Kebab Connection
March 7, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Materialien zu
Kebab Connection Komödie mit ›Hintergrund‹
Von Anno Saul nach dem Drehbuch von Fatih Akın, Ruth Toma, Jan Berger, Anno Saul und Ralph Schwingel für Menschen ab 15 Jahren
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Liebe Leserin, lieber Leser, der Film ging um die Welt, die TAZ bezeichnete Kebab Connection als »die beste Fatih-AkınKomödie […], die Fatih Akın nicht selbst gedreht hat«, die BERLINER ZEITUNG stellte heraus: »Wenn hier eine Parallelgesellschaft am Werk ist, dann ist es die einer Bande munterer Künstler, die mit der Realität äußerst unrealistisch umgehen: nämlich produktiv und mit Humor.« Vielleicht ist die Geschichte heute, acht Jahre nachdem der Film in die Kinos kam, noch moderner geworden. Längst erheben in Schubladen gedrängte, auf Klischees reduzierte Menschen ihre Stimme UND finden Gehör: eine Gruppe Deutschlernender lachten so herzlich in der ersten Hauptprobe und freuten sich im Anschluss mit uns: »Endlich wird eine migrantische Geschichte ohne Problemkontext erzählt!« Wir verstehen Kebab Connection programmatisch als eine Geschichte über das Gelingen. Nicht migrantische Probleme stehen im Mittelpunkt, sondern die Normalität der Identitätssuche in vermeintlichen ›Parallelgesellschaften‹. Scheint die türkische Community im Stück zunächst eine zentrale Stellung einzunehmen, so stellt sich bald heraus, dass die griechische ebenso wichtig ist und es außerdem noch Albaner, Italiener und Deutsche gibt, unterschwellig spielt aber die heimliche Hauptrolle die größte aller Parallelgesellschaften, die der ›Bio-Deutschen‹ nämlich.
Wir haben in diesem Material weiterführende Texte zum Erwachsenwerden, Fragen nach der Definition von Heimat und gesellschaftlichem Heranwachsen zusammengestellt. Zur Vertiefung mit Schulklassen und Gruppen finden Sie Gesprächs- und Spielanregungen.
Viel Vergnügen beim Lesen und Probieren.
Susanne Rieber Theaterpädagogin
und
Kirstin Hess Dramaturgin
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Inhaltsverzeichnis Liebe Leserin, lieber Leser
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Besetzung der Uraufführung
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Szenenspiegel
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Kapitel 1: Erwachsen werden
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Szenenausschnitt Die Macht der Verantwortung Interviews mit jungen Erwachsenen 1 Ibos großes Idol - Bruce Lee Gesprächs- und Spielanregung zu »Idolen« Liebe und Romantische Liebe Das »Romeo und Julia«-Motiv Gesprächsanregung zu »Liebe« Schwanger während der Schauspielausbildung Gesprächs- und Spielanregungen zu »Berufs- und Familienplanung« Zweiheimisch leben
16 17 18 19 19 20 21 21 22 23 24
Kapitel 2: Heimat
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Szenenausschnitt »Das Migrationsthema« Heimat – Wir suchen noch Interviews mit jungen Erwachsenen 2 Kara Günlück Gesprächs- und Spielanregung zu »Heimat«
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Kapitel 3: Gesellschaftliches Heranwachsen
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Szenenausschnitt Das »Eigene« und das »Fremde« Menschenrechte Gesprächsanregung zu »Menschenrechten« Ist ein Leben ohne Vorurteile und Feindbilder möglich? Gespräch- und Spielanregung zu »Vorurteilen, Klischeebildern« Das Konzept der Transkulturalität: Was ist neu? Beispiele für die gestalterische Auseinandersetzung mit den Themen des Stücks
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Literatur / Links
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Dank / Impressum
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Besetzung der Uraufführung
Kebab Connection Komödie mit ›Hintergrund‹ von Anno Saul nach dem Drehbuch von Fatih Akın, Ruth Toma, Jan Berger, Anno Saul und Ralph Schwingel Jennifer Breitrück/ Maria Perlick Italienerin/ Kämpferin/ Frau/ Hatice/ Gangsterin/ Kurs-‐ leiterin/ Kellnerin/ Prüferin/ Krankenschwester Katja Hiller Stella, Kirianis Nichte/ Kämpferin/ Marion, Titzis Mutter/ Gangsterin/ Punkerin Alessa Kordeck Nadine/ Ayla Nina Reithmeier Titzi Thomas Ahrens Mehmet/ Produzent Paul Jumin Hoffmann Özgür, Ahmets Gehilfe/ Valid/ Bruce Lee Jens Mondalski Lefty/ Händler/ Baby/ Prüfer/ Bass Robert Neumann Ibo /Joey Florian Rummel/ Kilian Pohnert Kirianis, Leftys Vater/ Typ auf der Strasse/ Boss Roland Wolf Onkel Ahmet/ Alter Türke Mark Badur Gitarren, Bouzouki, Mandoline Tom Keller Saxophone, Klarinette, Perkussion Ulrich Kodjo Wendt Diatonisches Akkordeon, Keyboard, Sounds
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Regie: Anno Saul Musik: Ulrich Kodjo Wendt und Mark Badur Bühne und Kostüme: Maria-‐Alice Bahra und Jan A. Schroeder Kampftraining und -‐Choreographie: Thomas Schubert Choreographie: Isa-‐Bella Garcia Dramaturgie: Kirstin Hess Theaterpädagogik: Susanne Rieber Regieassistenz: Gabriel Frericks Kostümassistenz: Mia Soßna Regiehospitanz: Carolin Darwish Dramaturgiehospitanz: Ena Schulz, Sören Kneidl Hamsterlied Text: Jennifer Breitrück Licht: Martin Gerth, Klaus Reinke Ton: Johannes Maubach, Ufuk Özgüc Bühne: Stefan Rennebach, Herbert Sowinski Requisite: Tobias Schmidt, Oliver Rose Schneiderei: Sabine Winge, Kaye Tai Maske: Sedija Husak Bühnenbau: Günther Pöchtrager, Mark Eichelbaum, Moses Wachsmann Bühnenmalerei: Heinz Dreckmann, Gaby Sehringer Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG Uraufführung: 2. Februar 2013 Spielort: GRIPS Hansaplatz
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Szenenspiegel 1 Zwei Frauen wollen einen Döner bestellen. Es ist nur noch einer da. Ein Kampf auf Leben und Tod mit Dönermessern im Kung-‐Fu-‐Stil beginnt. Eine weitere Frau (Titzi) tritt auf und besch-‐ wichtigt: wir befinden uns mitten in einem Werbespot für den Dönerimbiss ›King of Kebab‹ 2 Ibo ist stolz und fragt seinen Onkel, den Besitzer des ›King of Kebab‹, ob ihm der Spot gefalle. Der ist aber außer sich vor Wut: Onkel Ahmet: Das war Werbung für ein Schlachthaus! Planen sie ein Massaker? Sie lie-‐ ben es, wenn Türken sie mit Messern bedrohen? Na dann auf zu KING OF KEBAB. Ibo: Du übertreibst, Onkel! Onkel Ahmet: Onkel? Nenn mich nie wieder Onkel. Du hast keinen Onkel mehr! Du bist ein Onkelloser! Er schmeißt Ibo raus. Der und seine Freundin Titzi verlassen enttäuscht den Ort. Özgür, der Ge-‐ hilfe Onkel Ahmets findet den Spot eigentlich ganz gut. 3 Ibo und Titzi verabschieden sich und verabreden sich für den Abend. 4 Ibo betritt das Büro eines Produzenten. Er will den ersten Deutschen Kung-‐Fu-‐Film machen und darf ihm die Story seiner Filmidee erzählen. Schnell unterbricht der Produzent und fragt nach Beweggründen für die Handlung, Hintergrund, Motiven. Ibo ist einfach von seiner Kung-‐Fu-‐Idee begeistert, versteht nicht, erfindet dennoch einen 'Hintergrund', spielt seine Action-‐Geschichte begeistert vor, verheddert sich darin. Es wird peinlich, der Produzent lässt Ibo stehen. 5 Bei Titzi und Nadine zu Hause. Titzis Mitbewohnerin übt einen Monolog aus ›Romeo und Julia‹. Titzi kommt nach Hause, fragt Nadine, ob sie abends zu Hause sei, ignoriert sie ansonsten weit-‐ gehend. Nadine wird eifersüchtig, befürchtet eine Konkurrenzsituation, bereiten sich doch beide auf die Bewerbung an der Schauspielschule vor. 6 Titzi im Ende des in Szene 1 gezeigten Kino-‐Spots. Viele Menschen feiern den Spot und suchen den Weg zum ›King of Kebab‹. 7 In Onkel Ahmets Imbiss herrscht gähnende Leere. Plötzlich strömt eine Menge hinein, alle bestellen Döner. Ibo kommt zufällig vorbei, Onkel Ahmet ist überglücklich und erklärt vor allen, dass er der Onkel des Filmemachers sei. Alle essen und feiern.
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Kordeck
8 Währenddessen ist im griechischen Lokal gegenüber bei Kirianis wirklich nichts los. Seine Nicht Stella und er langweilen sich. Er trauert um seine gute Küche, die seit der Einführung des Döners gegenüber keine Liebhaber mehr findet. 9 Titzi und Ibo beim Abendessen. Ibo erzählt von den überwältigenden Erlebnissen im ›King of Kebab‹. Titzi drängt den Nachtisch zu essen: Glückskekse. Sie schiebt ihm seinen Glückskeks hin. Er greift nach ihrem: Ibo: Dein Glück ist auch mein Glück. (...) Ha! Ich bin schwanger -‐ geil! Titzi: Das war mein Keks. Ibo greift sich den Zettel vom anderen Glückskeks. Ibo: Hm, und ›Du wirst Vater.‹ Wow! Langsam fällt der Groschen. Ibo: (schluckt) Ich werde Vater? Titzi nickt. 10 Mehmet, Ibos Vater, liest stolz vom Erfolg seines Sohnes in der Hürriyet und gratuliert. Er schlägt ihm ein Treffen mit der Tochter eines Freundes vor. Ibo ringt sich durch von Titzis Schwangerschaft zu erzählen.
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»kebab connection« Mehmet rastet aus, beschimpft seinen Sohn. Für ihn bricht eine Welt zusammen: Die Welt, in der er irgendwann in die Türkei zurückgehen würde. Die Nachricht eines zu erwartenden Enkels mit einer Deutschen bricht fast sein Herz. Er schmeißt Ibo raus. 11 Titzi übt den Julia Monolog aus Shakespeares Klassiker. Neben ihr sitzt eine Punkerin und kann spontan soufflieren. Ibo kommt zerrüttet mit Sack und Pack vorbei. Sie tröstet ihn, als er jedoch umgekehrt keinerlei Einfühlungsvermögen für ihre Sorgen hat, bricht ein Streit aus und sie lässt ihn stehen. Die Pun-‐ kerin spricht aus, was er hätte sagen sollen. »Schätzchen, wenn du auf die Schauspielschule ge-‐ hen willst, dann pass ich natürlich auf das Baby auf.« 12 Ibo besucht seine beiden Freunde im veganen Imbiss von Lefty. Als er ihnen erzählt, das Titzi schwanger ist, sind die beiden begeistert und gratulieren ihm. Ibo ist irritiert, zum ersten Mal beglückwünscht ihn jemand, statt ein Problem zu sehen. Sie feiern. Ibo fragt, ob er eine Weile bei den beiden wohnen dürfe – sein Vater habe ihn enterbt. Lefty erzählt ihm zum ersten mal, dass auch er im Clinch mit seinem Vater Kirianis liege. Die beiden Freunde adoptieren sich. 13 Ibo versucht Titzi telefonisch zu erreichen. Sie schickt aber immer ihre Freundin Nadine vor. Doch dann erwischt er sie mit der Beschreibung, der Größe des Kindes im jetzigen Zustand. Sie sagt nichts. Er ist ganz begeistert – sie hat nicht aufgelegt. 14 Titzi versucht ihrer Mutter mitzuteilen, dass sie schwanger ist. Diese aber ist vor allem mit sich selbst beschäftigt und fragt Titzi nach dem getrennt lebenden Vater und dessen neuer Freundin aus. Die Schwangerschaft ihrer Tochter kommentiert sie gepflegt liberal-‐ rassistisch: Marion: Hast du schon mal einen Türken gesehen, der einen Kinderwagen schiebt? 15 Titzi und Ibo treffen sich. Titzi hat einen Kinderwagen gekauft, da sie noch was erledigen muss lässt sie den Wagen bei Ibo. Der kann ihn kaum anfassen, es ist ihm sichtlich peinlich mit einem Kinderwagen gesehen zu werden. So vertuscht er vor einigen Begegnungen das der Wagen zu ihm gehört und schiebt in um die Ecke. Als sein Freund Valid auftaucht beginnt ein Baby zu schreien. Valid geht dem Geräusch nach, es kommt genau aus der Ecke, in die Ibo den Wagen geschoben hat. Valid kommt mit dem Baby im Wagen zurück, sie versuchen es zu beruhigen. Bis die Mutter des Babys auftaucht, Ibo zu Boden prügelt und sich bei Valid bedankt. Die beiden ver-‐ lieben sich auf den ersten Blick. In dem Moment kommt Titzi aus derselben Ecke mit einem bau-‐ gleichen Wagen: Es hatte sich um eine Verwechslung des Wagens gehandelt, Titzi ist nun total sauer, dass Ibo sich nicht um den Wagen gekümmert hat und lässt ihn stehen. 16 Titzi geht zu Ibos Familie. Sie hält dem Vater eine Standpauke, dass er und sein Sohn sie gar nicht verdient haben, so wenig, wie sie zu ihr stehen würden. Hatice und Ayla bitten Titzi rein, sie möchte gerne, bleibt aber standhaft sauer gegenüber Mehmet. Mehmet ist beeindruckt. Hatice wütend: in ihrer Familie lässt man eine schwangere Frau nicht im Stich. Mehmet solle gefälligst etwas unternehmen.
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»kebab connection« 17 Ayla und Ibo innig vereint. Ayla vermisst ihren großen Bruder und bittet ihn sich zu kümmern, sie wolle Babysitter werden. Beide erinnern sich an schöne, gemeinsame Zeiten zu Hause. 18 Onkel Ahmet will noch berühmter werden, die Gäste kommen nicht zahlreich genug. Sein Gehilfe Özgür schmettert er nur ab, als der sagt, man solle wieder gutes Fleisch kaufen – zu teuer. Ahmet überredet Ibo noch einen Spot für ihn zu drehen. 19 Die drei Freunde Valid, Lefty und Ibo probieren verschiedene Kampftechniken und sind ganz versunken. Sie überlegen Szenen für künftige Filme, da erscheint Ibos Vater. Die Jungs ziehen sich zurück. Mehmet beschimpft Ibo dafür, dass er Titzi im Stich lasse. 20 Kirianis und Ahmet treffen sich aus versehen. Ahmet wirft Kriranis Neid vor, Kirianis zeigt, wie er sich einen eigenen Spot für seine Taverne vorstellt – eine eher mäßige Vorstellung. Ahmet hat nur ein müdes Lächeln für ihn übrig. 21 Kirianis will seinen Sohn überreden Ibo zu gewinnen auch für ihn einen Spot zu drehen. Lefty ist entsetzt: sein Vater hat ihn enterbt, nicht mit ihm geredet, weil er Veganer ist und nun will er ihn benutzen um seine Habgier zu befriedigen. Er schmeißt seinen Vater kurzerhand raus. 22 Nadine und Titzi treffen Vorbereitungen für das kommende Kind. Sie streichen die Wände, und lachen viel zusammen. Nadine Weißt du, was mich echt ankotzt? Dass du immer alles kannst. Außer ver-‐ hüten.
Keller, Wendt, Badur
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»kebab connection« 23 Der neue Spot für Ahmets ›King of Kebab‹: ziemlich düster im Ganster-‐Stil. Zwei Kontrahenten knallen sich gegenseitig ab, Ibo spielt selbst den Protagonisten, der sich aus Liebeskummer selbst in tödliche Gefahr begibt und stirbt. 24 Nadine übt den Julia-‐Monolog. Titzi versucht ihr zu helfen. Ob sie den schon mal jemanden ver-‐ loren hätten, die sie geliebt habe? Hamster Charlie. Titzi seufzt und Nadine übt weiter in Gedan-‐ ken an Charlie. Titzi kommen die tränen. Nadine ist verwirrt, Titzi kannte Charlie doch gar nicht, Titzi aber macht sich sorgen um Ibo. Der Kino-‐Spot war so düster. 25 Titzi allein in einem Restaurant. Ibo kommt eine Stunde zu spät und erzählt vieles, was zwi-‐ schendurch passiert ist. Als ihn auch noch die Kellnerin auf seine coolen Spots anspricht, reicht es Titzi. Titzi: Werd' n guter Vater, lern es, zeig es. Oder: lass uns in Ruhe. 26 Ibo darf bei Valid und seiner neuen Freundin über Baby zu wickeln. Valid soll ihn dabei fotogra-‐ fieren. Als Beweis für Titzi. Es gelingt Ibo nur schlecht, er ist nahe dran aufzugeben. Außerdem braucht er eine neue Unterkunft und die nächsten Wochen kann er wenigstens bei den beiden übernachten. 27 Ibo kifft mit Lefty. Beide sind ziemlich hinüber, als Ibo beim Bierholen eine Vision packt: Bruce Lee rät ihm in einen Hechelkurs zu gehen.
Ahrens, Reithmeier
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»kebab connection« 28 Valid begleitet Ibo zum besagten Kurs. Zwischen den Hochschwangeren sind sie die einzigen Männer. Sie werden gleich aufgenommen und die Kursleiterin macht ein weiteres Beweisfoto für Titzi. 29 Ein alter Türke fragt Mehmet, wie es dem Sohn gehe. Er bestärkt ihn in seiner strengen Haltung. Mehmet versucht standhaft zu sein, wirkt aber todunglücklich. Als die inzwischen hochschwan-‐ gere Titzi mit Einkäufen vorbei kommt, läuft er sofort zu ihr und hilft ihr tragen. Sie ist zunächst zurückhaltend, dann aber gerührt du zeigt ihm den Brief von Ibo mit der Bescheinigung der Teilnahme am Hechelkurs. 30 Ayla besucht Titzi und lädt sie zur Geburtstagsfeier von Onkel Ahmet ein. Sie zögert, willigt aber ein zu kommen. 31 Ahmet ist schlecht gelaunt. Er hasst Geburtstage, man müsse nur Geld ausgeben und die Ver-‐ wandten einladen... Als Ibo kommt und einen Döner verlangt, verweigert Ahmet ihm den und will erst die Zusage für einen neuen Spot. Der letzte sei geschäftsschädigend, es kämen nur noch traurige Gestalten, die nichts essen. Ibo aber ist selbst traurig und will sich nicht zwingen lassen. Es kommt zum Streit. Ibo erklärt ab jetzt nur noch griechisch essen zu wollen und geht schnur-‐ stracks zu Kirianis. 32 Dort bekommt er sofort Ouzo und die hübsche Stella kümmert sich um ihn. Sie führt ein einsa-‐ mes Leben als Kellnerin in einem schlecht besuchten Laden und bewundert den ›Star‹. 33 Inzwischen kommen Ahmets Geburtstagsgäste, die ganze Verwandtschaft, Ibos Eltern, Titzi... 34 Ibo betrinkt sich fürchterlich und sagt einen Spot für Kirianis zu, damit sein Laden auch besser laufe. Sturzbesoffen geht er aus der Taverne und ruft über die Straße zu Ahmets Geburtstagsfeier, dass er frei sei und sich nie binden werde. Alle haben das gehört, seine Familie, leider auch Titzi. 35 Der Geburtstag ist abrupt beendet, Ibo bleibt ohnmächtig liegen. Ayla bleibt als einzige und sagt ihm, wie falsch sie sein verhalten finde. 36 Titzi bei der Schauspielaufnahmeprüfung. Sie spricht den Julia-‐Monolog hochschwanger. Der Prüfer ist begeistert, trotz Skepsis der Prüferin setzt Titzi sich durch und wird an der Schau-‐ spielschule aufgenommen. 37 Titzi macht sich Luft, sie kann es nicht fassen und schreit vor Glück. In dem Moment setzen die Wehen ein. Sie ist ganz allein. Da kommt Mehmet zufällig vorbei und bringt sie sofort mit seinem Taxi ins Krankenhaus. 38 Ibo erscheint im Krankenhaus, gerade noch rechtzeitig vor der Geburt. Die beiden Männer strei-‐ ten, Titzi wirft beide raus.
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»kebab connection« 39 Ibo und Mehmet warten. Ibo Was macht eigentlich n guten Vater aus? Mehmet (zögert) Frag dein Kind, nicht deinen Vater. Sohn eines Esels. Die Krankenschwester erscheint und sagt ein Mädchen sei geboren. Die Männer sind überglück-‐ lich. Ibo geht sofort zu Titzi. 40 Ibo versucht sich zu entschuldigen. Als seine Worte nicht weiterhelfen zitiert er Romeo und hält seine Tochter im Arm. Er erzählt, dass er Titzi bei der Aufnahmeprüfung gesehen habe und ent-‐ schuldigt sich mit Romeos Worten. Sie küssen und versöhnen sich. 41 Das Bild im Krankenhaus löst sich auf, alle komme dazu, Kirianis, Ahmet, Lefty, Valid, Özgür, Stella, Titzis Mutter Marion, Ibos Familie und feiern die Hochzeit.
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Kapitel 1:
Erwachsen werden Wann immer ich mich umsehe, wird mir eines stets bewusst, nämlich: Sei immer du selbst, bring dich selbst zum Ausdruck, habe Vertrauen zu dir selbst. Ziehe nicht los und suche nach einer erfolgreichen Persönlichkeit, um ihr nachzueifern. Bruce Lee
Neumann, Reithmeier
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Szenenausschnitt Titzi Was ist mit deinem Glückskeks? Ibo Ich weiß, was drin steht: ›Dir strahlt das Glück gerade voll aus´m Arsch, Mann!‹ Das steht da drin! Was ist? Freust du dich gar nicht? Titzi Doch, doch. Ibo Dein Glück ist auch mein Glück. Ibo fischt sich Titzis Glückskeks, öffnet ihn und holt den Zettel heraus. Derweil: Ibo Kennst du die Story von dem Typen, der im Chinarestaurant fertig ist mit Futtern, ja? Und der macht sein Glückskeks auf und liest: ›Das war gar keine Ente!‹ (schaut auf den Zettel im Glückskeks, muss lachen) Ha! Ich bin schwanger -‐ geil! Titzi Das war mein Keks. Ibo greift sich den Zettel von seinem Glückskeks, den Titzi in der Hand hat. Ibo Hm, und ›Du wirst Vater.‹ Wow! Langsam fällt der Groschen. Ibo (schluckt) Ich werde Vater? Titzi nickt. Ibo Willst du es? Titzi Willst du es? Ibo Ich weiß nicht! Also, um ehrlich zu sein, fühl´ ich mich ´n bisschen jung für ´n Kind, ich bin ja selber noch – Titzi Ich bin selber auch noch ein Kind, Ibo! Kebab Connection, Szene 9
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Die Macht der Verantwortung von Karsten Weyenhausen Verantwortung ist eigentlich ein dummes Wort. Mein Rechtschreibprogramm bietet als Alternative Rechtfertigung, Justifikation und Verteidigung an. Das klingt auch nicht viel besser. Defensive Begriffe wie diese sind immer mit etwas Unangenehmen verbunden. Verantwortung kann auch eine Bürde sein, eine Last. Von einer Lust an der Verantwor-‐ tung ist dagegen nie die Rede. Das ist wohl auch der Hauptgrund, warum viele Men-‐ schen sich erst scheuen, Verantwortung zu übernehmen. »Verantwortung= Eine ab-‐ nehmbare Last, die sich leicht Gott, dem Schicksal, dem Glück, dem Zufall oder dem nächsten aufladen lässt. In den Tagen der Astrologie war es üblich, sie einem Stern aufzubürden«, schrieb Ambrose Bierce in seinem Wörterbuch des Teufels. […] Da das Wort Verantwortung in unserer Ge-‐ sellschaft einen schlechten Klang hat, haben alle Meister der »Kompetenzsimulation« ein leichtes Spiel. »Es sind meist die falschen, die an die Macht kommen. Aber sie kommen nur deshalb dorthin, weil die richtigen sich nicht so danach drängeln«, notierte Christian Nürnberger hellsichtig.
Wenn die »richtigen« Verantwortung über-‐ nehmen, kann das die Welt verändern. Man denke nur an Lech Walesa, Nelson Mandela oder Michail Gorbatschow. Es kann auch wie bei Martin Luther King tragische Konsequen-‐ zen haben. Deshalb erfordert es Mut. Diese Männer wussten: Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. Auch im Alltag ist Verantwortung unumgänglich. Ein Haustier, der Eintritt bei der freiwilligen Feuerwehr, eine eigene Firma, die Gründung einer Fami-‐ lie-‐ all das bedeutet Verantwortung. Natür-‐ lich kann es auch eine Bürde sein, besonders in schwachen Momenten. Nur vergessen wir leider viel zu oft, dass uns Verantwortung auch Stärke und Selbstvertrauen verleiht. Schließlich wächst der Mensch an seinen Aufgaben. Unangenehme Dinge überlassen wir aber trotzdem lieber unseren Mitmen-‐ schen. Oder wie Otto Gritschneider zu sagen pflegte: »Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer, sagen sie. Dabei vergessen sie, dass sie vielleicht schon jener »andere« sind.« (...) aus: Weyehausen, Karsten: 111 Gründe Erwachsen zu werden, Berlin, 2009.
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Interviews mit jungen Erwachsenen 1 Gina, 24, Tempelhof Was bedeutet für dich Verantwortung übernehmen? Ich bin hauptsächlich für mich selbst verantwortlich, also das heißt, dass ich mich um meinen Lebensunterhalt kümmere, darum dass ich einen Job habe und genügend Geld, um mein Leben zu finanzieren, meine Miete zu bezahlen, mein Essen zu bezahlen und mich um meine drei Haustiere zu kümmern. Das ist für mich Verantwortung. Könntest du dir jetzt schon vorstellen, Kinder zu kriegen? Irgendwie nicht. Also ich arbeite mit Kindern, aber wenn ich mir jetzt so vorstelle, dass ich so ein Kind selber aufziehen müsste… Ich trag eigentlich im Moment genug Verantwortung. Ich habe ja auch einen verantwortungsvollen Beruf als Erzieherin, und in meiner Beziehung muss ich auch Verantwortung tragen, das reicht dann erst mal. Ikra, 18, Neukölln Was bedeutet für dich, in deinem Leben Verantwortung zu übernehmen? Wenn du Verantwortung für dich übernimmst, dann ist da glaube ich der Moment wo du sagst: ich steh jetzt alleine, und kümmere mich jetzt um mich selbst. Dass du eine Entscheidung triffst: Jetzt muss ich Sachen auch mal alleine hinkriegen. Wichtige Dinge, wie Schule, wo du lebst, was du machst. Was willst du für Verantwortung übernommen haben, wenn du so alt bist wie Ibo? Also in dem Alter will ich auf jeden Fall noch kein Baby. Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich mir darüber noch nicht so viele Gedanken gemacht, aber mit Anfang 20 will ich auf jeden Fall mein Abi haben, und vielleicht etwas studieren was mich interessiert, und eigentlich erst mal mehr nicht. Aber wichtig ist: Eine Wohnung! Max, 17, Friedrichshain Was bedeutet für dich in deinem Leben Verantwortung zu übernehmen? In meinem Leben Verantwortung zu übernehmen, das ist schwer, fang grad erst an. Von daher würde ich sagen, für mich ist Verantwortung, für das was ich mache, für das was ich tue, dazu zu stehen. Dass ich sage: Das ist so, das habe ich falsch gemacht, oder ja, das ist sehr gut was ich gemacht habe, muss ich selber zugeben, aber dass ich dann trotzdem auch noch daraus lerne. Was für Verantwortung würdest du gerne noch übernehmen in den nächsten Jahren? Ich würde gerne mein Leben in meine Hand bekommen, weil ich habe gerade das Gefühl, dass es nicht in meiner Hand liegt, mein Leben selbst zu gestalten. Und das würde ich eben gerne wol-‐ len. Nancy, 16, Schöneberg Was heißt für dich Verantwortung übernehmen? Jeder übernimmt nach einer kurzen Zeit Verantwortung. Zum Beispiel wenn man älter wird, dann wird man reifer, und kann halt denken, sag ich`s mal so, dann muss man zur Schule gehen, selbstständig aufstehen, also man wird selbstständiger, und das ist schon eine Verantwortung. Die Interviews führten Annika Westphal und Maria Dubova, Hospitanz und FsJ Kultur am GRIPS Theater.
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Ibos großes Idol - Bruce Lee Lee erhielt eines Tages in seiner Schule in San Fransico eine Drohung von einer Gruppe Chinesischer Martial Arts Künstler, er solle keine Nicht-‐Chinesischen Schüler mehr in Kung Fu ausbilden, andernfalls müsste er sich auf einen Kampf mit San Franciscos be-‐ stem Kung Fu Kämpfer vorbereiten. Das Leh-‐ ren von Kampfstrategien an Nicht-‐Chinesen Mitte der 60er Jahre in Chinatown als die höchste Form des Verrats angesehen. Lee entgegnete: »Ich werde selbst bestim-‐ men, wen ich ausbilde, die Hautfarbe inter-‐ essiert mich nicht.« Seine Worte und sein
Benehmen forderten den vermeintlichen Gegner heraus. Der Tag der Abrechnung war gekommen! Auch wenn er viele Tugenden hatte, so war es unter seinen Freunden, seiner Familie und seinen Schülern bekannt, dass er keine Ge-‐ duld mit Dummköpfen und deren Ignoranz hatte. Umgehend brach ein Kampf aus, und inner-‐ halb einiger Sekunden sah man den Heraus-‐ forderer und ehemals wagemutigen und selbsternannten Kung Fu »Experten« zum nächstbesten Ausgang rennen.
Ein Ziel ist nicht immer zum Erreichen da, oft dient es nur zum richtigen Zielen... Bruce Lee
Bruce Lee in Bronze gegossen Bruce Lee wird ewig leben -‐ zumindest in der bosnischen Stadt Mostar: Dort steht die Kung-‐Fu-‐Legende in Bronze gegossen in ei-‐ nem Park. Die Mostarer Jugendgruppe »Städ-‐ tische Bewegung Mostar« hatte sich zwei Jahre für die Statue stark gemacht. Die Wahl fiel mit Bedacht auf Lee, »weil alle sich mit ihm identifizieren können«, sagte Bewe-‐ gungs-‐Sprecher Nino Raspudić. »In einer Zeit, in der Politik und ethnische Ideologien
das alltägliche Leben vergiften, wollen wir zeigen, dass es auch wahre Werte gibt, die nichts mit Politik zu tun haben«. Bruce Lee, Pionier beim Überwinden ethnischer Gren-‐ zen, auf und jenseits der Leinwand, stehe nicht für »rohe Gewalt«, sondern für »Ge-‐ schicklichkeit, Geschwindigkeit und den Wil-‐ len zum Kampf für das Gute.« aus: Spiegel, Nr. 50 / 2009
Gesprächsanregung
Was wisst ihr über Bruce Lee? Was bewirkt er bei Ibo? Welche Idole/ Vorbilder habt ihr? Wofür stehen diese? Und was bewirken sie bei euch?
Spielanregung
»Begegnung mit deinem Idol« Überlegt euch in Kleingruppen eine Begeg-‐ nung mit eurem Idol / Vorbild und stellt es in einer kurzen Szene den anderen vor. Dabei dürfen gerne Mittel der Komödie (wie Über-‐ treibung, Verwechslungen, Slapstick...) ver-‐ wendet werden, aber ein »wahrer Kern« soll sichtbar bleiben. Neumann
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Liebe und Romantische Liebe Die Soziologin Eva Illouz und der Philosoph Wilhelm Schmid im Gespräch mit »Der Spiegel, Wissen«
Schmid: In meinem Augen gibt es einen großen Unterschied zwischen Liebe und Romantischer Liebe. Liebe ist Zuneigung zu etwas oder jemandem.
Spiegel: Was meinen sie mit etwas?
Schmid: Es gibt in jeder Liebe ein universelles Element, sonst wäre die Übertragung der einzig wahren Liebe auf mehrere Menschen im Leben ja gar nicht denkbar. Es wird also immer auch die Liebe an sich geliebt und wohl auch das eigene Selbst, dem die Zuwendung des anderen gilt. Die meisten Menschen geben dem Wort Liebe die Bedeutung, die sie in ihrer Kultur und in ihrer Zeit vorfinden. Heutzutage heißt das oft, sich dem Körperlichen zuzuwenden. Aber Liebe kann Zuneigung und Zuwendung auf der seelischen und auf der geistigen Ebene sein. Jede dieser Ebe-‐ nen kann auch für sich allein stehen.
Spiegel: Und die romantische Liebe?
Illouz: (...) Romantische Liebe ist eine fast gewaltsame Kraft, die den Verstand raubt und den Anderen in Besitz nehmen will. Sie gibt uns ein Gefühl von Erhabenheit. Zuneigung tut das nicht. Romantische Liebe verleiht unserer Existenz eine viel breitere größere Dimension, als ließen sich alle geregelten Grenzen überwinden.
Spiegel: Klingt beinahe wie eine Krankheit.
Illouz: Nun, wir verlieren den Appetit und schlafen schlecht, wenn wir verliebt sind. Aber das ist eine natürliche Reaktion, verursacht durch die ungewohnten Botenstoffen und Hormone, die unseren Körper überschwemmen. Also vielleicht eine Krankheit, aber eine himmlische!
Schmid: Die romantische Liebe kollidiert heftig mit der modernen Freiheit. Es gehört zur Mo-‐ derne, dass der Mensch nach Freiheit strebt, Freiheit von Normen, von Religionen, von überlie-‐ ferten Zwängen, auch von Familienpflichten.
Spiegel: Auf der anderen Seite brauchen die Menschen Zugehörigkeit.
Schmidt: Was erst einmal ein Widerspruch ist. Entweder bin ich frei oder in einer Bindung. Aus-‐ getragen wird dieser Widerspruch auf dem Feld der Liebe. (....)
Spiegel: Die Frage ist nun, was die Liebe zur Bindung beitragen kann.
Schmid: Es gibt ja nicht nur die seelische Liebe in Gefühlen, sondern auch die geistige in Gedan-‐ ken. Die ist tragfähiger, Liebe mit Herz und Verstand. Mit dem Hin und Her von Gefühlen und mit der Einsicht in den Sinn von Bindung. (...)
Schmid: Glück und Liebe sind zwei Dinge, die nicht immer gut zusammenpassen. Viele Men-‐ schen suchen nach einem dauerhaften Wohlfühlglück in der Liebe. Aber das ist ein Streben, das zum Scheitern verurteilt ist.
Illouz: Absolut.
Schmid: Es gibt aber noch ein anderes Verständnis von Glück. Das Glück der Fülle. Es beruht auf Einverständnis, dass es nicht nur Positives, sondern auch Negatives gibt. Nicht nur das, was Lust macht, sondern auch das, was wehtut. Wenn Menschen beides zusammen denken und leben können, sind sie in der Liebe richtig. aus: Der Spiegel Wissen, Nr.2, 2012
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Das »Romeo und Julia«-Motiv Titzi spielt den Julia-Monolog aus der Balkonszene bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule vor. Später, das Kind ist bereits geboren, entschuldigt sich Ibo mit Romeos Worten bei Titzi. Szene 36, Prüfung Titzi
Komm, Nacht!/ Verhülle mit dem schwarzen Mantel mir/ Das wilde Blut, das in den Wangen flattert,/ Bis scheue Liebe kühner wird und nichts/ Als Unschuld sieht in inniger Liebe Tun./ Komm, Nacht! Komm, Romeo!
Szene 40, Ibo bei Titzi mit neugeborener Tochter im Arm Ibo
Zwei von den schönsten Himmelssternen müssen/ Kurz fort nur, und sie bitten deine Augen/ Zu funkeln unterdes an ihrer Statt. Doch wärn die Augen dort, dafür die Sterne/ In deinem Kopf, der Glanz von deinen Wangen/ Würde die Sterne so beschämen wie die/ Sonne ein Kerzenlicht. O Augensterne!
Oh Augensterne!/ Ihr leuchtet mir am Himmel! Dass die Vögel/ Sängen und dächten, es sei gar nicht Nacht. – Ach seht, wie sie ihre Wange auf die Hand stützt!/ Oh, dass ich Handschuh wär auf dieser Hand/ Und sie berühren könnte, diese Wange!
Gesprächsanregung
Was wisst ihr über Romeo und Julia? Was über deren Liebe? Wie würdet ihr die Beziehung zwischen Ibo und Titzi beschreiben? Und was ist für euch Liebe? Was macht Liebe aus?
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Schwanger während der Schauspielausbildung Ein Gespräch mit Nina Reithmeier Du spielst die Rolle der Titzi. Was findest du interessant an Titzi? Titzi weiß, was sie will, nämlich Schauspielerin werden. Als sie dann ungeplant schwanger wird, reagiert sie aber erstaunlich klar und entscheidet sich für das Kind. Sie übernimmt Verantwor-‐ tung und zeigt große Stärke trotz der mangelnden Unterstützung ihres Umfeldes. Und ihren Traum gibt sie trotzdem nicht auf. Titzi brennt fürs Theater. Wie kamst du ans Theater? Ich hatte bis zum Abitur viel Theater gespielt. Nach dem Abi machte ich Praktika beim Film und Fernsehen, und studierte dann ein Semester Kommunikationswissenschaften. Dann kam der Zufall und ich bekam über Nacht die Hauptrolle in einer Serie. Nach drei Staffeln kündigte ich und ging nach Berlin auf die Schauspielschule. Titzi sagt in dem Stück, sie sei zu jung zum Warten, ich sagte mir damals, ich bin zu alt zum Warten. Du warst mitten in der Ausbildung, als du schwanger wurdest. Ja, im 4. Semester. Für mich war aber klar, ich will den Beruf und ich will diese Ausbildung und nicht erstmal drei Jahre zu Hause bleiben. Mein Mann ist Freiberufler und flexibel, das ging also gut. Wie hast du Ausbildung und Schwangerschaft unter einen Hut bekommen? Ich blieb fünf Monate zu Hause und stieg dann wieder voll in den Unterricht ein. Wir hatten ab da eine Tagesmutter für vormittags und den Rest hat mein Mann aufgefangen. In der Übergangs-‐ zeit hab ich noch in der Schule abgepumpt und die Milch beim Italiener ums Eck in den Kühl-‐ schrank gestellt. Sie lacht. In der Schule hatten wir keinen. Klar, es war stressig, aber man lernt sich gut organisieren. Im Nachhinein war es genau die richtige Entscheidung zum richtigen Zeit-‐ punkt. Würdest du Titzi was raten wollen? Nur Mut! Wenn das Baby erst einmal da ist, wird das schon alles... Schaffe dir ein Netzwerk und traue dich auch abzugeben. Und was würdest du als Nina Ibo mit auf den Weg geben? Hör auf deinen Freund Lefty, der dir sagt, dass es ein Wunder ist, dass du Wurm auserwählt wurdest, ein Kind zu bekommen. Ein kleines Würmchen zu haben, dem man die Welt zeigt, das ist großartig. Mein Sohn ist das Beste in meinem Leben, was mir je passiert ist und er macht mich jeden Tag glücklich. Das Gespräch führte Susanne Rieber, Theaterpädagogin.
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Spielanregung zu »Berufs- und Familienplanung« »Meine Vision, mein Weg, meine Grenzen« Ein spielerischer Parcours-Lauf zur Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensvorstellungen und Zielen. Jeder überlegt sich: »Wo will ich hin in mei-‐ nem Leben?«; »Was will ich erreichen?«. Nach kurzer Bedenkzeit teilen sich die Schü-‐ lerInnen in Kleingruppen (max. vier Perso-‐ nen) auf und stellen sich gegenseitig diese Überlegungen vor. Zusammen wird bespro-‐ chen, wie der Weg dorthin aussehen könnte. Welche Hindernisse, Umwege oder Grenzen lauern auf diesem Weg? Und wie können diese umgangen und/oder bewältigt werden. Es soll eine Art Parcours-‐Lauf von einem Ende des Zimmers bis zum anderen erstellt werden: Der Start ist da, wo die SchülerIn-‐ nen jetzt im Leben stehen (kurz vor Abi, Bandgründung, FSJ-‐Bewerbung) und das Ziel ist das, was sie erreichen möchten. Die Sta-‐ tionen dazwischen sind die Hindernisse oder Grenzen, die sie in kurzen Improvisationen spielen.
Sie sollen Möglichkeiten zeigen, wie mit den Hindernissen umgegangen werden kann, wie man sie bekämpfen oder umgehen kann. Es können Stühle oder Tische zu Hilfe genom-‐ men werden, die symbolisch für klei-‐ ne/große oder mehrere Hindernisse stehen. Auch die Gruppenmitglieder können Hinder-‐ nisse darstellen. Hinweis: Jeder Mitspieler sollte sich für den Parcoursaufbau auf maximal drei bis fünf Ziele festlegen und sich zu jedem Ziel je ein Hindernis auswählen sowie eine Möglich-‐ keit/einen Weg um dieses zu überwinden. Ein Beispiel: Eines der Ziele ist es, eine Welt-‐ reise zu machen. Die Hürde ist Flugangst. Eine Möglichkeit, das Ziel trotzdem zu errei-‐ chen wäre mit dem Schiff zu fahren. Dies kann spielerisch dargestellt werden. Im Ziel angekommen soll ein Standbild zei-‐ gen, was erreicht wurde.
Ahrens, Neumann
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»kebab connection«
Zweiheimisch leben von Dr. Christian Horn
Von der personalen Identität zu den Mehrfach-Identitäten
Es macht keinen Sinn mehr, von einer Identi-‐ tät zu sprechen, sondern vielmehr von Iden-‐ titäten oder sogar von Bastelexistenzen, Patchwork-‐Identitäten oder multiplen Iden-‐ titäten. Womit keinesfalls die Notwendigkeit, sich in emotionaler, geografischer, sozialer, kultureller oder politischer Hinsicht zu ver-‐ orten, in Frage gestellt wird. Es geht viel-‐ mehr darum, Identifikationsprozesse nicht als naturwüchsiges Phänomene zu verste-‐ hen, sondern als Teil von gesellschaftlichen Entwicklungen mit einem breiten Spektrum von Identitätsvarianten und Kombinations-‐ möglichkeiten. Eine Identität bietet Sicher-‐ heit und Geborgenheit (»Heimat«), bildet aber auch die Grundlage, um Individuen oder Gruppen als nicht zugehörig wahrzunehmen und aus einem Kollektiv auszuschließen. Wer über personale oder kollektive Identität spricht, sollte vor der Janusköpfigkeit dieses Konzepts nicht die Augen verschließen. Denn auch zukünftig wird die Bildung von kollek-‐ tiven Identitäten Gegenstand des politischen Konflikts um Deutungsmacht und Legitima-‐ tion politischer Ordnungen sein. (...) »Hybride Identitäten gelten als inter-‐, trans-‐ und multikulturell; ihre Träger sind zwei-‐ heimisch, bi-‐ oder trinational; sie sitzen ent-‐ weder zwischen den Stühlen, oder auf einem Dritten Stuhl; sie sind Menschen mit Migrati-‐ onshintergrund oder aber ›Andere Deut-‐ sche‹.« Bemerkenswert ist, wie kreativ viele junge Menschen mit dem Phänomen »zwei-‐ heimisch leben« umgehen, für das es logi-‐ scherweise keine historisch fest verankerten Identitätsmuster geben kann. Dieser ebenso innovative wie erfolgreiche Umgang mit ver-‐ schiedenen Identitäten ist im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit noch nicht an-‐ gekommen, so der Mainzer Erziehungswis-‐
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senschaftler Tarek Badawia. Ebenso wenig die Eigenschaften und Fähigkeiten, die in diesen – natürlich nicht immer reibungslos verlaufenden – Identifikationsprozessen entstehen. Dazu gehören Kenntnis und Ak-‐ zeptanz von verschiedenen Identitäten und Kulturwelten, eine multiperspektivische Sichtweise auf die Welt, Mehrsprachigkeit, das »Switchen« zwischen verschiedenen Sprachen und Denkweisen, ein intuitives Verständnis für Konflikte sowie eine generel-‐ le Offenheit für identitätsrelevante Experi-‐ mente. Wer zweiheimisch aufwächst und lebt, der erwirbt Fertigkeiten in Sachen Kommunikation, Vermittlung und Konfliktlö-‐ sung, die in Zeiten voranschreitender Ver-‐ netzung und Internationalisierung immer wichtiger werden. (...) In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass nationale Identifikationen ein ideologisches Reservoir darstellen, das in Krisenzeiten abrufbar ist und für machtpolitische Ziele instrumentalisiert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unerheblich, dass sich in vielen Ländern Europas rechtspopuli-‐ stische Gruppierungen und Parteien etabliert haben, die mit ihrer regionalistischen oder nationalistischen Programmatik die traditio-‐ nellen, einen »gemäßigten« Patriotismus vertretenden Parteien unter Druck setzen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg bietet zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für rechtspopulistische Mobilisierer«. Insofern spricht einiges dafür, ausgehend von den Erfahrungen mit unterschiedlichen Identitä-‐ ten im Alltag über transnationale und transkulturelle Identitätskonzepte nachzu-‐ denken und diese verstärkt in die gesell-‐ schaftlichen Debatten über Bildung, Partizi-‐ pation und die Weiterentwicklung der De-‐ mokratie einzubringen. aus: Christian Horn, Weder Deutsch noch ausländisch, in: nah & fern Ausgabe -‐ Nr. 44, 2010
»kebab connection«
Kapitel 2:
Heimat Neumann, Breitrück, Ahrens, Kordeck
Wir sind damit groß geworden, dass wir irgendwann zurückkehren. Das war immer latent da: Irgendwann kehren wir zurück, wir sind nicht für immer hier. Gegen Ende des Films stellt mir eine Cousine die Frage: ›Willst du irgendwann zurück?‹ Und ich sage: ›Nein.‹ Wohin gehöre ich? Für mich gab es diese Fragestellung eigentlich nie. Für mich als Künstler spielen Nationalitäten keine so große Rolle. Typisch deutsche Bilder gibt es doch nicht. Heute kann ich sagen, dass Kino meine Heimat ist. Fatih Akın zu seinem Dokumentarfilm ›Wir haben vergessen zurückzugehen‹ 25 in: Volker Behrens und Michael Töteberg (Hg.), Im Clinch, Die Geschichte meiner Filme, Reinbek bei Hamburg 2011
»kebab connection«
Szenenausschnitt Ibo
Ayla Ibo Mehmet
Baba, du wirst Opa. Mama, du wirst Oma. Und du wirst Tante Ayla.
Super!
(lächelt schwach) Titzi ist schwanger.
WAAAAAASS!!!!!????? Was sage ich dir seit deiner Geburt? Häh?
Lichtwechsel, Rückblende, Ibo regrediert zum Kleinkind. Mehmet Du kannst mit einem deutschen Mädchen ausgehen, du kannst mit einem deutschen Mädchen einschlafen, du kannst sogar mit einem deutschen Mädchen aufwachen, aber du darfst sie niemals, niemals, niemals ... Klein-‐ Ibo ...schwängern? Lichtwechsel zurück. Mehmet Und was machst du Sohn eines Esels?! Hä? Du machst es trotzdem! Meine Herz! Welche Schande! RAUS! Verschwinde aus meinem Haus! Raus!!! Ibo macht sich mit Sack und Pack auf den Weg. Mehmet geht einfach hinter ihm her. Mehmet Ein deutsches Kind! Es wird nie ›Baba‹ sagen! Du wirst ein ›Papi‹ sein! Ibo (kleinlaut) Ich würde mein Kind deswegen nicht weniger lieben. Mehmet PAPIIII!!!! Es wird nie deine Sprache sprechen...Ich rede kein deutsch mit Dir! Denn ich rede nie deutsch! Und ich lebe seit 30 Jahren hier!!!! Du verdammter Mistkerl, machst ein Kind mit einer Ungläubige! Einen gottlosen Bastard! Kebab Connection, Szene 10
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»Das Migrationsthema« Aus einem Interview mit Anno Saul Als der Film »Kebab Connection« 2005 in die Kinos kam, setzten Anno Saul, Fatih Akın und die WüsteFilm den Fuß in unerschlossenes Gelände. Es war die erste ernstzunehmende Clash-Of-Culture-Komödie aus Deutschland. Und der Erfolg gab ihnen Recht: In Deutschland genießt der Film Kultstatus; er wurde in 21 Sprachen übersetzt und in fast 75 Ländern gezeigt. GRIPS Theater: Acht Jahre sind seither vergangen, was hat sich in dieser Zeit geändert? Anno Saul: Ich glaube ja, dass mein Film moderner geworden ist: in der Beiläufigkeit, mit der er das Thema »Migrationshintergrund« erzählt. Ich war in so vielen Podiumsdiskussionen und immer wieder standen Leute mit Migrationshintergrund neben mir und sagten: »Wie oft muss ich eigentlich noch auf eine Podiumsdiskussion gehen, und darüber reden, dass meine Eltern aus der Türkei kommen! Ich habe einen Laden und habe Ärger mit der Bürokratie. Warum werde ich nicht mal als Unternehmer oder als Vater von drei Kindern oder als Ehemann hier eingeladen? Warum muss ich immer als »Migrationshintergrunds-‐Mensch« hier stehen? GRIPS Theater: Genau diese Haltung wird in KEBAB CONNECTION spürbar. Anno Saul: Ich habe meine Hauptfigur Ibo nicht in einen Kontext gestellt, in dem er wegen sei-‐ nes Migrationshintergrunds Probleme hat. Natürlich musst du das zum Thema machen, aber nur im Konflikt mit dem Vater, der sich, in Anbetracht seines deutschen Enkelkindes, die Frage stel-‐ len muss: ›Wo und was ist eigentlich meine Heimat? Die Türkei, wo ich meine Wurzeln habe? Aber in die bestimmt weder meine Kinder noch mein Enkelkind mit zurückgehen werden? Oder ist es doch Deutschland, obwohl ich all die Jahre mit der Idee gelebt habe, wieder zurück zu ge-‐ hen?‹. Aber das ist nicht Ibos Konflikt, sondern der seines Vaters. Ansonsten ist Ibo einfach ein junger Filmemacher, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Und er hat einen Traum, er will Kung-‐Fu-‐Filme machen! Und er will `ne coole Freundin haben, so eine wie Titzi, die er liebt. Außer in der Auseinandersetzung in der Generation der Eltern spielt das Migrationsthema für Ibo und seine Freunde also keine Rolle. Und das war 2004, als wir den Film gedreht haben, wegweisend. Heimat, Chancengleichheit, der Weg zu einem selbstbestimmten Leben und zum Erwachsenwerden, das sind die Themen in ›Kebab Connection‹. (...) Das Gespräch führte Anja Kraus, Pressereferentin des GRIPS Theaters
Breitrück, Ahrens
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Heimat – Wir suchen noch von Katrin Göring-Eckardt Heimat sei eine Utopie, sagte Ernst Bloch und mit ihm Bernhard Schlink. Der marxisti-‐ sche Philosoph Georg Luckács hat die Situa-‐ tion des Menschen in der Welt sogar als »transzendentale Obdachlosigkeit» bezeich-‐ net. (...) Heimat versteht sich für den Menschen nicht von selbst, er muss sie – im Gegensatz zum Tier, das immer schon eine Umwelt hat, in die es passt und hineingehört – erst suchen und schaffen. Das ist alles richtig, aus einer philosophischen und anthropologischen Sicht. Gleichzeitig ist Heimat etwas völlig Selbst-‐ verständliches. Würde ich die Menschen fra-‐ gen »Was ist Ihre Heimat?«, wer würde wohl antworten, sie wüsste nicht, wo ihre Heimat ist, er sei eigentlich heimatlos, man fühle sich verloren in der Welt und sei noch auf der Suche ... Nein, wir bekämen Antworten wie: »Heimat, das ist der Ort, wo ich meine Freunde habe.« Oder Sätze wie: »Heimat ist für mich der Geruch des Pflaumenkuchens meiner Mutter«. Oder einfach: »Heimat ist, wo ich mich wohl fühle, wo man mich kennt, wo ich sein kann wie ich bin.« Dabei ist es nicht egal, ob jemand auf dem Dorf oder in der Stadt aufwächst. Es ist nicht gleichgültig, mit welchen Menschen er oder sie Begeg-‐ nungen hatte, es ist von Belang, welche Bücher im Regal standen, ob die Kirchen-‐ glocken zu hören waren oder der Muezzin rief. Heimat ist so auch immer ein Ort des Dafür-‐ oder Dagegenseins. Es ist der Ort, an dem wir wurden, wer wir sind oder es ist der fehlende Ort, an dem wir nicht werden konn-‐ ten, wer wir werden wollten. Dabei ist Hei-‐ mat eben selbstverständlich da. So selbstver-‐ ständlich, dass wir sie nicht einmal mögen müssen. (...) Heimat ist nicht nur ein privates Gefühl ist, sondern wirft entscheidende politische Fra-‐ gen auf: Wie wollen wir leben? Was bedeutet gutes Leben für uns? Wie muss unsere Um-‐
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welt beschaffen sein, damit wir uns wohl und zuhause fühlen? Welche Institutionen wollen wir bewahren, welche auf jeden Fall abschaf-‐ fen? (...) Selbst die »heimatlichste« Heimat, das Dorf in der Provinz, ist also mehr als nur ein Ort der Stabilität und der Selbstvergewisserung. Heimat hat einen Erlebniswert: Es ist ein Ort, wo andere Menschen sind, die man sich so nicht aussuchen konnte. Ein Ort, der sich verändert. Ein Ort, wo Differenz und Vielfalt erfahrbar sind. Der gängige Vorbehalt gegen den Begriff Heimat, dass er geschlossen sei, abgedichtet gegen andere Kulturen, stimmt demnach nicht so ganz. Denn die Erfahrung von Differenz und Abweichung, des »Wild-‐ fremden«, gehört zur Heimat dazu. Deshalb ist auch der ideologische Gegensatz »Hei-‐ mat« versus »multikulturelle Gesellschaft « aus meiner Sicht ein falscher. Er wurde auch nur von denen aufgemacht, die ihre Heimat offenbar nicht so schön fanden, dass sie Lust auf viel Hinzuziehende gehabt hätten. Denn dass ich starke Heimatgefühle habe, heißt ja nicht, dass ich andere aus meiner Heimat ausschließe. Gemeinsam kann dann etwas Neues aus dem Ort gestaltet werden, ohne Altes zu verdammen. Mit anderen Worten: Heimatgefühl und Weltoffenheit sind keine Widersprüche. Jede »Blut und Boden«-‐ Ideologie ist schlicht Rassismus und hat mit positiven Heimatgefühlen nichts zu tun. Und in einer multi-‐kulturellen und multireligiö-‐ sen Heimat zu leben, ist erst einmal mehr, als in der Gleichförmigkeit und Enge von ausschließlich Ähnlichem. (...) Damit will ich keineswegs sagen, dass die multi-‐kulturelle Gesellschaft ohne Konflikte ist und Migration, wenn sie erzwungen ist, nicht für viele Menschen sehr viel Leid be-‐ deuten kann. Was ich sagen will ist, dass der positive Bezug zum eigenen Lebensort eine Gesellschaft offener und lebendiger machen kann. (...)
aus: Inter:Kultur, herausgegeben vom Deutschen Kulturrat, Nov 2009
»kebab connection«
Interviews mit jungen Erwachsenen 2 Was bedeutet für dich Heimat? Gina, 24 Hauptsächlich sich wohlfühlen, sich geborgen fühlen, Zuhause sein. »Heimat« ist eher ein Gefühl als ein Ort. Ich fühle mich an mehreren Orten zuhause oder heimatlich. Ikra, 18 Heimat ist für mich definitiv Berlin, nicht Deutschland, sondern wirklich nur Berlin. Also Heimat ist: wo du eigentlich herkommst, und ich bin zwar in Deutschland geboren, aber mein Vater ist Pakistaner. Ich fühl mich überhaupt nicht als Pakistanerin komischerweise, eher als Türkin, weil ich mit einem Türken aufgewachsen bin. Ich verbinde schon sehr viel mit der Türkei, das ist schon auch eine Heimat für mich. Nancy, 16 Für mich ist Heimat, wenn ich mich wohlfühle, wenn die Umgebung stimmt. Ich bin am liebsten Zuhause, in meinem Zimmer Zuhause, und im Badezimmer. Für mich gibt es nur eine Heimat. Das ist wirklich da, wo ich mich gut mit den Leuten verstehe, ich mich wohlfühle. Luisa, 14 Heimat ist ein Ort, wo man sich wohl fühlt und geborgen, wo man sich wie ein kleines Kind fühlt. Svetlana, 27 Die Heimat verbinde ich mit Sehnsucht. Heimat ist nie da, wo man grade ist. Es ist etwas Fernes, das man vermisst. Das hängt für mich auch sehr mit Kindheitserinnerungen zusammen. Cindy, 18 Heimat ist in meinem Fall der Gegensatz von Zuhause. Die Heimat – das ist mein Herkunftsland und Zuhause ist der Lebensmittelpunkt, die Gegenwart. Selen 17 Leute, die sehr an der alten Heimat hängen, können sich nicht an ihre neue Umgebung gewöhnen und sich eine neue Heimat schaffen. Wasifa, 18 Heimat ist dort, wo ich meine Augen schließen und sagen kann: Ja, hier gehöre her, das ist meins. Heimat ist dort, wo ich Gerüche, Bilder, Menschen, Töne wahrnehme, die mir ein gutes Gefühl geben und mich in meinem Dasein bestätigen. Juri, 22 Heimat ist für mich das Gefühl der Geborgenheit. Heimat ist dort, wo man gelernt hat die klein-‐ sten Dinge zu lieben. Die Interviews führten Annika Westphal und Maria Dubova, Hospitanz und FsJ Kultur am GRIPS Theater.
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Kara Günlück von Mutlu Ergün Eigentlich ist dieses Thema ja total abgeges-‐ sen. Ich habe sehr lange darüber nachge-‐ dacht, ob ich überhaupt mit dieser Belanglo-‐ sigkeit mein schönes Tagebuch beschmutzen soll oder nicht. Aber schließlich habe ich mir gedacht: Ach, was soll´s, dir ist sowieso grad langweilig, du hast nichts Besseres zu tun also schreib einfach über dieses Thema. Du kannst nie wissen, vielleicht kommt ja doch was an. Ihr werdet es schon ahnen: Es geht um die völlig sinnfreie, überflüssige, nervige, viel zu häufig jedem P.O.C. [People of Colour] in Deutschland gestellte Frage: Wo kommst du her? (...) Mecnuns Weiße Freundin Lena hatte ihn zu einem Abendessen in ihrer WG eingela-‐ den. Ehrlich gesagt, hatte ich gar keine Lust mitzugehen, denn Lenas Mitbewohner sind alle weiß, und nicht sehr weise. Aber Mecnun bettelte und flehte; schließlich bot er mir an, den Rasen im Garten meiner Eltern zu mä-‐ hen, womit ich für den nächsten Monat voll aus dem Schneider wäre. Außerdem ist er mein Cousin, also habe ich ihm den Gefallen getan. (...) Doch kaum hatten wir mit dem Essen ange-‐ fangen – mein erster Bissen lag grade mal auf der Gabel – da geschah es, das erwartete Unfassbare, dieser Affront gegen jegliche interkulturelle Etikette. Einer stellte die scheinbar banale, aber im weißen Unter-‐ drückungssystem fest verankerte Frage: Wo kommst du her? Mecnun ging in Deckung: Lena hätte sich vor Schreck beinahe verschluckt. Ich (...) dachte mir: Okay, ich will das gute Essen nicht ver-‐ derben. Außerdem bringt den Sesperado nichts so leicht aus der Fassung: Ein kurzer Griff in mein Arsenal, durchladen und feuern. Mein Spruch traf voll ins Weiße. Mecnun und Lena lachten sich schlapp, und auch die an-‐ deren Weißen schmunzelten über meine tiefsinnige Antwort. Selbst der Fragensteller
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quälte sich ein Lächeln ab. Zumindest dieser Weiße hatte begriffen, dass seine Frage un-‐ angebracht gewesen war. »Ich dachte, du hättest deine Haus-‐Weißen etwas besser dressiert?!«, raunte ich Lena zu. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Natürlich seid ihr jetzt alle ganz gespannt und wollt wissen, was ich denn Kluges zu diesem Typen gesagt habe – aber yaavaas, ich werde euch noch etwas auf die Folter spannen. Nur Eines sage ich schon vorweg: Es ist die beste Antwort, die ich für solche Fälle parat habe. Und das muss schon etwas bedeuten, wenn der Sesperado das sagt! Jedes Mals, wenn mir die Frage »Wo kommst du her?« gestellt wird, dann ist es als bliebe die Zeit stehen, und mein ganzes Leben rauscht an mir vorbei. Ich erlebe die Aber-‐ millionen Augenblicke wieder, in denen mir diese Frage gestellt wurde. Und ich erinnere mich auch an all die verschiedenen Antwor-‐ ten, die ich auf diese Frage gegeben habe. Aber zunächst eine theoretische Einführung ins Thema. Was meint der gemeine Teutone mit dieser Begrüßungsformel: Wo kommst du her? Hinter dieser Frage verbirgt sich kein wohlmeinendes Interesse. Um die ger-‐ manische Denkweise zu veranschaulichen, verwende ich den neanderthalischen Satz-‐ bau. »Wo kommst du her?« bedeutet: »Du nicht weiß. Weil du nicht weiß, du nicht sein kannst deutsch. Also: Wo kommst du her? Ich sein weiß, ich schon vorher hier, du ge-‐ kommen später. Weil ich schon vorher hier, ich mehr Rechte.« Außerdem impliziert die Frage »Wo kommst du her?« gleich die zweite Frage »Wann gehst du wieder zurück?« Natürlich müssen die Strategien im P.O.C.-‐ Guerillakampf gegen die Weiße/westliche Hegemonie verbreitet werden. Also hier sind sie, meine Top 5, die fünf besten Antworten auf die kolonial gefärbte Frage: »Wo kommst du her?«
»kebab connection« Platz 5
Platz 2
»Wo kommst du her?« »Aus Berlin. Und du?« »Ähm…«, und dann frage ich die Frager aus. Nach ihren Eltern, Großeltern... ich betreibe intensive Ahnenforschung bis in die zwölfte Generation. Wenn die Leute dann ihren ari-‐ schen Stammbaum bis auf die Unterhose vor mir ausgebreitet haben, keimt bei ihnen manchmal die Hoffnung auf, auch von mir zu erfahren, woher ich komme. Doch wenn sie ihre Frage wiederholen, dann sage ich nur kühl, das sei viel zu persönlich. Ich gebe kei-‐ ne Auskunft über meine kulturelle Herkunft.
Manchmal ist die Frage »Wo kommst du her?« auch mit einem gewissen Verlangen nach Exotik verbunden. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund eignet sich mein Ge-‐ sicht hervorragend als Projektionsfläche. Wenn ich die Leute meine »Herkunft« raten lasse, dann glauben sie alles Mögliche, von Mittel-‐ und Südamerika bis Nordafrika, auch Asien mit Ausnahme von Russland, Japan und Laos, aber Laos auch nur weil das keiner kennt.(...) Dann erzähle ich, dass ich ein tibetanischer Mönch sei (...) und das Schicksal mich dann schließlich nach Mecklenburg-‐Vorpommern brachte.
Platz 4 »Wo kommst du her?« »Aus Berlin.« »Wie Berlin?« »Ich komm aus dem Wedding. Vor-‐ her war ich in Neukölln.« »Und wo bist du geboren?« »In Tiergarten-‐Moabit. In Kreuz-‐ berg bin ich zur Grundschule gegangen, in Schöneberg aufs Gymnasium, in Zehlendorf habe ich angefangen zu studieren und jetzt bin ich in Mitte.« Leute das ist natürlich Quatsch. Der Sespera-‐ do ist ein geborener Weddinger, merkt euch das. Representin´ Berlin City. Shout out an meine Headz aus dem Wedding! boh boh boh!
Platz 3 Platz 3 ist etwas komplexer. Wenn die Leute mich fragen, woher ich komme, dann erzähle ich ihnen eine falsche Familiengeschichte. Sie lautet folgendermaßen: Mein Großvater mütterlicherseits ist zur Hälfte marokkanischer Kabyle und Mongole, meine Großmutter mütterlicherseits ist zur Hälfte chilenische Indígena und Kubanerin. Sie lernten sich auf Mauritius kennen und heirateten dort. Mein Großvater väterlicher-‐ seits ist zur Hälfte... Ich bin in Deutschland geboren, dass heißt, ich habe einen pakistanisch, mexikanisch, mauritischen Hintergrund mit Wurzeln in Marokko, Chile, Kuba, Mali, Mongolei, Liba-‐ non, Hawaii, und Malaysia. Das war jetzt nur die Kurzfassung. (...) Ich quäle die Leute so lange mit meiner Familiengeschichte, dass sie es sich beim nächsten Mal ganz lange und sorgfältig überlegen werden, ob sie fragen sollen: »Wo kommst du her?«
Platz 1 Okay, ich kann es in euren Augen sehen: Ihr wollt natürlich wissen, was ich dem Typen in Lenas WG an den Kopf geworfen habe. (...) Also hier ist sie, die Nummer Eins, Best of Five, die ultimative Antwort auf die Frage: Wo kommst du her? Aus Mama! aus: Multu Ergün, Kara Günlük – Die geheimen Tagebücher des SESPERADO, Münster 2010
Neumann, Wolf
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»kebab connection«
Gesprächsanregung zu »Heimat«
Was bedeutet für euch Heimat? Unterscheidet ihr zwischen Heimat und Zuhause. Wenn ja, wie? Hattet ihr schon mal Heimweh? Was habt ihr vermisst? Was bedeutet Heimat für die verschiedenen Figuren aus dem Stück? Warum ist es für Ibos Vater so schlimm, dass Ibo ein Kind mit Titzi bekommt?
Spielanregung zu »Heimat« »Wie stehe ich wozu?«
Ziel ist es auf eigene Bauchgefühle zu achten, Meinungen zu bilden und Stellung zu bezie-‐ hen. Alle SpielerInnen stehen in einem großen Kreis. Ein Statement zu einem Themenkom-‐ plex, in diesem Falle zum Thema Heimat, wird von der SpielleiterIn genannt, daraufhin tritt jemand aus dem Kreis, der diesem Sta-‐ tement zustimmt in die Mitte. Die anderen müssen wie folgt Position dazu beziehen: -‐ Je näher ich mich an die Person in der Mitte stelle, umso mehr stimme ich dem Gesagten zu. -‐ Wenn ich überhaupt nicht zustim-‐ men kann, bleibe ich an meinem Platz an der äußeren Kreislinie ste-‐ hen. -‐ Wenn ich mich gar nicht zu dem Sta-‐ tement positionieren kann oder will, drehe ich mich von der Kreismitte weg, so dass ich nicht sehe, was die anderen über das Gesagte denken.
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Für die ersten Statements kann die Spieleite-‐ rIn in der Mitte stehen, bis die verschiedenen Positionierungsmöglichkeiten klar sind. Vorschläge für Statements: Ich esse gerne bei Mc Donalds. Ich fühle mich an vielen Orten Zuhause. Heimat ist eher ein Gefühl als ein Ort. Mir ist egal, was andere von mir den-‐ ken. Meine Heimat ist weit weg. Ich glaube an den Weihnachtsmann. Re-‐ ligion ist wichtig für mich. Kultur ist wichtig für mich. Ich mag Sirtaki Mu-‐ sik. Ich habe keine Vorurteile. Ich weiß genau, wer ich bin. Ich habe schon mal Ausgrenzung erfahren. Ich habe oft Fernweh. Ich habe oft Heimweh. Zu meiner Heimat gehören Traditionen.
»kebab connection«
Kapitel 3:
Gesellschaftliches Heranwachsen
Neumann, Mondalski, Hoffmann Jeder Mensch ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig und jeder Aufmerksamkeit wür-‐ dig. Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeu-‐ tung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle kommen aus demselben Schlunde. Hermann Hesse, Demian, Berlin 1919
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Szenenauschnitt Stella Kirianis
Onkel, was ist los mit dir? Ah, frag doch mal, was nicht los ist? Früher gab es nur diese Taverne, da war hier alles Wüste, auf einmal kommen diese dickbäuchigen, fettnasi-‐ gen, schnurrbärtigen Barbaren und jetzt fressen alle nur noch diese billi-‐ gen, mit Hundefleisch vollgestopften Weißbrot-‐Handtaschen. Und das ist nicht genug: Mein eigner Sohn eröffnet einen arabischen Imbiss.....(...) Und ich dachte ich hätte einen Griechen zur Welt gebracht!
Kebab Connection, Szene 8 Ibo: Du hast mich wegen Titzi verstoßen. Mehmet: Dich schon, aber nicht mein Enkel! Ibo: Augenblick! Du, du wirfst mich raus, du enterbst mich, bist nicht mehr mein Va-‐ ter, weil ich ´n Kind mit einer Deutschen kriege? Mehmet: Ja. Ibo: Ich streite mich deswegen mit Titzi, und jetzt machst du mir Vorwürfe, dass ich sie im Stich lasse? Mehmet: Ja. Ibo: Baba, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Mehmet: So redest du nicht mit deinem Vater! (geht raus)Der nicht mehr dein Vater ist! Esolu esek! (Sohn eines Esels) Ibo: (zu sich) Die spinnen, die Türken. Kebab Connection, Szene 19
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Das »Eigene« und das »Fremde« von Haci-Halil Uslucan Wer noch seine Asterix-‐Lektüre im Kopf hat, erinnert sich an folgende Passage: »Du kennst mich doch, ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!« (...) Allen Überlegungen zu Konstruktionen von Fremdheit geht zunächst voraus, dass dem Fremden etwas Negatives, Problemati-‐ sches, ja manchmal auch Beängstigendes anhaftet, gleichwohl der Fremde als Exot natürlich auch Gegenstand unserer Neugier ist. Doch interessant ist er immer nur solan-‐ ge, wie wir eine Distanz, einen Schutzraum um uns herum haben. Dabei ist Fremdheit keine Eigenschaft, die man mit sich trägt und die jedem Nichtfrem-‐ den zur Schau gestellt wird. Vielmehr ver-‐ weist sie auf den Standpunkt derjenigen, die den Diskurs steuern, aus deren Perspektiven die soziale Wirklichkeit konstruiert wird, die bei der Definition der Beziehungen die Deu-‐ tungshoheit innehaben und das Eigene klammheimlich als Standard voraussetzen. Wer über den Fremden spricht, spricht inso-‐ fern natürlich auch immer über sich selbst. Aus dieser Perspektive werden nicht nur das Andere, sondern auch das Eigene (das mir Zugehörige) und das Fremde (das mir Ferne) abgesteckt. Denn das Fremde ist in der Regel mehr als nur das Andere: Anders kann vieles bedeuten (wie Geschlecht, Haarfarbe, Grö-‐ ße), was wir nicht unbedingt als »absto-‐ ßend« empfinden; doch beim Fremden spü-‐ ren wir auch immer einen Hauch von Ab-‐ wehr; etwas, das uns nicht allzu nah kom-‐ men sollte. (...) Zunächst sollten wir uns bewusst machen, welche Formen der Beziehungen hier herge-‐ stellt werden: Bei Fragen der kulturellen Identifikation greifen wir gern auf ein Topos zurück, das seit Norbert Elias berühmter Studie über »Etablierte und Außenseiter« zum Klassiker über die Beziehung von Alt-‐ eingesessenen und Neubürgern geworden ist. Die etablierte Mehrheitsgesellschaft iden-‐
tifiziert sich mit den besten ihrer Vertreter, die (neue) Minderheit wird aber mit den negativsten »Exemplaren« ihres kulturellen oder ethnischen Hintergrunds identifiziert. So sehen wir am Ende in jedem Deutschen einen verkappten Goethe, in jedem Polen aber einen potenziellen Autoknacker und in jedem Türken einen Gewalttäter. Wer darüber hinaus lediglich kulturelle Di-‐ stanz als Ursache der Fremdheit ins Feld führt, verkennt, dass ein Verständnis des Alltagshandelns der Fremden nicht nur ein äußerst konservatives Argument ist, sondern kaum etwas erklärt. Denn damit werden die faktische Prozesshaftigkeit sowie die Verän-‐ derbarkeit von Kultur in Abrede gestellt. Seine Kultur ist dem Menschen nicht einfach »gegeben« worden: Zwar eignen wir uns in unserer Sozialisation überlieferte kulturelle Praxen an -‐ denn keine Tradition hält sich von selbst aufrecht, wenn nicht an sie ange-‐ knüpft wird -‐, jedoch deuten wir diese im Alltag auch stets subjektiv um. Wir gleichen sie in unseren täglichen Interaktionen mit den beteiligten Menschen ab und entwickeln dabei für neue Situationen veränderte Hand-‐ lungsstrategien. In diesem Prozess verän-‐ dern wir auch diese kulturellen Vorgaben, gleichwohl dies den Einzelnen nicht immer bewusst ist. (...) Wie fremd sind uns denn die Fremden wirk-‐ lich? Gerne wird im öffentlichen Diskurs bei der Erklärung unterschiedlicher Verhal-‐ tensweisen und Werteorientierungen von »Deutschen« und »Türken« auf den Begriff der »Parallelgesellschaften« rekurriert. Diese Denkfigur genießt eine hohe Plausibilität und wird immer wieder von Praktikern so-‐ wie expliziten Gegnern einer Integration und Teilhabe von Migrantinnen und Migranten -‐ also den eigentlichen »Integrationsverweige-‐ rern« -‐ ins Feld geführt, auch wenn damit kaum eine angemessene Problembeschrei-‐ bung erfolgt, sondern nur eine weitere Ver-‐ festigung von Stereotypen. (...)
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»kebab connection« Gleichwohl ist daran zu erinnern: Im inner-‐ familiären, aber auch im interkulturellen Alltag handeln wir vielfach eher routiniert und sind selten darauf kapriziert, zu schau-‐ en, welche Werte wir in unserem Handeln verwirklichen. Dies machen Intellektuelle, Journalisten, Feuilletonisten und Politiker. Werte sind unseren Handlungen inhärent. Sie werden vielmehr indirekt, manchmal sogar den Beteiligten völlig unbewusst, ver-‐ und übermittelt. Und sie werden als Werte zumeist erst dann aktualisiert, wenn es Kon-‐ flikte gibt und nicht, wenn das Zusammenle-‐ ben konfliktfrei und reibungslos abläuft. Deshalb sind gerade Differenzen im Alltag gute Anlässe, Werte zu thematisieren und so die unbewusste Wertevermittlung auf die Ebene des Bewusstseins zu heben. (...)
Hiller, Rummel
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Wann, so ist am Ende zu fragen, hört diese »Verfremdung«, das Gefühl der Fremdheit bei allen auf? Eine alte jüdische Geschichte hat ähnliche Erfahrungen von Menschen sehr plastisch verdichtet: »Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde be-‐ stimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann, fragte einer der Schüler. Nein, sagte der Rab-‐ bi. Ist es, wenn man von weitem einen Dat-‐ tel-‐ von einem Feigenbaum unterscheiden kann, fragte ein anderer. Nein, sagte der Rabbi. Aber wann ist es denn, fragten die Schüler. Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.« aus: Politik und Zeitgeschichte, (APUZ 43/2001), 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei. Darin: Haci-‐Halil Uslucan, Wie fremd sind uns »die Türken«? – Essay
»kebab connection«
Menschenrechte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 1 Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Artikel 2 Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklä-‐ rung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Reli-‐ gion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. aus: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, General-‐ versammlung der UNO vom 10. Dezember 1948
Identität, Vielfalt und Pluralismus Artikel 2 Von kultureller Vielfalt zu kulturellem Pluralismus In unseren zunehmend vielgestaltigen Ge-‐ politische Antwort auf die Realität kulturel-‐ sellschaften ist es wichtig, eine harmonische ler Vielfalt. Interaktion und die Bereitschaft zum Zu-‐ Untrennbar vom demokratischen Rahmen sammenleben von Menschen und Gruppen führt kultureller Pluralismus zum kulturellen mit zugleich mehrfachen, vielfältigen und Austausch und zur Entfaltung kreativer Ka-‐ dynamischen kulturellen Identitäten sicher pazitäten, die das öffentliche Leben nachhal-‐ zu stellen. Nur eine Politik der Einbeziehung tig beeinflussen. und Mitwirkung aller Burger kann den sozia-‐ aus: Die Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt der len Zusammenhalt, die Vitalität der Zivilge-‐ UNESCO sellschaft und den Frieden sichern. Ein so definierter kultureller Pluralismus ist die
Die Würde des Menschen ist unantastbar Artikel 3
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberech-‐ tigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durch-‐ setzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behin-‐ derung benachteiligt werden. aus: dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 beschlossen
Gesprächsanregung
Besprecht diese Artikel und Rechte in der Klasse. Wie gestaltet sich die Umsetzung dieser Gesetze? Kennt ihr Ereignisse, Begebenheiten oder Verhaltensweisen, die diesen Gesetzen widersprechen?
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»kebab connection«
Ist ein Leben ohne Vorurteile und Feindbilder möglich? Ein Text der Studiengesellschaft für Friedensforschung e.V. Kinder, Jugendliche, alte Menschen, Frauen, scheidungen treffen, die unser Überleben Männer, Juden, Iraker, Schweizer, Russen, sichern. Das geht dann reflexartig. Prostituierte, Türken, Homosexuelle, Ameri-‐ Die negative Seite allerdings ist, dass wir kaner, Christen usw. -‐ es gibt keine Gruppe aufgrund dieser Begrenzung, nach den Er-‐ von Menschen, keine Nationalität, keine Re-‐ kenntnissen der Gestaltpsychologie einem ligion für die es keine Klischees gäbe und die automatisch ablaufenden Gliederungspro-‐ nicht mit bestimmten Eigenschaften besetzt zess in unserer Wahrnehmung unterliegen. wären. Wir können uns leider dem Phäno-‐ Wir blenden dabei wichtige Informationen men nicht entziehen, dass wir in Stereotypen aus, die sonst ein vollständigeres Bild erge-‐ denken. ben würden. »Der Begriff Stereotype bezieht sich auf eine (...) Reihe gleicher Eigenschaften, die Gruppen Zur Erkenntnis dieser durch verschiedene zugeschrieben werden. Bei der Wahrneh-‐ Faktoren begrenzten menschlichen Wahr-‐ mung von Gruppen bedienen wir uns einiger nehmung gehört auch das Wissen um damit typischer Eigenschaften, um Mitglieder die-‐ einhergehende Wahrnehmungsfehler. ser Gruppe zu kennzeichnen.« (Norbert Einige Wahrnehmungsfehler, die sehr häufig Kühne u. a., S. 23) auftreten und denen wir alle unterliegen, Das ist problematisch, weil dadurch Schub-‐ sind: laden entstehen, die für Individualität, kriti-‐ sches Hinterfragen, Verstehen anderer Per-‐ sonen oder Gruppen wenig Raum lassen. Zu leicht entstehen aus solchen Schubladen Vorurteile und Feindbilder. (...) Wir haben als Menschen bereits sehr früh die Tendenz, die Wirklichkeit, das, was wir erleben und was uns begegnet, zu kategorisieren: in gut und böse, in richtig und falsch. Damit geben wir unserem eigenen Weltbild die Struktur, die wir zur Orientierung in unserem Leben brauchen. Auch wenn Vorurteile und Feind-‐ bilder vom Inhalt her austauschbar sind -‐ ohne sie wird kaum ein Mensch leben kön-‐ nen. Die entscheidende Frage muss deshalb lauten: Wie können wir konstruktiv damit umgehen?
Menschliche Wahrnehmung Unsere Wahrnehmung ist von Natur aus über unsere Sinne begrenzt. (...)Wir können über Objektivität sprechen, aber wir können die Sachverhalte nicht absolut objektiv wahrnehmen oder erkennen. Hier haben wir als Menschen unsere Grenzen. (...) Wir neigen dazu, zu vereinfachen und die Informationsfülle der sehr komplexen Reali-‐ tät zu reduzieren. (...) Aus Sicht der Evolution ist dies höchst sinnvoll, denn blitzschnell können wir so in Notsituationen aufgrund der uns vorliegenden Informationen Ent-‐
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Mondalski, Kordeck, Reithmeier, Neumann
»kebab connection« HaloEffekt: Ein dominantes Merkmal, das wir beobachten, überstrahlt die ganze wahr-‐ genommene Person und wird mit weiteren Merkmalen kombiniert: Hat z. B. ein Mensch einmal einen klugen Beitrag geleistet, so wird er von jetzt an in jeder Situation als klug gesehen. Dieses Merkmal wird unter Umständen mit weiteren Merkmalen wie Freundlichkeit, hohem persönlichen Einsatz usw. gekoppelt. Logischer Fehler: Er besagt, dass in unserer Vorstellung bestimmte Eigenschaften immer zusammen auftreten, z. B.: Ein starker Junge ist auch aggressiv und aktiv (Norbert Kühne, S. 22). Projektionen: Eigene Erwartungen, Bedürf-‐ nisse, Hoffnungen, Annahmen, Befürchtun-‐ gen, Probleme etc. werden auf eine Person bzw. andere Personen übertragen. Wenn ich z. B. selbst Probleme habe, besteht die Ten-‐ denz, diese auch anderen zu unterstellen.
Verallgemeinerungen: Wir neigen dazu, durch den Gebrauch von Worten wie »im-‐ mer, alle, keiner« usw. Verallgemeinerungen herzustellen. Sie sind wenig nützliche Wahr-‐ nehmungsfilter, denn sie stellen kognitiv etwas her, das wir im Grunde nie überprüfen können. Hier haben Aussagen wie »Wer lügt, stiehlt auch.« oder »Alle Dicken sind auch gemütlich.« ihren Ursprung. (...) Wir selbst stehen in einer hohen Verant-‐ wortung den Bildern gegenüber, die wir uns von Menschen machen und die in Vorurtei-‐ len und Feindbildern münden können. Auf Grund unserer menschlichen wie politischen Verantwortung ist es notwendig, dass wir uns mit diesen Bildern viel stärker auseinan-‐ dersetzen, als wir es normalerweise tun. Dies ist unsere eigene persönliche Aufgabe, nicht die anderer. Hier lässt sich nichts delegieren. aus: Denkanstoß 49, Vorurteile und Feinbilder, Studiengesell-‐ schaft für Friedensforschung e.V., München
Gesprächsanregung
Im Stück werden viele Klischeebilder aufgegriffen und / oder Vorurteile benannt. Welche sind euch in Erinnerung geblieben? Beispiele: Marion Onkel Ahmet: Ibo: Kirianis:
Hast du schon mal einen Türken gesehen, der einen Kinderwagen schiebt? Bald kann der Grieche da drüben seinen Laden schließen und auf Lesbos schwule Ziegen hüten! Du bist ´ne Frau, Mann. Ihr Frauen seid uns Männern Jahre voraus. Mein eigner Sohn ist VEGANER geworden. (...)Und ich dachte ich hätte einen Griechen zur Welt gebracht!
Welchen Vorurteilen oder Klischeebildern begegnet ihr immer wieder? Und wie geht ihr damit um? Es ist leichter über Vorurteile zu reden, die andere haben, als über die eigenen. Wenn ihr ehrlich mit euch seid, welche Vorurteile, welche Bilder haben sich bei euch eingeschlichen? Denkt auch an positive Vorurteile? Und warum?
Szenenanregung
Geht in Kleingruppen zusammen und berichtet euch von Situationen, in denen ein Vorurteil oder ein Klischeedenken überraschend widerlegt wurde. Das kann eine Situation sein, die ihr beo-‐ bachtet habt, in die ihr selbst verwickelt ward, oder eine, in der ihr selbst mit Vorurteilen eurer-‐ seits konfrontiert wurdet. Entwickelt dazu eine Szene, die ihr den anderen präsentiert.
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»kebab connection«
Spielanregungen »Vorurteile?! Ich doch nicht! Aber....« Talkshow oder Podiumsdiskussion mit »ge-‐ bastelten Identitäten« Zur Vorbereitung: Es werden viele Stifte und kleine Schnipsel/ Zettel in fünf verschiedenen Farben benötigt. Jeder Schüler schreibt geheim jeweils auf einen Zettel einen Namen (darf nicht in der Gruppe existieren), ein Alter (zwischen 15 und 70 Jahren), einen Berufswunsch/Beruf, ein Accessoir/Gegenstand und eine Eigen-‐ schaft. Alle Namen kommen z.B. auf rote Zet-‐ tel, alle Eigenschaften auf grüne Zettel usw. Alle Zettel werden gefaltet abgegeben. Nun werden vier bis sieben freiwillige Schauspieler gesucht, die Spaß daran haben in eine fremde Rolle zu schlüpfen und über ein vorgegebenes Thema mit der Klasse zu diskutieren – wie in einer Talkshow oder Podiumsdiskussion. Die Schauspieler ziehen jeweils einen Zettel von jeder Farbe und bekommen somit die Eckpunkte ihrer neuen Identität. Z.B.: Marisol , 43 Jahre, Fischfachverkäuferin, verliebt, Taschenlampe
»Wahr oder gelogen« Für diese Spielanregung werden viele Streichhölzer benötigt. Für jeden Spieler vier und eine Stoppuhr. Das Spiel dauert 10 Minuten. Danach muss genug Zeit zur Reflexion eingeplant werden. Ziel des Spiels ist es, sich bewusst zu werden, welche Bilder man selbst im Kopf über andere hat, um diese in der anschließenden Reflexion kritisch zu hinterfragen. Außerdem lernen die TeilnehmerInnen sich von anderen Seiten kennen. Ablauf: JedeR SpielerIn bekommt vier Streichhölzer und soll sich in einer kurzen Bedenkzeit drei
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Sie schreiben Name, Alter und Beruf auf eine Tischkarte, so dass es alle lesen können. Nun bekommen alle Schüler das Thema der heutigen Diskussion genannt. Sie haben kur-‐ ze Bedenkzeit. Vor allem die Schauspieler müssen sich nun in ihrer »gebastelten neuen Identität« Meinungen und Standpunkte dazu überlegen. Beispiele für Diskussionsthemen: »Vorurteile?! Ich doch nicht! Aber....« oder »Meine Heimat. Deine Heimat. Unsere Hei-‐ mat?!« oder »Kind oder Erwachsen? Schwangerschaft während der Ausbildung?!« Jetzt kann es losgehen: der Moderator lädt die Freiwilligen aufs Podium/in die Talk-‐ show ein. Diese stellen sich vor und geben ein Statement ab. Nach einer Weile kann der Moderator Publikumsfragen zulassen und die Gesprächsrunde öffnen. Ziel des Spieles: Durch den Schutz der Rolle können Meinun-‐ gen zur Sprache gebracht werden, die sonst nicht laut geäußert werden, was zur Vertie-‐ fung des Gespräches und zur kritischen Re-‐ flexion des Themas führen kann.
»Tatsachen« aus ihrem Leben überlegen, die noch nicht bekannt sind und die etwas über einen selbst aussagen. Eine der drei Tatsa-‐ chen ist jedoch gelogen. Wenn ein Startzeichen gegeben worden ist, suchen sich die/der SpielerInnen schnell eine PartnerIn, und erzählen sich gegenseitig ihre Fakten. Der/die PartnerIn muss sich schnell und intuitiv entscheiden, welche »Tatsache« gelogen ist und bekommt ein Streichholz, wenn er/sie die Lüge entlarvt. Wenn er/sie falsch rät, bekommt der/die ErzählerIn ein Streichholz vom Partner. Dann ist der / die andere dran. Er/Sie kann jetzt sein Streichholz wieder zurückgewin-‐ nen oder noch ein weiteres dazubekommen
»kebab connection« Wenn das Paar fertig ist, suchen sie sich eine nächste PartnerIn, der/die frei wird. Ziel ist es, in dem vorher vom Spielleiter / der Spiel-‐ leiterin festgesetzten Zeitrahmen möglichst viele Streichhölzer zu sammeln. Wenn ein Spieler vor Spielende alle Streich- hölzer verloren hat, scheidet er aus. Hinweis: Es kann passieren, dass die SpielerInnen sich als Gewinnstrategie bewusst »Fakten« aus-‐ denken, die man nicht einschätzen kann (z.B: Ich habe Schuhgröße 36 statt 37). Daher ist es sinnvoll, vor Spielbeginn interessante und langweilige Faktenbeispiele zu geben.
Interessantes Faktenbeispiel: Ich habe die dritte Klasse wiederholt. Ich kann Kühe melken und mache das gerne. Als ich jünger war, war ich ein Fan von den »Wilden Kerlen«. Langweiliges Faktenbeispiel: Meine Tante heißt Paulina. Mein gro-‐ ßer Bruder ist 21 Jahre alt. Meine Oma hat im März Geburtstag. Zur Reflexion können folgende Fragen hel-‐ fen: Welche Lügen konnte ich entlarven und warum? Was war überraschend und warum? Wurden bisherige Bilder im Kopf verändert?
Neumann, Breitrück, Hoffmann
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»kebab connection«
Das Konzept der Transkulturalität: Was ist neu? von Arata Takeda Die eigentlich fortschrittlich gemeinten Kon-‐ zepte der Interkulturalität und der Multikul-‐ turalität von heute speisen nach wie vor von dieser inzwischen überholten Vorstellung und können, trotz ihres Bemühens um ge-‐ genseitige Toleranz und Konfliktvermeidung, gerade wegen ihres kugel-‐ bzw. inselartigen Kulturverständnisses zur Segregation, Ghet-‐ toisierung, Extremismus und Fundamenta-‐ lismus führen. Das Konzept der Transkultu-‐ ralität geht als Gegenkonzept dazu von der historischen wie gegenwärtigen Beobach-‐ tung aus, dass Kulturen sich uneinheitlich und nach außen hin grenzüberschreitend sind. […] Eine rigorose Trennung zwischen Eigenem und Fremden besteht nicht mehr, sonder man findet eigenes im Fremden wie-‐ der und vice versa. Es wird auf die Fähigkeit des Einzelnen ankommen, die individuelle Transkulturalität anzunehmen, und sich so der gesellschaftlichen Transkulturalität zu stellen. Wenn wir diesen Paradigmenwechsel in der Theorienlandschaft und die damit verbun-‐ denen praktischen Herausforderungen ernst nehmen, so sehen wir uns vor eine Reihe von neuen Erziehungsaufgaben gestellt: Zunächst sollte ein synergetisches Klima geschaffen und gefördert werden, in dem sowohl Lehr-‐ personen als auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ihre persönlich gelebte Transkulturalität als Ressource zum Erkunden und Entdecken von kollektiv wir-‐ kender Transkulturalität einsetzen können. […] Schließlich darf die kritische Frage nicht ausbleiben, ob die Realität von Kulturen tat-‐ sächlich so beschaffen ist, wie die Theoreti-‐ ker der Transkulturalität uns nahe legen. Denn einiges lässt sich nicht leugnen: Es gibt Kulturen, in denen man sich wohl und Zu-‐ hause fühlt, es gibt Kulturen, die man als anders und fremd empfindet, und es fällt einem nicht schwer, eindeutige Unterschiede zwischen der einen oder der anderen Kultur zu erkennen und zu benennen. Aber wir können noch einen Schritt weitergehen und hinterfragen, ob diese von uns so wahrge-‐ nommene Realität nicht durch die wohlfeilen Konzepte, mit denen wir gedanklich operie-‐
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ren, in unseren Köpfen produziert wird. Das heißt: Wenn wir in anderen Kategorien und nach anderen Maßstäben denken, wird sich auch die Realität, die wir emotional wie ko-‐ gnitiv wahrnehmen, verändern.
Vier »Rezepte« für eine transkulturelle Pädagogik: differenzieren, entschematisieren, historisieren, kontextualisieren Differenzieren Das erste »Rezept« plädiert für einen kultur-‐ sensiblen und zugleich selbstkritischen Um-‐ gang mit Andersheit und Fremdheit. Diffe-‐ renzieren meint hier im ersten Schritt Diffe-‐ renzieren in ihrem Entstehen und Bestehe-‐ nannehmen und verstehen, ohne sie sogleich ästhetisch zu urteilen oder zu werten; es meint betrachten ohne zu polarisieren, ver-‐ gleichen ohne zu hierarchisieren. […] Eine transkulturelle Pädagogik muss Schülerin-‐ nen und Schülern Wege eröffnen, die kom-‐ plexe Vielfalt von Kulturen zu erkunden, oh-‐ ne Gegensätze oder Hierarchien herzustel-‐ len. Entschematisieren Von Schülerinnen und Schülern bikultureller Herkunft hört man oft, sie fühlten sich weder als das eine noch als das andere, sie seien ein Mittelding. Dies geschieht in besonderem Maße aufgrund der Konditionierung durch die Bilder, die ihre Kulturen typisiert darstel-‐ len, und die Sprache, die sie »Halbdeutsche« oder »Halbtürken« nennt. Dadurch entsteht bei ihnen eine Tendenz, eine Trennung bzw. Spaltung zwischen Identitäten zu erleben oder sich unvollkommen vorzukommen. […] Solange man Kulturen als statisch erstarrte Größen begreift, bietet sich einem als Identi-‐ fikationsmodell nur ein entweder-‐ oder an, aber kein sowohl-‐ als-‐ auch, und umso höher steigt die Gefahr, in einem Weder-‐ Noch zu enden. […] Historisieren […] Das Denken in historischen Dimensionen ist ein befreiendes Gegenmittel gegen den modischen Zwang, alles Auffällige und Be-‐ fremdliche zu kulturalisieren. Ein interessan-‐
»kebab connection« ter Unterrichtsstoff dazu wären z.B. Märchen und Sagen: Es stellt sich nicht selten heraus, dass ein populäres nationales Märchen dem entlegensten Winkel der Welt entsprungen ist und durch mehrere exotische Kulturkrei-‐ se hindurch zu uns gefunden hat. Kontextualisieren […] Phänomene, die als allgemein kulturspe-‐ zifisch gelten, müssen auf Kontexte hin be-‐ fragt werden, in denen sie stehen und zur Entfaltung gelangen. Es gibt Regionen auf der Welt, in denen besonders radikale religiöse, politische oder kriminelle Gruppierungen anzutreffen sind. Um die Probleme in ihrem Wesen zu erfassen, ist es wenig damit getan, sie mit dem Gestus der Distanz als Manifesta-‐ tionen andersartiger Kulturen zu begreifen. Im Gegenteil: Wo sich der Schleier der Kultur legt, werden machtpolitische und sozioöko-‐ nomische Elemente, die ebenfalls maßgeb-‐ lich zur Radikalisierung beitragen können, unsichtbar. Die Interessen der Potentaten, die Rolle der Geheimdienste, die Klima-‐ und Ressourcenkriege, der konzentrierte Reich-‐ tum und die Massenarmut sind Faktoren, die im wahren Sinne kulturellen Formationen weniger Vorschub leisten als vielmehr im Wege stehen. Es gilt, offenkundig kulturali-‐
sierte Denk-‐ und Handlungsmuster in ihren komplexen Zusammenhängen zu betrachten und in ihrer negativen Kulturbedingtheit zu relativieren. Die »Rezepte« sind insbesondere in den Schulfächern Deutsch, Geschichte und Reli-‐ gion, aber auch in vielen anderen, kreativ und vielseitig anwendbar. […] Schülerinnen und Schüler sollen dabei Unterstützung er-‐ halten, über kulturelle Rastersysteme hinaus transkulturelle Dimensionen zu entdecken. Dazu gehört vor allen Dingen ein vorsichti-‐ ger Umgang mit tradierten sprachlichen Bil-‐ dern: In der geläufigen Metaphorik, zwischen den Völkern »Brücken« zu schlagen oder die »Gräben« zwischen ihnen zuzuschütten, wirkt die traditionelle Vorstellung von Kul-‐ turen als Inseln weiterhin hartnäckig nach. […] Wir dürfen mit guter Hoffnung nach vor-‐ ne blicken: Die »interkulturelle Kompetenz«, die Lehramtsstudierende seit neuem neben anderen Qualifikationen zu erwerben haben, könnte bald durch die »transkulturelle Über-‐ gangsfähigkeit« abgelöst werden. aus: Arata Takeda, Transkulturalität im Schulunterricht in Beispielsammlung »Schule gestalten: Vielfalt nutzen!«, Stadt Stuttgart
Reithmeier, Neumann
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Beispiele für die gestalterische Auseinandersetzung mit den Themen des Stückes Das Oberstufenzentrum für Kommunikations-‐, Informations-‐ und Medientechnik Berlin hat sich im Vorfeld der Premiere auf verschiedene Weisen mit dem Stück auseinandergesetzt. Es wurden Fotostrecken zur Themenauswahl: »Liebeserklärung an das transkulturelle Berlin«, »Meine Träume und ihre Schranken« und »Die bunte Welt der Imbisse« erarbeitet. Außerdem entstanden Grafiken /Zeichnungen zur Fragestellung: »Wer bin ich, was macht mich aus und wie werde ich gesehen?« Auch der Darstellendes Spiel – Kurs griff die Themen Generationskonflikt, Identitätssuche und die Verwirklichung der eigenen Träume auf.
»ICH-Welten – Zeichnungen der persönlichen Innen- und Außenwelt«
Fotografien von Philipp Seifert aus der Fotostrecke:
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Schüler und Schülerinnen der 11. Klasse von Fr. Slischka und Fr. Wiegleb
»Hier essen oder mitnehmen?«
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Literatur Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Pädagogik, Darmstadt, 2007 Behrens, Volker und Töteberg, Michael (Hg.): Im Clinch, die Geschichte meiner Filme, Reinbek bei Hamburg, 2011 Blumentrath, Hendrik; Bodenburg, Julia, Hillmann, Roger; Wagner-‐Egelhaaf, Martina: Transkul- turalität, Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film, Münster, 2007 Cevikkollu, Fatih; Der Moslem-‐TÜV, Deutschland einig Fatihland, Reinbek bei Hamburg 2011 Dorn, Thea und Wagner, Richard: Die Deutsche Seele, München, 2011 Erdheim, Mario: Die Repräsentanz des Fremden (1980), in ders. Die Psychoanalyse und das Unbewusste in der Kultur, Frankfurt/M., 1988, S. 236-‐251 Ergün, Multu; Kara Günlük, Die geheimen Tagebücher des Sesperado, Münster 2010 Göhlich, Michael; Leonhard, Hans-‐Walter; Liebau, Eckart; Zirfas, Jörg: Transkulturalität und Pädagogik, Weinheim und München, 2006 Hesse, Hermannn; Demian, Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend, Berlin 1919 Mecheril, Paul; Castro Varela, Dirim, Kalpaka, Melter: Migrationspädagogik, Weinheim und Basel, 2010 Raths, Anna Halima: Türkische Jugendkulturen in Deutschland, Marburg, 2009 Senocak, Zafer: Deutschsein, eine Aufklärungsschrift, Hamburg, 2011 Sezgin, Hilal (Hg.): Manifest der Vielen, Deutschland erfindet sich neu, Berlin, 2011. Sting, Wolfgang; Köhler, Hoffmann, Weiße, Grießbach (Hg.): Irritation und Vermittlung, Thea- ter in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft, Berlin, 2010 Weyehausen, Karsten: 111 Gründe Erwachsen zu werden, Berlin, 2009. Politik und Zeitgeschichte, (APUZ 43/2001), 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei. Darin: Haci-‐Halil Uslucan, Wie fremd sind uns »die Türken«?
Links http://www.transkulturelles-‐portal.com http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb-‐integration-‐ migration/publikationen/minderheiten/berlin_deutsch_tuerkisch_bf.pdf www.bpb.de/apuz/59731/wie-‐fremd-‐sind-‐uns-‐die-‐türken-‐essay?p=all www.kulturrat.de/detail.php?detail=1681&rubrik=88 www.zeit.de/2010/09/Rassismus
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Dank an die Kulturwissenschaftlerin Dr. Azadeh Sharifi für viele Gespräche und Beratungen, die Lehre-‐ rinnen und Lehrer vom OSZ KIM, Maren Sander, Claudia Slischka, Wiebe Wiegleb und Rainer Böhlke-‐Weber und die Schüler und Schülerinnen des DS-‐Kurses und der Zeichenkurse der 11. Klassen und an den Fotografen Philipp Seifert aus der 13. Klasse.
ÜBRIGENS! Das Begleitmaterial ist auch als kostenloser DOWNLOAD erhältlich unter www.grips-theater.de! Impressum GRIPS Theater GmbH Altonaer Straße 22 10557 Berlin Künstlerischer Leiter: Stefan Fischer-‐Fels Geschäftsführer: Volker Ludwig www.grips-‐theater.de Redaktion: Kirstin Hess, Susanne Rieber Mitarbeit: Maria Dubova, Fransziska Schirm, Annika Westphal, Sören Kneidl Fotos: David Baltzer / bildbühne.de Gestaltung: Stefanie Kaluza Art Direktion: anschlaege.de Titelbild: Thekla Priebst / anschlaege.de
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