Kohen, Krone und Kanne: Grabsteine erzählen Ein Rundgang auf
March 27, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
Short Description
Download Kohen, Krone und Kanne: Grabsteine erzählen Ein Rundgang auf...
Description
Kohen, Krone und Kanne: Grabsteine erzählen Ein Rundgang auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Dresdner Neustadt
Die Frau des Münzjuden Isaac Meyer war 1751 die erste, Marianne Baumann 1900 die letzte, die ihre Ruhestätten auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Dresden fanden. Der Friedhof an der Pulsnitzer Straße ist längst stillgelegt. Die Sandstein-Grabsteine bröckeln, die Inschriften verblassen. Efeu wuchert über Gräber und schlängelt sich an kahlen Ahorn- und Lindenbäumen empor. Trist und kühl, tot - ein Friedhof eben. Lebendig, interessant und manchmal auch heiter – so erleben ihn 20 Frauen und Männer auf einem Rundgang. Am 30. März hatte die Dresdner Seniorenakademie dazu eingeladen. Dabei erfahren die Teilnehmer, dass die Geschichte des Friedhofs weit vor der ersten Beerdigung beginnt. Irina Suttner führt die Gruppe und erklärt: „Bis 1700 lebten keine Juden in Dresden. Sie hatten kein Aufenthaltsrecht in der Stadt.“ Fremder Glauben, fremde Riten, fremde Menschen waren den Sachsen nicht geheuer. „Entgegen der landläufigen Meinung waren die Juden auch nicht reich“, so die Projektmitarbeiterin bei HATiKVA, die Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Irina Suttner (in der Mitte mit der Rolle in den Händen) führt die Gruppe der Seniorenakademie.
Kultur Sachsen e.V. Aber als Handelsleute kannten sie Sprachen und wussten, wo Taler zu holen waren. August dem Starken war es recht, dass ihm der jüdische Diplomat Issachar Berend Lehmann half, die sächsische Staatskasse aufzufüllen. Das Geld und die Verhandlungen mit polnischen Fürsten bescherten dem Sachsenkurfürsten die sehnlichst gewünschte Königskrone Polens. Als kleines Dankeschön wurde das Aufenthaltsverbot der Juden aufgehoben. Bis 1750 siedelten sich etwa 300 Juden in ganz Sachsen an. „Und wo gelebt wird, wird auch gestorben“, sagt die ehemalige Geschichtslehrerin Irina Suttner. Die einzige Begräbnisstätte für Juden lag drei Tagesreisen entfernt in Teplice. Geht eigentlich gar nicht, denn nach jüdischem Glauben müssen die Leichname innerhalb von 24 Stunden begraben sein. In zähen Verhandlungen mit den Stadtoberen und nach einer Fürsprache des Grafen von Brühl, erhielt die jüdische Gemeinde 1751 das 3.000 Quadratmeter große Gelände außerhalb der damaligen Stadtgrenze zugesprochen – für viel Geld und unter vier Auflagen.
1. Um das Grundstück musste eine Einzäunung errichtet werden. 2. Es durfte im Areal nicht gejagt, gefischt, gesammelt werden. Irina Suttner erklärt: Das Land war kurfürstliches Jagdrevier (jagen), es liegt an der Prießnitz (fischen) und gehörte zur Dresdner Heide (sammeln). 3. Auf dem Friedhof durften keine Gebäude errichtet werden. 4. Der Hüter des Friedhofs musste Christ sein. Er verwaltete den Schlüssel und kontrollierte, ob die saftigen Gebühren bezahlt waren. Die Beerdigung eines Erwachsenen kostete zwölf Taler, die eines Kindes bis zu zwölf Jahren fünf Taler. Zum Vergleich. Ein Tagelöhner verdiente damals zwölf Taler im Jahr. „Die meisten Juden waren bettelarm, nur fünf bis sechs Familien vermögend“, so Irina Suttner. Auch Grabsteine waren anfangs nicht gestattet. Erst 1771 durften die ersten aufgestellt werden. Gegen Gebühr! 1.263 Personen sind auf dem Friedhof zur Ruhe gebettet. 806 Grabsteine sind heute auf dem ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof in Sachsen noch vorhanden. Wind, Wasser, Sonne haben den meist aus Sandstein gefertigten Gedenksteinen zwar stark zugesetzt. Dennoch erzählen die steinernen Zeugen viel über das Judentum in Sachsen. Die Familie Kohn, an deren Gräbern der Rundgang beginnt, kam aus San Franzisco nach Dresden. „Unsere Stadt hat ihr aber kein Glück gebracht. Zwei Kinder – Arthur und Evelyn - starben mit sechs Jahren an Scharlach, die Mutter bei der Geburt eines weiteren Kindes, das die Geburt nicht überlebte, und der Schwager ein paar Monate danach – alle innerhalb eines Jahres“, erzählt Irina Suttner. Die Senioren erfahren von ihr auch, was das Relief der offenen, erhobenen Hände auf dem Gedenkstein für Marcus Kohn bedeutet. Sie sind das Zeichen der Kohen, der Hohepriester – die höchste religiöse Autorität des Judentums. Sie erteilen den Segen. Die Priesterschaft kann man nicht erwerben, sie wird seit jeher vererbt und ist mit Pflichten und Rechten verbunden. So darf der Hohepriester nicht nur segnen, sondern zum Beispiel auch als erster aus der Thora lesen. Und die abgebrochene Säule auf dem Stein? Nein, zerstört wurde sie nicht. Das Leben von Marcus Kohn endete in der Blüte seiner Jahre, er starb mit Mitte 30. Auch andere Symbole zieren die Grabsteine und beschreiben jüdisches Leben. Eine Wasserkanne in einer Schale sagt aus, dass der Verstorbene Levite war. Deren ehrenvolle Aufgabe war es, den Priestern vor dem Gottesdienst die Hände zu waschen. Die Opferbüchse mit dem Vorhängeschloss weist auf großzügige Wohltätigkeit des Verstorbenen oder sein Amt als Kassenverwalter hin. Die Krone, die Die Wasserkanne mit Schale der Leviten
auf wenigen Grabmalen noch zu sehen ist, symbolisiert die hohe Wertschätzung des Namens. „Sie ist häufig auf Kindergräbern zu finden“, sagt Irina Suttner. Denn deren Leben endete leider viel zu früh, um sich Verdienste zu erwerben. Die Lebensdaten – erzählt die HATiKVA-Mitarbeiterin ihren Zuhörern – stehen stets auf der Rückseite
der Grabmale. Der Geburts- und Todestag wird häufig doppelt ausgewiesen: nach gregorianischem und jüdischem Kalender. Fanny Mankiewicz, so ist auf dem Grabstein zu lesen, vor dem die Gruppe steht, ist 5628 bzw. 1868 gestorben. Irina Suttner erklärt: Die Zeitrechnung der Juden beginnt mit der Erschaffung der Welt. „Jetzt leben wir im Jahr 5776“, sagt sie und ergänzt: „Da Messias noch nicht erschienen ist, gab es keinen Grund wie bei den Christen, eine Zäsur zu setzten und mit der Zeitrechnung neu zu beginnen.“ Auch die Seelen der Toten warten auf den Erlöser. Die Vorderseiten der Gräber mit Inschriften in Hebräisch über das Leben und die Familien der Verstorbenen zeigen deshalb auf dem Alten Jüdischen Friedhof immer nach Jerusalem. Kein Grab, kein Grabstein darf hier jemals entfernt werden, keine Umbettung oder Neubettung ist erlaubt. Auf berühmte Persönlichkeiten, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, macht Irina Suttner aufmerksam. Beispielsweise auf Jeremias David Alexander Fiorino (1797 – 1847). Der Miniaturmaler kam aus Kassel und arbeitete nach Studienaufenthalten in Rom und Wien für das sächsische Herrscherhaus. Er verliebte sich in Hanna Elb, die er jedoch nur im Ausland ehelichen konnte, weil man ihm hier die Die nach Jerusalem gerichtete Vorderseite eines Grabes. Auf dem Sockel liegen kleine Steine.
Heiratserlaubnis verweigerte. Nach nur einem halben Ehejahr starb die Frau an Masern. Dr. Wilhelm Wolfsohn hat 1820 bis 1865 gelebt. „Die Lyra auf seinem Grabstein weist auf sein künstlerisches Leben hin“, sagt Irina Suttner. Der Freund von Theodor Fontane stammt aus Odessa und gilt als Hauptübersetzter der Werke von Dostojewski. Wolfsohn schrieb zahlreiche Theaterstücke, die auch in Dresden aufgeführt wurden. In „Die Osternacht“ setzt er sich mit antijüdischen Vorurteilen auseinander. In Dresden leben keine Nachkommen der Toten mehr, die auf dem Alten Jüdischen Friedhof begraben sind. Es fällt auf, dass man auf den Gräbern keine Blumen sieht, dafür aber kleine Steine findet. Dafür gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten. So wird dies zum Beispiel mit einer für „Nomaden“- oder „Wüstenvölker“ angeblich typischen Bestattungspraxis erklärt. Demnach legte man auf die Grabstätte Steinhaufen, um den Leichnam vor wilden aasfressenden Tieren zu schützen.
1867 wurde in Dresden der Neue Jüdische Friedhof eröffnet, der Alte 1869 geschlossen und nur noch einmal für einen einzigen Tag geöffnet. Am 5.3.1900 wurde Marianne Baumann im Familiengrab beerdigt. Sie hatte sich alle Rechte auf ihre letzte Ruhestätte erworben. „Mit stolzen 90 Jahren stirbt sie und bleibt für alle Ewigkeit die Letzte, die auf dem Alten Jüdischen Friedhof beigesetzt wurde“, beendet Irina Suttner den zweistündigen Rundgang. Gudrun Buhrig
Mehr Informationen: www.hatikva.de
View more...
Comments