schon zum dritten Mal von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekehrt. Die Ankunft verlief ohne Zwischenfälle. Vielleicht war ich etwas stiller, weil ich ein paar Minuten brauchte, um die Gedanken, Gefühle und Länder zu ordnen, aber ich wollte nicht sofort wieder ins Flugzeug steigen, um zurückzufliegen.

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Sie erzählten mir von Dozenten, von Seminaren, von Prüfungen. Ich erzählte von Kasachstan. Ein anderes Thema hatte und fand ich nicht. Der letzte schrullige Dozent und das letzte langweilige Seminar lagen Ewigkeiten zurück.

Jetzt war ich wieder in dem Land, in dem Öffnungszeiten eingehalten werden, in dem man Gartenhecken mit dem Winkelmesser ausrichtet, sich an Warteschlangen hinten anstellt und dazu neigt, den Nachbarn zu verklagen. Ich war nach 9 Monaten zurückgekommen und hatte den Eindruck, die Zeit sei ohne mich weitergelaufen und doch auch stehen geblieben. Irgendwie hatte sich nichts verändert. Meine Sicht auf Deutschland allerdings schon und auch meine Sicht auf mich selbst. Sicher kam auch die Tatsache dazu, dass ich in Deutschland plötzlich wieder eine von vielen war, nicht mehr den Exoten-Status inne hatte. Das Leben war wieder alltäglich, und darauf war ich nicht vorbereitet.

[email protected]

Silke Erdmann, n-ost Korrespondentin, seit 1999 verschiedene

Eine Prüfung allerdings lag vor mir: mich mit Deutschland wieder anzufreunden. Dinge wieder zu entdecken, die einst auch für mich selbstverständlich gewesen waren: mit Messer und Gabel essen, zur Begrüßung die Hand reichen. Ersteres hatte ich mir abgewöhnt, weil kasachische Speisen gabel- bzw. löffelgerecht serviert werden, letzteres stand in Kasachstan nur den Männern zu.

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Harte Landung in Deutschland

AUSLANDSAUFENTHALT

Fotos: Robert Teschner

Ausland ist immer auch ein bisschen „Rausland“

landeskundliche Kompetenz, wie es in der Broschüre für die Lektorenprogramme der Robert Bosch Stiftung steht … alles gute Gründe. Aber ist das die ganze Wahrheit, für uns, fertig ausgebildet, oft in einer mehr oder weniger festen Beziehung und alt genug, um

Ina Werner, seit 2002 Fachlektorin in Minsk

ins geordnete Berufs- und Familienleben durchzustarten und die eine oder andere Karriere anzupeilen? Sind wir vielleicht auf der Flucht vor der Ernsthaftigkeit? Vor geregel-

„Finde ich toll, dass du so was machst, ich könnte das nicht.“ sagt eine Freundin, die selber mit 16 für ein Jahr in die USA gegangen ist. „Dass du dir das zutraust“, wundert sich eine Foto: Andreas Metz andere, die selber mit ihrem Mann von Kiel in einen kleinen Ort in Bayern gezogen ist, ohne eine Menschenseele im Umkreis von 500 km zu kennen.

ten Arbeitszeiten, einem festen Job, vor Hierarchien und Bewerbungen um einen konkreten Arbeitsplatz mit direkter Konkurrenz und viel Verantwortung? Auf der Flucht vor Bindung und der Festlegung, wo wir mit wem wie leben wollen. Woran wollen wir inhaltlich arbeiten, im Büro oder draußen, angestellt oder freiberuflich? Oder sind wir doch nur auf der Flucht vor dem mangelnden Arbeitsplatzangebot in Deutschland? Auf der Flucht vor uns selbst, ein Weglaufen vor unserer Identität, auf der Suche nach etwas, das uns weiterbringt in einem Leben, das später als Patchworklebenslauf bezeichnet wird. Fragen, die in den schicken Cafés von Vilnius oder bei Regen im Zelt am Baikal diskutiert und in tetradi1 notiert werden. Später wieder aufgegriffen. Antworten wird es selten geben.

Ist es schwer, ins Ausland zu gehen? Alle fragen, warum ausgerechnet nach Minsk, aber keiner fragt, warum ausgerechnet ins Ausland? Der Auslandsaufenthalt im Lebenslauf, die Sprachkenntnisse und die

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MitOst Nr. 12 | November 2003

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AUSLANDSAUFENTHALT

Carolin an Carolin – Du wirst es nie bereuen! Ein Jahr in Moskau. Carolin Schilling, Boschlektorin 1999/2000 in Moskau/Russland

Liebe Carolin, nun jährt sich deine Abreise nach Moskau an die Staatliche Universität für Management zum ersten Mal. Ich weiß noch, wie nervös, voller Unsicherheit, aber gleichzeitig auch voller Neugier du die Tage vor dem Abflug warst. Heute bin ich um ein Jahr Auslandserfahrung reicher. Die Carolin, die ich heute bin, könnte dir, der Carolin von vor einem Jahr, Vieles erzählen und viele Zweifel zerstreuen! Die Zeit vor deiner Abreise bestand für dich eigentlich nur aus Stress: Du warst mit Prüfungen, Wohnungsauflösung, Vorstellungsgesprächen und mit Visumproblemen konfrontiert und diskutiertest mit deinem Freund, wie eure Beziehung aufrechterhalten werden kann – und zu allem Übel bist du vor der Abreise auch noch krank geworden. Du hattest die Nase so voll, dass du dir geschworen hast, dich selbst nie wieder so unter Druck zu setzen. Aber glaub mir, es hat sich in diesem Fall gelohnt!

Viele Bedenken gingen dir vor der Abreise durch den Kopf. Zunächst möchte ich dich wegen deiner Befürchtungen hinsichtlich mangelnder russischer Sprachkenntnisse beruhigen. Diese Sorge ist gänzlich unbegründet! Studenten und Kollegen sind überaus geduldig und gerne bereit, mit dir Russisch zu sprechen – auch wenn sie alles tausendmal wiederholen müssen. Die Zeit in Russland wird dir viele Bekanntschaften und einige intensive Freundschaften bringen. Darauf kannst du dich wirklich freuen! Wegen Moskau, dieser riesigen, schmutzigen und gefährlichen Hauptstadt, hattest du auch Beklemmungen. Dennoch wirst du in Moskau nie riskanter als irgendwo sonst auf der Welt leben. Zwar wird dir vor deiner Nase dein Geld weggeklaut, aber selbst das kann dir nun wirklich überall passieren. Mein Ratschlag: Sei weder überängstlich, noch begib dich leichtfertig in Situationen, die du nicht abschätzen kannst. Lass dich auf deine neue Umgebung ein, beobachte alles aufmerksam um dich herum. Ich will dir nicht verschweigen, dass es auch Phasen geben wird, in denen du alles hinschmeißen und nach Hause fahren willst. Die überfüllte Moskauer Metro wird dir auf die Nerven gehen, die Not vieler Menschen aufs Gemüt schlagen. Weil du für Foto: Sören Urbansky alle Kleinigkeiten – ob Hörsaalreservierung, Organisation des Flughafentransfers für Dozenten oder Übernachtungen für deinen Besuch – tausende von Anträgen stellen musst, wird dich oft das Bedürfnis überkommen, in Schreikrämpfe auszubrechen. Doch diese Phasen werden nie lange andauern. Bleib hartnäckig am Ball und lass dich nicht entmutigen! Du siehst, liebe Carolin, das vor dir liegende Jahr wird voller Eindrücke sein. Ich kann dir jetzt schon verraten: Du wirst dein Jahr in Moskau nie bereuen! Ich wünsche dir eine wunderschöne, erlebnisreiche Zeit. Habe Geduld, sowohl mit deinen Mitmenschen als auch mit dir selbst! Bis zum Wiedersehen, deine Carolin.

Highlife oder lieber gut behütet? Die Entscheidung zwischen Wohnheim oder Gastfamilie fällt oft schwer. Oksana Vovk, Moskau, International Sales Manager für PC-Spiele

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Fotos: Alexej Vovk

Mein Fall war in bestimmter Hinsicht ein besonderer. Normalerweise werden die Stipendiaten von Copernicus Berlin e.V. (s. Kastentext) in Gastfamilien untergebracht. Da ich aber eine Haustier-Allergie habe, konnte zunächst keine Gastfamilie gefunden werden. Deshalb habe ich die ersten drei Monate meines Berlinaufenthalts im Studentenwohnheim gewohnt, danach drei Monate in einer Gastfamilie. Ich bin darüber recht froh, so habe ich beides kennengelernt.

THEMA

Es gibt gute Gründe, warum Copernicus Stipendiaten in der Regel bei Gastfamilien unterbringt:  die Jugendlichen werden betreut und fühlen sich im fremden Land nicht so einsam,  sie leben in einem deutschen Umfeld und sind gezwungen, stets Deutsch zu sprechen,  sie konzentrieren sich mehr auf ihr Studium und  sie lernen die Familienkultur und den Alltag in deutschen Familien kennen. In der Gastfamilie war ich von allen Alltagssorgen befreit. Die Gasteltern waren an meinem Wohlergehen sehr interessiert und ich fühlte mich beschützt und sicher wie zu Hause. Ich konnte fast alle meine Probleme mit ihnen besprechen und sie haben dafür gesorgt, dass ich in Ruhe studieren konnte. Dabei konnte ich frei über meine Freizeit verfügen, sie waren nie aufdringlich und haben mich nie in etwas eingeschränkt. Im Großen und Ganzen waren sie fast wie Eltern, aber ohne die zahlreichen „Schikanen“, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern oft üblich sind. Dagegen hat man in einem Studentenwohnheim mehr Freiheit und kann selbstständiger handeln. Aber man ist mehr Gefahren und Versuchungen ausgesetzt. In einem Studentenwohnheim ist man stets von anderen Studenten umgeben, das mag lustiger und interessanter sein, aber es ist schwieriger, konzentriert zu studieren. Das Deutsch wird nicht besser: Der Wortschatz wird hauptsächlich durch umgangssprachliche Wörter aus verschiedenen Sprachen bereichert. Dieser Mix aus „DeutschEnglisch-und-so-weiter-je-nachdem-wer-dein-Nachbar-ist“ nützt einem gar nichts. Aber es ist jeden Abend etwas los: Kino, Disco, Party, gemeinsames Kochen, Spieleabende, Plaudern ... Man kann frei, ohne um Erlaubnis zu fragen, jederzeit jemanden zu sich einladen. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, wie ich einen Partner fürs Rock-n-Roll-Tanzen gefunden hätte, wenn ich zu dieser Zeit schon in der Gastfamilie gewohnt hätte: Im Tanzunterricht gab es wie immer mehr Mädchen als Jungs, deswegen wurden nur Paare aufgenommen. Frustriert habe ich davon meinen Nachbarn in der gemeinsamen Küche erzählt – da wachte ein Franzose auf: Ich mag doch Rock-n-Roll und habe schon zu Hause in Frankreich getanzt!

Copernicus e.V. ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung mittel- und osteuropäischer Studierender. Mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung konnte dieser Verein nach den erfolgreichen Hamburger und Münchner Modellen im Jahr 2000 auch in Berlin ins Leben gerufen werden. Copernicus Berlin e.V. vergibt halbjährige Studienstipendien an Studierende aus Mittel- und Osteuropa (einschließlich Kaukasus und Mittelasien). Die Stipendiaten sollen erfolgreich im Hauptstudium sein, bereits über fundierte Deutschkenntnisse verfügen und sich außerdem durch besonderes soziales oder politisches Engagement auszeichnen. Mit einem regulären Studiensemester der Wirtschafts-, Rechtsoder Politikwissenschaften sowie einem Schnupper-Praktikum in einer Berliner Firma, Behörde oder nichtstaatlichen Organisation erwerben die Stipendiaten wertvolle wissenschaftliche und praktische Erfahrungen, die sie zum Aufbau marktwirtschaftlicher und demokratischer Strukturen in ihren Heimatländern motivieren sollen. Eine öffentliche Vortragsreihe und ein Blockseminar in der Ost-Akademie in Lüneburg, in dem die Stipendiaten ein Spezialthema erarbeiten, sind Pflicht-Bestandteile des Programms. Ein reichhaltiges Kulturangebot sowie die Unterbringung in deutschen Gastfamilien sorgen darüber hinaus für eine schnelle und tiefe Integration in die hiesige Mentalität und Lebensweise.

Ich kann nicht sagen, was besser ist: Wohnheim oder Familie. Es kommt aber sicher auf das Ziel des Aufenthaltes an: Wenn es das Studium, die Verbesserung der Deutschkenntnisse und das Erwerben von landeskundlichen Kenntnissen sind, dann ist die Entscheidung von Copernicus hundertprozentig richtig. Schließlich ist man auch in der Gastfamilie nicht ganz von der Welt abgeschnitten, es gibt ja immer noch die anderen Stipendiaten.

Kontakt: Nina Götte, n i n a . g o e t te @ w e b . d e Weitere Informationen: w w w. c o p e r n i c u s . d e

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AUSLANDSAUFENTHALT

Foto: Robert Teschner

Gehen oder Lesen

Über Auslandskompetenzen und westliche Erfahrungshindernisse

Odila Triebel, Studium der Germanistik, Philosophie, Öffentliches Recht, seit 2002 Fortbildungsreferentin der Robert Bosch Stiftung in Tartu/Estland

Mit vielem hatte ich gerechnet, aber damit nicht: Ich komme weitgereist und ferngelebt zurück auf Besuch und ein Bekannter, nennen wir ihn M., sagt: „Es gibt nichts, was man im Ausland lernen muss und nicht auch hier bei uns in Deutschland lesen könnte.“ Begleiten wir also mal einen von uns auf dem Weg, ihn zu widerlegen. Am Anfang steht die Neugier. Alles, was zum Inbegriff der Andersheit taugen kann, wird in der neuen Heimat auf Zeit erworben. Eierbecher aus in schwungvollen Falten gelegtem Leder, ein Kochbuch für Getreidesuppen, ein tönerner Troll für den Christbaum, alles erfreut, was den Blick vom Marktkonformismus unserer Markenwelt ablenkt. Gekauft wird auch der Filzhut und zu Hause gezeigt. Völlig ungestört davon, dass die Hüte aus der kasachischen Steppe auch nicht gerade das Straßenbild von Almaty prägen. 22

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Die so mitgebrachten Erzählungen lassen sich meist einteilen in zwei Gruppen. Die ersten sind lobpreisende Berichte aus der anderen Welt, die sich melancholischer Augen unter den Zuhörenden gewiss zu sein meinen: Ein ruhigeres Tempo bestimmt den Alltag, Arbeit ist nicht so wichtig. Gefolgt von: Dort gibt es einen größeren Zusammenhalt der Familien, dort ist man kreativer, kann besser improvisieren. Dort haben die Alten eine Aufgabe, dort bestimmt der Konsum nicht den Alltag und deswegen hat man dort noch andere Werte. Dort also. Ganz beliebt in westlich geprägten deutschen Feuilletons ist auch die elegische Erzählung eines unberührten 19. Jahrhunderts, das man dort noch finden könne. Ohne Autos und Hochhäuser, mit klar in Hütten und Palästen zu Tage tretenden Klassengegensätzen und Vielsprachigkeit. Mit der damaligen Mühe, und aber auch mit der damaligen Muße für manches. Die andere Gruppe der Erzählungen führt im Gegensatz dazu Belege dafür an, dass man sich zu Recht wie ein stolz zurückgekehrter Held fühlen darf: Dort fällt der Strom aus, dort ist es kalt. Dort wird geraubt und gemordet, dort wird schlampig gearbeitet, dort kennt man selbstverantwortliches Handeln nicht. Dort ist man dem Chef hörig, dort kennt man keine Öffentlichkeit. Dort hat niemand Initiative, dort ist Wodka ein Nahrungsmittel. Dort werden Schafe auf der Kühlerhaube geschlachtet, dort laufen Menschen in Badeschlappen durch den Schnee. Und zu guter letzt. Dort schreibt jeder im Seminar an der Uni alles mit und niemand redet. Und meist war es dort aber irgendwie trotzdem schön. Also, denke ich, lieber M., Du hast völlig recht. Alles dies kann man lesen und hören. Diese Erzählungen wiederholen

AUSLANDSAUFENTHALT

sich auf geradezu gespenstische Art und Weise immer wieder. Also muss man gar nicht gehen. Kein Informationsgewinn. Du hast Recht. Doch da erinnere ich mich wieder an all die Kommentare, bevor ich ging: Ob das sein müsse oder ob ich freiwillig ginge. Nur wenige hängten immerhin noch die Frage an, was ich „dort“ denn machen wolle. Diese Menschen bekehrt vielleicht niemand. Doch auch hier, das muss ich M. wieder gestehen, könnten aufgeklärte Schriftzeugnisse genügende Arbeit leisten. Und ebenso, das füge ich diesem Geständnis gleich hinterher, feit ja das bloße Leben im Ausland keinen davor, auch noch in weiteren Erzählmustern gefangen zu bleiben, wie zum Beispiel den „WiederaufbauMythen“. Immer wieder fallen nämlich Mittler auch etablierter Mittlerorganisationen unbewusst über fast beliebige Länder in die beliebten Noch-nicht-Sätze: „Die sind dort noch nicht soweit.“ Auch von Mitgliedern der auswärtigen Kulturpolitik werden auf diese Weise wohlgemeinte entwicklungsfördernde Tipps für die neuen „Kinder“ ausgeteilt. Aber wie falsch kann man liegen, wenn jede Irritation des deutschen Erwartungshorizontes östlich Berlins ein „Ost-Erbe“ oder auch „Sowjet-Erbe“ ist: Das Schweigen und vermeintlich teilnahmslose Blicken in den Seminarräumen ist nicht immer nur Lethargie, sondern manchmal bitter in Unfreiheit gelernte Strategie, manchmal Mentalität, manchmal schlicht mangelnde didaktische Fähigkeit des Dozenten. Wie nun aber kann man dieses abwägende Urteilsvermögen erwerben? Jemand wie M. mag einwenden, dass eine Bildung des Taktgefühls, der Toleranz und des vorsichtigen Urteils auch in Schule und Elternhaus oder in Kommunikationsseminaren erlernbar sei. Aber stimmt das wirklich? Reicht das? Ist dies nicht vielmehr die Lightvariante der Verständigung? Ähnlich der Friedenssicherung durch Jugendbegegnungsstätten. Wo es aber doch so einfach ist, sich in Festival- und Camp-Atmosphäre zu mögen und zu verstehen. Auch das ehemalige Jugoslawien hatte einen multikulturellen Nationalchor, der herzzerreißend schön bis weit nach Mitternacht mehrstimmig improvisieren konnte.

Nicht lesen kann man die Erfahrungen der unbequemen Lernprozesse und schwierigen Kommunikationsversuche mit einem „Anderen“. Nicht lesen kann man die Gefühle, die sich fast archaisch des eigenen Körpers bemächtigen, wenn man aufbricht. Jene etwa, die durch einen brausenden Chor historischer Erfahrungen hervorgerufen werden, etwa eine schlesische Großmutter, die sich im nationalsozialistischen Verband der Auslandsdeutschen engagierte oder die Erinnerungen jüdischer Freunde in Amerika. Lesen kann man auch nicht die Ohnmacht, mit der man sich selbst ertragen muss, wenn liebgewonnene ökonomische Äquivalenzen durchgerüttelt werden. Nicht lesen auch die Gefühle der Einsamkeit und der Anstrengung des alltäglichen mühseligen Entzifferns. Nicht anlesen eine Antwort auf Sätze wie: „Verkauft doch nicht als Freiheit und Emanzipation, wenn eine Mutter im Angestelltenverhältnis arbeiten muss.“ Und erwirbt man auch nicht durch Lektüre die freundliche Beharrlichkeit, die ein probates Mittel im Umgang mit Nomenklaturen ist. Und wofür das alles? Vielleicht für ein bisschen mehr Mut, Skepsis und Selbstkritik in der interkulturellen Zusammenarbeit. Um dann wirklich partnerschaftlich zu arbeiten. Günstigstenfalls. Nun stehe ich natürlich vor einem Paradox: Mein M. kann diesen Text hier lesen. Aber für das Gehen gibt es keine Gebrauchsanleitung.

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Was wir mehr als alles andere letztendlich brauchen, ist von der eigenen Befindlichkeit distanziertes Expertenwissen über andere Gesellschaften, Kulturen, Geschichtserzählungen. Was wir brauchen, ist die Arbeit, die einfach vor Ort, im Ausland, gemacht werden muss. Wir alle sind schließlich ökonomisch und politisch darauf angewiesen, zusammenzuarbeiten, uns zu kennen, unsere Vielfalt zu schätzen. Was

schwierig ist, ist das Abwägen zwischen Verstehen und Toleranz auf der einen Seite und den Grenzen, die gesetzt werden durch unverrückbare Maßstäbe an eine Zivilgesellschaft. Es ist schwierig, in diesem Balanceakt handlungsfähig zu bleiben.

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Liebe? Überflüssig! Wenn man dem Klischee glauben will, sehnen sich viele Frauen in Osteuropa nach einem westeuropäischen Mann, um sich den Traum von Wohlstand und Glück zu erfüllen. Die Vermittlungsagenturen haben jedenfalls viele Osteuropäerinnen im Angebot, die so ihren „Auslandsaufenthalt“ planen. Sicher eine risikoreiche Methode, die oft nicht das erhoffte Glück bringt, aber manchmal eben doch. Die Geschichte der großen Liebe von Norbert Volz begann an dem Tag, als er eine E-Mail von Ina im Posteingang fand. Ina lebte in Moldawien und war 16 Jahre jünger als er. Trotzdem verliebten sich die beiden. Mit einem Wörterbuch auf dem Schoß führten sie stundenlange Telefonate. Und schon vier Monate später lud Ina Norbert nach Tiraspol ein, Hauptstadt der autonomen moldawischen Teilrepublik Transdnjestrien. Ihre Adresse hatte Norbert bei einer Partnervermittlung im Internet gekauft. Heute haben die beiden einen zehn Monate alten Sohn namens Alexej und Ina studiert im dritten Semester BWL an der Hochschule Anhalt in Bernburg. Ina und Norbert sind seit mehr als drei Jahren verheiratet. Glücklich, wie sie sagen. Auf eine Vollvermittlung, wie sie von anderen Partnervermittlungen angeboten wird, wollte sich der 43-jährige Norbert Volz zwar nicht einlassen. Aber sich nach seiner Scheidung wieder ins ostdeutsche Nachtleben zu stürzen, dazu fehlten ihm ebenfalls Zeit und Lust. Der Diplom-Mathematiker, der auf einem Hof bei Dessau lebt, hatte genug damit zu tun, seine Software-Firma am Laufen zu halten. „Und auf One-Night-Stands hatte ich ohnehin keinen Bock mehr“, erinnert er sich, „beziehungsweise man fand halt keinen.“ Deshalb bestellte er eines Abends einige E-Mail-Adressen und setzte sein Foto in eine Männergalerie. Er 24

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Foto: Doreen Blask Moskauer Studentinnen

Florian Töpfel, Studium der Kulturwirtschaft mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa in Passau

besuchte eine Ukrainerin in Kiew, eine zweite lud er zu sich nach Deutschland ein. „Doch mit beiden stimmte die Chemie nicht“, sagt Norbert. Sicherlich ist die Liebesgeschichte von Norbert und Ina eine Ausnahme. Nicht viele osteuropäische Frauen, die übers Internet einen deutschen Mann kennen lernen, haben so viel Glück wie Ina. Den meisten deutschen Mitbürgern gilt solch eine Partnerschaft schon von vornherein als zutiefst ungehörig, als unvereinbar mit einer aufgeklärten, die Gleichberechtigung der Geschlechter anstrebenden Gesellschaftsordnung. „Dabei können Menschen in einer solchen Beziehung sehr glücklich sein“, sagt der Familiensoziologe Horst Herrmann, Professor an der Universität Münster. Voraussetzung sei natürlich, dass die ausländische Frau die Partnerschaft mitplane und aus freien Stücken eingehe. „Akzeptierte Abhängigkeit“ nennt Professor Herrmann Inas Situation. Von Ehen, die allein aus Liebe geschlossen werden, hält der Familienexperte ohnehin wenig. Denn so schön die Liebe ist, so trügerisch kann sie sein. „Von diesem Gefühl sollten wir uns bei der Partnerwahl, der vielleicht wichtigsten Entscheidung unseres Lebens, nicht zu sehr beeinflussen lassen“, warnt Herrmann. Die Geschichte von Ina und Norbert ist der beste Beleg für Herrmanns These, dass sich auch Liebes- und Lebensglück von langer Hand planen lassen. „Die Bedeutung, die unsere liebesgläubige Gesellschaft dieser Emotion zumisst, ist in der Menschheitsgeschichte einmalig“, sagt dazu der Familiensoziologe Herrmann. Für Platon war die Liebe eine Geisteskrankheit. Und auch im Mittelalter wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, nur aus Liebe zu heiraten. Bezahlte Heiratsvermittler zogen von Dorf zu Dorf und sorgten dafür, dass „Hektar auch zu Hektar“ fand. Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte das Bürgertum das Ideal der romantischen

AUSLANDSAUFENTHALT

Liebe für sich. Auf diese Weise wollte man sich vom Adel abgrenzen, für den Heirat als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln galt. Erst mit dem Aufstieg des Bürgertums trat die Liebe ihren Siegeszug in den westlichen Gesellschaften an, bis sie zu dem wurde, was sie heute ist: das einzige, was wirklich zählt. Die Familien- und Paartherapeutin Ida Schrage arbeitet bei der Frauenhilfsorganisation „agisra“, deren Ziel es ist, Rechte und Lebensbedingungen von Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen zu verbessern. Immer wieder hört sie Leidensgeschichten von Frauen, die eingesperrt, geschlagen und missbraucht wurden. Einige werden von Heiratsvermittlern gar mit „dreimonatiger Umtauschgarantie“ nach Deutschland geschleust: Ist der zukünftige Ehemann nicht zufrieden, werden sie wieder abgeschoben, sobald ihr Touristenvisum ausläuft. All diese Frauen sind erpressbar, auch sexuell, und manche Männer nutzen die Situation aus. Andererseits: Gewalt gibt es auch in deutschen Ehen. Etwa 45.000 überwiegend deutsche Frauen flüchten jährlich in Frauenhäuser. „Natürlich ist die Abhängigkeit von ausländischen Frauen in vermittelten Ehen besonders problematisch“, sagt Schrage, „aber Schwierigkeiten in einer Beziehung kann es immer geben.“ Deshalb will Schrage nichts von Vorurteilen gegenüber internationalen Partnervermittlungen wissen: „Wenn es eine seriöse Agentur ist, wieso nicht?“

Adresse bis hin zur Reiseorganisation. „Für eine Vollvermittlung bis zum persönlichen Erfolg inklusive Betreuung vor Ort und Dolmetscherdiensten sollte der Kunde allerdings mit 2.500 bis 4.000 Euro rechnen“, warnt der Ratgeber. Wie viele Ehen die Partner-Agenturen pro Jahr vermitteln, lässt sich nicht nachvollziehen; im Ausland geschlossene Ehen werden nämlich von keiner deutschen Statistik erfasst. Fest steht nach der aktuellsten Aufschlüsselung des Statistischen Bundesamts nur, dass 1999 rund 32.000 deutsche Männer in Deutschland ausländische Frauen heirateten, am häufigsten Polinnen, genau 5.304 Mal. Außerdem ehelichten deutsche Junggesellen 2.223 Russinnen, 2.148 Thailänderinnen, 1.592 Rumäninnen und 1.436 Ukrainerinnen. Dass Frauen aus dem „alten Europa“ in dieser Statistik so schlecht abschneiden, ist ein weiteres Indiz für den Erfolg der Partnervermittlungen: Sie führen vor allem Osteuropäerinnen in ihren Katalogen. Tausende Fotos von Bankdirektorinnen und Hausfrauen finden sich dort, von Lehrerinnen und Studentinnen, Sekretärinnen und Putzfrauen. Alle diese lächelnden Gesichter haben eines gemeinsam: die Hoffnung, in einem reichen Land glücklicher zu werden.

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Es ist allerdings schwierig, eine solche zu finden. Von den über 400 internationalen Partnervermittlungen im Internet arbeiten neunzig Prozent „unseriös“, heißt es in einer Studie des „Berufsverbands für Partnervermittler“. Der Kunde bekommt dort für sein Geld wenig oder gar keine Gegenleistung. Zudem sind die meisten Seiten voll von skurrilen, beinahe rassistischen Klischees. In dieser Hinsicht ist auch der vom Bundesverband herausgegebene „Ratgeber für Internationale Partnersuche“ keine Ausnahme. So warnt die Broschüre vor Südamerikanerinnen: „Diese Frauen sind heißblütig und haben Temperament. Kaum ein Deutscher kann damit lebenslang umgehen.“ Für Tschechinnen spreche, dass sie im Allgemeinen „Freude an der Hausarbeit“ haben. Russinnen besäßen „Charaktereigenschaften, die man bei westlichen Frauen immer seltener findet: Anmut, Schönheit, Treue, Intelligenz, Familiensinn“. Der große Vorzug aller Osteuropäerinnen sei außerdem, dass sie durch ihr Äußeres in Deutschland kaum auffallen. Wer sich anhand dieser Informationen für eine „Dame“ entschieden hat, klickt auf den Button „Bestellung“ und legt die Frau in den „Warenkorb“. Das Internet hat auch den Heiratsmarkt revolutioniert: Während man(n) sich vor ein paar Jahren noch anhand von verschwommenen Passfotos in einem DIN-A5-Partnerkatalog entscheiden musste, finden sich auf den Seiten der Netzagenturen Bilder von jeder Kandidatin, oft in aufreizenden Posen, sowie ein Persönlichkeitsprofil inklusive Hobbies und Wünschen für die Partnerschaft. Dem Kunden bieten die Vermittler individuell zugeschnittene Dienstleistungen, von der E-MailMitOst Nr. 12 | November 2003

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AUSLANDSAUFENTHALT

Verbotenes und Halbverbotenes Foto: Nataliya Tereza Marc Sagnol, 1996 bis 2000 Direktor des Französischen Kulturzentrums in Kiew/Ukraine

Die vierte Chance Jana Stillerova, tschechische Deutschlehrerin

Seit Beginn meines Germanistik-Studiums in Tschechien bin ich in den Ferien immer über eine tschechische Jobvermittlungsagentur nach Deutschland gefahren, um ein bisschen Geld für das Studium zu verdienen und mein Deutsch zu verbessern. Zwei Jahre habe ich in der Nähe von Aachen Erdbeeren gepflückt, das dritte Jahr bin ich in den Schwarzwald gefahren, um als Küchenhilfe zu arbeiten. In keinem Fall habe ich viel Deutsch gesprochen. In den beiden ersten Fällen vor allem deswegen, weil außer mir noch 40 andere Tschechinnen dieselbe gute Idee hatten. Im Schwarzwald habe ich weder Deutsch noch Tschechisch gesprochen – die Besitzer hatten keinerlei Interesse, überhaupt mit der billigen Arbeitskraft aus dem Ostblock zu sprechen. Nach dem Aufenthalt im Schwarzwald hatte ich so schlechte Erinnerungen an Deutschland und die Deutschen, dass ich mir geschworen habe, nie wieder in dieses Land zu fahren. Aber als Germanistin, die nur Schuldeutsch beherrscht und sich nicht 26

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normal unterhalten kann, war das keine gute Aussicht für die Zukunft, gerade was das Staatsexamen in Deutsch betrifft. Also musste ich ein letztes Mal, ein allerletztes Mal, nach Deutschland fahren, um richtig Deutsch zu lernen. 2001 bin ich dann über ein Erasmus-Stipendium nach Dortmund gegangen, um die Forschung für meine Diplomarbeit fortzusetzen. Ich habe mich darauf überhaupt nicht gefreut. Alle hatten mich vor der deutschen Bürokratie gewarnt. Nach meiner Ankunft in Dortmund ging ich zuerst zum Studentenwerk, um ein Zimmer zu bekommen. Zu meinem Erstaunen waren die Zimmer schon vorbereitet und ich bekam sofort ein komplett eingerichtetes, neues Zimmer. Auch der Rest: Konto eröffnen, Krankenkasse, Uni-Einschreibung – alles ging glatt. Am Nachmittag war ich noch auf der Ausländerbehörde. Trotz einer langen Schlange kam ich nach einer halben Stunde dran. Eine sympathische Frau mit Zigarette im Mund stellte mir ein Visum aus mit der Erlaubnis, 90 Tage zu arbeiten. Nach diesem Tag fing ein verrücktes Leben an – ich lernte neue nette Leute verschiedener Nationalitäten kennen, wir unternahmen Ausflüge, Abendessen, Partys, Mittagessen-Stammtische, ich besuchte regelmäßig den Unterricht – 22 Stunden pro Woche, um eine gewisse Punktzahl für das Stipendium zu erreichen. Daneben suchte ich Material für meine Diplomarbeit, und am Wochenende arbeitete ich als Spüldienst in einem bekannten Restaurant in Dortmund, worauf ich sehr stolz war. Hier stieg auch mein Selbstbewusstsein, das für zukünftige Entscheidungen sehr wichtig war – die Professoren behandelten mich als Gleichberechtigte, in der Arbeit wurde ich akzeptiert und behandelt, als ob ich eine normale Deutsche wäre – sie sprachen mit mir und fragten nach meiner Meinung! Aber nichts dauert ewig – bald kommt die Zeit des Abschieds. In Deutschland habe ich die schlimmste Zeit, aber auch die schönste Zeit meines Lebens erlebt und weiß, dass ich dankbar sein muss, denn ich hatte die Möglichkeit, viel Schönes zu erleben und ein Mensch zu werden, der weiß, was er vom Leben will.

AUSLANDSAUFENTHALT

„Die Schönheit des Lebens liegt in dem, dass jeder Mensch das Leben seiner Natur gemäß genießt.“ G. Büchner

Fotos: Steffen Giersch Marc Sagnol, 1996 bis 2000 Direktor des Französischen

Deutsche Pennergesellschaft –

Kulturzentrums in Kiew/Ukraine

Liebe finden imFoto: Ausland Sören Urbansky Haushaltsdebatte Milan Josifov, Germanistik-Student, Dresden Jörg Kassner, Deutschlehrer in Tbilissi/Georgien

Ich, der durchschnittliche Germanistik-Student aus Mazedonien, hatte das Glück und das Privileg, in Deutschland zu studieren, sogar in einer so berühmten Stadt wie Dresden. Als ich es meiner besten Freundin erzählte, meinte sie, dass Dresden von einem der schwärzesten Flüsse der Welt durchquert werde und eine magische, funkelnde und leuchtende Stadt sei. Eine Weile später erinnerte ich mich: Sie ist ein großer Fan von E.T.A. Hoffmann, dem Schriftsteller, der eine gewisse Zeit in der Elbestadt gelebt und gearbeitet hat. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen ... Meine erste direkte Bekanntschaft mit Dresden verlief jedoch nicht ganz so poetisch. Ich traf in einer kalten Oktobernacht ein und da ich keinen Jugendherbergsausweis besaß, wurde mir von einem unfreundlichen Mädchen die Übernachtung in dem Haus verwehrt. Diesem Ereignis folgten weitere unangenehme Erfahrungen. Die Computer in der Dresdner Bank fielen ausgerechnet in dem Moment aus, als ich mein Stipendium abheben wollte, um die Kaution für das Wohnheimzimmer zu bezahlen. Da ich auch sonst kein Geld mehr hatte, konnte ich mir die Übernachtung im Youth Hostel „Mondpalast“ nicht mehr leisten. Nach kurzer Überlegung fiel mir ein, dass ich in der Dresdner Heide einen schönen Schlafplatz finden könnte. Gesagt - getan. Gesellschaft leisteten mir ein Skinhead und sein Schäferhund. Als ich ihm erklärte, dass ich der „Deutschen Pennergesellschaft“ angehöre, benahm er sich gleich viel freundlicher. Super, dachte ich mir. Was für ein Start! Ich hoffte bloß, dass sich meine Zeit in Dresden nicht in eine einzige Katastrophe verwandeln würde. Der Aufenthalt in der Stadt an der Elbe wurde aber doch noch so eindrucksvoll und begeisternd, dass es mir schwer fällt, die richtigen Worte zu finden. Immer wenn ich Zeit hatte, habe ich seitdem die schönen Momente in Elbflorenz und Umgebung verewigt: der Zwinger mit der Semperoper, Pillnitz mit der seltsamen chinesischen Architektur, das Schloss Moritzburg mitten in einem Teich, die Neustadt mit über 100 Kneipen und der großen Wahrscheinlichkeit, dass man dort mindestens einmal alle 500 Meter in Hundescheiße tritt, das schöne Kino Schauburg, wo schon 101 Wochen hintereinander der Film „Schwarze Katze, weißer Kater“ gezeigt wird, dann der Albertplatz mit dem Denkmal Erich Kästners, das Wandergebiet „Sächsische Schweiz“. So eine wunderbare Stadt und Umgebung habe ich bisher noch nie gesehen oder erlebt. Und wer kann es leugnen, dass ich mich in Dresden verliebt habe. Ein deutscher Freund meinte, dass man sich in „der“ oder in „die“ Stadt verlieben kann. Ich sage nur: „in Dresden!“. MitOst Nr. 12 | November 2003

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Auslandsaufenthalt – was verbirgt sich hinter dem Begriff

THEMA

Maja Heidenreich, Boschlektorin in Saratow und Moskau 2001-2003

Auslandsaufenthalt Ausland Land aus Aufenthalt sich aufhalten auf Halt aufhalten enthalten sich enthalten aushalten Saufen Ent(e)

Foto: B. Stoklosa

Aus was setzt sich ein klassischer „Auslandsaufenthalt“ zusammen? Das Wichtigste daran ist wohl das Ausland. Für sich genommen sagt der Begriff nur aus, dass es sich darum handelt, aus dem Land heraus zu sein. Um welches Land es sich dabei dreht, spielt keine Rolle. Die Aussage „Ich war im Ausland!“ ist daher genau genommen nur für diejenigen auf Anhieb verständlich, die die Welt in die Kategorien „mein Land“ und „alle anderen Länder außerhalb meines Landes“ einteilen. „Aus“ kann beim „Aus-seinem-eigenen-Land-herausgehen“ einerseits bedeuten, dass nun alles sowieso vorbei und alle ist oder dass man andererseits die Beziehung zu seiner Heimat durch den oft zitierten Satz „Ich komme aus ...“ aufrechterhält. Wenn man den Schritt über die Landesgrenzen gewagt hat, gibt es dann eine besondere Bezeichnung für das dortige Dasein: „Aufenthalt“. Dabei handelt es sich wohl um etwas ganz anderes als „Leben“ oder „Wohnen“ oder „Sein“, denn die Widersprüche dieser Daseinsform springen einen förmlich an. Man hält sich zwar (wie eigentlich überall) an verschiedenen Plätzen auf, hält sich fest, um nicht zu fallen, hält Reden, um sich zu bedanken oder seine Kenntnisse mitzuteilen, hält an, um nicht überfahren zu werden, hält dies oder jenes für wichtig oder unwichtig, hält Mittagschläfchen und Versammlungen ab. Das Interessante daran ist das „auf“: man ist auf-geschlossen (und total tolerant) gegenüber allem Neuen, Fremden, Unerträglichen. Gleichzeitig bewegt man sich aufwärts (in höhere Sphären der Erkenntnis). Wenn da nicht der Halt wäre, an dem vor einem dann doch die Schranke der kulturellen Unüberwindlichkeit heruntergelassen wird und der einen in seinem Streben nach Dazugehörigkeit aufhält. Oder ist es der Halt, den man im Fremden sucht und als Krücke in den versprengten Abenteuersuchenden gleicher Herkunft findet? Der eigentliche Clou besteht allerdings in der Tatsache, dass das zu beschreibende Dortsein unermesslich viel an Lebenserfahrung, Erkenntnis und Horizonterweiterung enthält, gleichzeitig aber dem Dortseienden auferlegt, sich seiner Stimme zu enthalten, sich nicht in intrakulturelle und politische Probleme zu mischen, die der von außen Gekommene nicht beurteilen kann. Nicht nur da gilt es auszuhalten, besonders beim Saufen wird deutlich, wer geeignet ist, sich in den „Ländern-außerhalb-des-eigenen-Landes“ aufzuhalten oder wer lieber wie eine Ente in heimischen Gewässern planscht. 28

MitOst Nr. 12 | November 2003

Foto: Silke Erdmann

Keine Spur alltäglich – Schulalltag in der Ukraine Silke Erdmann, n-ost Korrespondentin, seit 1999 verschiedene Stipendien in Mittelosteuropa, u.a. in einer Schule in Kiew, Boschlektorin in Charkow/Ukraine seit 2003

1. Schulwoche Du beginnst deine Stunde mit der Aufforderung, einen Stuhlkreis zu bilden. Überraschenderweise kommt keiner deiner Aufforderung nach. Du wiederholst langsam und mit verändertem Wortlaut die Aufforderung. Dann kommt ein Schüler nach vorn, seinem Gesicht kann man die nahende Angst vor der kommenden Hinrichtung in Form einer Leistungskontrolle ablesen. Schließlich schaffst du es, dass alle anderen auch nach vorn kommen. Ohne Stühle. Das erschwert die Formation eines Stuhlkreises. Irgendwann jedoch fällt der Groschen und sie kommen mit ihren Stühlen nach vorn und stellen diese in zwei Reihen hintereinander auf. Es klappt schließlich, als du einen Kreis an die Tafel malst. 2. Schulwoche Heute lernst du einen neuen Schülertrick kennen, der dir in Deutschland noch nie begegnet ist: Flöhe. Ein Kind fängt an, sich zu kratzen, alle anderen tun es ihm nach. Da du nicht reagierst, vergessen sie nach ein paar Minuten, dass es sie am ganzen Körper furchtbar juckte ... so schnell wird man Flöhe los. Du hättest allerdings nie gedacht, dass Schüler das Klischee „Alle Russen haben Flöhe“ ausnutzen, um Lehrer zu verunsichern.

AUSLANDSAUFENTHALT

3. Schulwoche Du wurdest vorgewarnt, dass in deiner Schule gern gefeiert wird. Die erste Feier ist der Tag des Lehrers. In Deutschland ist dieser Tag etwas verloren gegangen, mit ihm auch die Selbstverständlichkeit, mit der sich Schüler auf die Bühne vor die gesamte Schule stellen und singen, tanzen, Theater spielen. Sie kommen sich weder lächerlich vor, noch scheinen sie Lampenfieber zu haben. Beim Anhören der Gedichte und Reden und beim Anblick der zahlreichen Geschenke stellt sich natürlich die Frage, welches Ziel diese Geschenke verfolgen. Eine Lehrerin sagt: „Ich lasse mich nicht bestechen. Ich bekomme Topfpflanzen, pflege diese und beobachte sie genau: Wenn sie aus gutem Herzen geschenkt worden sind, dann wachsen sie. Wenn sie aus schlechtem Herzen geschenkt worden sind, dann gehen sie ein. Aber sie haben keinen Einfluss auf die Noten.“ 5. Schulwoche Schulköchinnen, aus irgendeinem Grund sind sie recht unfreundlich. Entweder liegt es an den lästigen Schülern oder es ist eine Grundvoraussetzung, um diesen Beruf ergreifen zu können. Eine von ihnen ist besonders übellaunig, meist brummt sie mehr als sie spricht. Dadurch kannst du sie nicht verstehen und musst wiederholt nachfragen. Nach der 2. Wiederholung brüllt sie dann so laut, dass es der gesamte Speisesaal versteht. Sie ist sichtlich genervt, und es ist erst Dienstag. Am Mittwoch kommst du wieder und sie brüllt noch lauter. Zu deiner Erlösung fragt die etwas freundlichere Köchin, ob du Deutsche bist. Du bejahst, und die andere Köchin schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht: „Ach, sie ist Deutsche! Ich dachte, sie wäre schwerhörig!“ Du bist froh, dass du nur Deutsche und nicht auch noch schwerhörig bist ...

Deine Schüler mögen das Thema „Sport in meinem Leben“ mehr als du, und du hörst die gleichen Sätze in regelmäßiger Wiederkehr. Ein Junge sagt den tollen Satz „Es ist nicht leicht, die Bedeutung des Sports in unserem Leben nicht zu unterschätzen.“ Einen Karate treibenden Jungen fragst du, ob er an Wettkämpfen teilnimmt und ob er schon einen Preis gewonnen hat. Daraufhin sieht er dich an, als hättest du gefragt, ob er dir hundert Mark leihen kann. Die letzte Schulwoche Die Schüler bereiten kleine Programme vor, du bekommst Blumen und Schokolade. Die Schulköchin stellt dir überfreundlich Teller für die Abschiedsfeier zur Verfügung. Entweder hat sie einen guten Tag oder ein schlechtes Gewissen, oder sie ist froh, dass du weg fährst und sie nicht mehr brüllen muss. Du jedenfalls fährst ungern weg, die Schüler lassen dich ungern gehen. Es graut dir schon vor dem deutschen Schulalltag, der eben so alltäglich ist. Nicht wie hier, wo du am Morgen nie weißt, was diesen Tag zu etwas Besonderem machen wird.

7. Schulwoche: Deutsch-Olympiade der Schule: Ausgewählte Schüler treten gegeneinander an, um pro Klassenstufe drei Sieger zu ermitteln, die dann an der Deutsch-Olympiade der Stadt teilnehmen. Du sitzt in der Kommission „Frei über ein Thema sprechen“. MitOst Nr. 12 | November 2003

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INTERVIEW

Lernen, mit sich selbst klar zu kommen Interview mit Christoph Richter, Geschäftsführer einer deutsch-russischen Softwarefirma, über Auslandsaufenthalte, Familie, Freunde und die Kunst, zurecht zu kommen Irma Rybnikowa, Studium der Psychologie in Vilnius/Litauen und Münster, derzeit Doktorandin an der Universität Dresden

Herr Richter, Sie haben schon einige Jahre Auslandserfahrung in Osteuropa, insbesondere in Russland. Warum gerade Russland? Ich wollte schon immer im Ausland arbeiten, allerdings eher im Westen, z.B. in England. Durch Kurzprojekte in Polen und Rumänien habe ich meine erste Osterfahrung gesammelt. Dann wurde mir von meiner Firma ein Projekt in Sibirien angeboten. Russland zieht mit seinem Marktpotenzial westliche Firmen besonders an. Andererseits ist man als westliches Management-ConsulChristoph Richter arbeitete nach dem Studium der Sozialpädagogik

ting-Unternehmen bei russischen Kunden auch gefragt: Russische

zunächst als Trainer. Später war er für die Fraunhofer Management

Unternehmen wollen die deutsche Denkweise und Mentalität ken-

GmbH als Consultant in Rumänien, Polen, Georgien, der

nen lernen und auch übernehmen. Man ist dort nicht nur aufgrund

Tschechischen Republik und Russland tätig. 2001 gründete er die

spezieller Kenntnisse, sondern auch aufgrund des kulturellen

PROXY IT Outsourcing & Consulting GmbH. Die Proxy mit Sitz in

Hintergrunds sehr angesehen; wenn man es etwas drastisch formuliert, kann man von einer Art Mentalitätsimport sprechen.

Moskau und München betreibt ein Software-Entwicklungszentrum in Moskau (Outsourcing-Leistungen für deutsche Unternehmen) und

War die Entsendung nach Russland für Sie eine akzeptable

berät in Russland ansässige ausländische und russische Unternehmen

Alternative oder haben Sie es als notwendiges Übel

bei der Einführung von Qualitätsmanagement-Systemen. Herr Richter selbst lebt in München und Moskau, seine Frau und Tochter in München.

wahrgenommen? Es war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten und Neues zu erleben, hat mich gelockt. Die Arbeit im Ausland bietet mehr Gestaltungsmöglichkeiten und fachliche Freiheiten – man ist auf sich selbst angewiesen und trifft eigene Entscheidungen. Aber gerade damit verdirbt man sich den Rückweg nach Deutschland: Man will auf diese Gestaltungsfreiheiten nicht mehr verzichten. Wie wirkt sich ein Auslandsaufenthalt auf die weitere berufliche Laufbahn aus? Ist es ein Karrieresprung oder doch eher ein Karriereknick? Das ist schwer zu bewerten, es kann so und so laufen. Gerade für Osteuropa werden vielleicht nicht immer die besten Mitarbeiter ausgewählt und auch nicht immer diejenigen, die tatsächlich nach Osteuropa gehen wollen. So kann es auch zum Karriereknick kommen. Eine Strafe ist eine Entsendung nach Osteuropa dennoch

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MitOst Nr. 12 | November 2003

INTERVIEW

Foto: Natalia Debaltchouk

nicht: für Unternehmen ist es oft eine teure Geschichte. Schon

Und was die Partnerschaft und das Familienleben angeht –

allein wegen der höheren Gehaltserwartungen der Entsandten, um

inwieweit lässt sich das mit der Mobilität vereinbaren?

einen vermuteten schlechteren Lebensstandard zu kompensieren.

Die Partnerschaft ist wie die Freundschaften durch dieses „Nomadentum“ auch etwas anders ausgeprägt. Eine Beziehung, in

Sie haben Ihr erstes Jahr in Russland in Sibirien verbracht.

der man morgens aus dem Haus geht und abends zurück kommt,

Ich war ziemlich naiv, als ich nach Sibirien kam – ich hatte keine

ist sicher anders als eine Beziehung, bei der man etwa ein Viertel

Ahnung, was kommt. Es war kein einfaches Jahr für mich. Ich hatte

des Jahres in Deutschland verbringt und die andere Zeit im

keine Sprachkenntnisse, dadurch waren die Freizeitmöglichkeiten

Ausland. Es ist immer die Frage, was man daraus macht. Mein Frau

und die Möglichkeit, Leute kennen zu lernen, ziemlich begrenzt.

und ich haben mittlerweile auch eine Tochter, das private Leben

Selbst die banalsten Dinge wie Einkaufen waren am Anfang nicht

lässt sich schon gestalten.

einfach. Es ging die erste Zeit nur mit Dolmetscherin, später konnte ich auch allein damit umgehen. Aber das Schwierigste war zu lernen,

Wie hat die russische Erfahrung Ihr Leben verändert?

mit mir selbst klar zu kommen.

Eine schwierige Frage. Ganz banale Antworten kommen mir in den Sinn: „Horizont erweitert“, „Erfahrung gesammelt“.

Wie meinen Sie das?

Am meisten vielleicht fällt mir auf, dass sich der Freundeskreis

Kurz gesagt – kein Alkoholiker zu werden oder nicht total durch-

verändert hat. Es ist schwieriger, Leuten, die nicht „herum-

zudrehen. Zu dem üblichen Alltagsstress im Büro kommt ja der

vagabundieren“ zu erzählen, was man die ganze Zeit gemacht hat,

Stress eines fremden Landes. Aber es wirkte auch als Ansporn, neue

was man erlebt hat. Menschen, die selbst ein solches Leben führen,

Bekanntschaften und Freundschaften anzuknüpfen.

können es eher verstehen, das prägt den Freundeskreis. Das erste Jahr kam ich mir in Deutschland wie ein Exot vor – alle

Nach dem Jahr in Sibirien wurden Sie nach Moskau

haben von mir wilde Geschichten erwartet, z.B. dass man in

versetzt, sie mussten wieder einen Bekanntenkreis

Russland so lange Verhandlungen führt, bis alle betrunken unter

aufbauen. Bleibt denn dadurch dieser „Bekanntschaften-

dem Tisch liegen. Mit der Zeit fand ich das nicht mehr lustig. Der

Optimismus“ überhaupt erhalten?

eigentliche russische Alltag ist nicht so romantisch oder wild, wie

Ja, natürlich, mit jeder neuen Stadt lernt man neue Leute kennen

man sich das vorstellt. Und die üblichen Sorgen – Stromausfall oder

und lässt ehemalige Kontakte versanden. Aber es ist Teil des

dass es mal wieder kein heißes Wasser gibt – interessieren hier

Geschäfts: Man trifft sich nur auf Zeit.

kaum jemanden. Das heißt nicht, dass zu meinem Freundeskreis nur Leute gehören,

Es hört sich für mich ziemlich traurig an, wenn private

die selbst viel im Osten reisen. Auf keinen Fall – ich habe alte

Freundschaften der Willkür der beruflichen Zufälle ausgesetzt

Freunde in Deutschland, die ein ganz geregeltes, ruhiges Leben

werden. Wie ist es denn, wenn man sich von einem Freund

führen. Aber durch die Auslandserfahrung ist der Freundeskreis dif-

verabschiedet und denkt, dass man ihn nie mehr sieht?

ferenzierter geworden.

„Nie mehr“ gibt es nicht – wenn ein Kontakt wichtig ist, hält man ihn auch aufrecht. Mit manchen Leuten bleibt man eben für einige Monate, mit anderen über Jahre hinweg befreundet. MitOst Nr. 12 | November 2003

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INTERVIEW

Das absolute Italien! Gespräch mit dem Kabarettisten Steffen Möller, der seit fast zehn Jahren in Polen lebt. Seine Spezialität: Klischees über die Deutschen.

Arndt Lorenz, Journalist

Herr Möller, wie lange leben Sie schon im Ausland? Ich bin seit neun Jahren in Polen. Am Anfang war es tiefstes Ausland, ich konnte die Sprache überhaupt nicht. Was für Polen sprach, war für mich die Nähe zu Berlin. Steffen Möller gehört heute zu den bekanntesten Kabarettisten in Polen. Er spielt in polnischen Fernsehshows und Radiosendungen mit. In Wuppertal geboren, studierte Möller in Berlin Germanistik. Seit acht Jahren lebt er in Polen. Seinen Durchbruch erzielte der Lehrer als Alleinunterhalter in einem Jazzclub. Mittlerweile spielt er in der populä-

Ich habe in Berlin studiert und war danach zuerst in Italien. Ich habe aber gemerkt, dass die italienische Mentalität mir nicht so sehr entspricht wie die polnische. Die Polen sind einerseits Menschen des Nordens, also diszipliniert und ordentlich wie die Deutschen, anderer-

ren Fernsehserie „L wie Liebe“ mit. Seine Rolle: ein deutscher naiver

seits werden die Polen ab 20 Uhr zu den Italienern des

Bauer. Seit mehreren Monaten läuft in Polen auch seine eigene

Nordens. Dann können sie feiern, tanzen, singen, trinken,

Radiosendung „Mit Möller nach Europa“.

und dann ist das hier das absolute Italien! Ich habe mich hier mentalitätsmäßig immer genau richtig gefühlt, vielleicht sogar richtiger als in Deutschland. Das ist auch einer der Gründe, warum ich hier geblieben bin. Sind Sie ausgewandert aus Deutschland? Das Wort „ausgewandert“ passt genau auf mich. Doch vom Sprachgebrauch her wird das Wort mehr für Leute benutzt, die aus Wut oder auch Verfolgung ihre Zelte hinter sich abbrechen. Aber bei mir hat sich das einfach so ergeben im Laufe der Jahre. Ich bin immer noch sehr oft in Deutschland. „Ausgewandert“ trifft vielleicht eher auf solche zu, die ein schlechtes Verhältnis zu Deutschland haben. So was hab’ ich nicht, ich brauche immer wieder neue Impulse aus Deutschland.

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MitOst Nr. 12 | November 2003

INTERVIEW

Welches Land ist Ihr Zuhause?

Werden Sie in Polen als Ausländer gesehen?

Eine Zeit lang war das eine Art Dualismus für mich. Als

Ich werde absolut als Ausländer gesehen. Damit mache

ich erstmals nach Polen kam, war ich fremd im Land und

ich hier ja mein Geld. Ich bin inzwischen in Polen so etwas

hab’ mich als Deutscher gefühlt. Nach den ersten

wie Rudi Carrell (holländischer Showmaster und Kabarettist,

Monaten fuhr ich nach Deutschland. Das war die

d. R.) in Deutschland. Ich werde als polnisch sprechen-

Heimkehr nach Hause aus der Fremde, aber das hat sich

der Ausländer gesehen, der die Leute zum Lachen bringt.

nach einer Weile umgedreht. Die nächsten drei, vier Jahre lang hab’ ich dann ausdrücklich Polen als meine

Werden Sie nicht ernst genommen?

Heimat bezeichnet, habe alle meine Bücher hier hinge-

Das ist ja ein Ziel von mir, nicht ernst genommen zu wer-

schafft. Heute, nach sieben, acht Jahren sind die

den. Die Deutschen werden ja viel zu ernst genommen

Intercity-Reisen von Warschau nach Berlin für mich über-

in Polen. Deutschland ist das bevölkerungsmäßig größte

haupt nicht mehr Fahrten zwischen zwei Ländern, son-

Land in Europa. Die meisten Völker haben Respekt bis

dern ich sehe das als ein großes Land an. Das liegt auch

Furcht, die Polen ganz besonders. Insofern ist es immer

daran, dass ich inzwischen die polnische Sprache sehr

gut, wenn die Deutschen sich als schwach darstellen.

gut kann und dass ich hier und dort gute Freunde habe.

Das wundert die Polen, wenn ein Deutscher Schwächen

Diese Grenze existiert für mich nicht mehr. Ich empfinde

zugibt. Man hält die Deutschen für humorlos, überheb-

Grenzen nach Russland oder Frankreich viel stärker als

lich und absolut gefeit gegen jede Art von Selbstkritik.

zwischen Deutschland und Polen.

Und wenn ich das sozusagen zu meinem Markenzeichen mache, dann kränkt mich das nicht. Dadurch, dass ich ja

Haben Sie sich am Anfang fremd gefühlt in Polen?

gut Polnisch kann, nehmen die Leute mich doch ernst.

Natürlich war ich ein Außenseiter. Wenn ich Bus gefahren bin, hatte ich den Eindruck, dass die Leute im Bus sich

Verlieren Sie die Bodenhaftung zu Deutschland?

doch alle sehr gut kennen müssten, sie sprechen dieselbe

Ich lese regelmäßig deutsche Zeitungen, kenne immer

Sprache, haben keinerlei Verständigungsprobleme. Das

die Bundesligaergebnisse am Montag und gucke deut-

Gefühl meiner Sprachbarriere war so stark, dass ich den

sches Fernsehen, Harald Schmidt (Moderator einer TV-

Eindruck hatte, alle, die dieselbe Sprache teilen, sollten

Satire-Show, d. R.) sehe ich sehr oft. Ich kenne nur weni-

sich quasi wie Familienmitglieder behandeln. Doch die

ge Deutsche, die so lange wie ich hier in Polen sind.

Polen beobachteten sich untereinander mit Schweigen

Viele kommen und gehen sehr schnell wieder, weil sie

und Misstrauen. Heute versteh’ ich das natürlich sehr gut.

Angst haben, in Deutschland von der Karriereleiter zu fal-

Ich habe mich in Deutschland ja auch nie anders verhalten.

len. Ich habe mir diese jedoch in Polen aufgebaut. Viele

Aber meine damaligen Erwartungen von Polen waren

Leute können sich nicht integrieren, weil sie eine

ein Indiz dafür, dass ich mich wirklich fremd gefühlt habe.

Karriere im Ausland nicht anerkennen. Da wird so mancher gefragt: „Wie, du bist Lehrer in Polen? Komm doch

Wie würden Sie sich bei einer Rückkehr nach

zurück, in Deutschland kriegst du deine Rente und hast

Deutschland fühlen?

ein Versicherungssystem.“ Viele wollen die polnische

Fremd vielleicht nicht, aber es würde alles davon abhän-

Sprache lernen oder haben sich in eine polnische Frau

gen, ob ich eine Arbeit hätte, ob ich gebraucht werde.

verliebt, aber lassen sich nicht richtig auf das Land ein.

Eine andere Sache ist die Mentalität. Diese sehe ich etwas anders als früher. Die polnische Mentalität ist für mich ideal: improvisierend und humorvoll, aber auch stark gefühlsbetont. Den deutschen Alltag sehe ich heute eher mit den Augen eines Polen. MitOst Nr. 12 | November 2003

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Fotos: Brigitte Kamm-Tibad

Ansichten aus Rumänien

Versäumte Lektionen – der Historiker Lucian Boia wagt eine kritische Auseinadersetzung mit der rumänischen Geschichtsschreibung.

Lob der Unvollkommenheit

Holger Wochele, 1998-2002 Boschlektor in Nitra/Slowakei,

Volker Strebel, Autor und Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-

wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Wirtschaftsuniversität Wien

Universität München

In jeder Epoche wird die Geschichte eines Staates neu geschrieben, das Geschichtsbild mit den veränderten geistigen Strömungen in Einklang gebracht. Geschichte lässt sich nicht völlig entmythisieren, objektive Geschichtsschreibung muss somit eine Illusion bleiben. Dennoch konnte in Rumänien lange Zeit, auch nach 1989, nicht die Rede von Pluralismus in der Historiographie sein. Bestimmte Mythen, z.B. die ununterbrochene Besiedlung Rumäniens durch die Rumänen, wurden von vielen als objektive Wahrheit aufgefasst oder blieben doch unwidersprochen und erfüllten zum Teil manipulative Zwecke. „Die nationalistischen Mythen mit ihrer autoritären und fremdenfeindlichen Botschaft sind nicht der beste Wegbegleiter“, – so der Bukarester Historiker Lucian Boia.

Als 1978 mit dem Almanach „Stunde namens Hoffnung“ eine Bestandsaufnahme unabhängiger und verbotener tschechischer Literatur von 1968 bis 1978 vorgestellt wurde, fanden sich darin auch Texte des evangelischen Pfarrers Svatopluk Karásek.

Bojas Buch „Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft“, ist nicht als Einführung in die rumänische Geschichte konzipert. Es überprüft vielmehr Gemeinplätze in der traditionellen rumänischen Geschichtsschreibung. Nach einem einführenden Kapitel über die Zusammenhänge von Geschichte, Mythologie und Ideologie folgt eine Auseinandersetzung mit den gängigen Mythen im rumänischen Geschichtsbild. Außerdem wird die Gestalt des idealen Staatsoberhauptes (u.a. die mythische Überhöhung von Ceau˛sescu) sowie das Verhältnis zum „Anderen“ (z.B. die Idealisierung des Verhältnisses zu Frankreich oder zu Deutschland, die Beziehung zu den Ungarn, von denen 1,7 Millionen in Siebenbürgen leben) beleuchtet. Noch 2001 bezeichnete der offiziöse rumänische Historiker Ioan Scurtu „Alter, Kontinuität, Unabhängigkeit und Einheit“ als die vier Grundpfeiler der rumänischen Geschichte und setzte damit die Tradition der Nationalideologie unter Ceau˛sescu fort. Schlagworte, die auch gerne von der rechtsextremen Partei „Großrumänien“ (PRM) verwendet werden, die bei den Parlamentswahlen 2000 zur zweitstärksten politischen Kraft wurde. Genau bei diesen Mythen setzt Boia an und fördert dabei Erkenntnisse zu Tage, die nicht jeden freuen werden. Die Einleitung zu dem 1997 erstmals erschienenen und mittlerweile zum Bestseller gewordenen Werk beschreibt die Rezeption des Buches in Rumänien bis 2002. Sie reicht von mehrheitlich begeisterter Aufnahme bis zur schroffen Ablehnung seitens der betroffenen Historiker. Das flüssig geschriebene Werk bietet nicht nur eine spannende und anregende Lektüre, sondern kann vielleicht auch dazu beitragen, den Mythenanteil im eigenen Geschichtsbild bzw. in der Selbstdarstellung anderer Länder bewusst zu machen. Man würde sich wünschen, dass für andere Länder eine ähnlich übersichtliche und interessante Hinterfragung gängiger Stereotypen veröffentlicht würde. Boia, Lucian: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft, Übersetzung aus dem Rumänischen von A. Weber, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2003.

Zwanzig Jahre später unterhielten sich zwei junge tschechische ˇ epán Pfarrer, St ˇ Hájek und Michal Plzák, mit Svatopluk Karásek. Das Ergebnis liegt jetzt als „fröhlich-ernster Lebenslauf Prag-Zürich retour“ auch in deutscher Übersetzung vor. Karásek berichtet in der ihm eigenen lebhaften Weise über seine Herkunft, seine frühe Aversion gegen den „Bolschewismus“ und die ersten Begegnungen mit dem Rock‘n Roll. Eine spezielle Mischung, die sich in ähnlicher Form bei einem Mitschüler spiegelte, der in Karáseks Lebensweg bis zum heutigen Tag eine Rolle spielt: Vratislav Brabenec, der spätere Saxophonist der legendären Underground-Band „The Plastic People of the Universe“. Karásek plaudert gewissermaßen aus dem Nähkästchen, wenn er Erinnerungen an große protestantische tschechische Gelehrte wie A. Molnár oder J. Miliˇc Lochman preisgibt. Der damals weit über die Grenzen bekannte und geschätzte Theologe Josef L. Hromádka kommt hingegen schlecht weg, ebenso die gerade in linken westlichen Kreisen beachtete „Christliche Friedenskonferenz“ (CFK): „Es war ein trügerischer Frieden ohne Gerechtigkeit. Für uns war die CFK ein moralischer Sumpf [...].“ Folgerichtig kam von Seiten der CFK auch keine Unterstützung, als die „Normalisierungspolitik“ unter Gustav Husák einen zunehmend repressiven Charakter angenommen hatte. Der Einmarsch vom August 1968, der Alexander Dub ceks ˇ „Prager Frühling“ unter Panzerketten zermalmte, war in das zehnte traurige Jahr der Rückführung von kulturellen wie politischen Freiheiten getreten. Der Staat trat eine geradezu hysterische Jagd auf die eher unpolitische Szene langhaariger Rockmusiker in Böhmen los. Der Prozess gegen die Musiker der „Plastic People“ brachte das Fass zum Überlaufen: Schriftsteller wie Václav Havel, Philosophen wie Jan Patoˇcka aber auch Reformkommunisten taten sich zusammen. Die politischen Prozesse schweißten politisch wie weltanschaulich unterschiedliche Persönlichkeiten zur Sammelbewegung CHARTA 77 zuammen. 1980 erlag Karásek dem politischen Druck und emigrierte schweren Herzens mit seiner Familie in die Schweiz, wo er wieder als Pfarrer arbeitete. Die Schweizer Gemeindeglieder waren überrascht, dass „plötzlich ein Pfarrer mit langen Haaren, ohne Zähne, der nicht Deutsch kann“ in ihr wohlorganisiertes Leben eingebrochen war: „Auf einmal konfrontierte sie das Leben damit, dass ein Leben ohne Vollkommenheit wiederum eine andere Dimension und eine andere Schönheit hat.“ 1990 kehrte Karásek zurück und leitet seit 1997 die größte evangelische Gemeinde in Prag. Neue Unvollkommenheiten werden ihm willkommen sein! Karásek, Svatopluk: Der durchnässte Pfarrer. Aus dem Tschechischen von Rudolf Bohren, 288 Seiten, G2W Verlag, Zollikon 2000

FEUILLETON

Fotos: Renata Makarska Das heutige Lwiw hatte schon viele Namen

Im Mittelpunkt der Welt – der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch schreibt die Geographie Galiziens neu Renata Makarska, polnische Boschtutorin von 1996-1998 in Jena/Deutschland, seitdem Lektorin für Polnisch

„... Das bin ich selbst und ich habe keinen Ausweg als diesen Streifen, diesen Flecken, diese Flicken zu verteidigen, die nach allen Seiten zerfasern.“ Juri Andruchowytsch führt uns durch sein Land, durch das letzte Territorium, sein Galizien, seine Provinz, gleich am Nabel der Welt gelegen. Mal ähnelt dieses Land einem bunten Teppich, mal einem mehrmals beschriebenen Pergament, mal ist es mit dem vielschichtigen Putz an einem der einstmals galizischen Häuser zu vergleichen. Ein Palimpsest (immer wieder beschriebenes Pergament, d. R.), sagt der Autor. Was für ein schönes Wort. Wie oft, wie übertrieben oft wurde dieses Pergament überschreiben. Stanislau, Stanislawów, IvanoFrankiwsk. Lemberg, Leopolis, Lwów, Lwow, Lwiw. Das letzte Territorium, das zu verteidigende, ist manchmal die Stadt, der Ort, den man gerne verlassen würde, wo man aber letzten Endes doch stecken bleibt. Man lebt wie alle anderen auch. „Sie halten, typisch ukrainisch, das Leben für unmöglich, unerträglich, erbärmlich, schimpfen auf die Regierung, die Mafia, die Polizei, auf jede Ukraine und jedes Russland dieser Welt, aber sie leben hier; gehen, atmen und dabei kaufen und verkaufen sie Wohnungen, hinterziehen Steuern, picknicken im Grünen, singen ihre Volkslieder, trinken und essen reichlich. Dabei bemerken sie nichts von der Magie dieser Stadt des Autors, Iwano-Frankiwsk, in der er 1960 auf die Welt kam. Im „Letzten Territorium“ schreibt Andruchowytsch die alte symbolische Geographie neu. Die Stadt im Mittelalter, die Stadt unter den Polen. Ständige Überlagerungen auf dem Putz der Bürgerhäuser und auf den Friedhöfen. So auch in Lwiw. „Ein Labyrinth einer Kleinstadtmythologie“. Für Józef Wittlin war die Stadt bunt wie ein orientalischer Teppich: „Balaban, Korniakt, Kohyla, Boim – was für eine buntscheckige Mischung! Das eben ist Lemberg! (...) Griechen, Armenier, Italiener, Sarazenen, Deutsche verlembergten unter den polnischen, ruthenischen und jüdischen Einheimischen.“ Andruchowytsch weitet diese Reihe aus – außer Serben, Dalmatinern, Arnauten, Argonauten, Tataren, Schotten lebten hier auch Agripper, Lestrigonen, Androgyne und Zyklopen. „Sie waren alle da“, schreibt Andruchowytsch, „denn Lwiw liegt im Mittelpunkt der Welt.“

Andruchowytsch ist auch Lokführer eines virtuellen Zuges durch Mitteleuropa. Der Autor bezeichnet die Kultur- und Literatur-Internetzeitschrift „Zug 76“ als „onlajnowa reinkarnacja“ (Online-Reinkarnation) eines Zuges, den es einmal gab und der durch den halben Osten fuhr. Einsteigemöglichkeiten unter: www.potyah76.org.ua

Andruchowytsch, Juri, Das letzte Territorium. Essays, Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003

MitOst Nr. 12 | November 2003

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REISE

Fotos: Saskia Dau

Roma-Kinder im Kosovo –

eine Reise zu vergessenen Volksgruppen

Saskia Dau, Psychologin, Berlin

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Kosovo haben in den letzten Jahren viele Einwohner vertrieben. Auch tausende Roma verließen die Region. Sie leben heute in ganz Serbien unter den schlechtesten Lebensbedingungen in Baracken an Schnellstraßen, Autobahnkreuzungen, Brücken oder gar auf Müllkippen. Die hygienischen Bedingungen sind meist katastrophal. Meine Reise trete ich im November 2002 an. Im Auftrag der GTZ (Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit GmbH) soll ich Kinder- und Jugendinitiativen untersuchen, die durch das Projekt „Trauma und Versöhnung“ inhaltlich und finanziell von ihr unterstützt werden. Ziel meiner Arbeit im Kosovo ist unter anderem die Begutachtung zweier Bildungsprojekte in Roma-Siedlungen. Mit dem Auto fahren wir rechts von der betonierten Hauptstraße auf einen schlammigen Weg Richtung Müllhalde. Ein älteres Roma-Ehepaar kommt uns auf einem klapprigen Pferdekarren mit Blechabfall entgegen. Schnaufend versucht das abgemagerte Pferd, den voll beladenen Karren durch den Schlamm zu ziehen. In der Siedlung bietet sich uns ein Bild von äußerster Armut. Auf einem weiten Feld sieht man zusammengebastelte Blech- und Müllhütten. Hier wohnen die Roma-Familien unter extrem schwierigen Lebensbedingungen. Der uns begleitende albanische Sozialarbeiter führt uns in das moderne, in der Siedlung zentral gelegene Gebäude, das als Schule und Gemeindezentrum dient und von Spendengeldern finanziert wurde. Kinder kommen uns neugierig entgegen gerannt und begrüßen uns in vielen Sprachen. Wir betreten mehrere Klassenzimmer, in denen Schüler verschiedener Altersstufen gemeinsam lernen. Vormittags werden die Kinder und Jugendlichen unterrichtet und nachmittags versucht man, die Eltern über Gesundheit, Hygiene, Bildung und vieles andere mehr aufzuklären.

drei Kinder auf dem Fußboden, eingepackt in Pullover und Jacken, aber immer noch vor Kälte zitternd, an einem kleinen elektrischen Heizofen und malen Buchstaben. Die Gastgeberin erzählt über ihre Gemeindearbeit und Rolle als Repräsentantin des Volkes. Man müsse die Kinder und ihre Familien immer wieder davon überzeugen, dass Schulbildung wichtig sei und vor Armut schützen könne. Eltern müssten von ihr überredet werden, ihre Kinder regelmäßig in die Schule zu schicken und die Schüler selbst davon überzeugt werden, regelmäßig zu erscheinen. Die drei neunjährigen Kinder vor uns auf dem Fußboden besuchen regelmäßig die Schule. Sie können gut schreiben und lesen. Aus Spaß mache ich den Kindern auf Deutsch ein Kompliment. Prompt bekomme ich eine Antwort auf Schweizerdeutsch. Sie erzählen mir, dass sie einige Jahre in einem Flüchtlingslager in der Schweiz gewohnt haben und dort zur Schule gegangen sind. Stolz präsentieren die Kinder ihren eigenen Klassenraum, der sich neben dem Wohnzimmer befindet und von Spendengeldern finanziert wurde. Doch er ist im Winter nicht heizbar, es gibt nur den kleinen Ofen im Wohnzimmer. Auch meine Novembernacht wird in der privaten Unterkunft kalt und ungemütlich. Weder Heizung noch Warmwasser funktionieren. Ich muss das allerdings nur ein paar Tage aushalten, für die RomaKinder gehören Minusgrade bis zu 20 Grad zum täglichen Leben.

Die Aschkali und Kosovo-Ägypter sind albanisch sprechende Minderheiten im Kosovo. Ihre Herkunft ist umstritten. Sie gelten als albanisierte Roma, gelegentlich jedoch als Nachkommen ägyptischer oder türkischer Einwanderer. Von den ursprünglich etwa 150.000 Roma, Aschkali und KosovoÄgyptern im Kosovo leben heute drei Viertel in den Nachbarländern Montenegro, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien oder Albanien. Viele der im Kosovo Gebliebenen werden in Lagern für „displaced persons“ geschützt, weil

Am nächsten Tag besuchen wir eine Siedlung von sogenannten „Egyptians“. Mehrere nicht verputzte Häuser bilden zusammen ein kleines Dorf. Die Familienklans sind so groß, dass man das Gefühl hat, jeder sei hier mit jedem verwandt. Wir betreten Haus und Hof einer in der Gemeinde angesehenen und gebildeten Frau. Schon über dreißig Jahre „alt“, bildschön und untypischerweise unverheiratet, lebt diese Lehrerin im Hause ihres Vaters. Sie ist selbstbewusst und engagiert sich für ihre Gemeinde. Gastfreundlich werden wir mit Tee und Gebäck empfangen. Die Schuhe ziehen wir, trotz der Kälte, vor der Haustür aus, wie es die Tradition verlangt. Drinnen sitzen

sie Opfer gezielter ethnischer Vertreibung geworden sind. Ihnen wird von der albanischen Bevölkerung vorgeworfen, während des Kosovo-Krieges mit Serbien paktiert zu haben. Etwa 14.000 Häuser der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter wurden in Brand gesteckt, 74 Dörfer und Siedlungen dieser Minderheiten vollständig zerstört. (Quelle: gesellschaft für bedrohte völker, w w w. g f b v. d e )

FEUILLETON

pani jola sagt: früher war alles besser, in der kommune. pani jola hat keine gebiete wiedergewonnen. pani jola hat ihre heimat hinterm bug verloren. im polnischen gibt es für heimat kein wort. pani jola nimmt gerne die bunten luftballons und die pro-europa-hochglanzprospekte für ihre enkel mit. neulich zu muttertag haben sie auch der oma ein fensterbild daraus gebastelt. sie leben zu sechst in drei zimmer küche-diele-bad, die rente der oma reicht selten. am besten zahlen die heimwehtouristen aus deutschland. 80 groschen für einmal kabine plus händewaschen, klopapier vom laufenden meter. da wird oft auf einen zloty aufgerundet.

Foto:Melanie Haller

Pani Jola

verkauft Erleichterung – Polen vor dem EU-Beitritt

Melanie Haller, 2001–2003 ifa-Kulturassistentin in

pan edek verkauft zerstreuung. mit seinem ächzenden akkordeon zieht er von block zu block. sein repertoire ist unendlich. derzeitiger schlager, unübertroffen: ode an die freude. das hat doch ein deutscher geschrieben, sagt pan edek. und: in deutschland arbeiten sie anständig. in ihrem schrebergarten zieht die ganze familie radieschen, die auf dem markt verkauft werden. wenn polen in die eu kommt, kann ich einpacken, sagt der schwiegersohn. die tochter hält unterm ehebett eine sprühdose mit schwarzer farbe versteckt. in den lauen mainächten streicht sie ums haus und schreibt auf die wände: uni europejska nie. nachmittags kommen die kinder aus der schule und sagen: oma, wenn wir in der eu sind, dann bist du nicht mehr die klooma. dann kriegst du eine uniform aus gold. dann wird alles besser. dann nennen wir dich: mc clean.

Wroclaw/Polen, derzeit Promotion

pani jola verkauft erleichterung. besonders an wochenenden, die zunehmend sonniger werden, auch in diesem land. wenig hält die menschen in ihren ein-zwei-dreizimmerwohnungen der trabantenblocks am rande der großen stadt. alles, was da volk ist, strömt auf den ring, den größten marktplatz polens, wenn nicht europas und die rathausfassade in gotik gratis dazu. europa. je reifer die erdbeeren auf dem felde, desto europer. es rückt das datum bedrohlich näher, wenige stunden werden über das schicksal eines ganzen, schwer gebeutelten landes entscheiden. noch ist es nicht juni, noch ist polen nicht verloren. also wird abgerechnet. alle sind sie auf den beinen, arbeiten gegen europa, gegen den präsidenten, für die bauern, für die polnischen produkte. gut weil polnisch, verkündet die kirschmarmelade mit niedrigzuckergehalt. die arbeitslosen invaliden packen ihre krücken und glatzköpfigen söhne untern arm und halten tapfer plakate in den gegenwind. eu-beitritt gleich verrat an den wiedergewonnenen gebieten. blut für den boden. es bleiben ein paar alte mit ihren sonntagshüten stehen.

Foto: Dominik Kretschmann Wieviele Stunden sind es noch bis zur Entscheidung

MitOst Nr. 12 | November 2003

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FEUILLETON

Selbstbilder – ein neues Buch stellt Menschen jüdischer Herkunft vor und beschreibt ihre ganz

Elke Bredereck, Boschstipendiatin, seit 2001 DAAD -Lektorin in Odessa/Ukraine

Margarita, *1931, Bibliothekarin, St. Petersburg: Ich bin in einem Leningrader Arbeiterbezirk aufgewachsen, dort lebten kaum Juden. Bei uns in der Familie gab es keine jüdischen Traditionen, denn meine Eltern waren völlig assimiliert. Sie hatten lange in Prag gelebt, dort studiert. Sie sprachen kein Jiddisch mehr und waren nicht religiös. Im Krieg, als ich erfuhr, was im okkupierten Gebiet vor sich geht, dass die Juden umgebracht werden, da habe ich das erste Mal begriffen, dass ich Jüdin bin. Ich hörte, auf welch furchtbare Weise mein Vater, mein Onkel, meine Tante, meine Großmutter und mein Großvater in Odessa umkamen. [...] Ich habe einen Russen geheiratet, aber wenn in meinem Umfeld jüdische Männer gewesen wären, hätte ich sicher einen Juden geheiratet. Denn in einer Situation, wo der Antisemitismus im Land ziemlich stark ist, versteht man sich einfach besser. Man hat mehr Sicherheit, dass man nicht beleidigt wird. Wenn nicht vom Mann, so doch von dessen Verwandtschaft. Außerdem ist die Mentalität eine andere. Mir gefallen Juden einfach besser, in ihnen finde ich mehr Humor, mehr Fähigkeit zum Glück. Aber alle Freunde meines Mannes sind Juden. Ich sag dir was: Für einen Russen und sogar für einen Juden ist die Vorstellung, die er vom Äußeren einer typischen Jüdin hat, eine negative. Eine typische Russin ist schön, eine typische Jüdin hässlich. Also eine Jüdin ist eigentlich nur dann schön, wenn sie anders aussieht. Darum wollte ich immer etwas Anderes sein. [...] Ja, ich habe auch über Auswanderung nachgedacht, aber ich weiß, dass es ausgeschlossen ist, solange ich mit meinem Mann lebe. Er will nirgendwo hin. Ich würde natürlich gern in einem Land leben, wo es nicht solche antijüdischen Zeitungen und Aufschriften auf den Wänden gibt oder wo du nicht auf der Straße beleidigt wirst. Aber ich liebe dieses Land, seine Probleme sind meine, seine Kultur ist meine Kultur. Eben die russische, nicht die jüdische. Ja, ich habe Schalom-Alejchim gelesen, und er gefällt mir. Doch ich bin russisch erzogen. Das ist meins. [...] Typisch für die jüdische Mentalität scheint mir der Spott, sonst eigentlich nichts. Es gibt auch unter den Juden böse und gute, ich mache keinen Unterschied, bin auch mit Russen befreundet. Vielleicht suche ich nur dann Juden, wenn es ein gemeinsames Gesprächsthema gibt. Sonst ist mir die Nationalität egal, ich sehe da keinen besonderen Unterschied. [...] 38

MitOst Nr. 12 | November 2003

Foto: Marianne Heinzlmeier

persönlichen Schicksale

Es gibt bei uns massenhaft jüdische Witze. In letzter Zeit höre ich sie selten, vielleicht, weil so viele Juden ausgewandert sind. In diesen Witzen ist der Jude immer gierig oder listig. Ich erzähle gern jüdische Witze und imitiere den Akzent. Natürlich sind das keine, die Juden erniedrigen. Im Land gab es eine Menge solcher erniedrigender Witze, das ist eine andere Sache. Ich erzähle auch keine unanständigen. Eine Kostprobe: „Treffen sich zwei Juden. Wie geht`s, Abraham? O, schlecht. Warum schlecht? Ich hab Krebs. Das ist schlecht, ja. Aber es könnte doch noch schlechter gehen. Was kann denn schlechter sein? I c h könnte Krebs haben.“

Bredereck, Elke, Menschen jüdischer Herkunft. Selbstbilder aus St. Petersburg, Vilnius und Berlin, Hartung-Gorre Verlag Konstanz, Hrsg. Erhard Roy Wiehn

Die Autorin des Buches befragte als Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung während des Programms „Stiftungskolleg für internationale Aufgaben” jüdische Bürger zu ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Erscheinungstermin des 160 Seiten umfassenden Buches: Dezember 2003. Im Januar 2004 finden Lesungen aus dem Buch in Berlin, Halle, Erfurt und Weimar statt. Weitere Informationen: e l k e @ u k r. n e t

FEUILLETON

Weit verbreitete Straflosigkeit

Solidarität für Russland– eine Kampagne von amnesty international Annette Hartmetz und Anne-Catherine Paulisch, Fachreferentinnen bei amnesty international

„Solidarität für Russland“ – ist das Motto der im Oktober 2002 gestarteten weltweiten Russland-Kampagne von amnesty international (ai). Schwerpunktthemen der Kampagne sind die Situation von Frauen, Kindern und Jugendlichen in Haft sowie der weit verbreitete Rassismus und die Diskriminierung ethnischer Minderheiten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde mit neuen Gesetzen Grundlagen für einen Rechtsstaat gelegt. Aber zwischen Verfassung und Realität klafft nach wie vor eine Lücke. Ein Beispiel: das von Russland unterzeichnete UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 garantiert Kindern und Jugendlichen spezielle Rechte, die sie vor Übergriffen wie Folter und Misshandlungen z.B. in Haftanstalten schützen sollen. Dennoch erfährt amnesty international immer wieder von solchen Übergriffen gegen Kinder. Oftmals werden Kindern in Untersuchungshaft sogar grundlegende Rechte vorenthalten, wie etwa das Recht, nur im Beisein eines Anwalts, eines Familienangehörigen oder einer anderen geeigneten erwachsenen Person vernommen zu werden. Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien Der Konflikt in Tschetschenien wird von massiven Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht begleitet. Glaubwürdige Quellen werfen den russischen Sicherheitskräften vor, für willkürliche Festnahmen, Folterungen, Hinrichtungen und das „Verschwindenlassen“ von Menschen verantwortlich zu sein. Gefangene werden oft unter katastrophalen Bedingungen – manchmal sogar in Erdlöchern – festgehalten. Der Kontakt zu ihren Familienangehörigen oder einem Rechtsbeistand wird ihnen verwehrt. Überlebende berichten von routinemäßiger und systematischer Folter, darunter die Vergewaltigung von Männern und Frauen, Schläge, Elektroschocks und die Anwendung von Tränengas. Aber auch den bewaffneten tschetschenischen Gruppen werden massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts zur Last gelegt. Sie sollen beispielsweise Anschläge auf Zivilisten verübt und gefangen genommene russische Soldaten exekutiert haben.

Den Menschenrechtsverletzungen steht die weit gehende Straflosigkeit der Täter entgegen. Die Verurteilung des ranghohen Oberst Jurij Budanow zu zehn Jahren Haft für die Entführung und Ermordung der 18-jährigen Cheda Kungajewa im Juli 2003 ist daher für ai ein konkreter Erfolg der Russland-Kampagne. Der Hintergrund: am 26. März 2000 wurde Cheda Kungajewa von russischen Soldaten unter dem Kommando von Oberst Budanow aus der Wohnung ihrer Familie in der Nähe von Grosny verschleppt. Der Oberst hatte die junge Frau mit in sein Zelt genommen und dort erwürgt. Nach der Obduktion wurde festgestellt, dass sie etwa eine Stunde vor ihrem Tod brutal vergewaltigt worden war. In einem ersten Gerichtsverfahren wurde Oberst Budanow als zeitweilig unzurechnungsfähig erklärt und lediglich eine zweijährige stationäre psychiatrische Behandlung angeordnet. Anlass für ai aktiv zu werden: Aus der ganzen Welt gingen Appellbriefe bei den zuständigen russischen Behörden ein, die eine unparteiische Untersuchung der Vorwürfe forderten. Das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofs hob das vorherige Urteil schließlich auf und verwies das Verfahren an das Militärgericht zur Verhandlung zurück. Das endgültige Urteil erging im Juli 2003. Staaten- und Passlosigkeit für ehemalige BürgerInnen der Sowjetunion Ein besonders aktuelles Thema der Kampagne ist die drohende Staaten-und Passlosigkeit für viele ehemalige BürgerInnen der Sowjetunion. 1991 wurde das russische Staatsangehörigkeitsrecht neu geordnet. Während dieses Recht von den meisten russischen StaatsbürgerInnen problemlos in Anspruch genommen werden kann, wird es nach Informationen von ai bis zum heutigen Tag Hunderttausenden von Menschen, insbesondere Angehörigen verschiedener ethnischer Minderheiten vorenthalten. Die Folgen für die Betroffenen sind dramatisch. So haben sie beispielsweise keinen Zugang zu Krankenversorgung, Sozialleistungen und Schulwesen. Mit dem Ende einer Übergangsperiode, in der noch der alte sowjetische Pass galt, droht den Betroffenen mit dem 1. Januar 2004 praktisch auch noch die Staatenlosigkeit. Die Russland-Kampagne endet am 10.12.2003, dem Internationalen Tag der Menschenrechte. Die deutsche Sektion wird am Wochenende davor eine Abschlusskundgebung in Berlin veranstalten. Vor der russischen Botschaft soll mit großen Bannern nochmals eindrücklich gezeigt werden, wem unsere Solidarität in Russland gilt!

Weitere Informationen: w w w. a m n e s t y. d e MitOst Nr. 12 | November 2003

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THEODOR-HEUSS-KOLLEG

Ideen verwirklichen – Richtung Südost Die Maschen des „Kollegiatennetzes“ werden in Südosteuropa immer dichter

Karen Hauff, Koordinatorin beim Theodor-Heuss-Kolleg, Berlin

Die Zahl der Teilnehmer im Theodor-Heuss-Kolleg aus Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Ungarn, Rumänien und SerbienMontenegro nimmt zu. Bei den Sommerseminaren des Heuss-Kollegs erklingen jetzt häufig Balkanbeats und Yugoton, die Georgier und Russen erhalten Konkurrenz auf dem Tanzboden. In Gesprächen zu gesellschaftlichen Problemen werden nun häufig Beispiele aus der Balkanregion genannt. Ein Thema, das den Kollegiaten aus Südosteuropa auf der Seele brennt: Wie kann das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen harmonisch verlaufen? Was können wir dafür tun? Die Teilnehmer bemühen sich um Erklärungen für die Konflikte zwischen der ungarischen Minderheit und der rumänischen Bevölkerung in Cluj/Koloszvar oder erzählen von ihren Erlebnissen und Eindrücken, wie Serben, Kroaten und Bosniaken nebeneinander in Sarajewo leben. Sie wehren sich dagegen, über einen Kamm geschoren zu werden. Balkan ist nicht gleich Balkan, und welche Länder gehören überhaupt dazu? Projekte in Südosteuropa Im vergangenen Jahr waren Aktivitäten mit Waisenkindern in Bukarest, Budapest und Sombor (Serbien), ein Seminar in Slowenien zu sprachbezogenen Vorurteilen sowie eine Fortbildung zu Projektmanagement des Theodor-Heuss-Kollegs in Cluj der Auftakt für die Projektarbeit in Südosteuropa. IN DIESEM HERBST LÄUFT EINE GANZE REIHE VON PROJEKTEN AN: Demokratie lernen und diskutieren Kollegiaten entwickeln Seminarprojekte, um die Situation in ihren Regionen zu diskutieren und zu lernen, eigene Standpunkte einzunehmen. Bereits im Sommer 2003 wurden dazu während der Einstiegsseminare des Theodor-Heuss-Kollegs erste Erfahrungen gesammelt. „Demokratie als Fremdsprache“ betiteln zwei rumänische Kollegiaten ein Treffen mit Studierenden aus Süd- und Mittelosteuropa an der Universität Konstanz, wo sie sich mithilfe von Theatermethoden mit Demokratiekonzepten auseinandersetzen wollen. „Die Seminarsprache ist Deutsch und die gemeinsame Fremdsprache ist die Demokratie,“ so Ramona Trufin und Florin Veringa. Kontakt: Ramona Trufin, r a m i t r u @ y a h o o . d e . Balkan in Europa In internationalen Seminaren und auf Reisen stellten südosteuropäische Kollegiaten fest, wie wenig andere Mittel- und Osteuropäer über die Balkanregion wissen. Eine Ahnungslosigkeit, die nach Ansicht der Kollegiaten manchmal zu verletzenden Äußerungen und zu Gleichgültigkeit gegenüber der aktuellen Lage in dieser Region führt. Kollegiaten aus Bosnien, Serbien und Slowenien planen deshalb nun ein Vertiefungsseminar, wo sie die politischen und geschichtlichen Beziehungen zwischen Nationen und ethnischen Gruppen in der Balkanregion, aktuelle Entwicklungen und Krisen erklären und diskutieren wollen. Das Seminar soll auch für MitOst-Mitglieder und Lektoren offen sein. Kontakt: Sandra Topalovski, z a n d r e t a @ h o t m a i l . c o m . Bosnische Identität – von der Dreisamkeit zur Gemeinsamkeit? Svjetlana Lugonjic lädt kroatische, serbische und bosniakisch-muslimische Studenten, die in Bosnien leben, zu einem Treffen ein, um herauszufinden, ob es eine gemeinsame bosnische Identität gibt. „Das Ziel ist, zu lernen, miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten, weil langfristig die Hauptprobleme in Bosnien nur gemeinsam und von dieser Studentengeneration gelöst werden können. Teilnehmer sollen sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen, anstatt zu resignieren und

eine Identität in einem anderen Land zu suchen. Viele unter ihnen fühlen sich als Fremde im eigenen Land und ziehen dann leider eine andere Fremde der Fremde Bosniens vor, weil es viel Kraft kostet hier zu leben. Ich will versuchen zu zeigen, dass es doch viel Gemeinsames gibt, wir haben die gleichen Wurzeln, die gleiche Geschichte, Kultur, die gleichen Träume, Hoffnungen …“ Kontakt: Svjetlana Lugonjic, s v j e t l a n a . l u g o n j i c @ l m h . ox . a c . u k . Schreibwerkstatt Südost Das Engagement der Heuss-Kollegiaten wendet sich auch der Praxis zu. In zwei Werkstätten zum Thema „E-Media“ in Blagaevgrad (Bulgarien) und „Online-Journalismus“ in Cluj-Napoca (Rumänien) wollen Nachwuchs-Journalisten sich mit Medienethik befassen, das Schreiben von Online-Artikeln üben und im Umgang mit elektronischen Medien handfeste technische Kompetenzen erlangen. „Die Idee des Projekts ist wegen des Vakuums an professionellem Journalismus in Südosteuropa entstanden“, so einer der Projektleiter. „Das Internet bietet eine große Chance für unabhängigen und kreativen Journalismus.“ Kontakt: Vlad Vlasceanu, v l a d v l a s c e a n u @ h o t m a i l . c o m (Bulgarien), Leon-Eduard Bruckner, p u n k a s s r o @ y a h o o . c o m (Rumänien)

Die Projektleiter freuen sich über Anregungen, Unterstützung und Euer Interesse!

Ausschreibung Neu erschienen!

Gemeinsam aktiv für eine lebendige Demokratie Jetzt für das Kollegjahr 2004/2005 bewerben! Das Theodor-Heuss-Kolleg der Robert Bosch Stiftung fördert jährlich 100 aktive Jugendliche aus Deutschland, Österreich und den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die sich an ihrer Hochschule, im Heimatort oder in internationalen Projekten engagieren möchten.

Demokratie und Gemeinsinn Bericht über die Kollegjahre 2000-2003 Die Publikation des Theodor-HeussKollegs der Robert Bosch Stiftung berichtet über die Entstehung und Entwicklung des Kollegs und stellt Kollegiatenprojekte seit der Gründung des Kollegs vor. Die Broschüre sowie weiteres Informationsmaterial schickt das Theodor-Heuss-Kolleg gerne zu.

Heuss-Kollegiaten werden zu internationalen Sommerseminaren mit gesellschaftspolitischen und interkulturellen Themen eingeladen. Gemeinsam mit weiteren Studenten lernen sie dort, ein eigenes Projekt systematisch zu entwickeln. Ein Stipendium der Robert Bosch Stiftung ermöglicht die Realisierung der besten Projektideen. Die Heuss-Kollegiaten nehmen an Fortbildungsseminaren teil und tauschen sich bei regionalen Treffen aus. Mit einem Bilanzseminar in Berlin wird die Ausbildung nach einem Jahr abgeschlossen. Bewerber für das Theodor-Heuss-Kolleg sollten zwischen 18 und 24 Jahre alt sein, über gute Deutschkenntnisse verfügen und Lust auf Projektarbeit haben. Bewerbungsschluss: 10.03.2004 Weitere Informationen: w w w. t h e o d o r - h e u s s - k o l l e g . d e . Kontakt: i n f o @ t h e o d o r - h e u s s - k o l l e g . d e .

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LEKTORENPROGRAMME

„Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, den es noch gestern gar nicht gab ...“ otos: Dominik Kretschmann

Ulrike Daniel, seit 2002 Projektleiterin der Lektorenprogramme der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Auch wenn das Ziel des „Lektorenzugs“ zum 10jährigen Jubiläum nicht im Nirgendwo lag, sondern in Brünn, Budapest, der Hohen Tatra und Krakau, so gab es diesen Zug in der Tat gestern noch nicht, und er wird wohl auch einzigartig bleiben. Drei Abteilwagen, Salon-, Speise- und Gesellschaftswagen mit Bar, allesamt im Bundesbahncharme der 70er Jahre, boten 160 ehemaligen Lektoren der Robert Bosch Stiftung und zahlreichen Jubiläumsgästen ein außergewöhnliches und unvergessliches Ambiente für die sechstägige Reise, die viele Lektoren nochmals durch die Gegenden führte, in denen sie einst wirkten. Sämtliche Lektorenländer präsentierten sich in facettenreichen Ausstellungen im Zug sowie während der Fahrt durch zahlreiche Veranstaltungen im Salon- und Gesellschaftswagen. So konnte man Erfahrungen austauschen, in alten Zeiten schwelgen, neue Länder kennen lernen und abends in Brünn, Budapest, Tatranska Lomnica und Krakau 10 Jahre Lektorenprogramm angemessen feiern. Fotos und Berichte von dieser einmaligen Reise sind unter www.boschlektoren.de zu finden.

Die wahren Helden der Reise Ralf Kirmse, Boschlektor in Szeged/Ungarn 1998-2000 oto: Paul Cahoj

Sowohl denjenigen, die mit der Organisation und Durchführung der Zugreise betraut waren, als auch den vielen Helfern an den „Haltestellen“ gilt unser aufrichtiger Dank. Ihre hervorragenden Leistungen hatten Anteil am besonderen Erfolg dieser Reise. Unter all den Fleißigen gibt es jedoch ein Kollektiv, das den Titel „Helden der Reise“ in ganz besonderer Weise verdient: Es handelt sich um die Masseurbrigade aus dem Rudas-Bad in Budapest. Sie sorgte definitiv für einen Höhepunkt der Reise! Wer einmal den etwas düsteren Innenraum des Bades mit seiner von Säulen getragenen Kuppel, dem achteckigen Hauptbecken, mit den in Nischen gelegenen kleinen Becken und den verschiedenen Saunakammern betreten hat, weiß, welchen Belastungen die Angestellten des Gesundheitswesens ausgesetzt sind: 40 °C heißes Schwefelwasser und Küchendampfbrodeln allerorten. Die Massagestube liegt etwas abseits, der Badelärm dringt nur von fern herüber. Hier ist die Luft weniger stickig, dafür erfüllt von Seifenduft. Hinter den in zwei Reihen angeordneten Blechpritschen stehen die vier muskulösen Masseure, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, die schweren Hände erwartungsvoll auf die Liegen gestützt.

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Normalerweise geht es im Rudas-Bad vorrangig um Klasse. Hier entspannen sich Künstler und Intellektuelle – sogar der Staatspräsident soll regelmäßiger Gast sein. Bei unserer Gruppe fiel jedoch auch die Masse ins Gewicht. Weil eine Verständigung auf Ungarisch nicht möglich war, rief eine kurze Kopfbewegung die Delinquenten zur Massagebank. Schon begannen die eingeseiften Hände mit ihrer Arbeit. Packten verspannte Muskelgruppen, zogen sie hin und her - Widerstand war zwecklos. Gelenke wurden in alle möglichen und unmöglichen Richtungen gebogen und gefaltet. Ein Fingerzeig forderte dazu auf, sich einmal um die Längsachse zu drehen, um sich die andere Körperhälfte bearbeiten zu lassen. Während die Gäste stumm auf den Pritschen lagen und die Hände der Masseure wie selbst ständige Lebewesen auf dem Körper umherwanderten, entspann sich in der

LEKTORENPROGRAMME

In 10 Programmjahren hat die Robert Bosch Stiftung rund 460 Stipendiaten gefördert. Lektoren waren seit 1993 in Fotos: Dominik Kretschmann

17 Ländern aktiv: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei,

Massagestube ein lebhaftes Gespräch. Weil ein Großteil der Gruppe kein Ungarisch verstand, konnte die Masseurbrigade sich relativ unbelauscht fühlen und bestimmt das eine oder andere Witzchen über die Kundschaft reißen. Auch die Hände der Masseure hatten ihre Unterhaltung. Normalerweise ist das traditionelle osmanische Bad den Männern vorbehalten, zu unserer Gruppe gehörte dagegen eine nicht geringe Anzahl jüngerer Frauen. Ein Blick zum Eingang muss den Masseuren ein Gefühl wie dem Hl. Georg, dem Drachentöter, beschert haben. Denn so, wie dem Drachen stets neue Köpfe wuchsen, nahm auch die Schlange der Aspiranten kein Ende und schien sich stets von selbst zu erneuern. So waren die lendenbeschürzten Körperbändiger während ganzen Nachtschicht von 22 Uhr bis ein Uhr morgens beschäftigt. Drei Stunden Dauermassage ziehen sich auch für Profis in die Länge. Der Laie konnte das an den gequälten Blicken erkennen, die sich besonders in der letzten Stunde immer häufiger zur Uhr über der Tür richteten. Ein paar Abstriche müssen an dieser Glanzleistung nur deshalb gemacht werden, weil nicht in allen Fällen die geforderte Gleichbehandlung angewendet wurde und einige Kunden in den Genuss einer extra langen Massage kamen. Ob dies aus medizinischen oder anderen Gründen erfolgte, bleibt dahingestellt.

Moj Gorod / Moje Miasto / Meine Stadt

Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro, Kroatien, Belarus, Ukraine, Russland, Kasachstan, Georgien. Etwa ein Drittel der ehemaligen Lektoren – und darunter Vertreter aus allen Programmjahren! – ging vom 24.-29. September mit dem Lektorenzug auf Reisen. Die Ausschreibung für das neue Stipendienjahr 2004/05 ist in vollem Gange. Bewerbungsunterlagen und Informationen unter w w w. b o s c h l e k t o r e n . d e .

Bewerbungsschluss ist der 31. Januar 2004!

Foto: Andreas Metz

Andreas Metz, 2002–2003 Boschlektor in Kaliningrad/Russland, 2003–2004 in Danzig/Polen, Mitinitiator des n-ost-Korrespondentennetzes

„Polnische und russische Studenten organisieren getrennt eine Ausstellung über ihre Heimatstädte Olsztyn und Kaliningrad, besuchen sich gegenseitig und präsentieren dabei ihre Ausstellung gemeinsam vor großem Publikum“ – so könnte die Kurzbeschreibung der Projektidee sein, die die beiden Boschlektoren Aneta Jachimowicz (Olsztyn) und Andreas Metz (Kaliningrad) im Frühjahr 2003 in die Tat umsetzten. Die ehemaligen ostpreußischen Städte Allenstein (Olsztyn) und Königsberg (Kaliningrad) sind durch eine jahrhundertelange Geschichte miteinander verbunden. Die Gegenwart ist jedoch durch eine schwierige Grenze zwischen dem nun zu Polen (Olsztyn) und Russland (Kaliningrad) gehörenden Gebiet geprägt. Seit 1990 wachsen langsam Kontakte, sie werden aber durch die EU-Osterweiterung und die Einführung der Visapflicht an der polnischen Grenze zum 1. Oktober 2003 wieder erschwert. Das Projekt stellte eine der letzten Gelegenheiten für Studenten aus beiden Ländern dar, sich unproblematisch kennen zu lernen. Am Austausch nahmen rund 28 Studenten teil. Sie hatten die Gelegenheit, sich im Mai und Juni 2003 je ein Wochenende lang gegenseitig zu besuchen. Die jeweiligen Gastgeber organisierten die Unterkunft in Privatquartieren und stellten auch ein Programm zusammen, das aus Ausflügen, Lagerfeuern, Stadtrundgängen und gemeinsamen Essen und Feiern bestand. Kommuniziert wurde dabei vorrangig auf Deutsch. Die jeweiligen Höhepunkte der beiden Wochenenden waren die feierlichen Eröffnungen der gemeinsamen Ausstellung „Moj Gorod / Moje Miasto /Meine Stadt“ im Rathaus in Olsztyn und im DeutschRussischen-Haus in Kaliningrad vor jeweils über hundert Gästen. Die Ausstellung, die in rund dreimonatiger Arbeit entstand, besteht aus etwa 80 Fotografien aus beiden Städten und rund 50 Texten, die zu den jeweiligen Fotos eine sehr persönliche Geschichte erzählen. Die beiden Wochenenden waren trotz unterschiedlicher Geschichte, Mentalität und Kultur von großer Harmonie geprägt – viele Freundschaften entstanden. Beim Abschied am Busbahnhof wollte das Umarmen kein Ende nehmen. Gegenseitige Nachtreffen sind vereinbart.

Betonruine in Kaliningrad (ehemals Schloss)

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KOOPERATIONSPARTNER

Lehrer auf Zeit –Völkerverständigung macht Schule eitere Informationen: usan Rößling und Katrin Peerenboom

Katrin Peerenboom, ehemalige Stipendiatin des Programms „Völkerverständigung macht Schule“ in Krakau/Polen und Alumni-Vertreterin von MitOst

[email protected]) hannes Deublein, Februar-Mai 2002 St. Petersburg/Russland: ch habe gesehen, dass die Schüler in ussland häufig motivierter sind als in eutschland, da sie mit Blick nach Westen re Chance nutzen wollen. Ich habe gernt, dass auch mit bescheidenen Mitteln uter Unterricht möglich ist. Und ich habe ealistinnen gesehen, die trotz niedrigster öhne und schlechten Ansehens motiviert ren Job taten.“ ngélique Leszawski, Februar-April 2003 Liepaja/Lettland Das Praktikum war für mich eine wichtige nd neue Erfahrung, denn zum ersten Mal nterrichtete ich Schüler. Trotz kleinerer chwierigkeiten hatte ich sehr viel Spaß abei. Besonders die Projektarbeit förderte ei mir und auch bei den Schülern neue ngeahnte Fähigkeiten und Talente.“ ndreas Gelke, eptember 2002-März 2003 Prag/Tschechien Wichtig war die Möglichkeit, eine Zeit lang te, eingetretene Pfade zu verlassen, ein

Seit nun fast 2 Jahren ist die Robert Bosch Stiftung um ein Stipendienprogramm im Bereich Völkerverständigung mit Mittel- und Osteuropa reicher. In Zusammenarbeit mit der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) sowie dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD) bietet dieses Programm die Möglichkeit, während eines drei- oder sechsmonatigen Praktikums an einer Schule in Mittel- und Osteuropa Unterrichtserfahrung zu sammeln. Daran teilnehmen können Studierende und Absolventen von Lehramtsfächern, aber auch anderer Sozial- und Geisteswissenschaften. Neben dem Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache ist die Realisierung eines Projektes ein wichtiger Bestandteil des Praktikums. So wurden bisher beispielsweise in den Bereichen Film, Musik, Geschichte, Theater, Kunst, Internet und Literatur mit großem Engagement der Praktikanten kreative und sehr gelungene Projekte verwirklicht. Um die Erfahrungen und die Begeisterung nach der Rückkehr aus dem Praktikum weiterleben zu lassen, haben sich die Ehemaligen von „Völkerverständigung macht Schule“ unter dem Dach von MitOst zusammengetan.

Internationales Deutschlehrerkolleg der Robert Bosch Stiftung für Fortbilder an Schulen in Mittel- und Osteuropa 2004/05 Im Jahr 2004 vergibt die Robert Bosch Stiftung zum zweiten Mal Stipendien an Deutschlehrer an allgemeinbildenden Schulen in Lettland, Estland, Litauen, Tschechien und in der Slowakei, die selbst Fortbildungen für Deutschlehrer durchführen oder in Zukunft als Fortbilder tätig werden möchten.

nderes Land „hautnah“ in vielen seiner acetten kennen zu lernen und sich der erausforderung zu stellen, sich ein neues oziales Umfeld aufzubauen.“ lke Erdmann, eptember-Dezember 2003 in ew/Ukraine ch habe dabei gelernt, wie leicht wir eutschen aufgeben würden an Hürden, e hier noch nicht einmal als Hürden ngesehen werden.“

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MitOst Nr. 12 | November 2003

Die Stipendien richten sich an pädagogisch engagierte Lehrkräfte, die nicht älter als 50 Jahre sind, ihre berufliche Zukunft in der Schule sehen und ihre methodischen und pädagogischen Möglichkeiten weiterentwickeln möchten. Die Stipendien sind für Bewerber gedacht, die ein Germanistikstudium abgeschlossen haben und seit mindestens 5 Jahren im Schuldienst tätig sind. Sie sollten über sehr gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen und in den letzten zwei Jahren regelmäßig an sprachlichen, methodischen oder landeskundlichen Fortbildungen in einem deutschsprachigen Land oder in ihrem Heimatland teilgenommen haben. Die Ausbildung dauert insgesamt 20 Monate und erfolgt in Zusammenarbeit mit der EberhardKarls-Universität Tübingen und dem interDaF e.V. am Herder-Institut der Universität Leipzig sowie mit den Goethe-Instituten in den genannten Ländern. Weitere Informationen: w w w. b o s c h - s t i f t u n g . d e

Spurwechsel – ein Film vom Übersetzen Katrin Peerenboom, ehemalige Stipendiatin des Programms „Völkerverständigung macht Schule“ in Krakau/Polen und Alumni-Vertreterin von MitOst

Ist Ironie, etwa die so heitere wie feine Distanziertheit eines Thomas Mann, übersetzbar? Warum wimmelt es in russischen Texten von „Täubchen“ und „Herzchen“? Wird Kafkas Liftjunge Karl Roßmann gegen die Schulter oder in den Hintern gestoßen? Und wie kommt es, dass „aktualnost“ und „Aktualität“ nicht dasselbe bedeuten? Spurwechsel fragt nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Kulturen, wie sie in den Sprachen zu Zu b e r e i t u n g Tage treten und von den Übersetzern gestaltet werden. Zu Wort kommen deutsche und russische Literaturübersetzer. Bestimmte Wörter, sagt Marina Korenewa, haben einen „Hinterhof“, der sich nicht mittransportieren lasse. Und Ilma Rakusa spricht von den unterschiedlichen „Temperaturen“ des Russischen und des Deutschen. „Spurwechsel“ zeigt die vielfachen Brechungen, die sich ergeben, wenn ein Text die Sprache wechselt. Der Film entstand anlässlich des Länderschwerpunktes Russland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Die Herstellung wurde auch von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Für einen Einsatz im Unterricht ist der Film sehr geeignet.

„Spurwechsel“ Filmdokumentation von Gabriele Leupold, Eveline Passet, Olga Radetzkaja, Anna Schibarowa und Andreas Tretner. Kamera: Jakobine Motz. Schnitt: Stefan Stabenow, ca. 80 Minuten.

Bei Interesse am Film bitte an a n j a . h a r m s @ b o s c h - s t i f t u n g . d e wenden.

Da Auslandsüberweisungen sehr teuer sind, können Mitglieder außerhalb Deutschlands sich unter [email protected] darüber informieren, wie und an wen sie ihren Beitrag im jeweiligen Land bezahlen können.

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€ 7

[email protected] eine Reduzierung des Mitgliedsbeitrags auf 5 € gewährt

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Mitglieder östlich der EU mit festem Einkommen

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Mitglieder in der EU und der Schweiz mit festem Einkommen

Organisationen und Institutionen östlich der EU

mind. € 60 Organisationen und Institutionen in der EU und der Schweiz

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Beitrag

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Ich bin/war Stipendiatin/Stipendiat der Robert Bosch Stiftung, und zwar im Programm:

Ich weiß, dass die Verkehrssprache bei MitOst e.V. Deutsch ist und versichere, dass meine Deutschkenntnisse ausreichen, um vereinsinternen Informationen und Diskussionen folgen zu können.

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MitOst e.V. – Mitgliedsantrag



LESERBRIEF

MitOst Magazin Nr. 11, Mai 2003, S. 26: „Warum ich als Frau lieber im Westen leben will.“

Da ich seit 1997 als „Frau aus dem Westen“ in Polen lebe, möchte ich mich hier zu Wort melden. Ich habe den Eindruck, dass die Verfasserin Polen in dem einen Jahr ihres Aufenthaltes nicht wirklich kennen gelernt hat. Die Gesellschaft in Polen ist hermetischer als die Gesellschaft in Deutschland. Kontakte zu den „Einheimischen“ zu finden, ist schwerer als in Deutschland, braucht mehr Zeit und Geduld.

Foto: Dominik Kretschmann

Ich bin überzeugt davon, dass eine Frau in Polen von ihrem Mann im Haushalt und bei der Kindererziehung mehr Unterstützung als eine Frau in Deutschland erwarten kann. Nirgendwo anders als in Polen habe ich Väter so liebevoll mit ihren Kindern auf den Spielplätzen spielen sehen. Zwar ist die Frau in Polen für die Hausarbeit verantwortlich, das heißt jedoch, dass sie diese koordiniert und managt. Sie bestimmt, was wann geschehen soll und gibt entsprechende Anweisungen an die restlichen Familienmitglieder. Es ist selbstverständlich, dass der Mann sich um das Staubsaugen, Müllwegtragen oder Einkaufen kümmert, wenn die Frau dies wünscht.

Schilderwald im Ausland – der zweite Platz in unserem Fotowettbewerb

Ich selbst würde eine Menge Gründe finden, warum das Leben für eine Frau in Deutschland einfacher ist als in Polen – keinen finde ich in dem genannten Artikel. Sei es der höhere Lebensstandard in Deutschland, wirtschaftliche Faktoren wie höherer Lohn, höheres Kindergeld, höheres Erziehungsgeld oder die bessere soziale Absicherung oder die insgesamt offenere Gesellschaft. Dies sind nur einige Beispiele. Gerhild Bär, Wroclaw/Polen Beiträge auf der Seite „Leserbriefe“ sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns Kürzungen der Texte vor

✂ Bankeinzug Mitglieder aus Deutschland bitten wir, uns aus Kosten- und Organisationsgründen folgende (jederzeit widerrufbare) Einzugsermächtigung zu erteilen.

Ich erteile dem MitOst e.V. ab sofort bis auf Widerruf die Berechtigung zum Einzug meines jährlichen Mitgliedsbeitrags von meinem Konto bei der

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VORSCHAU/REZEPT

Honig-Wodka

Krupnikas

Dieses Mal wollen wir ein litauisches Rezept vorstellen. In wenigen Ländern wird Honig so gerne zum Süßen verwendet wie in Litauen. Er findet aber auch in alkoholischen Getränken Verwendung. Der selbstgemachte Honig-Wodka ist ein raffiniertes Getränk, das besonders gut in die kalte Herbst- und Winterzeit passt. In dekorative Flaschen abgefüllt, ist der Honig-Wodka auch ein schönes Weihnachtsgeschenk. ZUTATEN FÜR CA. 1 LITER: ◗ 1 Vanilleschote ◗ große Prise Muskat ◗ 6-8 Stangen Zimt ◗ 3-4 Gewürznelken ◗ 6-8 große Streifen Orangenschale oder 5 Streifen Zitronenschale ◗ 180 ml Wasser ◗ 380 ml Honig ◗ 750 ml Wodka

Fotos: Kathrin Hölker

ZUBEREITUNG: Vanilleschote, Muskat, Zimt, Gewürznelken, Orangenschale bzw. Zitronenschale und Wasser in einen großen Topf geben und aufkochen lassen. Den Honig einrühren. Bei geschlossenem Topf kurz kochen lassen (ca. 5 Min.), damit sich die Zutaten gut miteinander verbinden. Topf von der Herdplatte nehmen und den Wodka einrühren. Ganz wichtig: das Gewürzwasser muss heiß sein, darf aber nicht mehr kochen, wenn der Wodka eingerührt wird, sonst verflüchtigt sich der Alkohol. Krupnikas ist heiß und kalt ein Leib- und Seelenwärmer!

Vorschau auf die nächste Ausgabe des MitOst-Magazins (erscheint im Frühjahr 2004) Schwerpunkt der nächsten Ausgabe ist das Thema Grenzen. Im Jahr 2004 werden die Karten in Europa kräftig durcheinander gemischt. Durch den EU-Beitritt mehrerer Länder werden Grenzen neu definiert. Alte Barrieren fallen weg, neue, schwer überwindbare Schranken werden z.B. durch Visapflicht an den EU-Außengrenzen in Richtung Osten aufgebaut. In welche Turbulenzen geraten die Menschen durch Grenzveränderungen? Sind Grenzen nicht mehr wichtig oder geben die Zäune gar mehr Sicherheit und Geborgenheit? Was machen Pendler, die von den bisherigen Grenzsituationen profitierten? Entstehen neue Mauern in den Köpfen? Welche Chancen bieten sich durch den Wegfall der Grenzen? Wie wird das „neue“ Europa aussehen? Wir

bitten um viele Beiträge zu diesem Thema. Wie immer sind wir auch an Buchbesprechungen, Reiseberichten, Hintergrundberichten, Reportagen etc. interessiert. Und natürlich an Satiren, Glossen, Comics, Cartoons und Karikaturen – diese Kategorie kommt immer wieder zu kurz! Beiträge, Vorschläge, Lesermeinungen und Fotos dazu bitte an:

[email protected] oder per Post an die Geschäftsstelle. Schillerstraße 57 D-10627 Berlin An dieser Stelle möchten wir auch die Projektleiter bitten, uns rechtzeitig interessantes Material zu Projekten zu schicken.

Laurynas Katkus Laurynas Katkus (geb. 1972) ist Lyriker und Übersetzer. Nach dem Studium arbeitete er in der Landwirtschaft, beim Radio, im Verlagswesen sowie als Dolmetscher. 1998 debütierte er mit ˇ dem Gedichtband Balsai, rasteliai (Stimmen und kleine Briefe). Daneben übersetzte Katkus u.a. Hölderlin, Benn, e.e.cummings und Yeats ins Litauische. Er lebt und arbeitet als freischaffender Künstler in Vilnius.

Laurynas Katkus

In Warschau

Tauchstunden. Gedichte, litauisch – deutsch. Leipzig: Edition Erata 2003

Ich gehe hinaus auf den Balkon, mich dir zu zeigen, du schönster Koloss der Hauptstadt. Sandberg in Form geschlagen; in der Höhe – ein Stern, zu Füßen rumort die Menge. Violette Flecken am Himmel, nackt stehst du mir, nackt stehe ich dir gegenüber, erstaunt wie wenig uns trennt, unbeweglich starren wir und schweigen.

Der Schriftzug deines Vaters hat die Landkarten gezeichnet; sein Kopf vermodert seit langem, ich aber begreife noch die Sprache deiner Kapitelle. Gleich dir, gelangweilt und einsam, fordere ich Pflege, Frühstück und Wolkenfilz. Gleich dir: ist das nicht seltsam?

Klar wie der Morgen: geheime Freude für einen Tag, vielleicht für eine Woche, flüsternd den Freunden ins Ohr, wie schön es war, scharf und exotisch: vielleicht im Herbst, werde ich Pizza kauen an der Bushaltestelle, emporblicken zum Lorbeerkranz, aber die Zeit ruft zur Abfahrt.

Und sie eilen, kommen zu spät, zu spät, schon brennen die Lichter und den Himmel retuschiert das Dunkel. Was bleibt zu tun – das Objektiv auszurichten und abzuziehen deiner Seele Dunkelheit, Freund.

Aus dem Litauischen übertragen von Mala Vikaite und Viktor Kalinke.

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