Johannes Heymann

April 28, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Biographische Skizzen

von Ilse Heymann geb. Barth

und Johannes Heymann Mathwich

Dramen: I.

BAND

Vorspiele Wandlung der Isit, Geheimnis der Bride

II.

BAND

Botschaft vom Toten Meer Levi. Mathai Geheimnis der Mütter: Thamar, Rahab, Ruth, Bathseba Mysterium der Marien: Flucht aus Bethlehem Heimkehr aus Bethlehem Heimkehr aus Jerusalem Heimkehr aus Ägypten Vollendung in Nazareth (Fragment)

III. BAND

Die sieben Zeichen des Evangelisten Johannes Hochzeit zu Kana Speisung der Fünftausend Hauptmann von Kapernaum Wandeln über dem Meer Heilung in Bethesda Heilung des Blindgeborenen Auferweckung des Lazarus

IV. BAND

Verkündigung und Passion Erlösung des Hiob Enthauptung des Johannes Verrat des Judas

V.

BAND

Frage des Pilatus Was ist Wahrheit?

VI: BAND

Sie erlebten Paulus Trilogie Stunde der Drusilla Meerfahrt mit Paulus Traum der Berenike

ENTSTEHUNGSTAFEL DER WERKE

6.Sept. 1896* 16jährig?

Vor 1919 Um 1917 1918 Frühjahr 1920/21

1921/24 28jährig

1927 1928 1929 – 1935

1934 1935 Bis 1938

1944 / 45

1952 / 53

Johannes Heymann Mathwich Der schwarze Tot Esther Elias Drama Ein Glaubenskampf Tannenberg Ein Glück des Aeschylos Das Heldenlied von Ludwig van Beethoven Der neue Kultus Der neue Messias Das jüngste Gericht Das Schicksalslied Johann Sebastian Bach Magdalena die heilige Dirne Mose Forseti Aufsatz: Das Geheimnis des Theaters. Die Europäische Apokalypse. Forseti – Zarathustra - Abaddon Die Enthauptung des Johannes Der Verrat des Judas Die Auferweckung des Lazarus Von Urbildern der dramatischen Gestaltung (Osiris – Gilgamisch – Odysseus – Hiob – Paulus) Aufsatz: „Altdeutsche Dichtung und Christentum“. 11. Jahrgang Heft 5 Die Christengemeinschaft Heliand , Niebelungen, Amelungen , Gralsspiele Das Spiel von der heiligen Bride, Isit Hunnen vor Worms Der Bamberger Reiter reitet Das Kurmärkische Narrenspiel Die Bremer Stadtmusikanten . Nina . Kondwiramur . Chidori . Die Geliebte Die Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit“ „Die Erlösung des Hiob“ „Flieger der Europa A.G. „Hi HI Rapunzel“ „Seelchen und die verzauberten Brüder“ „Meerfahrt mit Paulus“ „Stunde der Drusilla“ „Traum der Berenike“

3

Pfingsten 22. Mai 1961 Heilung in Bethesda Johannizeit Hochzeit zu Kana 01. Juli 1961 Hauptmann von Kapernaum 09. Nov. 1961 Speisung der Fünftausend Wandeln über dem Meer 06. Febr.1962 Heilung des Blindgeborenen 2. Fassung: Auferweckung des Lazarus

3 1 2 4 5 6 7

30. April 1963 Mathai Palmarium 64 Levi Thamar Rahab Ruth 1963 Bathseba

21. Juni 1963 26. Juli

22. Jan. 1964 24. Sept. 1965 09. Aug. 1966 Epiphanie 69 1969

Flucht aus Bethlehem Heimkehr aus Bethlehem Vollendung in Nazareth Heimkehr aus Jerusalem Heimkehr aus Ägypten Fragment

+ 25. April 1969

Ilse Heymann, geb. Barth und Johannes Heymann Mathwich Hochzeitstag 1937

4

1 2 5

4 3

„SALOME“ Bühnenbild gezeichnet von Johannes Heymann Mathwich

5

JOHANNES HEYMANN MATHWICH (Zusammengetragene Texte und Briefe, die Einblick in das Biographische geben, wie es Ilse Heymann festhielt und in Briefen an Ingeborg Hedwig Wollmann, Wegbegleiterin zum Ausdruck kommt.)

Dramenliste der HEYMANN MATHWICH BÜHNE

Seite: 2

Entstehungstafel der Werke

Seite: 3

Bühnenbild Salome gezeichnet von Johannes Heymann Mathwich

Seite: 5

Inhaltsangabe

Seite: 6

1982 Lebensbild: Johannes Heymann Mathwich Almut Bockemühl

Seite: 11

1986 Lebensbild: Ilse Heymann / Barth

Rudolf Heymann

Seite: 17

1952 Kurzgefasste Rückschau und Arbeit bei Lic. Emil Bock Johannes Heymann Mathwich

Seite: 22

14 Bilder, Plakate, Buchtitel wurden von R. Heymann eingeblendet in den Text.

1499 Sebastian Franck Biografie-Studien 1930

Eher früher !

J. Heymann

Seite: 44

Berlin Lichterfelde – Süd Ursula Dion, zweite Frau Zwei Bilder Johannes Heymann Mathwich

Seite: 46

1930 Erste Begegnung mit Johannes

Ilse Heymann

Seite: 47

1930 Johannes Heymann Mathwich 34 jährig mit Bild

Seite: 52

1932 Der Faustkreis

Seite: 53

Johannes Heymann Mathwich

1932 Atelier Berlin Wo die “Mariendramen“ entstanden.

Seite: 63 Zwei Fotos

1932 Aufnahme von der Berliner Zeit

Seite: 64

Bild: Johannes Heymann und Ilse Barth, Jo Voss und Elli Voss-Hennicke

1933 Lic. Emil Bock Pfingsten Jugend – Tagung

Seite: 65

1933 Hanne Fackler Brief von Johannes Heymann Mathwich

Seite: 66

6

1934 Im Namen des Volkes (Vaterschaftsklage)

Seite: 67

1935 Weihnachten

Seite: 70

Gedicht von Johannes Heymann

Bild: Erster Auftritt: Akademische Musik Hochschule Berlin–Charlottenburg.

1936 Exsternsteine Ausflug in der Verlobungszeit

Seite: 72

Bild von Johannes Heymann Mathwich

26. 04. 1937 Postkarte aus Erfurt Johannes Heymann Mathwich

Seite: 73

14. 05. 1937 Eheschließung Mit Bildern auch aus späterer Zeit

Seite: 74

18. 10. 1937 Auf der Rückfahrt im Zuge J. Heymann Ein Mensch auf Erden ist mir gut….

Seite: 75

1939 Eingezogen als Soldat.

Seite: 76

Mit Bild

1941 Gastspiel Hirschberg

Seite: 77

1942 Bild J. Heymann Mathwich als „Friedrich der II“

Seite: 78

25. 05. 1943 Brief aus Wildau

Johannes Heymann Mathwich

Seite: 79

Zwei Bilder Ilse Barth auf Tournee/ Südfrankreich

17. 6. 1944 An Tante Inge aus Esens, Ostfriesland J. Heymann

Seite: 82

Mit Bild als Herodias

7. 11. 1944 Brief anTante Inge aus Cuxhaven

J. Heymann

Seite: 83

27. 11. 1944 Feldpostbrief an Mimi Schlesselmann

Seite: 84

13. 9. 1945 An Marie Katherine Schlesselmann

Seite: 86

1945 Weihnachten Marga Kunze, geb. Schlesselmann 2. 1. 1946 Lebensbeschreibung Johannes Heymann Mathwich

Seite: 87 Seite: 93

(Für die Entnazifizierung)

9. 1. 1946 Godenstedt, Haus 1 Brief an Inge 26. 9. 1946 Garnisonskirche Cuxhaven 14. 3. 1947 Bremerstadtmusikanten

Seite: 96 Pfarrer Pötzsch

Seite: 98

Alice Dullo

Seite: 100

1947 Handzettel HEYMANN MATHWICH BÜHNE 7

Seite: 103

17. 8. 1947 Brief an Tante Inge aus Bremen, Bromberger Str.

Seite: 104

1977 In einem Brief Tourneebeschreibung Ilse Heymann

Seite: 106

1947 Briefe (4)Tourneebeschreibung von Ilse Heymann

Seite: 107

mit Bild von Ilse und Johannes Heymann

1947 Tourneen im Jahre 1947 Kalenderblatt 1946/47 Tournee bespielte Orte in Norddeutschland 6. 10. 1947 Brief an Tante Inge

Seite: 117 Seite: 118 Seite: 120

Bild Johannes Heymann –Mathwich eingefügt, wohl aus dieser Zeit!

8. 9. 1949 „Die Geliebte“ Pressestimmen

Seite: 121

22. 10. 1949 Pressestimmen Nr. 2 „Kulturarbeit einer vertriebenen Bühne“

Seite: 123

Bild „Die Geliebte“ gemalt von Theo Schlonsky (Bühnenmaler für Joh. Heymann Mathwich)

08. 10. 1950 Bürgerwiese Bremen: Briefkarte an Rudolf Ilse H.

Seite: 125

5. 11. 1952 Brief Lic. Emil Bock

Seite: 126

Es geht um den Wechsel von Bremen nach Stuttgart

3. 01. 1953 Brief Lic. Emil Bock

desgleichen

Seite: 127

18. 01. 1953 Brief Lic. Emil Bock

Seite: 128

21. 02. 1953 Brief Lic. Emil Bock

Seite: 130

17. 04. 1953 Brief Lic. Emil Bock

Seite: 131

18. 05. 1953 Brief Lic. Emil Bock

Seite: 132

1953 Briefe (22) von J. Heymann vom 23. Mai bis 29. Juni Seite: 134 (In dieser Zeit wohnte Heymann Mathwich im Haus von Lic. Emil Bock) Zwei Fotos: „Mozart“ 1942/43? Probenfoto „Niederdeutsche Bühne“

1954 Briefe (5) von J. Heymann vom 13.Febr. bis 7. April

Seite: 183

(In dieser Zeit wohnte Heymann Mathwich bei Ehepaar Leger in Stuttgart)

28. 11. 1954 Brief an Tante Inge

Seite: 196

02. 02. 1955 Brief an Lic, Emil Bock

Seite: 199 8

05. 09. 1956 Geburtstagsgruß zum 60.

Emil Bock

Seite: 201

30. 08. 1959 Chur „Pilatus“ Hermann Budde mit Bild

Seite: 203

03. 04. 1960 Käthe Henn, Almut Bockemühl

Seite: 205

25. 09. 1960 Dank für die geleistete Arbeit für Lic. Emil Bock Gundhild Kačer

Seite: 209

30. 01. 1962 Rückblick auf das vergangene Jahr 1961 Ilse Heymann

Seite: 210

Bild: Michael und Ilse Heymann am Esstisch Schumannstr. 8

31. 12. 1962 Uraufführung: „ Stunde der Drusilla“ Ilse Heymann

Seite: 220

12. 07. 1964 Brief zum Tode von Gertrud Fackler Johannes Heymann Mathwich

Seite 231

24. 12. 1967 Weihnachten: Michaels Kranksein

Seite: 233 Ilse Heymann

Bild: Porträt Michael

23. 04. 1969 Brief an Tante Inge in Berlin

Seite: 236

27. 04. 1969 Brief an Tante Inge nach dem Tod von Johannes Ilse Heymann

Seite: 237

28. 04. 1969 Zur Kremation von Johannes Heymann Mathwich Ilse Heymann

Seite: 239

Bild von Johannes am Schreibtisch

00. 05. 1973 Erinnerungen an Berta Duhs

Seite: 249

16. 10. 1973 Biografie Johannes Heymann Mathwich, Ilse Heymann

Seite: 253

Bild von 1917 Stralsund und Bild von Ursula Dion, zweite Frau.

27. 10. 1973 Lieber Johannes…. „Biografische Skizze“

Seite:275

28. 03. 1975 „Begegnung mit Freunden aus dem Faust- Kreis am Karfreitag“ Ilse Heymann

Seite: 279

9

25. 04. 1975 Im Gedenken an Johannes

Ilse Heymann

Seite: 284

08. 01. 1982 Brief von Lieselotte Wiedemann

Seite: 291

09. 03. 1982 Brief von Mimi Schlesselmann

Seite: 292

Bild: 50. Hochzeitstag

12. 03. 1982 Brief von Berta Duhs

Seite: 293

24. 10. 1985 Die Kindheit von Ilse Heymann geb. Barth

Seite: 294

Mit Bildern aus ihrem Leben als Opernsängerin

Ilse Heymann 20. 05. 1984 Tod der Mutter von Ilse Heymann

Seite: 330 Ilse Heymann

27. 03. 1982 70. Geburtstag von Ilse Heymann Kurzer Blick auf das Leben Rudolf Heymann

Seite: 335

1999 Warum die folgenden Erinnerungen an die „Mittagsgespräche“ Rudolf Heymann

Seite: 338

06. 06. 1999 „Erinnerungen an die „Mittagsgespräche“ (Rudolf Heymann, wenn ich von der Schule 1960/61 nachhause kam).

Seite: 340

Theo Schlonski drei Bühnenskizzen Pilatus

Seite: 381

(Bühnenmaler für Johannes Heymann Mathwich)

Dramen von Johannes Heymann Mathwich

Seite: 383

Zeichnung für Kostüm Mariamne

Seite: 385

Lebensdaten von Jesus Christus

Seite: 386

Rudolf Steiners Erlebens - Weg der „Philosophie der Freiheit“ Johannes Heymann Mathwich

Seite: 387

Presse Notizen

Seite: 397

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Johannes Heymann - Mathwich *6. September 1896 in Berlin + 25. April 1969 in Ludwigsburg Almut Bockemühl „Als ich noch als Soldat im Bunker der Gefangenschaft saß, erlebte ich in tiefer Dankbarkeit den Augenblick, da ich feststellen durfte: Du gehörst zu den Überlebenden in diesem apokalyptischen Zeitgeschehen. Aus dieser Gnade erwuchs die Freude: Du darfst nun wieder dein Unternehmen, die

Heymann - Mathwich -

Bühne, aufbauen, die sich

zur Aufgabe

gemacht hatte, eine

christliche Dramatik den

Zeitgenossen ins

Bewusstsein zu rufen.

Mit dem 28. März 1933,

der letzten Aufführung

des Stückes Die

Auferweckung des

Lazarus in der Ev.

Pauluskirche zu Berlin –

Lichterfelde, hatte ich

meine Zielsetzungen für

viele Jahre zurückstellen

müssen.

Diese Zielsetzung geht

aus von einer

Betrachtung Gotthold Ephraim Lessings in derHamburgischen Dramaturgie. In genialer Erkenntnis einer zukünftigen Entwicklung verkündet er: ,. . . so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer christlichen verdient, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessiere’“.

(Bild: Johannes Heymann im 35. Lebensjahr)

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Mit diesen Worten beginnt eine Broschüre mit dem Titel Warum eine christliche Dramatik, die der Dramatiker und Schauspieler Johannes Heymann – Mathwich nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste. Damals begann er, kaum aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, mit seiner jungen Frau, die früher als Schauspielerin und Sängerin in Berlin tätig gewesen war, und einem weiteren Schauspieler, in Norddeutschland von Kirche zur Kirche zu reisen und seine eigenen Stücke aufzuführen: das in der Gefangenschaft entstandene Drama Die Frage des Pilatus, Der Verrat des Judas und Die Erlösung des Hiob. Er spielte in größten Kirchen und Sälen mit bis zu 1200 Zuschauer, aber auch in der kleinsten Dorfkirche. Am liebsten hätte er zwar auf offenem Markte gespielt, „um für solche Menschen da zu sein, deren Herz und Vernunft bedrängt sind von der Hamlet – Problematik“. Aufgeschlossen und geisthungrig, wie die Seelen in den Nachkriegsjahren waren, erzielte er eine starke Wirkung, besonders auch auf junge Menschen. In den vier Jahren dieser Tätigkeit erreichten Pilatus und Judas je circa 150 Aufführungen. Wer irgendein gut gemeintes Laienspiel erwartet hatte, fand sich gründlich getäuscht. Man sah, dass hier ein Mensch am Werke gewesen war, dem die Dramatik sozusagen in Fleisch und Blut lag, der insbesondere den Aufbau eines Dramas vollkommen beherrschte und dazu auch als Schauspieler von größter Ausdruckskraft war. Die aufgeführten Dramen, die alle nur zwei bis drei Darsteller benötigen, zeigen in der äußeren Form die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Irgendein Bühnenaufwand war weder möglich noch ist er erforderlich. Diese Stilelemente erzeugen eine gewisse Strenge und Einfachheit, vor allem aber eine außerordentliche Konzentration. Es handelt sich immer um Seelendramatik, wobei das Seelenleben der auftretenden Personen einerseits von packender Menschlichkeit ist und andererseits wie transparent, durchleuchtend wird für eine

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Handlung auf einer höheren Ebene (z. B. im Pilatus – Drama, Prozess, Kreuzigung und Auferstehung Christi). So fühlt sich der Zuschauer aktiviert zu einem seelischen Nachschaffen der Urbilder, die der Bühnenbildhaftigkeit entzogen sind und auf diese Art ihre geistige Lebendigkeit behalten. Johannes Heymann war eine Persönlichkeit, die schon in der Kindheit sehr ausgeprägte Neigungen und Begabungen zeigte. Aus einfachen Verhältnissen stammend, begann er früh zu dichten und verwirklichte den Wunsch, Schauspieler zu werden, nur nach Überwindung großer Schwierigkeiten gegen den Willen seines Vaters. Die Thematik seiner Dichtungen stammte von Jugend auf meist aus der jüdisch – christlichen Welt, die in ihm lebendig war wie die gegenwärtige. Die tiefchristliche Seelensubstanz in ihm tastete sich über das Judentum an ein Verständnis des Mysteriums von Golgatha heran, das ihm der Quellepunkt aller wahren Dramatik war. Er empfand stark, wie der Bildekräfteleib im Erleben des Dramas seine Reinigung, Katharsis, erfährt und sich damit zur Aufnahme des Christus – Geheimnisses bereitet. Doch dieses Ziel, unbewusst von Jugend an angestrebt, konnte der Dichter erst durch schwere äußere Schicksale und innere Krisen zur Klarheit bringen. Dazu gehörten mehrfache Todeserlebnisse des jungen Menschen. 1916 entkam der Zwanzigjährige als einziger Überlebender von seiner Kompanie einem Gefecht vor Verdun, mit einer schweren Verwundung. Ein Jahr später, bei einer Grippe – Epidemie, bei der die Toten auf Möbelwagen aus der Stadt Breslau geschafft wurden, war er bereits vom Arzt aufgegeben und erholte sich dennoch wieder. Bald danach erlebte er einen eingreifenden körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Doch beruflich brachten diese Jahre einen Erfolg nach dem anderen. Sein erstes Engagement als Schauspieler führte ihn 1917 nach Stralsund. Es folgten Breslau, Bad

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Homburg vor der Höhe, Frankfurt am Main, dann das Deutsche Theater und das Große Schauspielhaus in seiner Heimatstadt Berlin. In dieser Zeit war er nacheinander Spielleiter, Oberspielleiter. . In Eisenach und Stralsund war er .als Oberspielleiter tätig und hatte einen Intendantenposten in Aussicht, als der Einschlag kam, der seinem ganzen Leben eine andere Richtung gab. Trotz der Eindeutigkeit seiner Begabung war er ein schwer um seinen Beruf oder besser gesagt um seine Berufung Ringender. Er hatte, als Protestant erzogen, sich immer mit dem Christentum auseinander gesetzt. Er hatte mit Feuereifer Philosophie studiert. Er nahm, wie es seiner lebhaften Natur entsprach, aktiven Anteil an allen Zeitereignissen, besonders den kulturellen. Doch mit 28 Jahren kam er an den Punkt, wo er sich „am Ende seines bisherigen Denkvermögens fühlte“, wie er es selbst ausdrückte. Das Theater in seiner bestehenden Form konnte ihm nichts mehr bedeuten. In diesem kritischen Zeitpunkt fand er Zugang zu dem neuen Kultus der Christengemeinschaft, und seine brennenden Erkenntnisfragen lösten sich mit Hilfe der Anthroposophie, die ihm neue Richtlinien für seine Lebensziele gab. Im Alter von 33 Jahren fasste Johannes Heymann – Mathwich den Entschluss, die so erfolgreich begonnene Bühnenlaufbahn zu verlassen und den Versuch zu machen, sein Lebenswerk im Rahmen der Anthroposophie zu verwirklichen. Seither waren sein Leben ein Ringen darum, eine äußere Form für diese Verwirklichung zu finden. Dabei stand ihm in aufopfernder Weise seine Frau Ilse Heymann – Barth zur Seite, die Einsamkeit mildernd, in die ihn das Unkonventionelle und Kompromisslose seines Weges trotz aller Anerkennung führte. 1929 – 1935 war ihm eine freie Wirksamkeit als Leiter des Spielerkreises der Christengemeinschaft in Berlin möglich. Diese Arbeit fand ihren Höhepunkt durch eine

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ungekürzte Aufführung von Goethes Faust I mit Studenten, am 26.März.1932, in der großen Aula des Friedrich Wilhelm Gymnasiums in der Kochstraße in Berlin. Die Notwendigkeit des Erwerbs ließ ihn die Aufgabe übernehmen, große Freilichtaufführungen mit hunderten, tausenden Mitwirkenden auf den Domstufen in Erfurt und zweitausend Mitwirkenden in der Jahrhunderthalle in Breslau zu inszenieren. Von 1939 an zwangen zeitbedingte weltanschauliche Schwierigkeiten ihn dazu, in einer TabakpreisErrechnungstelle und später in einem Presspan - Export – Kontor zu arbeiten. Nebenher aber führte er mit

Blinden Teile aus

Goethes Faust

auf und mit

Gehörlosen

mimische Märchen

und Tanzspiele.

Es folgten zwei Jahre

Soldatenzeit,

Gefangenschaft und

dann ein neuer

Aufschwung durch die

eingangs

erwähnte

Reisetätigkeit

mit der eigenen

Bühne, die 1949

durch die Folgen der

Währungsreform wieder unmöglich wurde. Von nun an arbeitete Johannes Heymann auf dem Postamt, durch viele Jahre hindurch bis zu seiner Pensionierung, und widmete sich nebenher seinem dichterischen Werk. In diesen ruhigeren Altersjahren entstandenen außer der Trilogie Sie erlebten Paulus, deren zweiter Teil 1962 in Dornach an Goetheanum uraufgeführt wurde, die Dialoge über die Mütter Gottes. Gemeint sind zunächst die alttestamentlichen Frauengestalten Thamar, Rahab, Ruht, Bathseba, die im Geschlechterregister des Matthäus erwähnt werden, und

(Bild: Johannes Heymann Mathwich im 70. Lebensjahr)

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sodann die zwei Marien, die Mütter des salomonischen und des nathanischen Jesusknaben, so wie die Mater dolorosa, die umhüllt ist von der jugendlich verstorbenen Maria – Sophia. Diese Szenen in ihrer Altersreife kann man mit Recht als „Santa Conversatione“ bezeichnen, wie Heymann es gerne tat. Es ist hier unmöglich, auf alle Werke Heymann – Mathwichs einzugehen, ja sogar sie aufzuzählen. Es sind über 30 Titel, abgesehen von den Aufsätzen und Gedichten. Etliche Manuskripte sind auch durch die Flucht der Familie verloren gegangen. In der Thematik verband ihn vieles mit Lic. Emil Bock, auf dessen Veranlassung er auch 1953 nach Stuttgart übersiedelte und dem die Hilfe des erfahrenen Anthroposophischen mit seinen profunden historischen Kenntnissen bei seinen Arbeiten sehr zustatten kam. – In seinen letzten neun Lebensjahren war er Zweigleiter in Kornwestheim. Die Johannes Heymann kannten, werden ihn als Mensch vermissen, den sie liebten wegen seiner Lebendigkeit, seiner Herzensgüte und seinem Humor, der ihn selbst in den qualvollen Tagen vor seinem Tode nicht verließ. Mögen seine Werke weiterwirken und damit ein Beitrag sein zu einer Kultur – Erneuerung, wie er es sich gewünscht hat.

(Um das Jahr 1935? Ilse und Johannes Heymann)

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1986

Ilse Heymann geb. Barth *27. März 1912 in Osnabrück + 22. Februar 1986 in Ludwigsburg Rudolf Heymann

Bis in ihre letzten Tage, bevor sie, kurz vor ihrem 74. Geburtstag, plötzlich durch einen Schlaganfall abberufen wurde, pflegte Ilse Heymann geb. Barth, einen Freundeskreis, der fast hundert Menschen umfasste. Sie bedachte diesen großen Kreis von Menschen zu den Festtagen und begleitete viele Schicksale mit Anteilnahme und Weltoffenheit. Diese Weltoffenheit war sehr charakteristisch für sie. Ohne jedes Vorurteil trat sie strahlend jedem Menschen entgegen und konnte auch unterwegs mit völlig fremden Menschen rasch in ein intensives Gespräch kommen, und wenn es sich ergab, führte sie es in das Anthroposophische hinein. – Ilse Heymann wurde 1912 in Osnabrück geboren. Ihr Vater war Opernsänger; die Mutter Konzertsängerin, genannt die „Singende Seele“. So wuchs sie auf, umgeben von Musik und Theaterspiel. Früh sang sie selbst auch Solo im Kirchenchor (Gera)und war empört, als einmal in der Zeitung stand: Eine reife Frauenstimme sang…(sie war erst 14 Jahre alt). Mit etwa acht Jahren musste sie in einem Schweizer Sanatorium eine Tuberkulöse Knieerkrankung ausheilen. Sie hatte dort gewaltige Natureindrücke. So erinnerte sie sich: „Da wir Tag und Nacht auf der freien Veranda verbrachten, auch im Winter, erlebte ich das donnernde Abstürzen der Lawinen in den Bergen uns gegenüber. Riesige Pulverschneewehen begleiteten dies; an der Absturzstelle war kein Wald mehr, nur noch eine

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kahle Schneise, halb weiß, halb dunkel. – urgewaltig – farbige Himmelsereignisse sog man in sich auf, ehe ein Gewitter losbrach. Beim ersten Blitz – und Donnerschlag waren alle Schwestern da, um uns in die Säle zu schieben. Da fing ich dann meistens laut zu beten an, so dass rings um sich keiner der Kleinen und Größeren mehr fürchtete“. Viele Freunde gewann sie auch dort durch ihr Singen zur Besuchszeit (sie konnte selbst ja keinen erwarten): „Ich sang alles, was mir einfiel, wie ich das von Haus aus gewöhnt war“. Später, wieder

zuhause, nun in

Hagen

(Westfalen), „durfte

ich die

“Königskinder“

hören und sehen.

In dieser Oper sang

mein Vater den

Holzfäller, der die

Königskinder

auffindet,

Schnee

Ich

erfroren.

-

im

war

so

fürchterlich

erschüttert, dass ich

nicht

konnte, dass mein

begreifen

Vater bei diesem

Geschehen

singen

konnte. Tagelang

weinte

ich innerlich um

diese Königskinder“.

– Am Grabe der frühe verstorbenen Mutter gab sie Johannes Heymann Mathwich zum ersten Mal die Hand. Da war sie 18 Jahre alt. Zum hundertsten Todestag Goethes spielte Ilse das “Gretchen“ 1932 im „Faustkreis der Christengemeinschaft“ in Berlin, der von Johannes Heymann Mathwich geleitet wurde. Faust I. Teil wurde ungestrichen aufgeführt

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von einer Laienspielgruppe, die vorwiegend aus erwerbslosen Menschen bestand in jenen finsteren Zeiten (1932). Sie lernte durch ihn die Anthroposophie kennen und besuchte die Tagungen der Christengemeinschaft. Damals fiel ihre schöne Sopranstimme auch Pfarrer Rittelmeyer auf, und er erkundigte sich, ob auch Ilse Barth wieder an den Tagungen mitgestalten würde. Nach einer kaufmännischen Lehre im Verlag, auf der Ihr Vater bestand, durfte sie die Ausbildung (u. a. bei Prof. Weißenborn) als Opernsängerin antreten und abschließen. Drei Jahre sang sie am Stadttheater in Stettin und Osnabrück die Titelpartien:

Elisabeth/Tannhäuser von Richard Wagner; Mimi in „La Boheme“ von Puccini; auch Butterfly; Sophie im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss; Pamina in der „Zauberflöte“ von Mozart; Iphigenie in „Iphigenie in Aulis“ von Gluck; u. a. 1937 heiratete sie Johannes Heymann Mathwich.1939 und 41 wurden die beiden Söhne geboren. Der Zweite Weltkrieg hatte alle künstlerischen Bahnen zerstört. Im Krieg bereiste sie als Sängerin die Südküste Frankreichs, im Auftrage der Wehrmachtbetreuung. Nach dem Zusammenbruch 1945 stellte sie sich ganz in die Aufgaben der Reisebühne

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ihres Mannes mit den Werken: „Frage des Pilatus“ in der Rolle der Claudia Prokla; „Enthauptung des Johannes“ als Salome; „Verrat des Judas“ als Maria und in „Die Geliebte“ als Aldonza Lorenzo. So reisten sie drei Jahre lang durch Norddeutschland und spielten bis zu dreißig Mal im Monat, von Dorf zu Dorf ziehend. Einmal war die Kostümkiste gestohlen worden, und über Nacht nähte sie alle Kostüme aus erbettelten Vorhängen und Bettlaken neu. Am nächsten Abend wurde wieder gespielt. Mit Beginn der DM – Zeit wurde es unmöglich, die Reisebühne fortzuführen. Der geistige Hunger und die Fragen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erstickten im beginnenden „Wirtschaftswunder“. Ilse Heymann ging die Kontore putzen im Bremer Hafen; und als wegen Krankheit eine Putzfrau ausfiel, übernahm sie auch deren Stelle. So arbeitete sie von 8:00 Uhr bis 24 Uhr in zwei Schichten durch. 1952 wurde Johannes Heymann Mathwich von Lic. Emil Bock nach Stuttgart gerufen, als sein Mitarbeiter. Als später die Familie dorthin nachfolgte, griff Ilse Heymann ihren zuerst erlernten „Brotberuf“ wieder auf und erneuerte ihre Kenntnisse in Stenografie und Schreibmaschine; damit gelangte sie durch Lic. Emil Bocks Vermittlung an eine Stelle im statistischen Landesamt in Baden-Württemberg (Geburtenstatistik). 1961 gab sie im Goetheanum in Dornach ein Konzert mit Karl Robert Wilhelm, nach dessen Kompositionen, auf Texte von Albert Steffen und Erika Beltle. Sie beteiligte sich rege an allem anthroposophischen Leben und vertiefte sich seit dem Tode ihres Mannes und ihres Sohnes Michael besonders in alles, was sie über das Leben der Toten mit den Lebenden erfahren konnte. Die anfängliche Herausgabe der Werke von Johannes Heymann Mathwich war für sie

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eine große Erfüllung, stand doch vom Augenblick des ersten Kennenlernens für sie fest, dass sie ganz den aus der Anthroposophie heraus gewachsenen Zielen von Johannes Heymann Mathwich leben wollte.

Stadttheater in Stettin ( circa 1939 )

Deutsches Nationaltheater in Osnabrück (1936/1937)

Statistisches Landesamt Baden – Württemberg in Stuttgart ( circa 1960 )

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Johannes Heymann Kurzgefasste Rückschau Am 6. September 1896 wurde ich in Berlin geboren. Mein Vater entstammte einem westpreußischen Bauernhof, der schon zweihundert Jahre im Besitze der Familie ist und den er als junger Mann noch bewirtschaften half. Nach seiner Militärzeit wurde er Polizeibeamter. In der Familie meiner Mutter betreuten die Väter das Schuhmacher-Handwerk und zeichneten sich durch ihre Vornamen aus, wie Michael und Johannes. In Berlin besuchte ich die Volksschule und später die königliche Seminarschule in der Friedrichsstraße. Mein Vater hatte mich für den Beruf des Lehrers bestimmt. Während meiner evangelischen Konfirmationsvorbereitung hatte ich Schwierigkeiten mit den Luthertexten.Es fiel mir schon schwer, sie auswendig zu lernen. Dennoch setzte mein Berliner Pfarrer Paul Fleischmann große Hoffnungen auf mich, was er mit meinem Konfirmationsspruch bekräftigte: 2.Tim. 2, 1+3. „So sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade Gottes in Christo Jesu. Leide mit als ein guter Streiter des Jesu Christi.“ Ich wurde der jüngste Helfer im Kindergottesdienst. Nach Auflösung der Königl. Seminarschule, Berlin, besuchte ich die SeminarpräparandenAnstalt zu Anklam i. Pom.. Angeregt durch den Unterricht schrieb ich ein Drama: „Der schwarze Tod“.Es spielte zur Zeit des Mittelalters und trat für die Unschuld der Juden ein, die man für das Auftreten der Pest verantwortlich machte. Gelegentlich eines Ferienaufenthaltes machte ich die Bekanntschaft einer jüdischen LehrerFamilie, die im Hause des Bruders meiner Mutter in Westpreußen wohnte. Ich lernte mit den Kindern interessiert Hebräisch. Aus dieser Welt erwuchs mein Drama: „Esther“. Diesem folgte ein „Elias – Drama“. Bemerkenswert ist vielleicht noch ein freigewähltes AufsatzThema: Die Predigten unserer Zeit verglichen mit denen des Unterganges Israels, und die Randbemerkung meines Lehrers mit roter Tinte zu gewissen Redewendungen: Nur dem Dichter erlaubt. Als Sechzehnjähriger bewegten mich die freigeistigen Bestrebungen der Zeit. Darwin, Häckel, Büchners: Kraft und Stoff, Lamarck,, Kant: Die Religion - . Renan und D. Fr. Strauß: Leben Jesu usw. Besonderen Eindruck machte mir Zola. Das Ergebnis war mein Schauspiel: „Ein Glaubenskampf“. Inhalt: Ein freigeistiger Bergarbeiter baut sich eine Art kultischer Welt einer monistischen Religion auf. Bergarbeiter – Schicksal, dazu die Rettung seines kranken Kindes in Beziehung gebracht zur Auferweckung der Tochter des Jairus wandeln ihn zu einem christlichen Menschen. Unglückselige Verhältnisse auf der Seminarpräparande in deren Folge sich ein Direktor am Kronleuchter der Aula erhängte, veranlassten mich sie zu verlassen ohne vollendete Ausbildung. Die Vorsitzenden des Verbandes „Deutscher Bühnenschriftsteller“ aber, Dr. Arthur Dinter und Dr. Lachmanski machten mir Mut und wollten mir eine freie Hörerstelle an der Berliner Universität verschaffen. Ich war siebzehn Jahre alt. 22

Trotzdem lebe ich verzweifelt im Elternhaus, dem mein Schritt unbegreiflich bleibt. Darum Möglichst schnell Geld verdienen. In einem Verlag: Schlesische Verlagsanstalt vorm. Schottländer, verdiene ich mir das Geld für den Schauspiel - Unterricht. Nach der Prüfung erhalte ich freies Studium auf der „Reicherschen Hochschule für dramatische Kunst“ in Berlin. Mitten aus dem Studium werde ich herausgerissen und muß Soldat werden im Herbst 1915. März 1916 werde ich vor Verdun verwundet und später vom Lazarett in Heidelberg entlassen. In der voraufgegangenen Zeit entstand mein Schauspiel:“Tannenberg“.Historische Vorgänge aus der Geschichte des Deutschen Ritterordens auf der Marienburg wurden gestaltet. Im Herbst 1916 fahre ich in mein erstes Engagement am „Neuen Stadttheater“ in Stralsund. Es wird eingeweiht und eröffnet. Hier vollende ich mein 21. Lebensjahr und schreibe das Schauspiel: „Ein Glück des Aeschylos “ Aus den Zusammenhängen seines Schicksals mit der griechischen Freiheitsschlacht versuche ich die Geburt des Prometheus – Dramas darzustellen. Dann arbeite ich mit einem Kapellmeister zusammen an einer musikalischen Tragödie: „Das Heldenlied Ludwig van Beethovens“. Aus der Beethovenschen Musik heraus wird versucht dramatisch darzustellen das Werden, die Bild-Entfaltung der Klinger’schen Beethovenplastik. Durch diesen Kapellmeister gelange ich in dieser Zeit in den Besitz von Rudolf Steiners „Theosophie“. Stumm begleitet mich dieses Buch, bis ich es nach sieben Jahren entdecke. Herbst 1917 bis 1918 bin ich am Lobe-und Thalia-Theater in Breslau engagiert. Mit innerer und äußerer Aktivität bin ich beteiligt an den revolutionären Ereignissen. Werde persönlich bekannt mit dem späteren Reichstagspräsidenten Löbe und korrespondiere mit ihm. Lese Marx und Engels, Sombart, Kautsky, Lassalles, Feuerbach, Krapotkin, aber auch sehr viel Nietzsche und Schopenhauer. Erlebnisstark beeindrucken mich Dostojewski’s Idiot, Dämonen, Raskolnikoff, Karamasoff, Memoiren aus einem Totenhause. Noch lange aber bewegen mich zwei Bücher: Tolstoi, Das Evangelium, und Schuré: Die großen Eingeweihten. Immer wieder ringe ich mit den Evangelien. In Breslau herrscht die Grippe. Man fuhr die Toten auf Möbelwagen hinaus. Auch ich erkrankte. Das Blut stürzt mir aus Nase und Mund. Ein Krankenhaus verweigert die Aufnahme mit dem Hinweis, dass ich auch zu Hause sterben könne. Eine liebe Wirtin pflegte mich gesund. In der Genesungszeit wird Tag um Tag am Evangelium gearbeitet. Mit aller erreichbaren Literatur der Bibelkritik wird geprüft Das Ergebnis im Frühjahr 1919, also vor ca. 33 Jahren. Es wird ein Buch entworfen mit der Darstellung einer Nachfolge Christi unter dem Titel: „Der neue Kultus“. Zugleich entsteht: “Der neue Messias“, eine russische Revolutionstragödie. Zeit: Aufstand in Petersburg 1904 mit dem Priester Gapon, aber keine Historie. Der Held der Tragödie, Alexander Rasum, begründet in der sibirischen Verbannung eine christliche Gemeinde der er Brot und Wein reicht. Dazu entwerfe ich ein Festspielhaus, dessen Grundriss aus zwei sich überschneidenden Kreisen besteht, ähnlich dem Grundriss des alten Goetheanums, von dem ich noch nichts wusste. Mitte und Ende des Jahres 1919 bin ich im Engagement in Bad Homburg v.d.H. und Frankfurt a. M. 23

Eine mitternächtige Mondschein-Wanderung gilt den Mithras-Heiligtümern auf der Saalburg. !920 im Frühjahr bin ich auf Gastspielreise in der Pfalz, studienhalber, mit einer Nachahmung der Oberammergauer Passionsspiele. Dann folgt die Begründung der „Sozialistischen Volksfestspiele“, Krefeld. Zur Aufführung gelangt „Der neue Messias“. Ich spiele mit 24 Jahren den Direktor und die Hauptrolle. Durch Generalstreik im Ruhrgebiet bricht das Unternehmen wirtschaftlich zusammen. 1920 – 1921 wieder in Berlin, - schauspielerisch tätig am Deutschen Theater und Großen Schauspielhaus. Im Nachklang der Zeitereignisse entsteht eine Liebknecht – Tragödie: „Das jüngste Gericht“ und ich verhandle mit Alex. Moissi über die Darstellung der Titelrolle. Nach einem seelischen und körperlichen Zusammenbruch greift mein Vater wieder in mein Schicksal ein. Mit seiner Hilfe trete ich 1921 als Bank-Volontär ein in die „Deutsche Verkehrsbank“, Berlin, die ich 1924 als Bankbeamter und Leiter der Börsen-AbrechnungsAbt. verlasse.

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1921, am Anfang der drei Jahre: „Das Schicksalslied Johann Sebastian Bachs“, ein dramatisches Nokturno. In der Karfreitagsnacht arbeitet Friedeman Bach an einem Oratorium Doch immer wieder übertönt die Matthäus-Passion seine Konzeption bis zum Ausbruch des Wahnsinns mit dem Lied: Kein Hälmlein wächst auf Erden . . . In diesen drei Jahren kaufmännischer Tätigkeit entstanden: „Magdalena“ Schauspiel mit sozialen und religiösen Problemen. Eingeschobener Text und Bild von R. Heymann: Widmung:

IN LIEBE SEINER URSULA GESCHRIEBEN

XVII: VI: XXII 17.

06.

1922

Das Exemplar wurde gegeben:

Der verehrten Frau ELLEN DULLO die nicht nur die Mutter ihrer geliebten Kinder ist, sondern auch eine Mutter für Menschen in Not. Auch einer – Johannes Heymann Mathwich Berlin – Lichterfelde am Tage der Heiligen drei Könige 1930 Einschub bis hier.

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Spinoza-Studien, insbesondere „Der theologisch-politische Traktat“ begeistern mich für die Gestalt des „Mose“, Tragödie der Erlösung eines Volkes. (Alle farbigen Bilder oder Plakate wurden in den Text eingesetzt von R. Heymann 7.10. 2007)

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(Eingefügt von Rudolf Heymann, weil es zu dem Text passt)

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Aufmerksam geworden durch die Zertrümmerung des Elementes Wolfram versuche ich in die Probleme der Atom-Forschung einzudringen. Diese Probleme verbinden sich mit religiösen und sozialen Problemen und Nöten, die mich veranlassen eine dramatische Phantasie von der Befreiung der Völker zu schreiben, den „ Forseti “. Im 28. Lebensjahr verdichtet sich alles zu einer Entscheidung. Als Oberregisseur am Stadttheater in Eisenach überfallen mich Zweifel an der verantwortlichen Berufsgestaltung. Ich versuche mir Klarheit zu verschaffen und schreibe eine Abhandlung über. „Das Geheimnis des Theaters, - Babylon – Ägypten – Griechenland“ Mysterien - und Kultus – Inhalte als Ursprung der Dramatischen Kunst werden vor die Seele gestellt. Meine „ Forseti – Tragödie “ erweitert sich zu einer Trilogie mit dem Thema: „ Die Europäische Apokalypse “, „ Forseti “, - „ Zarathustra “. – „ Abbadon “. In der „ Zarathustra “ – Tragödie wird in mythischen Bildern der Wahnsinnsausbruch Nietzsches gestaltet. Der „ Abbadon “ wird entworfen. Aber die Offenbarung des Johannes will sich mir nicht aufschließen. Es beginnt ein verzweifeltes Ringen mit der imaginativen Welt apokalyptischer Darstellung. Ich ahne, ich empfinde, aber ich weiß nicht. Die Forseti-Tragödie schließt mit den Worten: Die Menschen wollen Nicht da sein nur, die Menschen wollen ewig sein. Noch steht das Weltschmerz-Kreuz Auf des Jahrtausends Schädelstätte Als Grenzpfahl zwischen Mensch und Gott, der den Planeten von dem Kosmos trennt. Dies Grenzpfahl-Kreuz muss stürzen Und der Gekreuzigte muss auferstehn, dass sich der Gott im Menschen, der Mensch in seinem Gotte sich erlöse, auf dass auch ich einst sterben kann. Chor: Und auferstehn – Im „ Zarathustra “ ruft ein Priester aus: „ Ein neuer Sakraments – Altar dem Auferstandnen Gott “ und die Tragödie schließt mit den Worten: Zarathustra: O komm zurück mein unbekannter Gott – Stimme des Christos: Wenn Zarathustras Leiden Der Menschheit zum Erlebnis wird ! Zarathustra: Mein Schmerz, mein letztes Glück ! 28

Das „ Abbadon “ – Drama beginnt mit den Worten : Erzengel Michael : Tretet jetzt vor euren Richter ! Der Vollender, der Vernichter Fordert auf euch zu bekennen. Nun sollt ihr mit Namen nennen Sehnsucht, Hoffnung, Wunsch und Streben, was euch Ziel war in dem Leben ! In der Philosophie komme ich an ein Endergebnis mit der „ Philosophie des Als – Ob “ von Vaihinger. Illusion und Realität werden problematische Begriffe. Als Protestant stelle ich die Frage nach der lebendigen Gegenwart eines kultischen Lebens zur Erneuerung eines kultischen Lebens. Ein Eisenacher Freund, stud. phil. u. theol. verweist mich auf Dr. Rittelmeyer als „Fachmann in kultischen Belangen“ und auf seine „Menschenweihehandlung“. Mit allen Bedenken erlebe ich die erste Handlung, zelebriert von Richard Gitzke. Ich besuche auch den Zweigabend der Anthroposophischen Gesellschaft: Leiter Rektor Bergfeld Dr. Rittelmeyer kommt nach Eisenach und hält einen Vortrag. Ich werde ihm vorgestellt und stehe ihm zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In einem Gespräch mit Pfarrer Gitzke werde ich bekannt mit dem Wesen der Anthroposophie und meine Fragen bezüglich Illusion und Realität sollen Antwort erhalten durch Rudolf Steiners: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“.

(Die Einfügung dieses von Heymann Mathwich gemalten Bildes ist willkürlich von R. Heymann vorgenommen, einen Kommentar zu dem Bild von Joh. Heymann Mathwich gibt es nicht).

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Da ich mich am Ende meines bisherigen Denkvermögens fühle, wage ich den Schritt zur Entscheidung. Nach längerer Vorbereitung, mein Traumleben verändert sich, besuche ich die Menschenweihehandlung. Der Vorhang im kultischen Geschehen öffnet sich. Mein höheres Bewusstsein erlebt ein geistiges Geschehen, zugleich beobachte ich meinen physischen Leib. Unablässig rinnen Tränen aus meinen Augen. Ich bemühe mich meinen physischen Leib zu ergreifen. Die Gemeinde hat den Raum bereits verlassen. Endlich kann ich mich erheben und wieder gehen. Ich begegne Frau Gitzke und stelle fest, dass ich nicht sprechen kann. Vor der Tür kontrolliere ich meinen Geisteszustand, visiere die Häuser, berechne die Entfernungen an der Wartburg. Es schien alles verändert und doch unverrückt, wie sonst. Nach der Kinderhandlung bin ich wieder im Besitze meiner physischen Möglichkeiten. Die Entscheidung war durch eine gnadenvolle Stunde herbeigeführt. Nach sieben stummen Jahren begann die „Theosophie“ Rudolf Steiners für mich zu sprechen. Die Entscheidung über Illusion und Realität war gefallen. Was konnte das Theater in seiner bestehenden Form noch bedeuten? Nicht Schauspieler sein, - sondern Priester werden, keine Schauspiel-Vorstellung, - sondern Kultische Handlung. Ich stand im Erlebnis des keimenden Samenkorns einer zukünftigen Christlichen Kultur. Das Ziel dieses Erdenlebens schien für meine persönliche Erkenntnis erreicht. Pfarrer Gitzke bewegte mich, alles noch einmal zu vergessen und Geduld zu üben. Die innerste Bewegung gestaltet mein Spiel in vier Handlungen:

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„Die Auferweckung des Lazarus“ um 1931?

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1927 nehme ich teil an der Pfingst-Jugendtagung der Christengemeinschaft in Eisenach und baue mit Requisiten aus unserem Theater die Bühne für die Uraufführung von Emil Bocks : Johannesspiel. 1927 – 1928, nach 12 Jahren meines ersten Engagements bin ich als Oberregisseur noch einmal in Strahlsund tätig. In einer Studio-Arbeit gestalte ich an einem Wort-Tanz-und Maskenspiel: Der trunkene Zarathustra und der unglückselige Hiob. Meine Wartezeit glaube ich beendet, fahre nach Berlin und bleibe dort. Wohin führt der Weg ? – Nach Dornach oder nach Stuttgart ? Ich bewerbe mich um die Mitarbeit bei den Schauspielern in Dornach. Froboese kann mich nicht mehr aufnehmen. Ein Versuch, Marie Steiner in Berlin zu sprechen, gelingt nicht. So fahre ich mit Herrn Lic. Bock nach Stuttgart um am Seminar-Kursus teilzunehmen. Die Entscheidung fällt nicht. Von 1929 – 1935 führe ich den Spielerkreis der Berliner Christengemeinschaft. Wir bringen aus der Welthistorischen Trilogie von August Strindberg den „ Christus “ zur öffentlichen Aufführung. Außer meinem Spiel: entstehen und

„ Die Enthauptung des Johannes “ „ Der Verrat des Judas “ „ Die Auferweckung des Lazarus “

Alle Spiele erleben in Berlin ihre Aufführung, mit Gastspielen in den Gemeinden Stettin und Hamburg. Wieder nehme ich teil an einem Seminarkurs. Angeregt durch einen Hinweis von Lic. Emil Bock bei Museenführungen über „ Auferstehungsgeist in unseren Museen “ entsteht eine Arbeit „ Von Urbildern der dramatischen Gestaltung “ und ich richte dramatisch als Mysterienspiele ein: Das Ägyptische Totenbuch – Das Gilgamesch Epos – Die Odyssee des Homer – Das Buch Hiob – Die Apostelgeschichte. Osiris - Gilgamesch - Odysseus - Hiob - Paulus . Die Aufführungen sollten nach Verhandlungen mit Prof. W. Andrae stattfinden in der Aegyptischen Abt. , im Isthar-Tor , auf dem Pergamon Altar und im Tor von Milet. Mit Berliner Studenten konstituiert sich eine Arbeit über Goethes „Faust“ als „Der Faust-Kreis“. Nach fast dreijähriger ununterbrochener Arbeit bringen wir zu Goethes hundertjährigem Todestag 1932 in Berlin ungestrichen in sechsstündiger Aufführung den 1. Teil von Goethes „Faust“ zur Darstellung im Rahmen der Osterfeiern der Christengemeinschaft. Im Sinne eines Aufsatzes: Altdeutsche Dichtung und Christentum. Neue Wege zum religiösen Laienspiel, erschienen in unserer Zeitschrift: Die Christengemeinschaft, 11. Jahrg. Heft 8. bearbeite ich dramaturgisch das Heliand – Epos und die Deutschen Sagen nach Karl Simrock:

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Heliand – Spiele:

Adventsspiel – Weihnachtsspiel – Epiphaniasspiel Osterspiel – Johannesspiel – Lazarusspiel Nibelungen – Spiele: Siegfried – Hagen Amelungen – Spiele: Wieland – Wittich – Ecke – Laurin Grals Spiel:

Parzival

Der Berliner Spielerkreis ist beteiligt an Tagungen in Berlin, Eisenach, Großen Heidorn. 1934 wird mir nach der Tagung der Christengemeinschaft in Stuttgart und der Freizeit in Lorch die Reise nach Dornach zum Ereignis, insbesondere durch die Güte des Schicksals, alle vier Mysterien – Dramen Dr. Rudolf Steiners zu erleben. Als Früchte der vorausgegangenen Zeit sind noch zu nennen: „ Das Spiel von der Heiligen Bride “ Keltisches Weihnachts – Mysterium mit der Musik von Dr. Horst Lindenberg „ Isit “ Dramatische Ballade aus der Isländischen Volkslieder-und Sagenwelt mit der Musik von Jon Leifs. „ Hunnen vor Worms “ eine Siegfried – Tragödie „ Der Bamberger Reiter reitet “ Gespräche im Dom. In den Jahren von 1936 bis 1942 tritt das Erwerbsleben wieder in den Vordergrund. Als Aufgaben bieten sich insbesondere große Freilicht – Inszenierungen mit hunderten, tausend und zweitausend Mitwirkenden.

1937 ( Spielleitung: Oberspielleiter Johannes Heymann Mathwich, Einfügung R. Heymann)

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Auf Grund weltanschaulicher Schwierigkeiten durch die Zeitlage bedingt, bin ich 1939 genötigt, Sachbearbeiter in einer Tabakpreis-Errechnungsstelle zu werden. Später trete ich in die Fachschaft Feinpappe ein und leite das Presspan - Export – Kontor. 1940 wieder zu einem Seminarkurs in Stuttgart. Bis 1942 übernehme ich die künstlerische und seelsorgerische Betreuung des Bundes für Arbeitsinvaliden und Körperbehinderte und des Bundes für Volksbühnenspiele. Unter vielen anderen Arbeiten und Spielen bringe ich mit Blinden Goethes „ Faust 1“ zur Aufführung und mit den Gehörlosen mimische Märchen und Tanzspiele mit Musik. Gastspiele führen uns über Halle, Magdeburg, Braunschweig bis nach Hannover. In dieser Zeit entstehen: „ Das kurmärkische Narrenspiel “Hans Clauerts wirkliche Geschichten und lustige Eulenspiegeleien (1938 Uraufgeführt in Trebbin).

„ Die Bremer Stadtmusikanten “ mit dem Zwischenspiel der „ Commoedia der Liebe “ ,ein Spiel in der Art der Masken der italienischen Volkskomödie ( Com. Dell’A. ). 34

„ Nina “ oder Hans Clauerts des märkischen u. anderen Eulenspiegels Abenteuer in Ungarn. „ Kondwiramur “ Schauspiel um Wolfram von Eschenbachs Vollendung des „Parzival“. „ Chidori “ Tragödie nach einer japanischen Liebesgeschichte v. M. Dauthenday. Von 1943 – 1944 bin ich Soldat und zuletzt Flugzeug-Erkennungs-Dienst-Ausbildungslehrer in Cuxhaven und Dänemark. In dieser Zeit gestalte ich : „ Die Geliebte “ Traumspiel von dem letzten Abenteuer Don Juans und Don Quijotes. Bis zum Herbst 1945 arbeite ich in der Gefangenschaft : „ Die Frage des Pilatus “ Schauspiel in drei Stufen.

Aus der Gefangenschaft entlassen, finde ich meine Frau und die Jungen Michael ( 6 ) und Rudolf ( 4 ) aus Berlin geflüchtet völlig mittellos auf einem Bauernhof in Godenstedt bei Zeven in der Nähe von Bremen. Die Not nötigt mich eine Existenz aufzubauen. Mit Hilfe von Freunden wird die Heymann Mathwich Bühne gegründet. Zur Aufführung gelangt, beginnend am Bußtag und Totensonntag 1945 in Bremen : Die Frage des Pilatus. Dazu kommt später : Der Verrat des Judas und Die Erlösung des Hiob. Die Gastspiele führen uns von Bremen bis nach Schleswig-Holstein und Oldenburg, bis nach Braunschweig, Hannover und Göttingen. Wir spielen in den größten Kirchen und Sälen ( z. B. Glockensaal in Bremen ) vor bis zu 1200 Zuschauern, aber auch in der kleinsten Dorfkirche und Niedersachsenhaus-Diele im Teufelsmoor.„ Pilatus “ und „ Judas “ erreichen, jedes Spiel ca. 150 Aufführungen .Ich lerne in Gesprächen und als Gast die geistigen Grundlagen von ca. 200 protestantischen Pfarrhäuser kennen. 35

Neben dieser Arbeit übernehme ich aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten 1946 noch die künstlerische Leitung der „Niederdeutschen Bühne“ , Bremen, die nur dramatische Werke in Plattdeutscher Sprache zur Aufführung bringt. Niederdeutsche Bühne Bremen

Inszenierung: Johannes Heymann Mathwich

Als Gast: Ilse Barth

Autor des Stückes: Mayer Brink

Dadurch erlange ich aber eine Wohnung in Bremen Diese doppelte künstlerische Arbeit bestand von 1946 bis zum Herbst 1949.

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Als letzte Aufführung der Heymann Mathwich Bühne ging die Uraufführung meines Traumspiels: „Die Geliebte“ in Szene.

(Aufführung im kleinen Glockensaal in Bremen. Bild vom langjährigen Bühnenmaler für Johannes Heymann Mathwich: Theodor Schlonski)

Die Folgen der DM – Umstellung setzen aller künstlerischen Arbeit ein Ende. Von dramatischen Arbeiten in der voraufgegangenen Zeit sind noch zu nennen : „ Die Erlösung des Hiob “ Mysterium des Menschen. „ Flieger der Europa A. G. “ Schauspiel in 3 Akten und die Märchenspiele „ Hi ! Hi ! Rapunzel ! “ und

„ Seelchen und die verzauberten Brüder “

Im Sommer 1950 wurde ich Arbeiter auf dem Bahnhofspostamt 5 in Bremen und bin dort bis heute in der Briefabgangsstelle tätig. Zur Zeit bewegen mich folgende Themen : „ Berenike erlebt Paulus “ „ Die Hochzeit zu Kana “ „ Es ist an der Zeit ! “ Betrachtungen über Oedipus, Hamlet und Faust

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Das Bild stellt den Glockensaal in Bremen (1200 Zuschauer) dar, wahrscheinlich eine Szene aus „Verrat des Judas“. Bild gemalt von Theodor Schlonski, Johannes Heymann Mathwichs langjähriger Bühnenmaler.

1. Was ist der Mensch ? 2. Die Zeit ist aus den Fugen. 3. Der Weg in die Klarheit Aufgezeichnet im November 1952

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Von Ilse Heymann handschriftlich am 14.08.1980 festgehalten: 1952 „ Lebensbericht “ von Johannes Heymann geschrieben für Lic. Emil Bock. ( „ Kurzgefasste Rückschau “.) !953 durch Herrn Paetsch, seine Hilfe, ( er war geachtet von Lic. Emil Bock ), tätig im Postscheckamt, einer der Oberen, ( oder der obere Beamte ? ), - war es dessen Fürsprache( ? ) konnte Johannes vom Bremer Postamt zum Stuttgarter Postamt wechseln und somit die Helferarbeit bei Lic. Emil Bock übernehmen. Diese absolut ehrenamtlich, aber Johannes wohnte in Bock’s Haus, Ameisenbergstr. 40, in Stuttgart………bis dann Dr. Frieling mit Frau in Bock’s Haus einzog. Da nahm das Ehepaar Leger, Stuttgart, Bussenstr.Nr. 40, Johannes auf.

1954 konnten wir durch Wohnungstausch nach Kornwestheim, Adlerstr. 15, umziehen.

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Johannes Heymann Mathwich Ein gütiges Schicksal führte mich in die Arbeitsnähe von Lic. Emil Bock. Referate und Vorarbeiten zu seinen Werken waren die Aufgaben. Die Fülle und Vielseitigkeit der Arbeitsgebiete ließen mich immer wieder erstaunen. Und ging es auch nur darum, den Nachlass eines Anthroposophen auszuwerten, es wurde jede Nachschrift eines Vortrages Dr. Steiners geprüft, aber auch jede Notiz. Zeitangaben und Inhalte wurden mit den katalogisierten Vorträgen Rudolf Steiners abgestimmt. Was alles hatte Emil Bock schon seit Jahren zusammengetragen an Unterlagen für sein geplantes Werk „ Zum Lebensgang Rudolf Steiners “, Handschriftliches, Abgeschriebenes, Aufzeichnungen, Photos, alte, aus dem Einband geratene Bücher, Hefte von Blavatzki und Annie Besant. Als ich einmal in Bezug auf literarische Arbeiten von Blavatzki die Äußerung machte, dass es doch schauerliche Geschichten seien, da sagte Herr Bock versöhnlich: „Sie müssen bedenken, man hatte damals doch nichts anderes“. Bei dem Studium der Arbeiten von A. Besant wurde mir mit dem Referat so recht deutlich, dass es wesentlich sein kann, ihre Begriffsbildungen und Wortgestaltungen zu vergleichen mit den geisteswissenschaftlichen Darstellungen Rudolf Steiners, um seine wissenschaftliche Leistung als geisteswissenschaftlicher Forscher in ihrer ganzen Bedeutung zu ermessen. „ Ja “, sagte Herr Bock, „ nichtwahr, das ist ganz gut, wenn man da einmal hineinschaut “. In Fortsetzung dieser Arbeiten wurde auch die Geschichte der Freimaurer-Logen, ihr Wesen, ihre Beinhaltung, ihre Rituale und Sinnbilder in Beziehung gebracht zu zeitgeschichtlichen Ereignissen im Lebensgang Rudolf Steiners. Aber auch einzelnen Persönlichkeiten wurden eingehende Betrachtungen gewidmet, zum Beispiel dem Kardinal Mazarini, auf den Dr. Steiner in einem Vortrag hingewiesen hatte, wie „ bei dieser Individualität ein Verständnis für das Äußerliche der Kulte und für das Äußerliche der Kircheneinrichtungen vorbereitet wurde “. Die Verhältnisse seines Zeitalters 40

waren darzustellen und an den geschichtlichen Begebenheiten wurden die Taten Mazarinis abgelesen, die, so sagt Rudolf Steiner, „ wie grandiose Geschicklichkeiten abliefen, aber nicht wie etwas, was aus dem tiefen Herzen kommt “. Da war die reformatorische Sucher-Gestalt des Sebastian Franck. Sein theologisches Studium beendet er im Dominikanerkolleg zu Heidelberg und hier ist er auch Zeuge des Gespräches Luthers im Augustiner – Kloster. Kurze Zeit gehört er der Kirche Luthers an. Aber ein vielgestaltiges Schicksal treibt ihn durch seine Zeit in seinem Erkenntnis – und Freiheitsstreben, so wie er es selbst einmal sagt: „ – will nicht Päpstisch, Lutherisch, Zwinglisch, Wiedertäuferisch sein – “. Im äußeren Lebensgang muss er hinuntersteigen bis zum Seifensieder in Esslingen, in seinem geistigen Ringen muss er sieben Jahre vor seinem Tode noch von Luther hören: „ Er ist ein böser und giftiger Bube, - dass sie ihn in Ulm halten mögen “. Und als er 1539 nach einem Prozess Ulm verlassen muss, wird auf dem Theologentage in Schmalkalden deutlich, wer hinter der Ketzer-Hetze steht. Der wahre Verfasser der neuen „ päpstlichen Bulle “ ist Melanchthon. Sebastian Franck verlässt Ulm und erreicht mit wunden Füssen Basel und lebt dort noch drei Jahre als Drucker bis zu seinem Tode im Jahre 1543. Viele seiner Bücher und Traktate sind uns erhalten geblieben. Das Verhalten Luthers und Melanchthons motivierte Herr Bock aus politischen Notwendigkeiten, aus dem Verhältnis zu ihren Landesfürsten. Sebastian Franck aber lebte nach seinen eigenen Worten: „ Sobald man das Christentum in Regeln und in ein vorgeschriebenes Gesetz und Ordnung will verfassen, hört es auf, ein Christentum zu sein “. Einer meiner ersten Arbeiten war die Durchsicht der Vortragsnachschriften mit dem Thema Reformation. Ich sollte die Vorträge zusammenstreichen für ein kleines Büchlein. Das fiel mir sehr schwer. Wie oft hatte ich schon jeden Vortrag durchgearbeitet. Schließlich wagte ich zu sagen, wie wertvoll uns doch alle seine Ausführungen seien. Aber Herr Bock

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betonte, dass bei einem Vortrag auch viel „ Makulatur “ geredet werde. Diese „ Makulatur “ musste ich also nun entdecken und beseitigen. So entstand das Büchlein „ Die neue Reformation “. Ähnlich erging es mir, wenn handschriftliche Aufzeichnungen und Notizen thematisch durchgearbeitet waren, Herrn Bock zu fragen, ob ich die Papiere bewahren dürfte . Doch hatte ich den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da lagen die Bogen und Zettel schon zerrissen im Papierkorb. Dazu sagte er dann oft: „ Erlösung vom Papier ! “. Es war nicht leicht, sich in den persönlichen Umgang mit Herrn Bock einzuleben. Da geschah es dann in den ersten Stunden, als ich referierte und er zuhörte, - und er konnte bewundernswert zuhören - , dass ein Lächeln in seinen Mundwinkeln aufblitzte. Ich habe dieses Lächeln geliebt, denn es war immer ein Aufleuchten seiner Güte. Und dann brach es über mich herein mit einem Blitz in den Augen: „ Ach, Sie überlegen wohl, dass Sie es so sagen, wie es mir am besten gefällt “. Ich war geheilt und befreit. Denn nun konnte ich reden „ wie mir der Schnabel gewachsen “, sagt der Berliner. Und das war meinem verehrten Herrn Bock gerade recht. Im Anfang unseres Zusammenseins war ich von mancher Situation erstaunt beeindruckt. Unvergesslich ist mir unsere erste Arbeitsbesprechung. Schon auf dem Treppenabsatz vor seinem Arbeitszimmer stand er, um mich zu begrüßen. Wir nahmen Platz an einem kleinen Tisch mit Kaffeegedeck für zwei Personen, Gebäck und einer Vase mit Rosen. Herr Bock schenkte den Kaffee ein und legte das Gebäck vor und alles dies, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit einem „ mütterlichem Charme “. Was ich erlebte, nie hätte ich es mir nur vorstellen können. Immer, wenn ich sein Zimmer betrat, niemals blieb er hinter seinem Schreibtisch sitzen, selbst wenn er am Manuskript arbeitete. Steht’s setzten wir uns dann vor den kleinen Tisch, jeder in einen der blauen Sessel, aber niemals gegenüber, immer nebeneinander. Und wenn ein Referat eine halbe Stunde dauerte, Bock saß aufrecht und war

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ganz Ohr und unterbrach nie. Dann erst setzte Frage und Antwort ein oder Stellungnahme zur Problematik. Wie oft bewunderte ich seine Aufgeschlossenheit für das, was andere zu sagen hatten, insbesondere für Anmerkungen oder gar Kritiken an seinen Büchern. Jeder Hinweis wurde sorgfältig geprüft. War eine Kritik oder Hinweis anzuerkennen, so wurde in einem Hand – Exemplar unter Umständen sogar der Text geändert, zur Berücksichtigung für eine Neuauflage. Dies sei gesagt als Beispiel seiner Aufgeschlossenheit für Selbstkritik und für ein sehr zartes Gewissen. Was war neben seinen großen Arbeitszielen noch alles zu leisten. Was wurde ihm alles zugesandt an Gedichtsammlungen, Romanen, Novellen, Skizzen, geisteswissenschaftlichen und theologischen Abhandlungen.. Alles musste durchgesehen werden, um eventuell eingestrichen zu werden, wenn es für die Zeitschrift verwendbar war. Es musste manche Arbeit, die geplant war, zurückgestellt werden. Zum Beispiel sollte zu Weihnachten 1955 die Herausgabe von „ Betrachtungen zu den Paulusbriefen “ beginnen. Das gesamte nachgeschriebene Vortragswerk von Herrn Bock über Paulus war schon daraufhin durchgearbeitet worden, aber für das Zustandekommen der Herausgabe konnte er keine Zeit einsetzen. Dass dennoch dieses gewaltige Lebenswerk vollbracht wurde, es war ein Geschenk des Genies, ( obwohl Herr Bock sich mir gegenüber äußerte:“ Was mache ich denn schon, ich referiere doch nur “, ), aber welche Bedeutung hatten auch Fleiß und Disziplin, wie gewissenhaft war seine Zeiteinteilung. Ich habe wohl immer mit klopfendem Herzen vor seiner Tür gestanden, die Uhr in der Hand, es ging um die Minute. Dennoch, - niemals ein hastiges Wort oder eine drängende Geste. Glücklich wer dankbar zu einem großen Menschen aufschauen darf.

(Anmerkung: Die Datierung dieses Textes ist bis jetzt unsicher, fest steht aber, dass er nach 1955 geschrieben wurde, wie es sich aus dem Text ergibt. R. Heymann 21. 04. 2007)

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1499 Geb. - 1542 Verst.

Sebastian Franck

im Lexikon stehend: Frömmigkeit,

„ein Mann von echt christlicher

männlichem

Freimut

und

unparteiischer

Wahrheitsliebe“. ….ohne Gott ist das Ich einsam durch die Ewigkeit hindurch; hat es aber seinen Gott, so ist es wärmer, inniger, fester vereinigt als durch Freundschaft und Liebe. Ich bin dann nicht mehr mit meinem Ich allein; sein Urfreund, der Unendliche, den es erkennt, der eingeborene Blutsfreund des Innersten, verlässt es so wenig als das Ich sich selber; und mitten im unreinen und leerem Gewühle der Kleinigkeiten und der Sünde auf dem Marktplatz und Schlachtfeld stehe ich mit zugeschlossener Brust, worin das Allerhöchste und Allerheiligste mit mir spricht und vor mir als eine Sonne ruht, hinter welcher die Außenwelt im Dunkeln liegt. (Diesen Text bewahrte Johannes Heymann auf nach einem Gespräch, wobei Lic. Emil Bock ihm einen karmischen Hinweis gab. Er hatte Herrn Bock die Biographie von Sebastian Franck referiert 1953 / 1954). (zugefügt von R. Heymann 29. 09 07).

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Sebastian Franck Ein kleines Blatt, eingesteckt in einem Taschen Kalender von 1969 geschrieben von Johannes Heymann Mathwich gestorben am 25.4.1969

Haus am Salzberg bei St. Urbanus Brunnen Basel – Blumenrain Nr. 16 _____________________________________________________________ Ankunft Basel Gestorben Basel Geboren Donauwörth

20. Juli 1539 Okt. 1542 1499

_____________________________________________________________ Ingolstadt

1515

Heidelberg

1518 -

Kath. Priester

Buchenbach

1526

Gustenfelden

1528 -

Ehe mit Ottilie Beheim

Nürnberg

1529

Straßburg

1531

Kehl

1532

Esslingen

1532

Köngen

1533

Ulm

1533 – 1539

Basel

1539 – 1542

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1930

(eher früher !)

Lichterfelde- Süd

Johannes Heymann Mathwich und Ursula Dion, seine zweite Frau

Johannes Ursula Dion

Vater von Johannes

Ursula Dion und Eltern in Berlin LICHTERFELDE-SÜD

Ursula Dion auf den Knien von Johannes Johannes Heymann Mathwich Ilse Heymann aus Hannover Cousine von Johannes Vater von Johannes Bruder von Mathilde Mutter von Ilse (Tante Mathilde) Schwester v. Joh. Vater Adolf Sommerfeldt Vater von Ursula Dion Trude und Heini ganz oben hinten 2. Frau von Adolf Sommerfeldt (Rezitatorin) ganz links.

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1930 Erste Begegnung mit Johannes 1974 Einige Erinnerungen von

Ilse Heymann

Was tauchen an Erlebnisfolgen in der Erinnerung auf, wenn ich irgendetwas aus Wagners" „ Tristan und Isolde" höre......? Am 27.3.1930, an meinem 18. Geburtstag, nachmittags 15:00 Uhr starb in der Berliner Klinik, Neukölln, meine Mutter: Margarete Barth, geborene Wollmann. Sie war Sängerin, von der Kritik „ die singende Seele“ genannt, und Gesangs – sowie Klavier –Pädagogin. Seit mein Vater Karl – Heinz Barth in den Sommerferien in Bayreuth sang, war meine Mutter dorthin seine Begleiterin gewesen. Durch ihren Tod durfte nun ich, schulentlassen, im Festspielhaus Bayreuth Wagner - Werke hören: den "Nibelungen - Ring, und Tannhäuser“, unter Ellmendorf, Parzival, dirigiert von Prof. Muck, Tristan und Isolde, dirigiert von Toscanini. Durch den Tod meiner Mutter in Berlin, wir hatten in Gera/ Thüringen eine wunderschöne, große fünf Zimmerwohnung, kam ich zur Kremation aus Gera und gab dir, Johannes, ohne zu ahnen, dass wir einmal Mann und Frau sein würden, dort im Kremations Raum, zum ersten Mal die Hand. Die Schwester meiner Mutter, Ingeborg Heldberg – Wollmann, arbeitete damals künstlerisch mit dir. Ihr probtet dein Werk: “Die Enthauptung des Johannes“, was dann auf Tournee die ungewöhnlichsten Kritikern bekam. Als Schlusssatz folgendes, was du niemals abdrucken ließest:...." Man merkt, dass die Eingeweihten nicht aussterben!“. Erfüllt von Bayreuth und ganz und gar in der herrlichen Natur von Thüringen lebend, musste ich, da du, Vater, durch den Tod deiner Gemahlin, unserer geliebten Mutter, einen Nervensammenbruch bekamst, vom Theater sofort entlassen wurdest, du, der niemals ohne 47

Engagement war, was in der damaligen Zeit unerhörtes bedeutete, du warst ein hervorragender Sänger – Schauspieler deines Helden - Bariton, - dann Baßbuffo- Faches - -! musste ich ganz schnell einen Schreibmaschinen - Stenografie - Kursus machen, Gera verlassen und zur Ingeborg - Tante nach Berlin ziehen. Ich dachte ich sterbe in der Steinwüste Berlin. Da sagte Tante Inge zu mir:"Gehe doch mal zu Johannes Heymann Mathwich in

Tante Inge

Ilse

dessen" Faust – Kreis“, den er mit Studenten im Schaumburger Palais jeden Dienstag abhält. So begegnete ich dir wieder, Johannes. Da ich sah, aus welchem Idealismus heraus du mit Menschen arbeitetest, die Hintergründe erfuhr ich später (du arbeitetest auf den Priesterberuf zu), wurde ich kurzentschlossen deine Sprachgestaltungs - Schülerin, jedoch nur um dir von meinem anfänglichen Büro - Angestellten - Gehalt in einer Verlags Buchhandlung,( es war sehr gering), 20 RM monatlich geben zu können. Nun geschah es, dass ich eine Stunde versäumte, weil ich im Hause des Bankdirektors, Walter Graemer, der „Deutschen überseeischen Bank Berlin“, „Tristan und Isolde" hörte. Seine Frau Hedwig Graemer liebte meine Mutter über alles, sie waren Freundinnen. So war 48

Tante Hedwig und Onkel Walter Krämer" Nennttante“ und „Nennonkel "von uns drei Barth – Kindern,, meinen beiden Brüdern Werner und Hans-Erich und mir. Ich hörte damals eine direkte Übertragung beim Onkel Walter Graemer, er hatte schon ein Radio, oder waren es Schallplatten, der besaß unzählige, ich weiß es nicht mehr. In der völligen Hingabe des Zuhörens bei" Tristan und Isolde" versäumte ich meine Unterrichtsstunde bei dir, Johannes. Der Weg von Onkel und Tante aus Wilmersdorf betrug ja, per sausender U-Bahn, mit mehrmaligem Umsteigen in Berlin, alleine schon 1 1/2 Stunden. Nun, das war man ja gewohnt. Doch ich fuhr gar nicht ab und hatte ein sehr schlechtes Gewissen, dich, Johannes, warten gelassen zu haben. (Hatte es in Dr. Isberts - Haus, in dem du damals wohntest ein Telefon? Ich wusste es nicht ). – So kaufte ich, völlig neutral gesinnt, nur zur Entschuldigung, am nächsten Tag eine gelbe Rose und ging zu Fuß den Weg von der Niemetz - Straße in Neukölln, die Sonnen – Allee hinunter zum Dammweg, dich aufzusuchen. Natürliche sagten viele „Sie“ zueinander. ( Mitten auf diesem Dammweg, als ich nach dem Krieg Berlin aufsuchte, die alten Wege ging, standen da die Wachhütten der Russen, später wurde die Mauer hindurch gebaut, dahinter der breite Niemandsstreifen mit zackigen Eisenstäben als Abwehr für Panzer, Drahtzäune, drüben Wachtürme der Russen, die mit Feldstechern hinüber schauten.

Diese Ö d e - diese Leerheit - und ihr unheimliches tief tragisches Schweigen! ! ! - - - -) .

- Bis Oktober 1930 hütete ich in Gera noch die leere Wohnung, denn Vater war zuletzt in Osnabrück engagiert, beide Brüder in Frankfurt als Baumeister und Architekten noch lernender Weise im Architektenbüro des Bruders meiner Mutter, Onkel Robert Wollmann, in Frankfurt am Main. – So war es, nach Sprachstunden und Faust - Kreis - Mitarbeit, August 1931 geworden, als ich mit der gelben Rose in das Haus von Dr. Isbert eintrat. Dr. Isberts Frau war einige Wochen verreist. Er war Strohwitwer und Johannes wohnten in dessen entzückendem, kleinen Haus. Mit einem unwahrscheinlichen „Hallo“, und überschwänglicher Begeisterung wurde ich aufgenommen, empfangen und dann alsbald zum Geigen mit Dr. Isbert 49

eingespannt. Er hatte zwei Geigen im Haus und viele Noten, und damals spielte ich ja alles vom Blatt ab. Vorher aber, da geschah es. Ich übergab Herrn Heymann die „ Gelbe Rose“ als Entschuldigung für unentschuldigtes Fehlen und nicht zur Unterrichtsstunde erschienen zu sein. ! ! ! - Da stand er, mit der Rose in der Hand, anscheinend nicht fassend, dass sie für ihn sein sollte, und lange standest du so, Johannes, lehntest dich dann noch an den Türrahmen an und immer die Gelbe Rose hochhaltend von ihr auf mich schauend. Ich begriff nichts! Während Herr Dr. Isbert und ich nun stundenlang musizierten, schriebst du oben in dessen Zimmer deine bezaubernde Betrachtung über Charlie Chaplin und seinen Film „Goldrausch". „Die tanzende Seele des Jahrhunderts" nanntest du ihn. Spät in der Nacht brachtet ihr mich heim, Dr. Isbert und du, Johannes. Dr. Isbert entschuldigte sich mit Müdigkeit und kehrte auf halbem Dammweg um. In dieser Gegend hatten die Berliner ihre Schrebergärten und der Dammweg war eine einzige große Baumallee, und über ihr sah man, (in Berlin!), sogar noch Sterne am Himmel. Unvergessen!!! - Johannes, da es dunkel war, wagte kaum mir seinen Arm anzubieten: „Ich würde doch wohl nichts Unrechtes von ihm denken ?". Welche Vorgänge in seiner Seele, von denen ich damals nichts ahnte. Wir waren so ins Gespräch vertieft, dass wir das Einbiegen in die Sonnenallee versäumten, die Straße unbemerkt überquerten und uns erst wieder fanden, sozusagen auf dem Weg, als er nicht weiterführte, und wir vor einem Zaun standen. Es verging einige Zeit, bis wir den richtigen Heimweg fanden, denn ich glaubte, auch von diesem Fabrikzaun aus zu unserer Niemetz Straße in Neukölln kommen zu können. Nun schlossen sich noch einige solche Musizier - Abende an, den ersten an und Johannes und mir wurde immer deutlicher, dass eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen uns gegenwärtig war. Jubel, Freude, tief innigste Heiterkeit, Humor und tiefer Ernst lösten sich in den Gesprächen ab. Wie lauschte ich alle deinen Ausführungen mit Staunen und ganz Ohr, Johannes. Von Anthroposophie hörte ich, noch ehe ich selber den umfassenden Namen 50

nennen konnte! Dann erhielt ich Tag für Tag Verse, und da war es dann, dass ich deine Ilsode genannt wurde. ( - Und Sohn Michael - Johannes, der schon über die Todesschwelle geschrittene, er konnte mit mir bis über die Mitternacht hinaus Mucksmäuschen still sitzen, wenn im Radio “Tristan und Isolde“ nach einer Bayreuther Aufnahme wiedergegeben wurde. -)

Und w a s hatte ich in Bayreuth selber bei den Proben zu "Tristan und Isolde“ erlebt.. ..und sang dann später im Atelier in Berlin NW7, Karlstr, 23. - Früher ein Fotoatelier indem meine Mutter aufgenommen worden war - (das Bild kam erst später in meine Hände, als „Hanetanting“, meiner Großmutter Schwester in Demin 91 jährig starb) -, da wo unser wonniges Schicksal sozusagen nach dem Beginn in Dr. Isbert Haus seinen Fortgang nahm, in diesen Räumen hatte also meine Mutter gestanden. Sie, die diese Begegnung sogleich nach

ihrem Tode mitgeführt haben muss. Geliebte Mutter, ist es so? - - - - - da sang ich nun Wagners Wesendonk- Lieder und "Isoldes Liebestod", einstudiert von einem in Bayreuth mittätig gewesenen hochbegabten jungen Kapellmeister B….? Und du, Johannes, sprachst Texte aus Wagners Schriften, Briefen, Biografisches! Mein Probenerlebnis in Bayreuth wird folgen ! ! ! . . .

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1930 Johannes Heymann Mathwich 34 jährig Johannes Heymann Mathwich, mein geliebter Mann, 34 ! Oberspielleiter an verschiedenen Theatern. Dichter, Schriftsteller, Regisseur.

Berlin unter Reinhardt, Stralsund, Rostock, usw., Eisenach. Dort sein Drama: „ Friedemann Bach“ Uraufgeführt, auf Tournee dort 1930 (mit Tante Inge) in seinem Drama: „Johannes der Täufer“ großartige Kritik: „Dass die Eingeweihten nicht alle werden“ (von Ilse Heymann notiert am 14.1. 1982)

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Der Faustkreis 1932 Johannes Heymann Mathwich „ Im Lichte moderner Bühnentechnik betrachtet, muss Goethes Faust immerdar ein loses und verworrenes Gewebe von Schein und Leben, von Lehrgedicht und Fantasterei, von Vorzeit und Gegenwart von Orthodoxie und Freigeisterei erscheinen und hinter den Aufgaben der dramatischen Kunst zurückzustehen scheinen: auf den Boden seines Ursprungs übertragen und in der Gestalt und Hülle der ihm zeitgeborenen Welt, im Stile jener episch didaktischen Mysterien des Mittelalters erfüllt und überwächst es alle Formen und Gesetze jener und unserer Tage und wird zur allumfassenden Offenbarung des gott- Geschenkten Genius des Dichters". Mit solchen Worten leitet Otto Devrient seine Einrichtung von Goethes Faust ein, für die Aufführung als Mysterium in zwei Tagewerken. Es ist gewiss beachtenswert, dass seit dieser Aufführung im Mysterien-Stil, 7.5.1876 in Weimar, Goethes Werk zum dauernden Besitz der Deutschen Bühne wurde. Und doch ist Devrient’s Arbeit vielseitig angegriffen worden, insbesondere der Mysterien-Stil mit seinen formalen Lösungen. Es hat eben seine Schwierigkeiten, ein Werk, das um seinen Gegenwartswert ringt, in einem historischen Stil erstehen zu lassen. Will man künstlerische Werke historisch fundamentieren, so darf man auf keinen Fall mit der Form beginnen, sondern mit dem Inhalt, der dann, ist er wahrhaftig geboren, selbst geistig schöpferisch seine physische Form erschafft. Diese Bedingungen erschöpfen sich bei Devrient mit der Regie-Idee und seinen persönlichen Vorarbeiten, wie er sie in der Einleitung zu seiner Einrichtung andeutet. Will man aber Goethes Faust aus dem Geiste des mittelalterlichen Mysterienspiels erstehen lassen, so kommt es auf die Darsteller an, die damals keine studierten, routinierten Schauspieler waren, sondern Laien, die aus dem Geiste ihrer Zeit heraus spielten und handelten. Gewiss sind mit dem Verfall der Mysterien -

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und Passionsspiele Komödianten - Elemente eingedrungen, aber dieser Erscheinung wird vorerst unwichtig für unsere Betrachtung. Bedeutsam wird für uns in kurzen Zügen Zeitgeist und Bewusstseins - Haltung des Mysterienspielers in die Erinnerung herauf zu holen. Vom 10. Jahrhundert ab werden Mysterienspiele in ganz Europa dargestellt. Das vom Gefühl beherrschte Erlebnis der Jesus-Passion ist das weltanschauliche und religiöse Ereignis des mittelalterlichen Menschen. Sich als Mensch erleben, heißt künstlerisch die Jesus-Passion gestalten. Dies aber ist nicht pädagogische oder missionarische Spekulation der Geistlichkeit, wie häufig in theatergeschichtlichen Werken mitgeteilt wird, sondern die Darstellung der Jesus-Passion ist künstlerisch sich offenbarendes Gemeinschafts-Erlebnis, das seine eigene Geschichte hat, die ich in aller Kürze andeute. Zum Beispiel bei der Osterfeier erschöpfte sich das religiöse Erleben der frühen Christen in Prozessionen und einer zwölfstündigen Liturgie. Das Mysterium der Wandlung wurde noch anschauend erlebt. Noch nicht das Problem der Transsubstantiation der Reformation. Die Gemeinde wusste mit Herzens-Augen von dieser Tatsache, von der leuchtenden Verwandlung des Brotes und Weines der heiligen Messe in Leib und Blut Christi. Solche Erlebnisse sind dem heutigen Verstandesmenschen fast unvorstellbar. Aber wir werden uns immer mehr von dieser Tatsache überzeugen lassen müssen, denn es wird von ihr berichtet, und man hat versucht, sie künstlerisch sichtbar zu machen. Das Verschwinden dieser Tatsache erklärt uns dann auch das Heraufkommen mancher Dogmen der Kirche. Die Gemeinde aber kann von Dogmen nicht leben. Die bedrängte Seele verlangt ihr Brot. Mit den Herzensaugen kann die Gemeinde das Brot nicht mehr hereinnehmen. Das Mysterium der Wandlung bewusstseinsmäßig, über die Verstandestätigkeit hinaus, wahrzunehmen, soweit ist der Mensch noch nicht. Es entsteht der ungeheure Drang, was noch an Überlieferungen vorhanden ist und was vereinzelt an Erlebnissen erfasst werden kann, im Bilde festzuhalten.

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Madonnen-Bilder und Bilder der Evangelien erfüllen die Zeit. Und nicht nur Maler und Bildhauer gestalten, Priester und Mönche werden Dichter. Von der liturgischen Grundlage ausgehend, aus Antiphonen und Responsorien, entstehen Oster-und Weihnachtsspiele. Der Priester "verdichtet" die Sehnsucht der Gemeinde. Die Welterlösungs-Tatsache, die eigentlich im Messopfer gipfelt, wird bildhaft gestaltet mit dem Auferstehungs-Spiel. Die Erlösungssehnsucht der Gemeinde, deren Herzensaugen verkümmert sind, beginnt immer mehr die Bilder der Evangelien, der Engels Botschaft, den physischen Augen zu vergegenwärtigen. Das bedeutet: das religiöse Erlebnis wird immer exoterischer. Es verweltlicht und entfernt sich aus der esoterischen Welt der kultisch geordneten heiligen Messe. So wird es auch verständlich, wie die Spiele, wie z. B. das Eisenacher Zehnjungfrauenspiel aus dem Jahre 1322, schon ahnungsvoll Reformationsgeist atmen. Die mittelalterlichen Spiele sind also nicht Mysterien im antiken Sinne, die dem esoterischen Kultus eingebildet waren, sondern sie tragen exoterischen Charakter. Es sind MinisteriumSpiele. Sie - dienen - der heiligen Messe, und nur diese selbst umhüllt kultisch das Mysterium. (Dass das Erlebnis des antiken Mysteriums in der Messe verborgen ist, daran erinnert die Tatsache, dass in der alten Kirche bei dem Beginn der Opferhandlung die Katechumenen entlassen wurden).

Verwandelt sich auch das lateinische Wort "ministerium" in "mysterium", so ist doch darauf zu achten, dass das griechische Wort "mysterion " oder “mysterium“ nichts mit ihm zu tun hat. Und wer spielt nun dieses Ministeriums-Spiel? Es ist die Gemeinde mit ihren Priestern. Wie der Ministrant der Messe dient, so ministriert an Festtagen die ganze Gemeinde mit ihrem Spiel. Man darf also vielleicht sagen: der Mysterienspieler des Mittelalters ist Ministrand des Mysteriums der Messe. So ist auch sein Darstellungsstil liturgisch rezitatorisch, und die Gesten sind sehr "gebunden".

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Will man diese mittelalterlichen Mysterien-Spiele wieder erstehen lassen, so ist es gewiss nötig, die religiöse Haltung des mittelalterlichen Menschen sich vor die Seele zu stellen. Da wird der Versuch der deutschen Jugendbewegung interessant, die viele Aufführungen wagte. Sie hatte ein richtiges und tiefes Empfinden dafür, in welchen Kunstwerken sich noch Gemeinschaftserlebnis verborgen hielt. Aber sie musste die Entdeckung machen, dass eine Erinnerung schön und stimmungsvoll sein kann, doch wie mache ich sie wirkungsvoll für die Zukunft? Wie kann ich das religiöse Gemeinschaftserlebnis des mittelalterlichen Menschen in die Lebens-Tendenz und Bewusstseinsform der Gegenwart schöpferisch einordnen? Steht noch ein Altar auf der Erde, dem diese Kräfte entströmen? Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung gibt die Antwort. Und in dieser Geschichte brennt das Schicksal des Dr. Faustus auf. In Goethes Faust wird uns solch ein Erlebnis geschildert in der Oster -Szene. Sie offenbart eine wunderbare Kraft. Sie rettet Faust vor dem Selbstmord. "Erinn’rung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle, vom letzten, ernsten Schritt zurück", Und welche religiöse Lebenskraft strömen denn die "süßen Himmels - Lieder" aus? Es ist das religiöse Gemeinschaftserlebnis des mittelalterlichen Oster - Spieles, was in Goethes OsterChören herauf klingt. Nur sind diese Chöre ganz der Schwere und Enge der mittelalterlichen Sprache entkleidet und in großer Reinheit leuchtet das Christus Erlebnis auf. Wenn diese Chöre Faust auch retten vor dem Selbstmord, sie erretten ihn nicht von der Not der Seele: "Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; ---------Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben, Woher die holde Nachricht tönt; - - - -"

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Dies aber ist die Not der Zeit, in der die Gestalt des Faust Legende und Sage wurde. Die Herzensaugen, denen sich noch das Lebens - Mysterium erschloss, sie sind erstorben. Aus solcher Seelennot tönt das Rufen von Faust’s: "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält, S c h a u’ alle Wirkenskraft und Samen, Und tu’ nicht mehr in Worten kramen". Mit dieser Sehnsucht wird die Not der Menschheit sichtbar, die ungefähr um das 16. Jahrhundert herum beginnt und an Gestalten abzulesen ist, wie Giordano Bruno, Baco von Verulam und Jakob Böhme, die Rudolf Steiner in einem Vortrag anführt. Alle diese Gestalten verdichten sich dann zu dem Sagenkreis um Doktor Faust. Wie deutlich sich dieses heraufkommende Zeitalter gegen das verdämmernde Mittelalter abgrenzt, ist wieder abzulesen an den Mysterienspielen, die nicht nur immer weltlicher werden, sondern auch dem Komödianten -Wesen verfallen, und endlich um die Mitte des 16. Jahrhunderts verboten werden. Und war vom 10. Jahrhundert ab die Jesus-Passion international, jetzt wird es die Faustlegende. In allen europäischen Städten weiß man vom Doktor Faust zu erzählen. In tiefsinniger Anschauung erzählt davon Franz Dingelstedt in seinen dramaturgischen Studien zum Faust. Der Doktor wird der Repräsentant des neuen Zeitalters, so dass Goethe den Herrgott fragen lassen kann: Kennst du den Faust? Und Mephistopheles ihn sofort umfassend kennzeichnet mit: D e n D o k t o r? Der aus einer neuen Bewusstseinshaltung, aus einem neuen Zeitalter heraus wissend werden wollende Mensch wird TragödienHeld. Aber das Goethe’sche Kunstwerk hat noch einen Vorläufer, das uns einen tiefen Einblick gewinnen lässt in die Keime der Faust-Tragik: Und sehe, dass wir nichts wissen können! Es ist Shakespeares “Hamlet“ mit der Jahreszahl 1602 auf seinem Titelblatt. Dieser Tragödien57

Held ist ein echtes Kind der Zeit seines Erscheinungsdatums. "Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam!" Das ist Hamlet-Not, das ist die Not der Menschen und einer Zeit, die mit dem 16. Jahrhundert beginnt und auf religiösem Gebiete die Reformation und später die materialistische Wissenschaft heraufführt. Wie aber soll man die Welt einrichten, wenn man keine unmittelbare A n s c h a u n g mehr hat von dem Mysterium des Schicksals und des Lebens. Die Altar-und Sakramentskräfte werden nicht mehr erlebt. Die Augen des Herzens haben sich geschlossen, wie später Faust zitiert: „Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!“ Darum überall Zweifel, selbst das Vater-Geist-Erlebnis zweifelt Hamlet an: „ - - - - - - - - - - - - - - - Der Geist, Den ich gesehen, kann ein Teufel sein; -

- - - - - - - - - - - - - - -- ich will den Grund, Der sichrer ist. Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe".

Hier ist der Quellpunkt, in diesem Hamlet - Wunsch, aus dem heraus das europäische Drama um seine Existenzberechtigung ringt. Wenn auch das europäische Drama immer wieder versucht, aus den antiken Mysterien auch seine Gestaltungskräfte zu regenerieren, es wird eigene Quellen entdecken müssen, aber die Quelle, und nicht nur ihre steinerne Fassung. Goethe entdeckte sich die Quelle mit der Gestalt des Faust für seine Lebensdichtung. Er schuf mit seinem Kunstwerk die neue Wirklichkeit eines Menschen - Ideales, der das Zeitalter repräsentiert vom 16. Jahrhundert ab. Ich denke an Franz Dingelstedt: Faust ist ein Kind der Reformation, die Faustsage ein Erzeugnis des sich auflösenden Mittelalters. Mythen und Sagen entstehen überhaupt immer da, wo in der Weltanschauung eines Zeitalters eine derartige Zersetzung vor sich geht, dass der tatsächliche Inhalt der Geschichte verflüchtigt wird in das Ideale, welches dann für sich in der Kunst eine neue Wirklichkeit gewinnt.

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So kommt uns in Goethes Faust ein grandioses Kunstwerk entgegen mit einem Inhalt von mysterienhafter Tiefe, aber scheinbar formlos. Hier setzt das Ringen um die künstlerische Darstellung dieses dramatischen Kunstwerkes ein. Nun beginnt man das Werk nach Bedarf "zurechtzuschneidern": " Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen Probiert ein jeder, was er mag; -" Ist Goethes Faust ein verworrenes Gewebe von Tragödie und Komödie? Sind die sich widersprechenden Elemente in einem künstlerischen Stil zu vereinigen? Otto Devrient versuchte an das mittelalterliche Mysterien-Spiel anzuknüpfen. Aber er versuchte nicht die Stil - Elemente des Werkes selbst herauszuholen, sondern er "bearbeitete". Er spielte nicht mit Mysterienspielern, die handeln, wie Ministranten des Mysteriums, sondern mit Schauspielern, das heißt, im Wesentlichen mit Komödianten. Will man also wieder den Versuch wagen, vom Mysterien - Spiel aus Goethes Werk zu gestalten, so wird es insbesondere auf die geistige und religiöse Haltung ankommen. Die Grundlage hierfür wird aber kaum ein Theater - Betrieb bieten können. Um einen solchen Gestaltungsversuch zu ermöglichen, wird eine Gemeinschaftsarbeit vorausgesetzt werden müssen. Einem solchen Unterfangen stellt unserer Zeit fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen, denn solche Arbeit verlangt Opfermut und Gesinnung. Sie verlangt die Erarbeitung einer gemeinschaftlichen Grundanschauung. Dies ist wieder schwierig, denn uns einigt heute keine gemeinsame Weltanschauung und kaum ein religiöses Erlebnis. So müssen wir uns bewusst machen, dass aus allen diesen Nöten heraus die Faust - Legende selbst und Goethes Faust entstanden sind. Und in dem Werke selbst müssen wir auch wieder die gemeinschaftsbildenden Kräfte entdecken. So kann uns dichterische Kraft zum Erlebnis werden. Wir entdecken vielleicht erst wieder, was das Wesen des Dichters ausmacht:

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"Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weise, Wo es in herzlichen Akkorden schlägt? - - - - - - -- - - - - - - - - - - - - - -Des Menschen Kraft im Dichter offenbart". Für die Erarbeitung einer gemeinschaftlichen Grundanschauung aber wird es maßgeblich, dass Goethes Werk beginnt mit dem Gesang der Erzengel und beschlossen wird durch den Chorus mysticus. Und diese Grundanschauung führt uns hin zur Ministerien - Spiel – Gestaltung und die Spieler werden sich mühen müssen wieder Ministranten zu werden eines Mysteriums, wie es der Chorus mysticus ahnen lässt. Es wird nötig werden Szenen, wie die Hexenküche, Auerbachkeller und Walpurgisnacht nicht nur vom Komödiantischen her zu verlebendigen, sondern es wird versucht werden müssen Entwicklungs - Zuständen und Stufen der Faustischen Seele nachzuspüren. So wird man den Auerbachkeller nicht nur als eine Sauf - Szene spielen, sondern wird versuchen, mit den vier Zechern auch vier Temperamente zu gestalten. Man wird für eine vertiefte Auffassung die wenigen Worte Fausts im Auerbachkeller wesentlich beachten müssen, wenn er zum Beispiel sagt: "Ich hätte Lust nun abzufahren" und später in der Hexenküche: "Mir widersteht das tolle Zauberwesen!" Auch diese Szenen werden dann nachdenklich stimmen, wenn die wenigen Worte Fausts uns daran erinnern, was die Seele an "Menschlich all zu menschlichem", und nicht von "Tierischem" zu reden, anschauen muss. Aus einer solchen Grundanschauung heraus versucht eine Laienspielerschar die Faust – Tragödie zu gestalten und sie wurde ihnen zum Mysterienspiel, aber nicht aus ästhetischer, historischer, religiöser Spekulation, sondern aus Notwendigkeit, die uns erwuchs aus dem Ringen mit Fausts Seelenweg um die Seelenentwicklung des Menschen überhaupt. Dieses Ringen um den M e n s c h e n wurde uns Not, - und Notwendigkeit laienhaft künstlerischen Ringens um die Darstellung. Wir suchen uns selbst in Goethes Faust. 60

Und diese Gemeinschaftsarbeit will sich keine theatralische Darstellung anmaßen. Sie will versuchen aus Selbsterkenntnis mit Goethes Dichtung – Mysterium (ministerium) – zu gestalten. Das heißt: nicht die schauspielerische Leistung ist wichtig, sondern das Sichtbarmachen der Gemeinschaftsarbeit und die Hingabe an das Werk. So ist uns die Faust - Gestalt mehr geworden als "ein Kind der Reformation", sie hat sich aufgereckt zu einem Ziel in die Zukunft, in eine Goetheanische Zukunft. Schon Strindberg lässt in seinem Luther - Drama Dr. Johannes Faust in diesem Sinne sich selbst aussprechen: Luther:

- Folgt ihr mir?

Dr. Johannes: Nein, Doktor; jetzt trennen sich unsere Wege! Das Kind ist geboren; erzieht es jetzt ! Das ist eine lange und mühsame Arbeit; ich war nur die Hebamme! Luther:

Geschehe Euch, wie Ihr wollt, und Dank für die Hilfe!

Dr. Johannes: Bitte!. . . und lebt jetzt in Eurer Zeit, Ihr; ich fahre fort vorwärts zu gehen, dem unbekannten Kommenden entgegen, dass wohl diesem ähnlich wird, doch nicht dasselbe. Luther.

Seht, jetzt geht der Tag auf über Thüringen!

Dr. Johannes: Über Deutschland!

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Aus einem Bericht über das Sommerfest der Christengemeinschaft in Eisenach (Eisenacher Zeitung vom 4.8.1931). Etwas ganz Seltenes, in Deutschland wohl Einzigdastehendes bot die Spielgruppe Heymann Mathwich. Sie spielte am Sonntagnachmittag drei ungestrichene Szenen aus Goethes Faust: die Pakt – Szene, die Schüler – Szene und die sehr selten gesehene Baccalaureus – Szene, ferner als drittes Stück zum Vergleich mit Goethes Dichtung einiges aus dem mittelalterlichen Puppenspiel “Doktor Faust“ (nach Simrod: Paktszene und Kasperlszene). Wie es eben nur 61

einer auf den ganzen Sinngehalt bedachte, weltanschaulich interessierte Arbeitsgemeinschaft fertig bringen kann. Heymann lässt keinen Zweifel darüber, dass es ihm um mehr geht als um Unterhaltung oder auch um ein künstlerisches Nachschaffen. Sein Spiel will priesterlich sein. Es verrät die Tendenz, durchzustoßen zum Mysterienspiel, indem der Spieler nicht sein Erlebnis gibt, sondern zum Sprecher des göttlichen Wortes wird. Nietzsche sagt einmal, Goethe imaginiere eine deutsche Kultur. So hat auch Heymann mit seinem Spiel gezeigt, wie sehr wir der Darstellung mit priesterlichem Sinn bedürfen, um goethesche Prophetie zu deuten und auch damit an das „Leben“, an das Evangelium induktiv heranzukommen. Damit ragt er über Haass-Berkow hinaus; hier ist nichts von „neuer Sachlichkeit“, sondern einfach der fromme, feingeistige aus der Faust – Tragödie zum Christum - Mysterium durchzuwachsen. Dr. W.

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1932 Atelier Karlstraße Ecke Friedrich Str. Berlin

↓ Hier

10 m Glasfront im 4. Stock

(Karlstr. heißt heute Rheinweinstr)

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1932

Aufnahme von der Berliner Zeit (Von Ilse Heymann hinten auf dem Bild geschrieben):

(Lieber Rudolf, liebe Hiltrud! Ein Pfingstgruß!

1975)

Johannes Heymann-Mathwich, geb. 06.09.1896 - gest. 25. 04.1969 Ilse Heymann-Barth, geb. 27. 03. 1912 - gest.22.02. 1986

Johannes

Ilse

Jo Voss

Elli

vom Kellner halb verdeckt Jo Voss (früher im Berliner Spieler - Kreis unser „Faust“, (der zweite). Später Priester in Weimar. Rechts von ihm Elli Voss-Hennicke, gest. Februar 1975 in Stuttgart Carl – Unger – Klinik

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Lic. Emil Bock am Baum Pfingsten 1933 Jugend – Tagung der Christengemeinschaft in Grossen Heidorn bei Hannover

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ATELIER

JOHANNES HEYMANNMATHWICH

11. XI: 33

BERLIN NW: KARLSTR. 23 Alte Adresse: BERLIN LICHTERFELDE 1 Feldstr.22

Meine liebe verehrte Frau Fackler! Nun ist das keltische Weihnachtspiel doch noch fertig geworden. So sollen Sie es dann auch sofort haben. Vielleicht macht es Ihnen Freude. Dieses Spiel stammt aus einer Welt, die ich seit Jahren in der Seele trage und Sie entsinnen sich gewiss noch unserer ersten Gespräche. Außerdem habe ich noch das Heliand – Evangelium, neuntes Jahrhundert, als Hirten - und Dreikönigsspiel eingerichtet. Der Heliand hat mich tief beglückt; insbesondere auch die Übertragung des K. Simrock . Wenn es Sie interessiert und sobald die Vervielfältigung fortgeschritten ist, sollen Sie ein Exemplar haben. Mit meinem Spielerkreis spiele ich das Weihnachtspiel des Heliand - Christie am 17. Dezember zum ersten Mal. So stehe ich wieder inmitten schönster Weihnachtsarbeit, wenn sich auch das Soziale meiner Lage im Augenblick in ärgstem Zustande befindet. Aber ich darf vertrauensvoll in die Zukunft schauen, denn die Priester sind bemüht, die Dinge zu ordnen. In der Hoffnung, dass es Ihnen gut geht, trotz gewiss reichlicher Arbeit bin ich mit herzlichsten Grüßen Ihr Johannes Heymann Mathwich Herzliche Grüße dem verehrten Herrn Fackler und Hanne

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Rudolf Heymann als Sohn hat diesen Vorgang nicht gekannt und ihn erst in dem Nachlass der Mutter, Ilse Heymann, gefunden. Die mit Bleistift gemachten Ergänzungen stammen von Ilse Heymann. Laut Gericht war Johannes Heymann von seiner Frau Ursula Heymann, geb. Dion, am 2. Dez. 1932 geschieden worden.

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1935 Weihnachten Akademische Musik Hochschule Berlin-Charlottenburg Dir, meine geliebte Tante Hanning, von meinem ersten Auftreten als „Sängerin“, ein kleines – Abbild – mit den innigsten Weihnachtsgrüßen deine Ilse –Großnichte (das Ännchen). (steht hinten auf dem Bild drauf)

Ännchen

1977, Anmerkung: nach der Ännchen – Arie bekam ich starken Szeneapplaus! Ich stand vor Überraschung starr da, verbeugte mich nicht ! ! ! 1934 oder 35 akademische – Musik – Hochschule Berlin- Charlottenburg Fasanenstraße 1

(Handschriftliche Anmerkungen auf der Rückseite des Bildes von Ilse Heymann geb. Barth mit Bleistift).

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Für Ilse Maria. Traue Du dem heil’gen Walten wie die Engel es gestalten, hebe auf zum Göttermahle Deinen Leib als Gralesschale, und es pilgert durch Dein Blut gleichend Deine Schicksalsflut CHRISTUS mit dem Geistesmut Dein Johannes ( Am Donnerstag, den fünfundzwanzigsten, angekommen einen Tag vor meiner Prüfung für die Oberklasse. Notiz auf der Rückseite des kleinen Kärtchens mit dem Text von Johannes Heymann für Ilse Barth - ) ----------------------------------------------------------------------------------------------------Noch ein zweites Bild

Von meinem ersten Erfolg in der Hochschule ein kleines“ Abbild“ mit herzlichsten Weihnachtsgrüßen Ihre Ilse Barth.1935 (Steht hinten darauf).

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1936

Externsteine:

Ausflug

Johannes vor den Externsteinen. Verlobt waren wir und hatten von Osnabrück aus einem Ausflug dahin gemacht. Ich knipste ihn.

Aufgenommen von mir um 1936/37, Osnabrück Theaterzeit. Wir waren zu den Extern – steinen gefahren, Johannes und ich. (12.11.1984 finden sich diese beiden Bemerkungen hinten auf dem vervielfältigten Fotos von Johannes Heymann Mathwich)

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ERFURT KARTE VOM 26. 04. 1937

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1937

Eheschließung

14. Mai 1937

Oberspielleiter Hans Heymann wohnhaft in Berlin Opernsängerin Ilse Barth wohnhaft in Osnabrück

Hochzeitsbild 1937

Urlaub am Bodensee 1964 !

Urlaub Chur nach Drusilla Aufführung

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1937 (Vorderseite)

18.10.1937 Auf der Rückfahrt im Zuge Ein Mensch auf Erden ist mir gut. Und immer wieder darf ich kommen, Und nie hab ich zuviel genommen, So unerschöpflich ist sein Lebensmut.

Ein Mensch im Leben hat mich lieb. Und ringt um meine Sucherseele, Wie oft ich auch den Weg verfehle, Er adelt meines Geistes Trieb.

Der Mensch ist meinem Streben treu Und heiligt täglich unser Leben, Dass wir dem Tod uns nicht ergeben Uns wandeln, Tag um Tag aufs neu

Auf der Rückfahrt im Zuge 18.10.1937

(Rückseite)

Einziges, einziges geliebtes Wesen, so gedenke ich Deiner auf der Rückfahrt, O wie viele Gedanken - dankbare Gedanken für Dein Gut – Sein ! Nun sitzt Du wohl andächtig im Kreise und lauschest den Offenbarungen Des Doktors. Mögest Du mich einschließen in dieses Hören. Aus dankbarem Herzen küsst Dich Dein Johannes.

Dieses Kärtchen habe ich Dir entwendet, und die Marken abgelöst von der Verlobungs - Danksage -?

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1939/40 Eingezogen als Soldat In der Nähe von Berlin, neu war Johannes eingezogen als Soldat, 1939/40. Michael war wohl ein halbes Jahr alt, oder ¾. Mit ihm war ich beim Vater.

Der Fotograf Leisegang knipste uns. Ihn und Johannes verband eine gute Soldatenfreundschaft.

(12.11.1984 vergrößern lassen von Ilse Heymann – Barth)

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↑ Johannes Heymann Mathwich

Gastspiel Hirschberg 11.Okt. 1941 mit „Der Schatz des Rhampsinit“

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“Die Torgauer Heide“ von Horst Zittau Aus der Arbeit mit Gehörlosen und Blinden während des II. Weltkrieges 1942 Johanne Heymann Mathwich als Friedrich der II. 78

25.5.1943 Wildau Johannes Heymann Mathwich Wildau, den 25.Mai 1941 Meine innigstgeliebte Is ! Heute, Dienstag, den 25.5. kam Deine Brief karte an vom 21.5. Es gibt für mich kein größeres Glück; als den Menschen, den ich von ganzem Herzen liebe so glücklich zu wissen, wie es aus Deinen wenigen Zeilen herausleuchtet. Wie lange habe ich den Wunsch im Herzen getragen, Dich so froh im Leben zu wissen. O, wie gut weiß ich, was Deiner Seele Not und was Dir gut tut. Nun hat uns das gütige Schicksal mit dieser Erfüllung beschenkt. Wenn hier bei uns auch der Alltag weiterging, so überstrahlt Deine Freude doch auch die ganze Familie. Möge Dir diese Freude auch weiterhin treu bleiben.

. (Ilse Heymann – Barth auf Tournee 1943 Südküste Frankreich Truppenbetreuung )

Zwei ausführliche Briefe habe ich bereits an Dich abgesandt. Ob diese Dich erreichen. Ich glaubte die F. Nr. 05685, wie auf dem Umschlag der Karte aus Paris stand, wäre schon Deine Nr. und sandte dahin meinen ersten ausführlichen Brief. Dann erfuhr ich die zweite F. Nr. 79

37532 durch Irmingards Anruf und sandte gestern den zweiten Brief unter dieser Nr. an dich ab. Im ersten Brief hatte ich Dir noch unser kleines Bildchen der beiden Jungen beigelegt. Nun will ich kurz noch einmal wiederholen. Uns allen hier geht es sehr gut. Unser gütiger Hausgeist, die Elisabeth ist nicht nur eine Perle sondern eine Glanz – Perle. Sie bedenkt mich mit der größten Aufmerksamkeit, Du bist ihr großes Vorbild und alles muss so gut gehen, wie sie es von Dir gesehen hat. Ja, am Sonntag hat sie mich heimlich sogar mit einem Kuchen überrascht. Trotz der geringen Marken der letzten Woche der Marken – Periode, zaubert sie alles Mögliche auf den Tisch. Heute gibt es mein Leibgericht: Bouletten, Rührkartoffeln und grünen Salat. Es klingt, als wäre ich unter die Materialisten gegangen, aber es interessiert Dich doch gewiss, was so in der Hauswirtschaft geschieht. Ich kümmere mich um gar nichts. Sie macht alles still, schweigend und pünktlich. Habe auch gar keine Zeit. Muss täglich viel

unterwegs sein. Am 30. 5. ist die Molière Premiere und diese ganze Woche sind die vier „Bieberpelz – Aufführungen“ und Sonntag Generalprobe und Aufführung. Dann kann ich wieder Atem schöpfen. Unsere Jungen sind gesund. Rudolf Georg ist kerngesund. Dr. Maumann meinte: ein richtiges Landkind. Alles was er hat kam vom Zahnen. 80

Er entwickelt sich von Tag zu Tag prächtig und Michael Johannes geht es auch gut bei Tante Motte. Ich telefoniere immer mit ihm. Sein großes Ereignis ist, dass er sich die Haare schneiden ließ. Alles bekommt pünktlich seine Medizin. Mir kommt trotz allem alles sehr einsam vor und ich freue mich sehr, wenn Du wieder da bist. Was wirst Du uns allen zu erzählen haben! – Soviel ich hörte, will Berta auf mehrere Tage fortfahren und das ist gut, denn Tante Motte und Oming wollen auch auf fünf Tage nach Demmin fahren, dann holen wir am Donnerstag den Michael wieder nachhause und während dieser Zeit ist auch wohl Berta mit den Kindern fort. Lass es Dir weiter von Herzen gut gehen. Damit Du siehst, was ich mache, so lege ich Dir einen Voranzeige – Zettel bei. Von ganzem Herzen umarme ich Dich und Deine Jungen und ich küssen Dich, Ihre geliebte Mutti. Johannes Elisabeth und ihre Mutter lassen Dich herzlich grüßen. Herzliche grüße an Irmingard und Frau Lintrodt u. Herrn Mees.

(Trotz Verwundung im 1. Weltkrieg noch einmal eingezogen)

17. Juni 1944 an Tante Inge

Esens Ostfriesland

(Ingeborg Heldberg)

Meine liebe Inge ! So langsam komme ich wieder zur Besinnung und ein wenig zur Ruhe, wenn man im Soldatenleben von Ruhe sprechen kann. Denn wir liegen immer in Bereitschaft und jeden Augenblick kann sich unser Dasein verändern. Mit großer Dankbarkeits – Empfindung denke ich an den Uraufführungstag der „Chidori“ zurück und danke dem Schicksal, dem gütigen, dass es mir noch diesen Tag geschenkt hat. Ganz besonders danke ich auch Dir für Deinen aufopferungsvollen Einsatz. Und wie Du wieder Dein Können in den Dienst meiner Spiele gestellt hast. Du hast vor einem Jahrzehnt zur Geburt geholfen, und nun

warst Du wieder dabei. Immer

unentwegt! Ich weiß, welches

Opfer Du gebracht hast, nicht zur

Hochzeit von Werner fahren

zu können, aber was will man tun

gegen diese Schicksal –

Konstellationen mit ihren

Überschneidungen. – Wie es mit der Zukunft

steht, hast du gewiss schon von

Ilse erfahren. Sonst besuchst

Du sie gewiss einmal. Heute noch

müsste das Buch eintreffen,

indem ich die Kürzungen

einzeichne. Dann würde ich dies Buch

schon morgen wieder

zurücksenden, damit ihr recht bald in den Besitz der Kürzungen gelangt. Denn es könnte ja möglich sein, trotz der „Invasion“, dass das O. K. M. uns zur Aufführung nach Kühlungsborn a. d. Ostsee einladet, wie es bereits geplant ist. Aber wie gesagt, noch ? ? Aber bereit sein ist alles. Ich sehe noch immer getrost in die Zukunft. Ilse hat schon unmöglich scheinendes vollbracht, da kann der Himmel gewiss noch mehr. Diese Uraufführung bedeutet in meinem Leben die größte Erfüllung. Dass ich damit noch beschenkt wurde. So kann ich nur Dankbarkeit in meinem Herzen bewegen und besonders auch Dir gegenüber, die wieder mit zur Verwirklichung half. So empfange die herzlichsten Grüße mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen Dein Johannes. Herzliche Grüße an Wollmann und Irmingard.

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7.November 44 Cuxhaven

Johannes Heymann Mathwich

Meine liebe Inge, von Ilse habe ich immer von Dir erfahren, wie es Dir geht und auch Deine Karte erhalten. Seit zwei Monaten musste ich mich aber doch in meine neue Welt hinein finden und das Gespenster – Geflügel studieren wie es in der Apokalypse Kap. 9 für unser Zeitalter beschrieben wird, die Heuschrecken, die die Erde kahl fressen. Nach bestandenen Prüfungen bin ich nun Ausbildungslehrer im Flugzeug – Erkennungs – Dienst. Gelt, was aus einem Menschen alles werden kann. Wenigstens habe ich wieder eine Art „geistigen“ Beruf. Ich lebe in Klassenzimmern und das ist angenehm für den Winter. Außerdem habe ich die Möglichkeit an meinen künstlerischen Zielen weiter zu arbeiten. Augenblicklich lebe ich in den Vorarbeiten zu meiner “Dulcinea“,und versuche die geistige Welt und Umwelt eines “Don Quixote“zu durchleuchten. Warum wurde er ein “irrender Ritter“ von der traurigen Gestalt. Wer hat den Mut sich im Kampf für seine Ideale “lächerlich“ zu machen. Wer kämpfte gegen die Verzauberung in dieser Erde – und doch immer das Bild der geliebten, verehrten Dulcinea vor dem geistigen Auge. Niemand kann dieses Bild zerstören- und wenn sich alle Welt tot lachen- Don Quixote kämpft mit tödlichem Ernst. Kennst du den Don Quixote ? ? ? Ja, meine liebe Inge und getreue Kampfgenossin – es wird weiter gekämpft. Dulcinea gehört zur Trilogie: “Beatrice“ - “Dulcinea“ - “Kondwiramur“. Auch die anderen beiden Dramen müssen Fertigwerden, “Kondwiramur“. – Wenn Du einmal eine Dante – Biografie auftreiben könntest, so wäre ich Dir sehr dankbar. Auch über “Don Juan“ hätte ich gern noch manches erfahren. Insbesondere die Legende im Volk. Byron hat auch einen Don Juan geschrieben, den ich nicht kenne. Jan von Lenau habe ich gerade gelesen. – Ja, liebe Inge, nun bin ich schon ganz in meine Arbeit hineingeraten.- was sagst du zu unserer Umstellung des Haushaltes? Nun wir sind gezwungen worden. Immer wieder gilt der alte Ruf: “Ich hab mein Sach auf nicht’s gestellt –besser auf Gott gestellt.“ Wir haben aber dadurch die Freude, in dieser schweren Zeit uns zu sehen. Unser Familienfest in Cuxhaven war ein Gnadengeschenk. Ich danke überhaupt täglich für die Gnade, dass es mir so gut geht in tiefster Achtung vor den schrecklichen Schicksalen in dieser Zeit. Wir müssen die Prüfung bestehen. Mit herzlichsten Grüßen und den besten Wünschen für die Zukunft Dein Johannes

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27.November 1944

Cuxhaven

Feldpostbrief An: Frau Maria Schlesselmann (23) in Godenstedt Haus 1 bei Zeven über Bremervörde Absender: M.f.Maat Heymann 2.F.E.D. Ausbildungsstelle Deutsche Bucht-Cuxhaven (24) -----------------------------------------------------Cuxhaven 27. November 1944 Die „gode Stätte“ Auf einer „goden Stätte“, da steht ein Sachsenhaus. – Ach, wenn ich Flügel hätte, so flög` ich dort hinaus. Denn dort hält mir geborgen der Stätte Königin zum schönsten Sonnenmorgen des Lebens tiefsten Sinn. Den Schatz, mein Glück zum Leben hält sie getreu verwahrt und dankbar ihr ergeben verehr ich ihre Art. Mein Schatz ist meine Fraue, die Kinder sind mein Glück. Dass ich sie wieder schaue, wann kehr ich wohl zurück? – Drum mag dein Reich bewahren, du gute Königin, mit seinen Engelscharen der Gottheit Schicksalssinn. Bleib eine „gode Stätte“ du schönes Sachsenhaus. Ach, wenn ich Flügel hätte, so flög` ich dort hinaus.

In tiefster Dankbarkeit 84

Johannes Heymann Mathwich

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13. Sept. 1945 Marie Katharine Schlesselmann Zum 13. September 1945

Liebe verehrte Frau S c h l e s s e l m a n n !

Es ist vorgesehen mein Dramatisches Spiel

“DIE FRAGE DES PILATUS“ in Buchform erscheinen zu lassen und im Bewusstsein unserer Schicksalsgemeinschaft möchte ich Ihnen mein Werk in Dankbarkeit widmen und diese Widmung dem gedruckten Buche zum Geleit mit auf den Weg geben:

MARIE KATHERINE SCHLESSELMANN zugeeignet GODENSTEDT IM JAHRE 1945

Als dieses Werk ich heimgebracht, wie es geworden in der Not wie es entstieg der Schicksalsnacht als meiner Zukunft Lebensbrot, du decktest täglich ihm den Tisch dein schützend Haus ließ es gedeihn, für ihn, dem heilig ist der Fisch soll dieses Werk gelebt jetzt sein. Erkraftet durch des Schicksals Leid. Erwarmet durch der Liebe Kleid. Gesegnet durch die Not der Zeit. Im Namen dessen der da ist. Im Zeichen dessen, der der Christ. Auf dass wir leben, das ER ist. Johannes Heymann Mathwich 86

20. 11. 2007

Marga Kunze

Stuttgart

geb. Schlesselmann 70599 Stuttgart Karl- Eugen –Weg 4

Lieber Rudolf! In Dornach hast Du Wiltrud getroffen und wohl den Wunsch geäußert, etwas über die Godenstedter Zeit nach dem Kriege zu erfahren. Ja, was weiß ich noch von damals, schließlich bin ich zwei Jahre älter als Wiltrud, aber sie war die Strebsamere! Als ich den Nachlass meiner Mutter sichtete, fand ich viele Briefe von Tante Ilse, die liebevoll aufbewahrt worden waren, weil meine Mutter bis zuletzt von diesem Schatz zehrte. – Nun ist dieser Schatz in Deine Hände gekommen und aufgearbeitet worden, darüber freue ich mich sehr. Ich erlebte die Kriegsjahre als eine „spannende“ Zeit, die große Veränderungen mit sich brachte, weil viele Menschen zusammen strömten und in Godenstedt wie auf einer Insel landeten. Unser Haus war voller Menschen, Evakuierte, Flüchtlinge und Hiesige, das waren wir! Mütter und Kinder bildeten eine Überlebensgemeinschaft, die Väter kamen sehr viel später dazu, wenn ihre Gefangenschaft zu Ende war. So kämpften die Mütter für ihre Kinder um das tägliche Brot, um Kleidung und um ein Dach über dem Kopf. In unserm Haus fanden Heymanns Platz, Tante Ilse mit ihren Kindern Michael und Rudolf, evakuiert aus Berlin. Es müsste im Jahr 1944 gewesen sein. Familie Gehlmann war von Ostpreußen mit einem Treck im Januar 1945 angekommen. Die Pferde wurden zur Arbeit eingesetzt und erhielten dafür ihr Futter, sie hatten wohl mehr Raum im Stall als die Menschen im Haus. – Jede Familie bewohnte ein Zimmer, in dem gekocht, gelebt und

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geschlafen wurde. Diese Notgemeinschaften wurden zu Überlebensgemeinschaften und in unserm Haus zu einer Bildungsgemeinschaft! – In unserm Haus stand ein Klavier, das einige Künstler anlockte, denn im Dorf waren viele interessante Menschen angekommen. Oft waren es Familienangehörige von den Ärzten, die im Lager Seedorf ihren Militärdienst ableisteten, also Soldaten waren. Dr. Bubenzer und Dr. Pepe hatten ihre Frauen und Kindern in Sicherheit und in die Nähe geholt, denn in den Städten waren die Menschen nicht mehr sicher. Auf dem Lande gab es außerdem genügend zu essen. Dieser bunt zusammengewürfelte Menschenkreis wurde für eine kurze Zeit zu einer Schicksalsgemeinschaft. Es entwickelten sich Freundschaften fürs Leben. Ganz besonders innig war das Band zwischen meiner Mutter und Tante Ilse. Die Fragen nach der Anthroposophie beschäftigten meine Mutter sehr und Tante Ilse hatte Bücher von Rudolf Steiner in ihrem Koffer aus Berlin gerettet, die nun in Godenstedt als Saat aufgingen. Familie Rieckoff aus Zeven gehörte auch zu diesem Freundeskreis. Als 1945 der Krieg zu Ende war und der Freiraum zum Leben neu gestaltet werden konnte, gab es in unserem Hause einen Liederabend mit Frau Pepe. Sie war eine Sängerin, die in Berlin studiert hatte und Tante Ilse aus der Studienzeit kannte. Ilse Barth muss eine begnadete Sängerin gewesen sein, so erzählte sie, alle wollten sie hören. Wir erlebten Rezitationsabende, Märchen spielen wurden geprobt und dann das Weihnachtsspiel 1945: Das Wahlnachtsspiel, mit allen Kindern des Dorfes, war in der dunklen Zeit ein besonders lichtvolles Ereignis, das von Tante Ilse gestaltet wurde. Es innert mich sehr an das gekürzte “Oberufer Weihnachtspiel“, das Karl Schubert für die Seelenpflegebedürftigen Menschen geschrieben hat. Alle Buben sind Hirten alle Mädchen

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sind Engel. Vielleicht gab es damals für Heymanns diese Vorlage? Jedenfalls war es ein helles Licht in der dunklen Zeit, an dem sich alle Menschen wärmten. Tante Ilse hatte eine große Begabung für jedes Kind die richtige Rolle zu finden. So fragte sie mich, ob ich wohl ein Kind spielen wolle, dass singend an der Krippe knien solle. – Eigentlich hätte ich auch gerne zu den Engeln gehört; aber sie überzeugte mich zu dieser Solo – Singrolle, denn sonst hätte ich nur zu den himmlischen Heerscharen gehört. so wurde dich mit einem trachten Kreuzchen und Rock ausstaffiert, hatte noch je zwei kleinere Kinder an meiner Hand und sang wohl „engelsgleich“, nämlich eine Oktave zu hoch, mein Lied: 3 Verse

Du lieber heiliger frommer Christ der zu uns Kinder kommen ist, dann ist auf Erden weit und breit bei allen Kindern frohe Zeit. Du Licht vom lieben Gott gesandt in unser dunkles Erdenland, du Himmelskind und Himmelsschein damit wir sollen selig sein. O segne mich ich bin noch klein O mache mir das Herze rein! O bade mir die Seele hell in deinem reichen Himmels Welt. Ernst Moritz Arndt

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Tante Ilse hatte jedem Kind die Rolle auf den Leib geschrieben. Eine wunderbare Maria mit rotem Gewand und blauem Umhang, dann ein Joseph, der ein Stotterer war, aber Tante Ilse wusste, dass beim Singen das stottern überwunden wird. Der Verkündigungsengel war besonders schön in seinem weißen Gewand mit großen Flügeln und dem goldenen Stirnreif. Er sang: „Vom Himmel hoch da komm ich her…“ Dann kamen alle, die Menge der himmlischen Heerscharen. Es wuselte von Engeln, alle in weiße Betttücher gehüllt, gehalten mit goldenen Bändern. Sie sangen: „Vom Himmel hoch o Englein kommt eia eia “… Woher hatte Tante Ilse die goldenen Bänder und Haarreife? Sie muss unendlich viel Arbeit und Mühe damit gehabt haben. Außerdem leitete sie die Chorprobe und hatte noch zwei kleine Kinder, die auch versorgt sein wollten. – Einmal brummte es so merkwürdig bei einer Chorprobe – schließlich entpuppte sich der Brummer als der kleine Rudolf, dem es langweilig geworden war. Alle großen Buben waren Hirten und lagen schlafend am Boden, bis der Engel sie wachgesungen hatte. Der große Hirte trug eine Felljacke, die gewendet war, damit das Fell zu sehen war. Er sang: „Treibt zusammen, treibt zusammen die Schäflein fürbass…..“ Mit seinen Armen griff er danach und schauspielerte so einmalig, dass man die Schafe förmlich vor sich sah. es war eine segensreiche Zeit! Das ganze Dorf nahm daran teil, die Flüchtlinge, die Evakuierten und die Hiesigen. Alle waren zu einer Lebensgemeinschaft zusammengewachsen. sogar die Engländer, die uns mit den LKWs nach Zeven fuhren, gehörten dazu. In der St. Viti Kirche wurde das Weihnachtsspiel zum großen Ereignis! Die englische Besatzungsmacht, die im Lager Seedorf ihre Kommandantur eingerichtet hatte und die „Behörde“ für alle Entscheidungen war, wurde von zwei Englisch sprechenden Frauen angesprochen, ob sie die Genehmigung für die Fahrten geben würden.

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Dabei muss Tante Ilse sehr großen Eindruck auf die Herren gemacht haben, denn man stellte drei Laster (Militärfahrzeuge) zur Verfügung und unterstützte damit die Möglichkeit das Weihnachtsspiel in Zeven aufzuführen. Da in Godenstedt die Ostebrücke kurz vor Kriegsende von deutschen Soldaten gesprengt worden war, fuhren zwei Fahrzeuge von der einen Ortsseite, der dritte Laster von der anderen Seite. Für uns Kinder war es ein besonderes Ereignis, wir fühlten: Hier geschieht etwas Außergewöhnliches. In der Erinnerung verklärt sich alles, aber die Verklärung wird zur Realität – man zehrt ein Leben lang davon. Ich erinnere mich an eine Märchenprobe, die mit Künstlern stattfand: „Das Marien Kind“! Die Schauspielerin sollte Finger in die verbotene Tür halten. Sie musste es oft wiederholen, bis Tante Ilse zufrieden war und ich sah wirklich das Gold am Finger. Liederabende und Lesungen fanden bei uns im Hause statt. Leider mussten wir Kinder oft vorher ins Bett, damit wir nicht störten. Nur Meike hielt sich nicht an diese Vereinbarungen. sind Genossen ihre Sonderrolle, sehr zu unserem Leidwesen. Heute weiß sie davon nichts mehr. Im Jahre 1959 war meine Mutter zu Besuch in Stuttgart und traf sich bei uns mit Tante Ilse. Damals muss Emil Bock gestorben sein, denn ich sehe den Raum vor mir, indem der Verstorbene aufgebahrt war, umgeben von weißen Rosen. – Tante Ilse konnte mit ihrer Sprache Bilder malen, die tief im Innern wirken. Ihre Handschrift liebte ich! Ihre Briefe an Mutti waren gemalte Bilder: liebe Diese „

mimi !

m “ habe ich in meiner Handschrift übernommen. Ob ich auch das „ € “ übernahm,

kann ich nicht mehr sagen. Beim Schreiben dieser Zeilen ist mir dieses bewusst geworden.

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Lieber Rudolf, damit habe ich mich an eine „ hohe Zeit “ erinnert, die für mein Leben sehr fruchtbar war. Ich bin dankbar, dass ich so reich beschenkt worden bin, auch von den Heymanns. Liebe grüße! Herzlichst Deine Marga

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1946 Lebensbeschreibung

Bremen, den 2.1.1946

(Diese Lebensbeschreibung gehörte zu dem Entnazifizierungsantrag)

1. Persönliche Daten. Als Sohn des königlich. Polizeibeamten Wilhelm Heymann und seiner Ehefrau Hedwig, geb. Mathwich wurde ich am 6. September 1896 zu Berlin geboren. Nach dem Besuch der Evgl. Lehrerbildungsanstalten zu Berlin und Anklam bis zum Jahre 1913 studierte ich auf der „Reicher’schen Hochschule für dramatische Kunst“ in Berlin und erhielt das Reifezeugnis zur Ausübung der Bühnentätigkeit als Schauspieler, Regisseur und Sprachgestaltungslehrer. In den Bekenntnis der Evgl. Landeskirche wurde ich erzogen und konfirmiert. In Herbst 1915 wurde ich zur Wehrmacht eingezogen. Nach meiner Verwundung im Jahre 1916 wieder entlassen. 1940 wurde ich zu den Landesschützen einberufen und aufgrund meines Alters nach einem halben Jahr wieder entlassen, 1944 aber wieder einberufen zur Marine als M. A. – Maat bis zu meiner Entlassung am 10 August 1945. 2. Berufliche Entwicklung. Ab 1916 war ich tätig als Schauspieler und Regisseur am Kurtheater Bad Warmbrunn, Neues Stadttheater Stralsund, Kurtheater Bad Nenndorf, Lobe – und Thaliatheater in Breslau, Kurtheater Bad Homburg v. d. H., Städtebundtheater Lübeck, Großes Schauspielhaus und Deutsches Theater Berlin; als Oberregisseur und Dramaturg am Stadttheater Eisenach, Stadttheater Stralsund, zuletzt freiberuflich tätig in Berlin als Regisseur und Sprachgestaltungslehrer. Bis 1933 führte ich den „Faust Kreis“, eine freie Arbeitsgemeinschaft Berliner Studenten zur Pflege goethischer Weltanschauung und mit dem Jahr 1931 musste ich auch die Gastspieltätigkeit meiner Heymann – Mathwich - Spiele einstellen, die sich mit Aufführungen, wie: „Die Enthauptung des Johannes“, „Die Auferweckung des Lazarus“, die Pflege einer 93

christlichen Weltanschauung zur Aufgabe gemacht hatte. Nach 1933 war ich nie mehr an einer offiziellen Bühne tätig, und nach anfänglichen Zusammenstößen mit Nationalsozialisten, sie wollten mir einen SA.- Posten vor die Tür stellen, beschränkte ich mich fast ausschließlich auf die Pflege des Laienspiels im Rahmen der „Christengemeinschaft“ , bis auch diese verboten wurde. Im Reichsbund für Volksbühnenspiele, und im Reichsbund für Körperbehinderte arbeitete ich künstlerisch mit Blinden und Gehörlosen, inszenierte Heimat spiele in Jüterborg und Trebbin und Aufführungen in plattdeutscher Mundart in der „Niederdeutschen Bühne (Waller Speeldeel)“ in Bremen. Durch diese eingeschränkte künstlerische Tätigkeit geriet ich oft in wirtschaftliche Not, so dass ich genötigt war, auch noch in einem bürgerlichen Beruf mein Brot zu verdienen als Sachbearbeiter in einer Tabakpreiserrechnungsstelle und der Fachgruppe Feindpappe. 3. Politische Entwicklung Politisch habe ich mich nie betätigt und war nie Mitglied der NSDAP. Die Grundlagen meiner Weltanschauung erarbeitete ich mir in der Bewegung für religiöse Erneuerung „Die Christengemeinschaft“, Stuttgart, der ich seit 1926 angehöre, für die ich auch aktiv eingetreten bin, bis sie von der NSDAP verboten wurde und in der “Anthroposophische Gesellschaft“ in Dornach/Schweiz, die auch von der NSDAP verboten wurde. In Buchform sind von mir erschienen im Verlag Continent, Berlin – Friedenau, wahrscheinlich im Jahre 1927 „Mose“ Tragödie der Erlösung eines Volkes „Magdalena“ ein Passionsspiel der Liebe Im Verlag der märkischen Buchhandlung in Luckenwalde im Jahre 1938 „Das Kurmärkische Narrenspiel“

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Hans Clauerts des märkischen und anderen Eulenspiegels wahre und lustige Geschichten. Aufsätze zum Thema Laienspieler in der „Volksbühnenwarte“ des Reichsbundes für Volksbühnenspiele, Berlin – Schöneberg. Aufsatz: Deutscher Dichtung Kampf ums Christentum. – Neue Wege zum religiösen Laienspiel in der Zeitschrift: „Die Christengemeinschaft“, Stuttgart. 4. Zukunftspläne. Für die Zukunft ist mir zunächst als Aufgabe gestellt, die künstlerische Pflege des Niederdeutschen Mundartstückes, wie es in den Aufführungen der Niederdeutschen Bühne der Freien Hansestadt Bremen (Waller – Speeldeel) zur Darstellung gelangt und im Rahmen meiner Heymann – Mathwich – Bühne die Pflege einer freien religiösen christlichen Weltanschauung, wie sie in meinen eigenen dramatischen Werken, z. B.: „ Die Frage des Pilatus“ „Die Enthauptung des Johannes“ „Die Auferweckung des Lazarus“ „Dulcinea“ Traumspiel von dem letzten Abenteuer Don Quichottes gestaltet ist und in künstlerischen Aufführungen ihre Durchführung findet.

Bremen, den 2. Januar 1946

Johannes Heymann Mathwich

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9. Jan. 1946

Godenstedt, Haus Nr. 1 über Zeven (Bez. Bremen) Telefon Zeven 404

Johannes Heymann Mathwich

Unsere liebe Inge! Zwei Karten haben wir schon von Dir erhalten, vom 22.10. und vom 12. 11. und wir waren beglückt, Dich sowohl bewahrt zu wissen und zugleich hattest Du auch von meiner Schwester erfahren, wie es uns ergangen ist. Diese Zeilen sollten schon Weihnachten in Deinen Händen sein, aber es kam anders. Im Dezember hatte ich sehr viel Berufliches in Bremen zu tun. Allein die Fahrt nach Bremen nimmt unter den heutigen Umständen den ganzen Tag in Anspruch. Dazu kommt, dass ich noch immer circa 6 km, also sechs viertel Stunden zu Fuß gehen muss nach dem Bahnhof Zeven. Am 10. August wurde ich entlassen, und bis Ende August habe ich noch hier auf dem Hof gearbeitet, was mich gesundheitlich noch sehr mitgenommen hat. Dann kam der Aufbau der „Niederdeutschen Bühne "und zugleich der Aufbau meiner „HEYMANN-MATHWICH-BÜHNE“. Was in dieser Beziehung unter heutigen Umständen an Arbeit zu leisten war, wirst Du gewiss ermessen. Dies soll aber keine Jeremiade sein. Im Gegenteil! Unser Herz ist von tiefer Dankbarkeit erfüllt für die gnadenvolle Lenkung der geistigen Führung. Und besonders dankbar sind wir auch, dass in unserem ganzen Verwandtenkreise bisher kein großes Unglück zu beklagen ist. Wir sind in diesen Schicksalstagen von sehr lieben Menschen umgeben, sonst wäre ein Aufbau, z.B. meiner eigenen Bühne gar nicht möglich. Als ich ankam hatte ich nichts, als was ich auf der dem Leibe trug. Dann erhielt ich von dem Pfarrer in Worpswede, der sich für meine Arbeit und Spiele interessierte nicht nur die Kirche zur Aufführung zur Verfügung gestellt, sondern auch einen Anzug. Und in dieser Art kam manches zusammen. 96

Besonders viel verdanke ich unserer Bäuerin, bei der wir wohnen, die mit größtem Interesse unsern Aufbau in jeder Beziehung fördert und einem Förster Rieckhof in Zeven. O!, wenn wir miteinander erzählen könnten, da würden Stunden nicht reichen. Meine liebe Isfrau schuf die gesamte Ausstattung unseres Theaters, alle Kostüme, von den Römer-Sandalen bis zur Kopfbedeckung. Die Bespannung der Kulissen-Rahmen musste genäht und gefärbt werden. Ich kann sagen, wir haben beide in ärgster Überanstrengung geschafft. Aber wir haben es geschafft. Erschöpft, aber siegesbewusst erlebten wir Advent. Aber trotzdem wir sehr abgekämpft waren, konnten wir es nicht unterlassen, noch ein Weihnachts-Krippenspiel, dass ich nach Weihnachtsliedern zusammenstellte, mit vierzig Flüchtlingskindern aufzuführen am vierten Advent in einem Stall in Godenstedt. Zum Sonntag nach Weihnachten holte man uns in die Kirche nach Zeven und zwei britische Autos übernahmen zur Freude der Kinder die Beförderung. So hast Du einen kleinen Einblick in unseren Tagesablauf. - Was aber machst du? Bist Du in Deiner gewohnten Tätigkeit? Was ist mit Dullos? Auch von Ali habe ich noch keine Nachricht. Wir hörten auch noch nichts von Ossi und Motte. Hoffentlich hören wir bald wieder von Dir.

Mit den herzlichsten Grüßen und den besten Wünschen für ein gesegnetes neues Jahr.

Dein Johannes und Ilse

Heute erhielt ich einen lieben Gruß von Emil Bock. In Bremen gaben wir vier Gastspiele. 97

26. September 1946 Garnisonskirche Cuxhaven Der evangelische Marinepfarrer Cuxhaven Marineoberpfarrer Pötzsch

Cuxhaven, am 26. September 1946 Garnisonskirche

An drei aufeinander folgenden Abenden. am 23., 24. und 25.September 1946, hat die Künstlerschar der Heymann – Mathwich – Bühne das Pilatus Spiel „Was ist Wahrheit?“ in der Garnisonskirche Cuxhaven zur Darstellung gebracht und damit der Gemeinde ein ungewöhnlich starkes religiöses und künstlerisches Erlebnis bereitet. Die Dichtung HeymannMatwichs, aus ernster, intensiver, langer Auseinandersetzung mit der Daseinsproblematik und aus dem Ringen um die Christusoffenbarung, ihre Aktualität und ihre Aktualisierung, geboren, ist zur echten biblischen Verkündigung durchgedrungen. Das ist das Entscheidende an diesem Spiel: es verkündet Jesus Christus, den Herrn des Lebens in der Welt des Todes, und darum darf diesem Spiel, wie einst den kultischen, gottesdienstlichen Spielen des christlichen Mittelalters, der Kirchenraum gehören. Ja, das Spiel, das hier ebenbürtig neben die Wortverkündigung und die Kirchenmusik tritt, vermag ganz neue Wege des Verständnisses zu eröffnen und den entfremdeten und fragenden Menschen neu dem Ereignis „Christus“ zu konfrontieren und zum Aufhorchen und zum Hören zu bringen. Das Spiel, edel in der Sprache, reich an bedeutsamen und einprägsamen Formulierungen, zuchtvoll in Handlung und Gebärde, zwingt durch die dramatische Spannung, die seiner Rede innewohnt und in meisterlicher Darstellung zum Ausdruck kommt, die hörende und schauenden Gemeinde so in seinen Bann, dass sie, die Gemeinde, in schier atemloser Gespanntheit der mehr als zweistündigen Darbietung folgt. Tief beeindruckt, vielleicht

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erschüttert, geht jeder aus dem Gotteshaus hinweg, nun selbst in die unausweichliche Problematik des Daseins geworfen oder – und das vermag noch der einfachste Mensch unter den Hörern zu erfahren – durch die biblische Botschaft, durch diese im Spiel gestaltete Predigt, wunderbar gefestigt und gestillt.

Mit Dank lasse ich die Spielerschar, deren Glieder sich durch Gediegenheit und Bescheidenheit auch menschlich unsere Zuneigung erworben haben, aus meiner Kirche und aus meinem Pfarrhaus ziehen. Gott segne das Werk dieser darstellenden Verkünder des Evangeliums! Pfarrer und Gemeinden aber mögen Ihnen die Kirchen öffnen – zum Segen für die Gemeinde!

(Amtssiegel)

gez. Pötzsch Marineoberpfarrer

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14.3.1947

ALICE DULLO ___________________________________________________________________________ Buchbindermeister und Grafiker/Berlin–Wannsee, Schuchardtweg 5 ______________________________________________________________

14.3.1947 Meine liebe Ilse,

eigentlich wollte ich mich neulich gleich nach dem ersten stürmischen Brief an Euch hinsetzen und Dir auch einen schreiben, aber, so schon wie üblich keine Zeit, belegte mich noch die Grippe mit Beschlag. Nun habe ich zwar die Grippe leider nicht der häuslichen Verhältnisse wegen im Bett auskurieren können und außerdem eine ganz blöde Nierensache, vermutlich Senkung, so dass ich meinen Bruder Esel reichlich spüre. Aber was ich auch habe, ist für 24 Stunden eine Schreibmaschine und das muss ausgenutzt werden. Schreiben wollte ich Dir neulich aus drei Gründen. Als ich abends im Bett lag und so an Euer wie üblich bewegtes Leben dort dachte, alle vier, im Raum etc. . . Bremen, kam mir plötzlich Dank meiner regen Fantasie der Einfall, Ihr seid eigentlich so rechte Bremerstadtmusikanten geworden. Unfreiwillig spann ich dies zu einem Bilderbuch für meinen Patenjungen aus und entsann mich, wie er einmal quietischvergnügt seinem Vater in Wildau auf den Schultern beim Essen thronte und mit lauter Stimme johlte und auf dem kostbarsten aller kostbaren Schädel rumtrommelte. Vater ertrug es heroisch, wie alles was ihm über den Kopf kommt. Aber so weit ging es mit den Bremerstadtmusikanten, aber dann brach ich doch arg mit meiner unfreiwilligen Fantasie und bitte, keine weiteren Vergleiche zuzulassen, es ist eben nur mein! Patenjunge, der sich in jeder Lebenslage behauptet. Der zweite Grund aber war, der, hier war im Januar eine Kinder - und Jugendbuchausstellung, von einer Amerikanerin für Deutschland organisiert aus 14 Ländern. Sehr gut !!! Ich war mal da und habe sie regelrecht studiert und viel Nutzen davon gehabt und hoffe manche Anregung verwerten zu können. Das wollte ich Dir nur schreiben, dass sie jetzt wohl in der britischen Zone ist, wenn Du es irgend möglichen machen kannst, musst du mit

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den Jungens hin. Sie hätten so viel Freude an den Büchern, die sie sich ansehen dürfen und Märchenstunden mit Scherenschnitttheater etc. Drittens wollte ich Dir eigentlich noch schreiben über die fabelhaften Zensur - und Briefausschnitte, die Johannes so gut zusammengestellt hat und mir mitsandte. Wie wundervoll sind doch teilweise Eure Stücke schon auf so bereiten Boden gefallen. Wie haben die Menschen schon begriffen, um was es geht und wie sehr wichtig es ist, die weiteren Kreise vertraut zu machen, gerade im Rahmen einer Kirche, eines Gotteshauses, nicht im Gemeindehaus! Wie schön auch in dem, was im Weser – Kurier steht über Dein Spiel, es zeigt mir so recht deutlich, wie Ihr beiden immer mehr und mehr im Rahmen dieser großen Aufgabe zu einem verschmilzt und nur dem einen zu dienen so ganz ein aufsteigendes seit. “Mit Händen, die zwischen Himmel und Erde den unauslöschlichen Bogen des Lichtes schlagen“. Wie einen schwachen Abglanz des dabei seins las ich all dies, ganz Freude über das schöne Gelingen dieser gewaltigen Aufgabe. Wenn man doch nur mal wieder dabei sein könnte. Es ist doch manchmal unendlich schwer hier durchzuhalten und wie weit sich alles Geschehen derzeit auch schon wieder von dem absetzt, was zur Zeit der Flucht und nach dem Zusammenbruch war, zeigen mir auch immer wieder die Briefe der Familie. Es ist doch schon ein ganz wesentlich anderes wieder, was sich hier tut und abspielt, als Sommer 1945. Es werden ungeheure Herzkräfte gefordert und wenn man dann noch nicht gerade wie ein Reisekoffer durch die Welt geht, ist es nicht immer ganz leicht tragbar. Auch die äußeren Verhältnisse, ich meine jetzt nicht Hunger und Frieren, sondern mehr beruflich und menschlich (das zu sehr isoliert sein) bringen gewisse Schwierigkeiten mit sich, die täglich bekämpft werden wollen, ohne zu Schärfen zu führen. Als ich neulich mich abends immer sehr früh hinlegte um wenigstens so zu tun als ob ich abends Grippe hätte, las ich, um ja keine Zeit ungenutzt zu lassen, die “Philosophie der Freiheit“ in einem Zug durch und es war mir alles so vertraut, als hätte ich sie schon mal gelesen, dies ist aber nicht der Fall und es ist nur ein Jammer, dass man sie doch nicht eher in die Finger bekommen hat. Ich finde dies Buch müsste man eigentlich als Erstes lesen, es ist mir wie eine Geographie des Geistes vorgekommen und vieles was man danach liest schaut man mit noch selbstverständlicheren Augen an.

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Vielleicht hatte Heymann Recht, als er früher mal sagte, wie mir die Bücher gar nicht so zur Hand wollten, las man, manche kommen durch die Bücher zur Anthroposophie, Du wirst durch Anthroposophie zu ihren Büchern kommen. Manchmal kommt es mir auch so vor. Und wo kommt man sonst noch hin? Wenn man doch mal rüber könnte, nur hat man dann Blut geleckt, wenn alle Freunde mal wieder um einen waren, und dann sollte man wieder zurück? Wenn ich bedenke, dass Lola jetzt nach Stuttgart und Kassel fährt? Freue mich ja mächtig für sie, es tut ihr Not, mal aus all dem Schlamassel herauszukommen, aber, dass es so was gibt wie Reisen? Hier wird ein Zug nach dem anderen gestrichen, Geld hat man eh schon keins, aber seine Bücher noch zum Teil wenigstens. Kommt der Koschütztki - Band an? So wie ich durch die Schneewehen auf den Boden kann, schicke ich noch eins. So meine liebe Ilse, in meinen Kalender aber steht, dass jemand mal genau einen Tag nach der Faustaufführung Geburtstag hatte und da möchte ich Dir recht, recht herzlich gratulieren und Dir sagen wie ich mich für Dich, für alle Menschen freue, dass Ihr alle wieder zusammen seit. Nimm von Herzen diesen Satz, so wie er gemeint ist. Und nun für heute gute Nacht.

Euch alle in Liebe gedenkend grüßt Dich Deine Alice

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An diesem Handzettel aus dem Jahre 1947 sieht man. dass Heymann –Mathwich „Das Erlebnis des Paulus“ schon innerlich bewegte Es wandelt sich 1953, also 6 Jahre später in „Sie erlebten Paulus“

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17.August 1947

Bremen. Brombergerstrasse 122

HEYMANN - MATHWICH – BÜHNE

Bremen, den 17. August 1947 Brombergerstr. 122 Unsere liebe Tante Inge ! Wir hören sehr wenig von Dir? Aber bei uns musst Du ein wenig nachsichtig sein. Bei uns ist zu viel zu bewältigen. Es gibt bei den heutigen Geldverhältnissen so wenig Menschen für Hilfsarbeiten. Es muss alles allein hergestellt werden, besonders was die Hausfrau und Mutter betrifft. Ilse muss in dieser Beziehung Unmenschliches leisten, dass es so kommt, was andere Menschen ihren Beruf nennen, und Arbeit, das wird für Ilse, wenn sie auf Tournee geht, zur Erholung. Dabei wurden auf der letzten Gastspiel-Fahrt in circa 70 Tagen 63 Aufführungen vollbracht, wenn auch 3 in Cuxhaven und 4 in Hannover. Die Fahrt ging von Cuxhaven über Hannover, Herford, Minden, Göttingen, durch den Harz bis nach Braunschweig und Uelzen. Ja, liebe Inge, wenn Du das jetzt alles so miterleben könntest, was wir einmal aus den kleinsten Anfängen ans Licht der Welt setzten, zu Deiner Orientierung lege ich einiges Werbematerial ein. Von unseren Reisen könnten wir Broschüren – lang erzählen, was uns alles begegnete. O, die abenteuerlichsten Situationen, jeden Abend theologische Probleme. Ich fahre nur selten noch mit. Ilse ist jetzt die Frau Direktor, mit ihrer Truppe. Uns fehlt nur noch und sehr das Auto, das viel zur Erleichterung auf den Reisen beitragen würde. Hoffentlich werden uns die Zeitverhältnisse dies bald ermöglichen. Ich denke, dass jetzt im

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Herbst auch zwei bis drei Werke von mir im Druck erscheinen werden, was längst geschehen wäre, ohne die Papierknappheit. Ich selbst habe sehr mit der Unterernährung zu tun, bin sehr geschwächt. Der Willens - Mensch will es sich nicht gerne eingestehen. Ich habe in meinem Leben selten in einer solchen Erfüllung gelebt wie heute. Du wirst mir das nachfühlen können. – Unseren Jungen geht es gut. Wir haben jetzt mit ihnen sechs Wochen Ferien verbracht. Für uns aber und besonders für Ilse sehr anstrengend. Trotzdem ist es eine Freude mit diesen herrlichen Kerlen zusammen zu sein. Nun habe ich Vielerlei von uns erzählt. Wie aber geht ist Dir? Hast Du noch etwas von Trude Baer gehört? Kann man ihre Anschrift erfahren? Hat sich ihre Krankheit gebessert? Da fällt mir ein: liebe Inge, wenn Du noch Bücher von mir hast, würdest Du mir diese zurücksenden? z. B. ich glaube es heißt: Wendepunkte des Geisteslebens v. R. St. mit Kp. über Moses, Zarathustra, Christus im 20. Jahrhundert. Es fehlt mir eine Nr. der Evangelischen Betrachtungen von Bock Nr. 17 Die Wiederkunft Christi und die Eschatologie der Evangelien. Ich wäre Dir sehr dankbar für die Rücksendung. Nun lass recht bald einmal von Dir hören. Ilse geht am 26. August wieder auf Tournee durch Schleswig – Holstein. Mit den herzlichsten Grüßen und den besten Wünschen für Deine Gesundheit Johannes u. Ilse.

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Ilse Heymann

7014 Kornwestheim, am 9.11.1977 Im Weizen 14

Mein lieber Rudolf! Merkwürdig, dass alle diese Tätigkeiten von mir, Vater gegenüber, so schmerzlich empfunden werden. Wie gerne hätte ich sein Werk: „Frage des Pilatus“ so schön gedruckt, mit schönem Einband, vor mir gesehen. Mit Dir bedenke ich nun nochmals die Bedingungen: 3.200. – DM für 1000 Exemplare ist gewiss nicht zu teuer, pro Band 3,20 DM. Doch wie sieht es mit den Rechten aus? Den schwierigsten Punkt finde ich dabei, dass, wenn die Buchhandlung, laut der Fotokopie, (von mir auf ein Blatt, das wären zwei Briefbogen), Aufstellung doch wohl gut auf ihre Kosten kommt, ( nur noch Arbeitskosten, denn der Druck des Buches ist ja von mir bezahlt, vorher!) dann noch 50% der Einnahme, (wahrscheinlich nach allem Unkostenanzügen, hoffe ich jedenfalls) verlangt. Man bedenke, was wir auf Tournee haben leisten müssen. Da waren damals die schwierigen Eisenbahnverbindungen, durch die Fenster ist man in die Züge eingestiegen, hat auf Kartoffel Säcken gestanden, hat im Aufführungsort die Bühne erstellt, manchmal Vorhänge gebügelt, Kleider fast immer, dann gespielt, abgebaut und lange Gespräche mit den Pastoren bis in die Morgenstunden gehabt. Schlaf gab es durchschnittlich nur vier bis fünf Stunden. Damals nahmen wir viel Geld ein, gewiss, es war RM- Zeit und die Menschen wussten mit dieser Mark nicht viel anzufangen, es gab ja wenig zu kaufen. Doch wir unterhielten ja im Unternehmen sechs, manchmal sieben Menschen, drei Spieler, Techniker für Beleuchtung und Bühnenaufbau, Souffleur, zwei Damen die vorher nur für uns reisten und möglichst von Ort zu Ort die Gastspiele zusammen stellten, Vater als Chef. Welche Mühsal war alles, die man damals zwar gar nicht rechnete, noch kaum bemerkte, aus Freude Johannes Werke spielen und den Menschen darbringen zu dürfen, aber wie so verlangt die Buchhandlung, für welche „Taten“ nachhinein 50%??? ……... Diesen etwas verworrenen Brief schrieb ich gestern mit üblen Galle – Zuständen. Ich musste mich hinlegen und konnte erst heute den Brief an Dich schreiben, Rudolf. Herzlich grüßt Dich, Deine Mutter (Die Hervorhebung der Tournee Schilderung habe ich, Rudolf Heymann, vorgenommen)

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Ütersen, den 25. Aug. 47 Ütersen, den 20. Aug. 47 Mein Liebster!

Johannes! Was wir schon ahnten tritt eventuell ein? Hirbeck wird uns verlassen? Er spricht nichts deutlich aus, er sagt nichts direktes, lässt nur leider auch offen, ob er noch das Vierteljahr durchhält. Letzteres an ihm fasse ich nicht. Er weiß doch worum es, rein finanziell geht, wenn er nicht bis Ende November durchhält. Habt Ihr euch da in diesem Punkt nicht klar einigen können? Ich sagte ja, ihn packt oft eine fieberhafte Unruhe für seine Entwicklung, er sieht sie wohl nicht genug bei uns? Es waren wohl fünf sehr anstrengende Debattierstunden? Karlheinz ist Egoist, nicht wahr, wenn es um seine eigenen Dinge geht? … Den einen will man los sein, der bleibt und wen man erhalten will, der geht!!! Mich bewegen bei dem allen viele Gedanken. Ist’s eine Schicksalswende für Dich, für uns, die ruft? Musst Du Dich entscheiden, wie der Weg geht, wohin, ehe das neue Theater eröffnet wird? Würde dein eigenes Werk mehr erblühen, wachsen, wenn Du ganz bei uns bist, sind die Geschehnisse Auswirkungen am Rande der geistlosen Tätigkeit an der “Niederdeutschen Bühne“? Ich mache Dir mit solchen Fragen das Herz schwer. Gewiss, Karlheinz hat den Mut sich um seiner Weiterentwicklung willen wieder einmal vors nichts zu stellen, vor ein Vakuum, in das ein reiner Geisteinschlag erfolgen kann, haben wir den Mut nicht? Die Kinder, die Wohnung? - Ich sitze im Hotelzimmer, es ist gegen 21:22 Uhr, Gunda Anna und Karlheinz sind ins Kino gegangen. Ich wollte nicht mit, es wäre mir, gerade heute, wie eine Blasphemie vorgekommen. Die Beleuchtung ist furchtbar, ich muss direkt unter der Lampe am Fußende des Bettes schreiben, gestützt auf die Bettkante, es wackelt. – Gestern hatte ich einen erhebenden Tag in Hannover und weiß mehr denn je: „worum“ es geht. Ich war in der Handlung und Hasso Rückner sprach vor der Handlung von der größten Synode in England, wo aus allen Ländern, ob Schweden, Dänemark, Ungarn, Tschechoslowakei, Schweiz usw., alle Priester anwesend waren. Nun findet, wieder mit Bock, eine Priestersynode in Marburg statt, wo alle Priester in Deutschland sich treffen und alles von der England – Synode besprochen wird. (Wenn ich recht verstanden sind auch Oberlenker in England geweiht

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worden, könnte es stimmen, dass Heidenreich Oberlenker wurde?)So fällt am kommenden Sonntag, über all die Handlung aus. So kam es denn, dass ich Otto Palmer gestern Nacht, oder früh ganz kurz auf dem Bahnhof traf. Er kam früh mit dem Interzonenzug 4:48 Uhr an, fuhr um 5:15 Uhr weiter und Winfrieds Zug fuhr um 3:50 Uhr, meiner um 5:10 Uhr. So waren wir kurz zusammen, ich soll Dich grüßen. Elsbeth Birk – Palmer mit Sohn ist er von Bremen!!!, leider fragte ich nicht wo. Palmer wollte hin zu „Weib und Kind“ wie er sagte. – Ich muss aber von Anfang des Sonnabends erzählen. Michael und ich bekamen in Bremen Hauptbahnhof sofort Plätze. Er bekam unterwegs Birnen geschenkt, die Fahrt ging glatt und gut. In der Schule angekommen empfing uns Michaels Raum festlich mit Blumen und blitzsauber und Tomaten in Fülle standen da zum dauernden Essen. Die Schule erntet jetzt schon 35 Pfund Tomaten pro Tag, hat 1500 Pflanzenstöcke! Michael war aber doch sehr angestrengt und weinte schrecklich, als ich ging, so dass ich versprach Sonntag ihn zu holen, denn es fuhren Bahnen, weil in Hannover “Messe“ ist. Schicke Autos von überallher fahren hier, aus der Schweiz, usf., daher auch durch Bremen, und die Stadt schmückte sich, ihre Plätze. Vor allem den Bahnhof, keine Baracke ist mehr dort, freie Fläche mit schon bewachsenem Boden, Blumen, Springbrunnen. Keiner schläft mehr auf dem Bahnhof, nur unter der Erde! – Über all ist Licht und Beleuchtung. So verließ ich Michael schweren Herzens und fuhr direkt zu Karlheinz, um dort zu erfahren, dass er zu dir wollte. . . Dann fuhr ich zur Rose, die erst aus Stadthagen ankam und mich ganz vergessen hatte und traf dort Winfried. Es wurde aber schon dunkel, ich konnte nicht bleiben, lief gleich zur Frau Zöllner und fand dort ein herrliches Lager auf einer Couch bei Frau Gräfin Schweinitz im Zimmer. Es erbarmt gerade noch einer alten Damenzusammenkunft dort, ich bekam noch Saft und Plätzchen. Frau Gräfin malte herrliche Kinderporträts. Sonntagmorgen fuhren wir zusammen in die Handlung und wie ich rausgehe, steht Rieckhof da. (Winfried und Jo Voss ministrierten). Ja, dort in der Gemeinde weht einen der Atem Berlins zu, der geistig ähnliche Atem. Ein herrliches Erlebnis! – Herr Rieckhof war in die Handlung geraten, mit Rucksack und Koffer, weil er den 10:00 Uhr Zug nach Lübeck nicht mehr erreichte und nun um 14:50 Uhr erst fahren konnte. Wir freuten uns. Herr Priester Mirau sagte dann Herr Bartels, der Mann von der Wassermanntochter möchte sofort den Techniker Posten haben, er wollte sofort nach Bremen fahren. Leider rief er, wie er es vorhatte, Sonntag bei Miraus nicht nochmals an. Ich ließ ihn aber bestimmt zu Dir schicken, obwohl Du nun schon den Sabronski bestellt und vielleicht den Tischler

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bekommst. Ich dachte aber Du musst entscheiden, ob Du Bartels für immer nehmen willst.--26. Aug. 47 Hier hörte ich gestern Abend zu schreiben auf, wurde müde und wollte im Bett sein bevor Gunda Anna aus dem Kino kam. Wir machten gestern Abend keine Probe mehr, weil KarlHeinz und Gunda Anna, auch ich, sehr müde waren. Wir versuchten die Probe nun heute Morgen. Vorher hatte ich ein eingehendes Gespräch mit Karlheinz und davon, darüber, will ich Dir nun zuerst und dringlichst berichten: Als Karlheinz gestern ankam und lachend in die Tür trat, merkte ich sofort, da stimmt etwas nicht. Es war gegen ein 5:30 Uhr oder 6:00 Uhr und wir mussten essen gehen. Ich fragte ihn dann bei Tisch über dieses und jenes, er sagte, man könne darüber so kurz nicht sprechen, so ließ ich die Fragen und sagte nur noch: Du bleibst aber doch noch bis Ende November mit uns zusammen? Da zuckte Karlheinz die Achseln. Ich erschrak sehr, fragte nichts mehr, sagte dann nur zu Gunda Anna, als Karlheinz eine Weile hinausging: „Wie kann Karlheinz das charakterlich verantworten uns nicht bis Ende November die Spiele durchzutragen? Karlheinz wollte ins Kino gehen (wahrscheinlich als Entspannung Eurer Gespräche und um nicht mit mir in einer sich hinein zukommen. Ich ging aber nicht mit). Ich las in den Meditationen von Rittelmeyer und schrieb die ersten Seiten Deines Briefes, ging schlafen, wachte gegen 6:00 Uhr auf und dann ließ mich das Geschehen nicht los, ich konnte nicht mehr schlafen. Um ½ 8:00 Uhr weckte Karlheinz uns, ich hatte aber erst zu um 10:00 Uhr den Kirchendiener mit dem Schlüssel für unsere Probe gestellt, das hatte Gunda Anna Karlheinz nicht bestellt und so ergab es sich, dass ich Karlheinz ab ½ 9:00 Uhr mal alleine „im großen Tanzsaal“ sprechen konnte. Ich fragte ihn: „Ob er ganz offen alles sagen könnte, was ihn zu dem Entschluss „nicht mehr mitzumachen“ bewegt hätte“. „Ja, das wollte er“, sagte Karl-Heinz und so begann das Gespräch damit, wie ohne sein wollen und zu tun von den verschiedensten Seiten und Menschen, von vielen die Du und ich nicht kennen, Kritiken Deiner Arbeit, des Werkes und seiner Ausführung auf ihn zugekommen wären, vor allem auch Frau Bussiliat und Herr Zimmer. (Wir wussten ja, eben dass sich vieles tun würde, wenn wir schon in Hannover an die Öffentlichkeit treten und Karlheinz in der Weise, wie es geschah, weil seine Krankheit schicksalsgemäß dazwischen kam, spielen würde, usw.,usw.,). Was Du einmal wieder wusstest, dass wir noch nicht in Hannover spielen durften, hätten wir tun müssen. Nun zieht alles Kreise, aus seiner Unvollkommenheit heraus, die wir ahnten! Aber es ist geschehen! Also Kritik in krassester Weise ist auf Karlheinz zugekommen und er sagt, er hat es Dir

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gegenüber nicht gewagt so klar auszusprechen, wie er es jetzt zu mir täte. Das ist die erste Erschütterung, der Karlheinz ausgesetzt war. Die zweite ist diese, dass er durch Frau Bussiliat erfuhr, dass Herr Zimmer gesagt hat: Karl-Heinz Herberger ist ein pathologischer Fall. Schließlich hat Karlheinz Herrn Zimmer persönlich aufgesucht und da hat Herr Zimmer Karlheinz dieses nun nicht wörtlich, ins Gesicht gesagt, aber ungefähr so: „Zuerst glaubte ich, mein Eindruck des Spieles sei durch das Werk hervorgerufen, musste dann aber durch Frau Heymann erfahren, das es mehr durch ihre Gestaltung so pathologisch herauskäme (ich schreibe nicht ganz wörtlich nur dem Sinn nach), usw. Das war natürlich auch eine schwere Erschütterung für Karlheinz. Die dritte ist diese, dass Karlheinz unbedingt sobald als möglich seine Prüfung als Schauspieler machen will und nicht glaubt, es schaffen zu können, wenn er nur den Winter zur Verfügung hat, einfach aus Mangel an Kräften! Nun versichert mir Karlheinz, dass er unbedingt bis Ende November hat unsere Aufführung durchhalten wollen, das dann aber eine Wendung in Eurem Gespräch eingetreten wäre, die ihn sehr erschüttert hat. Als Ihr ins Gespräch gekommen wäret, hättest Du zuerst wohl angenommen, Karlheinz käme wegen einer sofortigen Kündigung oder auch Trennung. Karlheinz hätte Dir dieser Anfangsidee nehmen können. Im Laufe des Gesprächs hättest Du alles wieder positiv nehmen können, um zum Schluss wiederum zu sagen: „Also soweit ist es doch…..“ (Nämlich, dass Karlheinz wohl Schauspieler werden möchte, aber vielleicht nicht bei uns bleibt, obwohl Karlheinz sich ja absolut nicht klar ist, was er dann tun wird!) Und Du hättest dann eine Bedingung gesagt: „Du würdest Karlheinz nur dann zur Prüfung verhelfen, wenn er noch 1,2 Jahre bei uns bliebe. Ohne diese Bedingungen nicht!“ Als ich dieses von Karlheinz hörte bin ich ernstlich erschrocken. Ich sah Dich sofort vor mir und wusste auch, dass dieser Ausspruch aus Deiner Enttäuschung und aus mangelnden Kräften von Dir hätte kommen können, empfand aber auch: „Lässt Johannes da nun einen suchenden, ringenden, jungen Menschen, der sich auch irren kann und wie Karlheinz sagt, vielleicht später doch wieder zu uns stößt, zu unserer Arbeit kommt, so in der Luft hängen? Ich hätte verstanden, dass Du sagst: „Gut, Karlheinz sie können jetzt nicht mehr mitmachen mit mir, mit uns (aus welchen Gründen, ob Kritik oder sonst was, sollte uns nicht rühren!) sie wollen aber die Prüfung zum Schauspieler mit meiner Hilfe machen (und in der Beziehung hat Karlheinz ein unbedingtes Vertrauen zu Dir!)ich kann es dann nur, wenn sie dann in Zukunft mir den Unterricht bezahlen. Oder ich hätte es verstanden, wenn Du gesagt hättest: „Herr Herbeck dazu fehlt mir die Zeit und Kraft, ich kann nur noch für mein Weib tätig sein.“

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(Nun, das liegt ja in Deiner Bedingungen ungefähr ausgesprochen). Nun sagt Karlheinz zu mir, dass ihn so sehr erschüttert hätte, dass Du die gesagte Bedingung ausgesprochen hast und ob er, Karlheinz Dir als junger Mensch, der strebend sucht, sich noch nicht klar ist und einen Berufsabschluss wünscht, nicht so viel Wert erscheint, dass Du ihn dazu verhelfen magst. Deine Bedingung kommt ihn egoistisch Deinem Werk gegenüber vor und nun sagt er muss er dann auch seinen Egoismus dagegen setzen und sagt sich: „Wenn Herr Heymann mich nicht unterrichten will bis zur Prüfung, weil ich sein Werk vorerst nicht mehr mittrage, oder es mir für einen jungen Menschen zu schwer erfüllbar erscheint, damit es richtig in der Außenwelt dastehe, dann muss ich mich so schnell als möglich nach anderen Schicksals Beziehungen und Lehrern umsehen, die mir zum Frühjahr zu der Prüfung verhelfen, so dass ich keine Zeit mehr verlieren darf und notgedrungen sofort kündigen. Karlheinz sagt auch, er hätte Dir gegenüber alles so klar nicht formulieren können, weil Du durch Dein scharfes Denken ihn so erdrückt hättest, das manches dann unklar oder durcheinander bei ihm herausgekommen wäre und er zum Schluss nicht mehr viel hätte sagen können. Das Gespräch mit uns gingen sehr hin und her und ich sagte Karl-Heinz, dass solange ich Dich kenne immer Kämpfer um Deiner Arbeit vorhanden waren, dass aber aller Kritik eines Herrn Zimmer, einer Bussiliat gegenüber Bocks Ausspruch vor mir stünde: „Ihre Sachen werden noch einmal gelesen wie meine“ und“ Herr Heymann schreiben Sie, schreiben Sie“! Das Karlheinz sehr schwankend ist in seinem Charakter, vielen Einflüssen offen, sagte ich ihm, dass gibt er zu und ich sagte noch: „Sie hätten ganz offen meinem Mann gegenübertreten müssen und sagen: „Herr Heymann dieses oder jenes habe ich von diesem und jenem Menschen gehört, dieses und jene Kritik, ich werde damit nicht fertig“. Ich sagte dann: „Sie aber, Karlheinz hatten die Kritik schon in ihr eigenes Wesen, Tun und Handeln hinein genommen, unbewusst, hat sie diese sehr beeinflusst und auch dadurch das Gespräch mit meinem Mann“. So kann ich Dich, auch gut verstehen, Johannes, dass es Dir schwer fällt, Karlheinz noch unterrichten zu können. Tust Du damit nicht ein Ähnliches wie eine Bussiliat bei Gunda Anna: „Wenn sie zu Herrn Heymann gehen und nicht bei mir bleiben, dann unterrichtete ich sie nicht mehr!“ – Ich schreibe diesen Brief so dringend und durch Eilboten, weil ich denke, dass Du Dich doch noch anders entschließt und Karlheinz doch zur Prüfung verhilfst, wenn er bis November noch bei uns bleibt und das Werk wenigstens soweit mit durch trägt. – Ich geriet eben beim Schreiben so in innere Nöte, dass ich hinlief und Karlheinz in der

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Kirche sprach und ihm nochmals alles eindringlichst vor die Seele stellte. Es kam nochmals klar heraus, dass er nächstes Jahr (trotz all’ meines Für) nicht mehr mitmacht. Weiterhin kam klar heraus, dass er unbedingt bis November bleibt, wenn Du ihm zur Prüfung verhelfen magst. Sonst aber müsste er wohl kündigen, um mehr Zeit für sich zu gewinnen. Ich machte ihm seinen krassen Egoismus nochmals klar, besonders den Damen gegenüber. Wie alles nun vor mir steht und so sagte ich es auch zu Karlheinz muss es für Dich ein ganz schmerzlicher Akt sein ihn noch zu unterrichten, wo er, durch Kritik anderer Menschen, Dein ganzes Werk anzweifelt. Das müsste er verstehen. Andernteils kann man ihm, als jungem Menschen ja auch nicht übel nehmen, dass er ewig sucht und ringt und selbst noch nicht weiß, wie, wohin und viele Erfahrungen sammeln will. Eben schien es mehr, dass er nach bestandener Prüfung doch wohl ins übliche Theater erst einmal gehen würde. Er sagt: „Wir kamen als junge Menschen zu Deinem Mann, vertrauten uns seiner Führung an, ich arbeitete ein Jahr mit Deinem Mann, kann nicht mehr im Werk stehen, weil ich es nicht voll erfüllen kann (und Kritik am Werk ist aber auch da) warum aber, will Dein Mann, wenn er selbst (und ich) einen Mangel an mir empfindet mir nun nicht arbeitsmäßig weiterhelfen? Ich möchte es fast erwarten!“ Ja, Johannes so steht es: Kannst Du Karlheinz noch helfen zur Prüfung, so tu’s. Karlheinz wird es nicht umsonst haben wollen (obwohl sein Geldbesitz knapp ist). Dann bleibt Karlheinz bis November bei uns und sonst wird er wohl kündigen! So steht’s. Nun hörte ich eben noch eine Bemerkung von Karlheinz. Du hättest gesagt: Du ließest dann, wenn Karlheinz geht, alles auffliegen. Ist das wahr, Johannes? Statt die Niederdeutsche Bühne „auffliegen“ zu lassen und Dich endlich selber ganz in Dein Werk und eine Arbeit und Idee hineinzustellen, willst Du Dein Werk, Deine Idee auffliegen lassen? Auf der einen Seite hätten wir Gehalt, eine Wohnung, ein Familienleben, auf der anderen Seite wären wir unterwegs zusammen und mit Deinem Werk. Kannst Du’s nicht verbinden mit der Dramaturgenstelle im Theater, das uns die Wohnung bleibt? Welche Schicksalsfrage und „Wende“ steht vor uns- - - noch ehe das „Neue Theater“ eröffnet wird. „Sauber werden im Geiste“ und sollte alles auch noch unvollkommen sein, ist das nicht „die Parole“?! Schreibe mir, bitte. Ich werde ab 1.9., ab Albersdorf täglich bei den Pastoren nach Post für mich und Karlheinz fragen. Ich bin und bleibe Dir und Deinem Werk zutiefst verbunden. Ich stehe immer bei Dir, zu

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Dir, bei und zu Deinem Werk, mögen die Menschen auch noch „so viel“ Kritik daran üben. Karlheinz ist eben keiner für unsere Aufgabe, unseren Lebenskreis. Wenn ich eine Bitte aussprechen darf, wenn Du es irgend möglich machen könntest, verhilf ihm doch trotz aller Schmerzen an ihn, zur schauspielerischen Prüfung und fürs nächste Jahr finden wir einen neuen Spieler, oder Du musst mit. Innigst bin ich Dir, Dir ganz verbunden. Deine Is

(Ein Bild wahrscheinlich aus dieser Zeit?)

Mein innigstgeliebter Mann!

Tournee 1947

Wir sitzen im Zuge nach Hannover über Uelzen. Kommen von Bodenteich her! Mit gestern haben wir eine „Nachtvorstellung“ hinter uns. Wir konnten von Wolfenbüttel nicht anderes in Braunschweig weiterfahren, als mit den Mittagszug 13:02 Uhr. Die Gepäckleute schmissen Herrn Sander hinaus, das Gepäck kam nicht mit. Nun blieb ich in Braunschweig hatte dort noch Gepäck von mir bei Winfried abzuholen. Der Nachmittagszug fuhr um 17:11 Uhr. Mit „Ach und Krach“ bekam ich dann das Gepäck, Kiste, Stangen mit. Und dann.. . .. wartet dieser Zug auf den Hamburger Zug in Isenbüttel. Abends um 9:00 Uhr komme ich in Bootenteich an. Da steigen mit mir auch die anderen drei aus dem gleichen Zug. Der Triebwagen nachmittags ging kaputt. Dasaßen die Armen drei in Gifhorn im eisigen Wartesaal stundenlang und dann klamm vor Kälte wurde doch um 10:00 Uhr nachts, gespielt: Das rührende Publikum saß noch da, sah unserem Aufbau zu, war konzentriert in der Aufführung bis zum Schluss. – Ich freue mich heute Abend auf dem Brief hier in Uelzen! Packe alle Päckchen aus dem Netz sorgfältig aus. Es ist über all irgendetwas Nettes für Dich! Büffelfleisch, Kaffee, Tee, Paulus Buch. 1000 Küsse Deine Is

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Hohenwestedt, den 3.September 1947 Mein geliebter Johannes! Erst heute Nacht (2:00 Uhr) konnte ich die kleine Schrift für Dich beenden. Ich wollte Dir so gerne einmal wieder eine „Handarbeit“ zum Geburtstag machen und so schrieb ich Dir die VI so wesentlichen Übungen von Dr. Steiner ab. Den Anfang der III. Übung empfinde ich so besonders wesentlich zu beherzigen Besonders gerade wir beide in unserer gegenwärtigen Situation und unseren schmerzvollen Erfahrungen. Ich habe noch einmal mit K. H. gesprochen. Er ist selbst in großen Nöten und sagte (zu seiner Unklarheit und seinen gehabten Erlebnissen): „So helft mir doch, bitte, helft mir doch“. Ich glaube wir dürfen uns in Bremen doch sehr positiv mit ihm unterhalten!!! – Über Gunda Anna muss ich mündlich in Bremen mit Dir sprechen. Sie strebte fort von uns mit allem was Sie jetzt tut, ihrer täglichen Gymnastik ihren Körper zu strecken, usf….Doch über das alles mündlich. Doch nun zu Deinem Tag des 51. Geburtstags. Das 50ziger Jahre und das 51. sind doch Höhepunkte in Deinem Leben und nichts kann uns das erschüttern, im Gegenteil, nur immer wieder stärken und bestätigen! Die Aussprüche der Pastoren sind alle in ganz ähnlicher Weise tief ergriffene. Einen billigt die fast wörtlich aufschreiben, weil er den Ton unserer Sehnsucht trifft! Es war in Krempe und Pastor Graumann sprach ihn aus: (Traude war auch zugegen!) (Auch Karlheinz und Gunda Anna!) „Was mich an dem Werk Ihres Mannes so bewegt hat ist dieses: Nicht das Werk ist wichtig, nicht die Ausführenden sind wichtig, nicht Ihre Leistung ist es, nicht das Textwort an sich ist es, alles tritt zurück im Dienste für das Bibel Wort, zu Ehren des Christus.“ Meine Antwort war: „Nichts anderes will mein Mann, Herr Pastor. Und wenn mein Mann damit den Menschen etwas zu geben hat, einigen Menschen (betonte ich), sind wir dankbar.“ Diese Worte des Pastors Graumann wurden gesagt, nachdem Karlheinz quälend seine Kritik so vieler Menschen hat aussprechen müssen. So senkten sich diese Worte des Pastors Graumann an dem Abend wie Balsam in meine Seele. Mit offenen Sinnen und Ohren nahm ich auch alle anderen Begegnungen in mich auf. (Karlheinz hat immer wieder eine gewaltige Wirkung auf die Menschen).

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Ich machte ihn dann aufmerksam auf all’ diese Begegnungen, … „ob die nun alle unsinnig seien und uns nichts zu sagen hätten?“ Heute verlebten wir einen „Triumphfesttag“ bei dem Pastoren – Ehepaar in Hohenwestedt. „Sie reihen sich ganz ein in unsrer Arbeit des Missionarischen an den Menschen“, sagte er jetzt zum Schluss, als wir uns um Mitternacht trennten. „Wir waren auf der Empore der Orgel ein tiefer ergriffener Kreis, sagte er. Neben mir saß ein Arzt und an der anderen Seite eine Lehrerin. Sie war von der Schau des Judas (- Problems) tief erschüttert. Wie gegenwärtig ist dieser Judas uns. So ist jede Jüngergestalt, überzeitlich, allgegenwärtig!“ Dieses Ehepaar Kröhn oder Pröhn hat uns ganz prächtig verpflegt. (Deine Is hat sich zu Deinem Geburtstag besonders schön ausgeputzt). Seit gestern erhalte ich eine immer dickere, härtere Geschwulst an der linken Mund, Kinnseite. Es scheint ein ziemlich dickes Furunkel oder so etwas zu werden. Ich muss es wohl durch eine Infektion bekommen haben, es sieht doll aus ich bin schon ganz schief, will einen Arzt aufsuchen. Morgen fahren wir ja nun erst einmal sehr umständlich eine riesen Strecke nach Preetz, nur über Kiel von hier aus zu erreichen. Wir müssen nach 5:00 Uhr aufstehen. Ob sich das Schlafengehen noch lohnt? So sei denn innigst, ganz ganz innigst umarmt, geküsst zu Deinem 51. Geburtstag. Der Himmel segne Dich und erhalte Dich mir noch lange, lange (wenn ich so bitten darf!). Es lebt Dich und bittet um Kraft für Dich Deine Is Heute sah ich Dich im Traum. Ich betrat Dein Zimmer mit Klaus Hinrichsen (um dessen Werk ich in der Außenwelt kämpfte) (nun, es war das Deinige!)). Du standest auf aus tiefer Arbeit von dem Tisch an dem Du schriebst, ringsum waren sehr viele Bücher. Du schautest mich an, jedoch ganz aus der Arbeit. Innigen Kuss! 115

Kiel, den 13. November 47 Kiel, den 13. November 47 Mein lieber Johannes – Mann!

Nun sind wir in Kiel. Wie schade, dass ich die Anschrift von Hinrichsens nicht weiß. Aber solch ein Tag verfliegt ja im Nu! Wir mussten um ½ 6:00 Uhr heute früh aufstehen, ich zog mit Fräulein Sabronski den Wagen zur Bahn, brachte ihn wieder zurück, während sie das Gepäck aufgab. Um ¾ 7:00 Uhr ging unser Zug ab nach Rendsburg. Von dort kamen wir bei Sturm und Regen und wieder Sonnenschein mit dem Dampfer um 11:45 Uhr in Kiel an. Nun gingen wir schnell einkaufen, Mittagessen und suchten den Herrn Pastoren. Der kam erst nach 3:00 Uhr von einer Beerdigung heim. Um ½ 4:00 Uhr hätte schon ein Wagen für Fräulein Sabronski an der Bahn sein müssen. Sie bekam leider das Gepäck mit keinem Wagen zum Schiff. Jetzt sind Gunda Anna und Karlheinz zur Bahn, um ihr Nachricht zu geben, dass sie von dort einen Gepäckmann bekommen muss. Ich warte hier, um ihr dann aufbauen zu helfen. Gestern kam ich erst um ½ 1:00 Uhr ins Bett, weil der Herr Pastor mich unglaublich lange mit seiner „Abrechnung“ aufhielt. Am gestrigen Tage, trotz großer Müdigkeit, wir mussten gestern um ½ 7:00 Uhr heraus, versäumte ich aber nicht den „Brüggemann“ – Altar im Dom anzusehen: Es war ein Erlebnis! Die Tage vom Sonnabend Mantel, Sonntag Mantel und zwei Aufführungen und Montag um ½ 6:00 Uhr auf und stehend im 2. Zug nach Pinneberg waren bunt. In Pinneberg half ich Fräulein Sabronski bis ½ 5:00 Uhr aufbauen, denn sie klapperte vor Überanstrengung an allen Gliedern. Zum Glück ruhte ich dann bis 6:00 Uhr, am Morgen nach Schleswig ging’s wieder ½ 7:00 Uhr aus den Federn, um endlich, halb sitzend, halb stehend in Schleswig anzukommen, zu essen mit Fräulein Sabronski zur Bahn zu fahren und mit dem Handwagen in die Kirche. Wieder halfen Karlheinz und ich ihr, um 4:20 Uhr ging ich zum Omnibus um zum Dom zu fahren, kam Dreiviertelstunde zu Fuß zurück zum Essen, anziehen, spielen und dann hielt mich hinterher der Pastor so lange auf. Wilde, erschöpfende Tage und dennoch schön. Ich habe täglich völlig nasse Füße. Jetzt haben wir ja wirklich Novemberwetter. Im nächsten Jahr geht es aber nicht ohne noch eine Hilfe. Das halte ich nicht durch! Das soll aber keine Klage sein! Hier der wichtige Milchschein für Frau Kulmann! Innigst grüßt und küsst Dich Deine Is

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Tourneen im Jahre 1947

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Bespielte Orte der Heymann Mathwich Bühne in den Jahren 1945 bis 1948

Norstade Aasbeck Himmelpforten Stade Bederkesa Wesermünde Horneburg Buxtehude Neukloster Harsefeld Apensen Loxstedt Beverstedt Ahlerstedt Hollenstedt Buchholz

Osterholz

Wilstedt Scheeßel Sottrum Fischerhude Oberneuland Brodel Bremen Hemelingrn Soltau Sottrum Achim Langwedel Kirchweyhe Leeste Barrien Verden Syke Harpstedt Vilsen Twistringen Asendorf Heiligenloh Sulingen Liebenau

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Tournee der Heymann Mathwich Bühne in den Jahren 1945 bis 1948 Schleswig Erfde Kiel Preetz Hodemarschen Albersdorf Hohenwestedt Cuxhaven Krempe Bad Oldeslohe Neuhaus Glückstadt Dorum Stade Bederkesa Wesermünde Buxtehude Heerstadt Varel Brake Lüneburg Schnebel Oldenburg Bremen Delmenhorst Kirchweyhe Soltau Verden Syke Walsrode Bodenteich Eystrup Leese Hannover

Minden Bückeburg Sarstedt Braunschweig Wolfenbüttel Herford Ringelheim Barntup Bad Pyrmont Goslar Kreiensen Einbeck Northeim Osterode Branstedt Göttingen

119

1947

Brief aus:

Bremen, den 6.10.1947 Bremen, den 6 10. 1947

Meine liebe Inge, in Eile, damit ich erst einmal Deinen Wunsch erfülle, sende ich Dir den „Pilatus“. Es ist aber ein Rollenbuch, das ich sehr bald wieder benötige. Also nur auf kurze Zeit. Ich hoffe, dass in einigen Monaten die Buchausgaben vom „Judas“ und vom „ Pilatus“ herauskommen. Unsere Papiernot wird Dir ja bekannt sein. Du musst bedenken, dass ich in meinem Ringen noch ganz alleine stehe. Nur meine Ilse ist ein herzlicher Kamerad und mein getreuester Kämpfer. Sie trägt als Künstlerin, Leiterin der Gruppe und insbesondere als Mutter ungeheure Lasten. Hier kann man sich nur zutiefst verneigen.

(Eingefügt von R. Heymann, ich glaube das Bild gehört in diese Zeit).

Von Lemkes weiß ich nicht einmal die Anschrift, wie soll ich da an ihn schreiben? Herzliche Grüße und beste Wünsche für unsere Tante Hedwig und Herrn Graemer. Sie möchten alle mir nicht böse sein. Wir sind zu sehr überlastet, denn wir leben nicht nur, wir kämpfen für eine Zukunft. In Herzlichkeit und alter Treue und Dankbarkeit Dein Johannes 120

8. Sept. 1949

Presse Notizen zu “Die Geliebte“ (Währungsreform am 20.06.1948)

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Uraufführung – im Garten

WESER –KURIER

Nr. 142

Donnerstag, den 8. September 1949

„Die Geliebte“ von Johannes Heymann-Mathwich begeisterte in Kirchhuchting Der Autor, Regisseur und Hauptdarsteller tief greifender Dramen lud zur Aufführung seines neuen Werkes ein mit dem sehr realen Titel „Die Geliebte“. Auch der Untertitel, dass es sich um ein „Traumspiel vom letzten Abenteuer Don Juans und Don Quichotes“ handele, ließ eine andere Atmosphäre erwarten, als man sie bei Heymann-Mathwich bisher beobachten konnte und wie sie vor 1933 sich in Berlin mit seinem Ensemble als missionarischem Instrument religiöser Erneuerung zu einem festen Begriff verband. Und doch wird auch in diesem Werk die gleiche Sprache gesprochen, um die gleiche Problematik von Gut und Böse gerungen, die Sendung des Menschen beschworen, seine Daseins Situation in ihrer teuflischen Gespaltenheit bezeichnet und die abgründige Kluft aufgewiesen, die ihn von seiner Bestimmung der göttlichen Vollendung trennt. Mit geradezu unheimlicher Sicherheit weiß Heymann-Mathwichs Gedankenwurf die eigentliche Not unseres Lebens als Diesseitigkeit zu diagnostizieren. Aber anstatt sich damit zu begnügen, die Ausweglosigkeit zu dramatisieren, wie es weithin übliche geworden ist, greift der Autor in den Fundus christlicher Tradition und weist von der einfältigen Gläubigkeit her überraschende Wege zur Klärung und Erneuerung unserer Existenz. Edle Sprache, geballte Konzentration des dramatischen Ablaufs, dichterische Wortprägung von überzeitlicher Gültigkeit, Lebensnähe trotz Zeitferne, ein tiefes Wissen um die sinnliche Vitalität u n d den ethischen Höhenflug menschlichem Liebesleben kennzeichnen die 121

Auseinandersetzung zwischen der romanischen Sagengestalt des liebestrunkenen Don Juan und dem weltbekannten Romanhelden des Cervantes Don Quichote, der als „reiner Tor“, der Lächerlichkeit preisgegeben unbehindert seinen sprichwörtlichen Windmühlenkampf bis zu Ende führt. Heymann-Mathwich hat, was in jedem Menschenherz lebendig ist, mit erregender Spannung personifiziert, so dass ein Vierpersonenstück entstand, das so aktuell wie nie ist, eben weil es an die Urgründe menschlichen Daseins rührt. Ilse Heymann-Barth ist eine Aldonza Lorenzo von geradezu klassischer Ausgewogenheit in Sprache und Geste, Frau zwischen den Männern, der Autor und Regisseur als erdverbundener Schatten Don Quichotes ein Sancho Panza von unübertrefflich köstlicher Drastik, Hermann Budde ein in seiner hölzernen Stereotypie einmalig gelungener “Ritter von der traurigen Gestalt“, Diedrich Casper v. Pritzbuer ein leider anfangs stimmlich indisponierter temperamentvoller Don Juan. Nächtliche Naturstimmung und einfachste dekorativ – wirksame Mittel (TheoSchlonski) schufen im Garten der gastgebenden „Villa Dunkel“ in Kirchhuchting eine völlig unerwartete Theateratmosphäre, die ein dankbar – begeistertes Publikum zwei Stunden lang in Bann schlug. Wiederholungen wären um des bedeutsamen Werkes, wie um der ohne jede Unterstützung unverdrossen arbeitenden Künstlerschar willen, ein voller Erfolg zu wünschen. Dr. Wilhelm Müller – Debus -----------------------------------------------------------------------------------------------

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22. – 28. Oktober 1949 OST – WEST - KURIER

Nr.41 Seite 5

Heymann-Mathwich: „Die Geliebte“ Kulturarbeit einer vertriebenen Bühne Bremen. Die Heymann-Mathwich-Bühne, Berlin, die zwischen 1928 und 1933 vor allem in jenen Kreisen bekannt geworden war, die in einem religiös fundierten Leben ihre tiefste Erfüllung finden, hat in den Wirren der Nachkriegszeit ihre Heimstatt in Bremen gefunden. Von hier aus bespielte sie seit 1945 – abgesehen von zahlreichen Gastspielen in Bremer Gemeinden, denen sie kein unbekannter Begriff ist – Schleswig Holstein, Braunschweig, Westfalen und Oldenburg. Wohin sie kam, begeisterten ihre Aufführungen und wurden besonders im Sinne des geistigen Revisionismus des neuen Deutschlands überall glänzend besprochen, wo ihr positives Bekennerwort auf verständige Menschen mit fühlfähigen Herzen traf. Kürzlich machte die Heymann – Mathwich – Bühne mit einem neuen Werk ihres Autoren bekannt, das mit der Musik von Friedrich Henkel im kleinen Saale der “Glocke“ aufgeführt wurde. Es handelt sich um das Traumspiel von dem letzten Abenteuer Don Juans und Don Quixote: „Die Geliebte“ ein Werk, das die uralte Frage: „Was ist eigentlich Liebe?“ mit dichterischer Kraft behandelt. Dulcinea, Don Quixotes ewige Geliebte, zugleich Jugendliebe Don Juans, steht als Frau zwischen dem Idealisten und dem Realisten der Liebe und erlebt in sich die seelischen Erschütterungen, die den Weg der Liebe in jedem Menschenleben abzeichnen. Auch hier klingen die religiösen Motive umweltbedingt stark an, jedoch so zeitnah und für den suchenden Menschen derart unverwässert, dogmenfrei und 123

„Die Geliebte“ gemalt von dem langjährigen Bühnenmaler für Johannes Heymann Mathwich: Theodor Schlonski

positiv, dass ihre Aufnahme wie eine Befreiung wirkt. Hier bietet sich für das kulturelle Eigenleben aller Ostvertriebenen das Werk eines Flüchtlings dar, das mit sorgfältiger Mühe gepflegt worden und an der Verantwortung vor dem Heute ganz offenbar gewachsen ist. Insbesondere den Schlesiern ist Heymann – Mathwich als Regisseur von Massenaufführungen in der Jahrhunderthalle in Breslau kein Unbekannter. Auch sein jetziges Ensemble knüpft an die beste künstlerische Tradition großer Bühnen an, geht den für recht erkanntem Weg ohne Kompromisse voran und erzielt durch die kultivierte Sprechschulung seiner Mitglieder Höhepunkte schauspielerischer Gestaltung die in Atemnähe der Künstler die ganze Welt mit ihrem kleinlichen Gefüge menschlicher Schwächen vergessen machen. Weil diese Bühne als Unternehmen eines aus Berlin verschlagenen Künstlers aus kleinsten Anfängen heraus große Aufgaben meistert, und weil sie besonders dem Wesen des ostdeutschen Menschen entspricht und ihm viel zu geben vermag, erscheint ein besonderer Hinweis auf ihr Wirken in und um Bremen angebracht. Komopka 124

O8.10.1949 Bürgerwiese Bremen

(Das Datum ist willkürlich gewählt!)

Mein geliebter Rudolf ! Da habe ich nun das Briefchen, zuhause, auf Vatis Schreibtisch liegen lassen. Zum Glück habe ich dies Bildchen bei mir, das Du schon mal im Krankenhaus bei Dir hattest. So beschreibe ich es schnell mit den innigsten Grüßen für Dich, damit Du endlich den ersehnten Luftballon bekommst. Ich glaube, dieses ist wohl mein fünfter Brief an Dich, oder schreib ich erst viermal? Ich bin nämlich mit Michael im Freien, im Bürgerpark auf der Spielwiese, da sitzt er auf der Wippe und ist immer der Höchste! 1000 Küsse von Deiner Mutti (Mein Vater als Johannes der Täufer in „Enthauptung des Johannes“)

(Ilse Heymann als „Salome“ hebt die Schale mit dem Haupt des Johannes zur Brusthöhe mit den Worten: Leuchte Sonne! Licht des Christus! Leuchte durch die Not der Menschen Bis ins Schicksal dieser Erde.)

(Foto von: “Studio – Lohrisch- Achilles“, Bremen am Dobben 112. Diese Bild hatte ich immer im Krankenhaus bei mir, und wenn ich mich in den vielen Monaten alleine fühlte, dann schaute ich das Bild an und weinte leise für mich, der geschriebene Text stand hinten auf dem Bild, wann er geschrieben wurde, konnte ich noch nicht genau feststellen. Es muss aber nach 1950 sein, mit sieben kam ich in die Schule und wurde 1 ½ Jahre krank).

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1952 Lic. Emil Bock

14a Stuttgart 14a Stuttgart – O

Lic. Emil Bock

Ameisenbergstr. 76 Fernsprecher 400 27

5.11.1952

Lieber Herr Heymann! Ich stelle mir vor, dass Sie mit einiger Ungeduld auf Bescheid von mir warten. Ich bin aber leider noch nicht in der Lage, Ihnen etwas Greifbares sagen zu können. Die Reise ging noch ziemlich lange und nach der Rückkehr war ich mit vielerlei Dingen so ausgefüllt, dass ich eine Reihe von Erkundigungen nicht einziehen konnte, die erforderlich wären. Auch hat sich, was ich Ihnen von meiner Tochter andeutete, noch nicht geklärt, was auch erst in den nächsten Wochen der Fall sein kann. Ich bitte Sie also um Geduld. Ich denke Ihnen aber doch noch vor Weihnachten irgendeinen Bescheid geben zu können, so oder so. Mit herzlichen Grüßen an Sie und die Ihren Ihr Emil Bock

(Lic. Emil Bock li. Rudolf von Koschützki re. 1953)

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1953 Lic. Emil Bock

Stuttgart

Lic. Emil Bock

14a Stuttgart-O Ameisenbergstr. 76 Firmensprecher 400 27

3.1. 1953

Lieber Herr Heymann!

Ich habe es endlich anfangen können, in der Richtung, wie wir es in Bremen besprachen, zu sondieren. Ein höherer Postbeamter, der zur hiesigen Gemeinde gehört, ist gerne bereit, die etwa hier vorliegenden Möglichkeiten zur halbtägigen Fortsetzung Ihrer momentanen Tätigkeiten zu untersuchen. Er lässt mich nur bitten, Sie nach einigen Angaben über die Art Ihrer Tätigkeiten bei der Post zu fragen. Schreiben Sie mir also doch bitte gleich einige Notizen auf, die ich dann sofort weitergeben werde. Mit herzlichen Grüßen und guten Wünschen für das neue Jahr für Sie und die Ihren Ihr Emil Bock

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1953

DIE CHRISTENGEMEINSCHAFT

DIE CHRISTENGEMEINSCHAFT

STUTTGART, den 18.1.1953

Lieber Herr Heymann!

Aus dem beiliegenden Schreiben unseres Herrn Paetsch ersehen Sie das Ergebnis seiner Bemühungen. Mir scheint der Weg, der sich da evtl. zeigt, doch nicht schlecht zu sein. Auf der einen Seite böte sich Ihnen, ohne dass Sie die Brücken hinter sich abbrechen, eine Möglichkeit, in Stuttgart Fuß zu fassen, wobei man es der Zukunft überlassen könnte, wie alles mit Ihrer Familie weitergeht. Zweitens könnte man die für mich immer noch nicht ganz überschaubaren Überlegungen in Ruhe weiterführen, ob sich eine Form dafür finden ließe, dass Sie mir in allerlei Arbeiten behilflich sind. Nach dem Briefe von Herrn P. müssten Sie wohl in jedem Falle zunächst ganztägig auf der Post arbeiten. Das würde trotzdem erlauben, dass wir allerlei Besprechungen ausprobieren. Je nachdem, wie weit wir damit kommen, könnten Sie dann einmal eine Zeit lang halbtätig arbeiten, damit sich die Sache noch umfänglicher ausprobieren ließe. Höchstwahrscheinlich hätten Sie dann auch die Möglichkeit, gegebenenfalls wieder von der Halbtagsarbeit auf die Ganztagsarbeit zurückzugehen. Auf diese Weise würde ein wirtschaftliches Risiko vermieden, dass ich nicht einfach der Christengemeinschaft aufbürden möchte.

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Sie wundern sich vielleicht, warum ich so überaus vorsichtig vorgehe. Das kommt einfach davon her, dass ich selbst noch keine ganz deutliche Vorstellung von dem habe, was sich entwickeln sollte und entwickeln könnte. Ich finde auch, dass es wichtig ist, nur sicherere Schritte zu tun. Sonst kommen evtl. doch wieder schmerzliche Rückschläge und Enttäuschungen.

Nun bitte ich Sie, sich die Sache einmal reiflich und gründlich zu überlegen und mir dann zunächst das Ergebnis dieser Überlegungen mitzuteilen. Ein übereilter Schritt nützt uns nichts.

Ich musste den Brief von Herrn P. ein paar Tage liegen lassen, weil wir Lenkersitzung hatten, die mich pausenlos beanspruchte und das Briefschreiben unmöglich machte.

Mit sehr herzlichen Grüßen und Wünschen für Sie und die Ihren Ihr Emil Bock

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1953 Lic. Emil Bock

14a Stuttgart

Lic. Emil Bock

14a Stuttgart-O Ameisenbergstraße 76 Fernsprecher 400 27

21.2.1953

Lieber Herr Heymann!

Da ich bis heute noch nichts von Ihnen hörte, muss ich beinahe annehmen, dass es bis zum 1. März nicht reicht. Das ist ja aber weiter nicht tragisch, nur wäre ich gerne auf dem Laufenden. Im Augenblick bin ich im Begriff, nach Berlin zu fahren, von wo ich erst etwa am 7. März zurückkomme. Meine dortige Adresse ist Bei Herrn Ludwig Köhler, Berlin- Charlottenburg, Goethestr.79. Geben Sie mir bitte dahin durch eine Karte Bescheid wie alles steht und weitergehen wird. Sollten Sie im letzten Moment doch noch den 1. März erreichen, so bitte ich Sie, sich mit der hiesigen Gemeindehelferinnen Frl. Martha Müller (Schubartstr. 32, Haus der Christengemeinschaft) in Verbindung zu setzen, die ich bat, sich nach einem Zimmer umzusehen. In Eile herzliche Grüße Ihr Emil Bock

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Lic. Emil Bock

14a Stuttgart-O Ameisenbergstr. 76 Fernsprecher 400 27

17.4.1953

Lieber Herr Heymann! Ich stelle mir fortwährend die Enttäuschung vor, die jetzt den wesentlichen Inhalt Ihres Fühlens ausmachen wird. Es ist auch wirklich zu schade, welchen Streich uns da der sture, spießige Bürokratismus gespielt hat. Ich habe zuerst gedacht, es ließe sich mit Hilfe von Herrn Vasmer noch etwas erreichen, da ja doch die Sache so einleuchtend und realisierbar erschienen war. Ich möchte auch jetzt die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben, dass auf dem geplanten Wege etwas zu einreichen ist, aber nun müssen wir vielleicht doch auch allmählich der Frage nachgehen, ob es nicht auch andere Anmarschwege zum gleichen Ziele gibt. Leider steht bei mir dem konkretem Nachdenken darüber eine Erwägung im Wege. Es beginnen ja jetzt die vielerlei Sommerverpflichtungen, die mich immer auf längere Zeit von Stuttgart wegführen, so dass für die nächsten Zeiten keine rechte Aussicht ist auf die ja erforderliche ruhige Möglichkeit, Sie in diejenigen Sachen herein zu nehmen, von denen ich mir gedacht hatte, dass Sie dabei helfen können. Natürlich wäre dies weiter nicht schlimm, wenn wir auf dem bisher versuchten Wege dennoch Erfolg hätten, denn dann wären wir in jeder Hinsicht frei, und Sie würden, auch ohne das wir gleich bei mir anfangen, in Stuttgart die Zeit positiv nützen können. Anders ist es natürlich, wenn man jetzt irgendetwas Forciertes ausdenkt. So will mir scheinen, dass wir am besten tun, uns noch einmal mit einiger Geduld zu wappnen und in Ruhe nach Möglichkeiten Ausschau zu halten. Wir wollen aber doch im Briefkontakt bleiben. Sie sollten mir alle Erwägungen, die jetzt durch Ihre Seele gehen, andeuten, selbst wenn es nur ganz vage Tastversuche sind. Irgendeine Spur wird sich schon zeigen, die es sich zu verfolgen lohnt. Mit herzlichen Grüßen Ihr Emil Bock 131

1953

Lic. Emil Bock

Stuttgart

Lic. Emil Bock

14a Stuttgart-O Ameisenbergstraße 76 Fernsprecher 400 27

18. 5. 1953

Lieber Herr Heymann!

Ich freue mich, dass unsere Geduld doch Früchte trägt. Es ist so gelaufen, wie ich es im Gefühl hatte, als ich meinte, man solle doch noch ein wenig den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen und nicht gleich denken, wir hätten einen Fehlschlag erlitten. Nun bekomme ich heute ihre Frage wegen Pfingsten. Dazu ist folgendes zu sagen. Wir hatten damals ein Zimmer für Sie gemietet und hatten günstiger Weise eines ganz in der Nähe meiner Wohnung gefunden. Das hätten wir aber auch nur für 2 oder 3 Monate haben können. Wir haben es dann noch vor Ablauf des ersten Monats wieder freigeben können. Jetzt haben wir natürlich noch nicht gleich eine systematische Fahndung angestellt, aber wir haben in Sillenbuch eine kleine Notunterkunft bereit, die für eine erste Zeit schon dienen könnte und erlaubt, in Ruhe nach einem geeigneten Zimmer zu suchen. Leider sind die Zimmer hier im Allgemeinen nicht billig, aber wenn wir nicht allzu sehr unter Druck stehen, können wir uns ja etwas Zeit lassen. Ich habe gleich heute das Nötige veranlasst, damit unter den durch unseren Seminarbau freigewordenen Seminaristenzimmern nach etwas Geeignetem gesucht wird. Ob ich Ihnen nun raten soll, schon zum Pfingstfest herzukommen, weiß ich nicht recht. Ich bin bis zum 1. Juni zwar in Stuttgart, aber ich werde in der Woche zwischen Pfingsten und dem 1. Juni doch außerordentlich in Anspruch genommen und richtig mit den gemeinsamen Arbeiten anzufangen, wäre noch nicht möglich. Wir könnten uns nur an einigen Punkten an das

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Mögliche herantasten. Ich habe mir bei dem jetzt beschrittenen Weg vorgestellt, dass Sie zunächst eine gewisse Zeit zum Einleben brauchen, einerseits was ihren postalischen Dienst anbetrifft, andererseits aber auch, was die Stuttgarter Lebensverhältnisse angeht. Ich dachte, dass man dann daneben noch die Zeit findet, die zu einer ersten Orientierung erforderlich ist. Es wird ja nötig sein, dass ich Ihnen zunächst alle möglichen Sachen zeige und schildere, von denen ich mir vorstellen könnte, dass man Entlastungen herbeiführen kann. Wenn Sie nun schon Pfingsten kommen sollten, so würde ich Ihnen wohl eine Freikarte für die anthroposophische Tagung verschaffen können. Wenn Sie also die Automöglichkeit durch Herrn Helmers auch vor dem Pfingstsonntag haben und bis dahin noch Ihre Urlaubsangelegenheit rechtzeitig regeln können, steht Ihrem Eintreffen zu Pfingsten nichts im Wege. Sie werden die Woche zwischen Pfingsten und dem 1. Juni schon nützlich ausfüllen können, und manches ließe sich auch trotz meiner Beanspruchung schon langsam zwischen uns ankurbeln. Wenn Sie nicht schon zu Pfingsten kommen können, sondern erst zum Wochenende nachher, hätten wir immerhin noch den Sonntag vor dem 1. Juni, um zu einer ersten Verständigung zu kommen. Am 1. Juni selbst fahre ich in die Gegend von München, wo wir eine Woche lang Lenkerkonferenz haben. Sehen Sie also zu, wie es nach Ihrer Meinung am besten gemacht wird. Damit es schnell geht, schicke ich diese Zeilen per Eilbrief. In Eile herzliche Grüße und Wünsche Ihr Emil Bock

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Stuttgart, am 23. Mai 1953

O, wie schön ist dieses Stuttgart ! Innigst geliebte Frau, bitte nicht böse sein, ich konnte nicht eher schreiben. Die Autofahrt! Jetzt sitze ich im Hause Emil Bock’s! Innerlich bin ich zutiefst überwältigt! Wie er mich empfangen. Soeben haben wir meine Arbeitsgebiete besprochen: Ich bin begeistert von den Aufgaben. Einiges sei Dir mitgeteilt! Mitarbeiter bei der Redaktion der Zeitschrift: Die Christengemeinschaft, Durchsehen, und Einrichten der Manuskripte zu seinem neuen Buch „Paulus“, Archivarbeiten an Manuskripten und Briefen, nach Schriften Dr. Steiners. Die Fülle kann ich Dir gar nicht mitteilen außer der Arbeit, die sich aus dem Laufenden ergibt. Bitte nicht zuviel darüber sprechen! Ich habe einmal darauf los erzählt. Aber in einem späteren Brief werde ich chronologisch beginnen. Heute war ich zum Mittagbrot bei Bock eingeladen. Sekretärin, Hausdame und Mädchen. Ungezwungene heitere Gespräche. Er sorgte bei Tisch für mich! Nach Tisch brachte er mich in ein Zimmer zum Ausruhen. – Da sitze ich nun. – Um 3:00 Uhr gibt es Kaffees. Zu 16:00 Uhr fährt Bock mit mir im Wagen zur Tagung. ---------------------------------Schnell noch der Reihe nach. Um 5:00 Uhr (17) am Nachmittag fuhren wir wohl in Bremen ab. Es war eine anstrengende

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(Auto war primitiv) aber doch sehr schöne Fahrt. Von Kassel ab landschaftlich zauberhaft. 9 ½ abends in Hannover, am Morgen circa 4:00 Uhr in Kassel. Um 12 ¼ Uhr mittags fuhr ich an Darmstadt vorbei, also über Frankfurt am Main, Karlsruhe, Pforzheim bis Stuttgart. Um 5 1/2 Uhr nachmittags, also nach 24 Stunden ununterbrochener Fahrt hielt ich meinen Einzug in Stuttgart, aber da fing es gerade an mit Blitzen, Donnern und gewaltigem Regenguss. Um 6:00 Uhr landete ich im Hause der Christengemeinschaft. Bock hatte schon nach mir gefragt! Dann sprachen wir telefonisch. Seine rührende Besorgnis und Freude. Dann fuhr ich zu meinem vorläufigen Zimmer nach Sillenbuch. Circa 7:00 Uhr bin ich dort. Schnell umziehen, waschen, rasieren – Und 7 ¾ Uhr erwartet mich Bock am Eingang zum Tagungsraum. Ich erreiche ihn 7:50 Uhr. Bock erwartet mich schon, kommt sofort eilig auf mich zu. Herzliche Begrüßung. Ja, sage ich unter anderem: „Bis zu dem Präsidenten musste es gehen“. Bock: „Umso besser, da hat es den Segen der Obrigkeit“. Er überreichte mir die Tagungskarte. – Da standen dann viele herum und beschauten uns. Und nachher begrüßten mich die „Vorstände“ sehr achtungsvoll. Nun ja, dumm, dass man so etwas bemerken muss, aber Bremen war schwer. – Na, nun fahren wir gleich zusammen mit dem Wagen hin zur Tagung. Er will mich wohl gleich überall „standesgemäß“ einführen. Nun, mir tut es wohl. Ich fühle mich in seinem Hause wie in einem „Zuhause“. Eigentlich möchte er, dass ich in seinem Hause wohne, aber die Hausdame… u. s. w. Als Arbeitsraum habe ich ein Zimmer im Hause indem Bock auch zelebriert. In dieser „Luft“ darf ich dann täglich arbeiten. Geliebte, Süße, diese kurzen Bemerkungen zuerst einmal. Dankbar umarme und küsse ich Dich Dein Johannes.

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Geliebte Frau, noch einige entscheidende Mitteilungen. Nach dem Mittagsbrot führte er mich in ein Zimmer zum Ausruhen. Da fing ich an, an Dich zu schreiben. Um 3:00 Uhr tranken Bock und ich gemeinsam allein den Kaffee. Er schenkte mir den Kaffee ein, legte mir das Weißbrot auf den Teller. Alles unbeschreiblich für mich. Die Gemeinschaft mit diesem Mann! Dann fing er gleich wieder an in den Manuskripten zu suchen. Ich mit dabei. Dann erinnerten wir uns wieder an den Kaffee u. s. w. Auf unserem Kaffeetisch stand eine wunderbare Rose. Inzwischen hat er alles, mit dem Zimmer besprochen. Ich wohne bei ihm, vorerst einmal. Die Familienmitglieder sind fort z. Zt. Mit Armen voll Arbeit hielt ich meinen Einzug ins Zimmer. Vor mir liegen herrliche Kristalle, auf der Kommode stehen weiße Pfingstrosen. Mit der Hausdame bin ich sehr gut Freund, eine Frau d’Ailli . Ich wurde vollkommen verpflegt. Morgen zelebriert Bock die Pfingsthandlung. Nach dem Kaffee fuhr dann Bock mit mir im Auto zur Tagung. Ich fühle mich ohne überheblich zu sein zuinnerst begnadet. In Liebe

Dein Johannes.

Am Rand geschrieben: Es ist noch viel zu berichten. Frl. Müller, die Gemeindehelferin kennt uns von Stettin! Sie hat Dich in Deinen großen Partien gesehen u. gehört! Nun laufe ich noch schnell zum Bahnhof.

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Stuttgart, den 25. Mai 1953 Ameisenbergstr. 76

Geliebte Frau, wie mag nun wohl die Angelegenheit mit dem Eilbrief ausgegangen sein. Warst Du in Worpswede? Du kannst Dir ja denken, wie das ist, wenn ein Mensch nach so schweren Jahren sich wie in eine „himmlische Sphäre“ versetzt vorkommt. Soeben bin ich wieder im Auto mit Bock zusammen von der Tagung nach Haus gefahren. Dann machte Bock scherzhaft „Remmidemmi“, damit das Mittagbrot auf den Tisch kommt. Heute waren noch eine Tochter und der Sohn zu Tisch. Ich muss mich immer tüchtig satt essen. Es schmeckt wunderbar. Was sind das für Gemüse, Pilze, Salate. Gestern gab es sogar Rindsgoulasch. Wenn Du Dir das so anhörst, dann musst Du denken, ich bin ein Materialist geworden. Aber Du verstehst, warum ich dies geradeso schreibe. Ich bin so glücklich in seiner (Bocks) Gemeinschaft zu leben. Ich war so einsam in Bremen. Gestern, also am Sonntag, dem 1. Pfingstfeiertag war ich in der Handlung. Ich saß wie in einem großen Dom, um mit alten Empfindungen das Neue anzudeuten. Einen herrlichen Chor und Musik haben sie hier und sehr oft in der Handlung Musik. Als Gemeinde – Chor wurde Dr. Lindenbergs Novalis Vers gesungen. Bock zelebrierte. Nach der Handlung, ich muss schon sagen, flog die gute Frau Leger auf mich zu mit ihrem Mann. Das war ein herzliches Wiedersehen. Sollte gleich zum Mittag kommen, aber ich musste doch heim zu Bock. – Nach dem Mittagbrot habe ich sie dann besucht und dort Kaffee getrunken. Dann muss ich erzählen, erzählen…, aber nur 1. Stunde, da musste ich wieder zur Tagung. 137

Nach der Handlung wollte mich Bock mit Paetsch bekannt machen, dafür sorgte aber schon Frau – D’Ailly und Frau Leger. Als Bock kam, konnte er nur noch lachen, wie alles im Gang war. Ein herzlicher Mensch dieser Herr Paetsch und er stellt mich dann dem Oberpostamtmann vom Postamt 9 vor. Gestern Abend begegnete ich auf der Tagung noch Frau Thiersch, die ja in Stuttgart zuhause ist, aber in Köngen (Eurythmie – Ausbildung) wohnt. Sie machte große Augen, schien es gar nicht zu fassen. Heute, kurz vor der Abfahrt mit Bock sprach mich die Tochter von Käthe Henn an. Sie studiert in Tübingen. Da ich gleich abfuhr, so konnte ich mich gar nicht lange unterhalten. Und zu dieser ganzen Feststimmung dieses märchenhafte sonnige Stuttgart. Liebste Frau, ich kann Dir nur eins sagen: Möglichst schnell eine Wohnung – herunter von den Schulden – und nach Stuttgart, hier wirst Du gesund an Leib Seele – und Geist. Dies sind herrliche Pfingsttage für mich und wir wollen hoffen, dass es so weitergeht wenn auch die harte Arbeit kommt. --------------------Nun noch ein wenig Profanes. Mit den Oberhemden war es ja peinlich, ausgerechnet die ältesten und immer in Gesellschaft. Wichtig ist mir, dass ich zum Arbeitsbeginn das graue Hemd hier habe und zumindestens, ein anderes Hemd. Gelegentlich sendest Du mir bitte den Bücherstoß, der im Bücherschrank unten bei der Wäsche neben dem Ofen steht. Den großen Stapel wollte mir ja Theo als Fracht besorgen. ----------------------Am Montag, dem 1. Juni wirst Du wohl das restliche Gehalt holen und vergesse nicht zu Herrn Scholz zu gehen, wo Du die Krankmeldung abgegeben hast, um noch das Überstunden-

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geld für den Nachtdienst zu kassieren, ich glaube so circa DM 9.- oder 10.----------------------Bei Rudolf* bin ich nun so dicht vorbeigefahren. An Michaels Geburtstag denke ich (30. Mai) Innig umarmt und küsst Dich Johannes

An den Rand auf der Rückseite geschrieben:

Grüße herzlich alle Freunde und erzähle Ihnen, welche Freude ich habe.

(Anmerkung 27. 03. 08: *ich (Rudolf Heymann) war zur Erholung in einem Landschulheim in Malchen bei Eberstadt, südlich Darmstadt).

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Stuttgart, am 26.Mai.1953 Ameisenbergstr. 76 Meine geliebte Isfrau, Heute Morgen erhielt ich Deinen lieben Gruß – Karte u. Brief u. Brief von Rudolf. Ich konnte nicht einmal sofort öffnen, da ich schon den ganzen Vormittag mit Bock arbeite. Ach, geliebte Frau, wenn ich nach diesen Tagen sterben müsste, so wäre ich doch glücklich, diese Stunden erlebt zu haben. Heute Morgen hielt Bock in seinem Kultraum im Hause die Handlung. Ich ministrierte. Wir waren Beide ganz allein. Niemand war zugegen. Welch ein Ereignis für mich. Ich musste als Ministrant alle Gemeinden innerlichst bewegen von Europa bis Amerika – ein Pfingst - Erlebnis. Dann frühstückten wir zusammen und seit dem arbeiten wir auch zusammen. Eine kleine Mittagspause benutze ich für diese Zeilen. Bin ganz voll gegessen. Es gab Spargel in Butter mit Kartoffeln und noch ein zweites Gemüse, grüne Bohnen und hinterher Omelett mit Obstsaft. Zu frühstücken gibt’s guten Kaffee, Brötchen, Butter, Käse. Du kannst ruhig sein. Vorläufig geht es mir so gut, wie selten in meinem Leben. Aber Dein Brief hat mich zutiefst bewegt – wie viele Sorgen, aber der Brief enthielt auch soviel Schönes und Beglückendes. Ich werde ihn noch öfter lesen, weil ich im Augenblick so in den von Bock gestellten Aufgaben stehe. Bis 17:00 Uhr muss ich alles vorgearbeitet haben. Es ist wunderbar so mit ihm im Arbeitszimmer zu sitzen. Es ist in Blau gehalten, wie meines auch immer war. Da sitzen wir dann nebeneinander am runden Tisch. Die Köpfe zusammen in die Manuskripte gesteckt. Ich war sehr glücklich gleich am Anfang den

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richtigen Zyklus genannt zu haben, wo Dr. Steiner dies, woran wir herumrätselten, in ähnlicher Form zum Ausdruck gebracht hat. Bock holte sofort den Zyklus und es stimmte, aber auch noch das andere, was ich dazu zu sagen hatte. So habe ich noch manches Rätselhafte zur Lösung erhalten. Es ist ein Forschen in unveröffentlichten Arbeiten Dr. Steiners und gefundener Nachschriften. Du wirst ermessen können, wie begeistert ich arbeite. Er suchte zum Beispiel eine Stelle und meinte sie zu finden in den Vorträgen der Blätter für Anthroposophie. Ich sagte gleich, das stimmt nicht, die Vorträge kenne ich. Bock fand die Stelle dann auch in einer anderen Veröffentlichung. Ich sage dies nicht aus Eitelkeit oder Überheblichkeit, sondern ich war glücklich, positiv sein zu können. Ich bin doch leicht erregt und hastig in solchen Augenblicken, aber hier – habe ich – und genieße ich – in Ruhe. Geliebte Frau, ich habe viel zurück gedacht, schon auf der Fahrt – mit welcher Liebe Du mich umgabst, so von Sorgen bedrängt, dass wir endlich ein Auto erwischen. Mir ist das mit der Fahrt besser ergangen als Frau Thiersch, die hat 2 1/2 Tage dazu gebraucht (mit Achsenbruch). Ich aber fuhr zwar 24 Stunden, aber ohne Panne. Es hat alles auf die Stunde geklappt! – Ob Du nun in Worpswede meinen Eilbrief erhalten hast? Ich wusste nicht, wie ich die Benachrichtigung anstellen sollte. Feiertags ist nach Worpswede schlechte Verbindung. Der Kursus für Alice Dullo ist vorläufig abgesagt. An Gertrud Fackler habe ich geschrieben. Beide Jungen haben eine schöne Karte erhalten. Rudolfs Brief ist entzückend. Wie liebe ich seine Darstellungen. Nun will ich schnell weiterarbeiten. Die Zeit, wann Bock „Zeit“ hat, muss ausgenutzt

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werden. Nächstens werde ich mehr Zeit haben, weil er fort ist aus Stuttgart. Man begegnet mir mit großer Hochachtung, dies betont man aufgrund der Bremer Erlebnisse. Darf ich noch sagen: auf einer Postkarte nicht „alles“ schreiben z. B. Geldangelegenheiten u. s. etwa. Die Karte, die ich erhalten habe war lieb und gut. Ich sage dies nur, weil Du manchmal „öffentlich zu offenherzig“ bist. Von ganzem Herzen danke ich Dir für Deinen wirklich ausführlichen Brief (wo nimmst Du nur die Zeit her?). Sei innigst umarmt und geküsst von Deinem Johannes

Randbemerkungen: Jeden Tag denken, wie komme ich am schnellsten nach Stuttgart! Alles in Bewegung setzen wegen Tausch. Das billigste möblierte Zimmer kostet hier circa 40 DM. Du kannst es Dir nicht vorstellen, wie schön es hier ist.

Dass meine Isfrau zur Genialität veranlagt ist, habe ich zwar des Öfteren behauptet – aber – ich glaube mir wurde widersprochen – gut, dass es wenigstens Andere sagen.

So, - jetzt eben komme ich von Bock herunter, es ist 9:00 Uhr abends. Über 11 Stunden waren wir heute beisammen. Es war herrlich und ich bin glücklich. Nun lauf ich noch schnell 10 Minuten zum Kasten mit Nachtleerung um 9 ¼ Uhr abends.

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Stuttgart, am 27.Mai.1953 Ameisenbergstr. 76 Innigstgeliebte Frau, heute hatte ich einen kleinen Gruß erwartet, denn es bewegte mich sehr, wie es mit dem einen Brief nach Worpswede abgelaufen ist. Aber was hast Du alles auf dem Kopf mit Deiner Arbeit und der Wohnung durch die Tischler. Deinen so lieben Brief habe ich nun schon des Öfteren gelesen. Wie dankbar bin ich Dir, dass Du Dir soviel Zeit erübrigt hast für die ausführlicheren Mitteilungen. Sei bitte nicht enttäuscht, wenn meine Briefe nur solchen Telegrammstil haben, aber ich habe ja den ganzen Tag für Bock zu tun. Nachdem ich heute alle Arbeit abgeliefert hatte, sitze ich im Augenblick mit sieben verschiedenen Arbeiten wieder auf Tempo. Aufsätze lesen für die Zeitschrift, und was ich dazu zu sagen habe, Korrekturen an Büchern von Bock, zwei rätselhaften Themen, anthroposophischen, im gesamten Werk Dr. Steiners nachforschen, sehr interessant, eine Aufstellung für die Seminarbibliothek, Buchbesprechungen u. s. w. Aber bitte nicht ausführlich zu anderen darüber sprechen. Bock hat sich schon gefreut, dass soviel weggearbeitet ist. Heute sagte er mir schon, ich solle doch nicht den ganzen Tag arbeiten, aber ich sage mir, er ist doch zufrieden, wenn es aufgearbeitet ist. – Schade, dass ich noch in die Post muss, kann es mir kaum noch vorstellen. Ich würde bei Bock lieber doppelt solange arbeiten. Das soll aber keine Klage sein, im Gegenteil, nur meine Freude zum Ausdruck bringen. Heute stellte mir das Mädchen herrliche duftende Rosen ins Zimmer. Da bat ich sie, mir Blümchen für die Vase meiner Frau zu beschaffen. Sie war begeistert von der kleinen Runden, und brachte sie dann gefüllt mit den verschiedensten Blüten, ich sag ihr, ganz wie Du es liebst und machst.

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Von Facklers kam heute eine liebe Karte. Gertrud liegt zwar nicht mehr im Bett, ist aber sehr schwach. Wenn es sich mit der Zeit und Bock vereinigen lässt, so erwarten sie mich am Sonnabendnachmittag bis Abend, übernachten geht nicht wegen der Krankheit. Fahre auf Sonntag - Rückfahrkarte. Viel Geld für mich im Augenblick, circa DM 5.-. Aber den Besuch bin ich Facklers schon schuldig. Wenn ich nicht Gast im Hause Bocks wäre, so wäre ich wohl kaum mit meinem Geld zurechtgekommen. Vor einigen Tagen ist Dr. Schwebsch gestorben. Morgen ist die Bestattung. Du erinnerst Dich, der in Bremen zur Schlichtung damals in der Waldorfschule war, auch Vortrag hielt. Das Rudolfbrieflein ist doch entzückend: Grüßt den Hafen, Dein Rudolf aus den Bergen ! ! Michael hat doch am 30. Mai Geburtstag? Ich denke mir, wenn Bock in der nächsten Woche fort ist, so habe ich ein wenig mehr Zeit, um über unsere Probleme nachzudenken und hier herum zu sprechen. Man kann schon Wohnungen bekommen, nur unbezahlbar. Denkst Du daran, so am 9. herum herüber zu kommen? Traumhaft ist es hier! Aber wenn ich selbst Gast bei Bock bin, so kann ich nicht noch jemand einladen, das wäre wohl unverschämt, vielleicht bekomme ich aber auch noch ein Zimmer in der Nähe, weil Bock das Haus noch für seine Familie, die Kinder, bereithalten muss. Mein Arbeitszimmer behalte ich ja. Bekomme ich also bis dahin noch ein anderes Zimmer, so ist Dein Aufenthalt kein Problem. Wie viel Zeit mir nun übrig bleibt bei Post und Bock, das weiß ich nicht, doch weiß ich auch nicht, wie lange Bock fort ist. Also noch ein wenig Geduld und Überlegung. Ich bin ja selbst noch nicht ganz da in Stuttgart; durch die viele Arbeit komme ich kaum aus dem Haus. Liebste Isfrau, immer wieder denke ich an den Tag meiner Abfahrt, mit welcher Hingabe Du meine Abreise betreutest.

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Übrigens fuhr der Chef nur bis in die Stadt mit. Wir waren nur drei im Wagen. Die Fahrt ging reibungslos, wie ich schon schrieb, nur langsam, aber sicher und landschaftlich ein Genuss. Am Freitag klappte alles auf die Minute, eben noch im letzten Augenblick. – Legers verreisen morgen für einige Wochen, so will ich sie heute Abend noch kurz besuchen. Frau Leger ist temperamentvoll wie früher, aber behindert, schwach auf den Beinen. So meine Herzensfrau, hoffentlich kommen nun auch bald für Dich Tage der Ruhe nach diesem stürmischen Abreisen. Ich umarme Dich und gebe Dir aus der Stille, Ruhe und Schönheit meiner Umgebung heraus einen innigen Kuss

Johannes

An die Hemden denkst Du wohl, insbesondere an das graue Hemd.

Unser Hochzeitsgedenken hat fast zu sagen eine kosmische Weite bekommen, aber wir wollen doch sehen, dass wir auf dem schnellsten Wege wieder den gemeinsamen Mittelpunkt aufbauen. Herzlichste Grüße an alle Freunde, besonders Ria u. Theo. Alle Tage werde ich wohl nicht schreiben können, das wird zu viel Porto kosten. Wenn Du dort einen Brief am Abend in den Kasten bringst, so kommt er vielleicht am nächsten Tag mit der Nachmittagspost Rudolfs Brief lege ich wieder bei.

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Stuttgart, am 28. Mai 53 Ameisenbergstr. 76 Geliebte Isfrau, am Mittwoch und am Donnerstag (heute) habe ich keine Nachricht von Dir erhalten und ich hätte so gerne gewusst, ob Du den Eilbrief in Worpswede erhalten hast. Sieben Tage bin ich in Stuttgart und mir ist, als hätte ich in diesen sieben Tagen mehr erlebt, als in sieben Jahren Bremen. Nach arbeitsreichem Tag ging ich mit der Sekretärin Frau Schellbach in den Saal der Waldorf – Schule zur Aussegnung des verstorbenen Dr. Schwebsch. Was wäre da alles zu erzählen. Der Sarg war auf der Schulbühne aufgebahrt unter 20 hohen Kerzen und einer gewaltigen Fülle von weißen und roten Rosen, Pfingstrosen u. s. w. Mir stand das Bild unseres Gralspiels vor der Seele, der schlafende Parzival und Kondwiramur. Eindrucksvolle Musik: Bach – Vogel, viele Ansprachen, Bock zelebrierte das Totenamt, zwei Priester, Lenker Borchard u. Lenker Göbel ministrierten. Es war ein geistiges Ereignis. Dieses war gestern, am Mittwoch. Heute, am Donnerstag war ich um 7:00 Uhr in der Handlung. Frühstückte um 8:00 Uhr mit Bock. Dann ging’s zum Krematorium. Was mich hier erwartete, das war überwältigend. Das Krematorium ist zu klein. So war Dr. Erich Schwebsch im Eingang aufgebahrt, sichtbar für die Festteilnehmer innen und vor dem Portal. Es waren nicht nur viele Menschen, es waren Geister, schöne vergeistige Köpfe und in solcher Fülle vertreten. Unendlich viele Ansprachen, auch Vertreter von England u. Holland. Was hatten sie alle zu sagen über diese

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Persönlichkeit. – Bock zelebrierte wieder – mit den beiden Priestern. Wirklich – eine Handlung!! Ein Anthroposoph sagte später in seiner Ansprache: „Die Worte der heiligen Handlung öffneten das Tor in die geistige Welt“. – Und so war es. Auf der Rückfahrt begegnete ich dem kleinen Lehrer Vasmer; er war sehr erstaunt mich in Stuttgart zu finden. Nach dem Mittagessen mit Bock, wir unterhielten uns über die Feier. Ich musste ihm meinen Eindruck schildern. Dann ging’s wieder an die Arbeit. Als mir vor Anstrengung der Kopf ein wenig dumm wurde, wollte ich noch ein wenig spazieren gehen. Da fiel mir ein: ich könnte auch Lemkes einmal aufsuchen. Da fand ich ihn auch schon im Telefonbuch. Er wohnte 100 m entfernt. Herr Lemke kam mir gleich entgegengelaufen. Frau Lemke hat viel erzählt. Aber sie will sich um eine Wohnung für uns bemühen, hat so einen Maler, durch den auch sie eine Wohnung bekommen haben. Mit Herrn Lemke machte ich dann noch einen herrlichen Spaziergang hinauf zur Sternwarte. Das erleuchtete Stuttgart, wie ein Lichtmärchen, Lichter die Berge hinauf und hinunter und in allen Farben. Wie freue ich mich schon, wenn wir hier spazieren gehen. Jeden Abend danke ich der geistigen Führung für diese Schicksalsgnade. Solche Tage habe ich wohl noch kaum erlebt. Nun am Montag beginnt die Post, da wird es dann schon anders aussehen. Aber man ist dankbar für die Tage, die einem geschenkt wurden Meine geliebte Isfrau, nun lass bald einmal von Dir hören, aber ich weiß auch, dass Du schon wieder viel zu schaffen hast. Mit herzlichem Kuss umarmt Dich Dein Johannes

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Stuttgart, am 30. Mai 1953 Ameisenbergstr. 76 Einzig geliebte Frau! Soeben erhielt ich Dein Paket, so lieb und sorgfältig verpackt. Innigsten Dank. Obenauf fand ich nur die wenigen Zeilen. Du hast aber auch wenig Zeit. Gewiss hast du Michaels Geburtstag auch noch bedenken müssen. Ich sandte gestern an Michael durch Eilboten das Buch von Elisabeth Klein, der Lehrerin in Hannover: „Die Wandlung des Michael Eisenherz“ und dazu ein Brieflein. – Heute am Sonnabend fahre ich mit Rückfahrkarte nach Reutlingen, um 14:30 Uhr. – so, dies war ein Vorspiel – nun will ich wieder der Reihe nach berichten.

Bis zur Begegnung mit Lemkes am Donnerstag – Abend habe ich wohl berichtet. Bei diesem Besuch spürte ich sehr, bis zur Peinlichkeit, dass die Ehe gestört ist, wenn nicht zerbrochen. Ich war froh, als ich wieder daheim war. Am Freitag – Morgen wieder Handlung und dann ging’s zu Herrn Paetsch. Entzückend liebenswürdiger Empfang im Postscheckamt. Er ist Oberpostamtmann. Wir haben uns dann über alles „Postalische“ ausgesprochen bis nach 11:00 Uhr. Dann gingen wir zusammen zum Postamt neun, zum Leiter des Postamtes, Oberpostamtmann Schreck. Durch die Gegenwart von Herrn Paetsch wohl, wurde ich mit einer Liebenswürdigkeit behandelt, als wäre ich auch „Amtmann“. Dann ging der Herr Schreck mit mir zu den einzelnen Abteilungen, stellte mich vor. Alle Herren Oberpostinspektoren waren sehr devot und liebenswürdig. Eine köstliche Szene für einen „Postfacharbeiter“. Ich wurde gefragt was ich gemacht habe u.s.w. Aber ich glaube, wegen der Arbeit muss ich mir keine Sorgen machen. Da ist überall die Liebenswürdigkeit von Herrn Paetsch dazwischen. Er kennt alle, von der Aufsicht bis zum Leiter des Postamtes. Herr Paetsch sagte mir, ich soll sofort zu ihm kommen, wenn ich irgendwie

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Kummer habe, und das gleiche sagte mir der Leiter des Postamtes, Herr Schreck. Am Montag melde ich mich nun um 8:00 Uhr morgens bei dem Leiter des Postamtes, Herr Schreck, und dann werde ich mich so langsam einarbeiten. Der erste Eindruck bedeutet für mich eine große Erleichterung, jedenfalls bin ich von eindrucksvoller Liebenswürdigkeit umgeben. Das Postamt befindet sich links vom Haupteingang des Bahnhofes. In 20 Minuten erreiche ich es zu Fuß vom Ameisenberg. Gebe also vorläufig kein Fahrgeld aus. Das ist schön, gelt! Beim Mittagbrot habe ich dann Herrn Bock alles berichtet. Am Nachmittag arbeitete ich wieder mit Bock. Ich hatte auch alle Vorbereitungen fertig. Dann gab er mir ein Päckchen Kekse, selbst gebackenes, ganz vorzüglich, das ihm gewiss eine Dame mitgebracht hat, das sollte ich man abends essen, wenn ich noch Appetit bekomme. Oft sorgt er dafür, dass ich sitzen bleibe und weiter essen muss. Ich kann doch nicht so schnell essen. – So, jetzt fahre ich erst einmal zu Facklers. ---- Meine Isfrau, um 23 ½ Uhr kam ich heim von Facklers aus Reutlingen. Auf meinem Schreibtisch empfing mich eine Schale mit Erdbeeren. Das war köstlich und liebevoll! Es war entzückend bei Facklers, so als ob ich von der Karlstr. in Berlin herüber gelaufen wäre zur Charité die Straße. Wir empfanden uns alle so. Wir haben uns viel über Michael unterhalten. Herr Fackler konnte immer wieder von Michael erzählen. Aber ich glaube ich sende vorerst einmal diese Zeilen an Dich ab und erzähle in einem neuen Brief weiter.

Heute ist Sonntag! Nur von Herrn v. Koschützki soll ich Dir noch herzlichste Grüße bestellen. Unsere Unterhaltung war begeistert, wie einst in Berlin. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie ich mich hier als Mensch empfindet. In der Rückerinnerung ist mir, als hätte ich Jahre in der Finsternis gelebt.

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Wenn Du nur dieses Glück erst mit mir teilen könntest! Wie wünsche ich Dir dies von Herzen. Am Sonnabend erhielt ich nun den Brief, der eigentlich eine Antwort hätte sein müssen auf meinen Eilbrief. – Warst Du in Worpswede?? Hast Du den 1. Brief in Worpswede erhalten? – oder ist ein Brief von Dir verloren gegangen? Ich erhielt bisher: eine Postkarte am Dienstag nach Pfingsten. Einen dicken Brief mit der gleichen Post. Mittwoch, Donnerstag, Freitag erhielt ich keine Post. Am Sonnabend dann Mittags das Paket und am Nachmittag den Brief. mit einem innigen Kuss umarmt Dich Dein Johannes Fortsetzung folgt: !

Randbemerkung:

Einliegend der goldene Brief von Rudolf (wieder zurück) und die Karte von Facklers.

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Stuttgart, am 31. Mai 1953 Ameisenbergstr. 76 Geliebte Isfrau, der Sonntag ist zu Ende. Nur eine halbe Stunde war ich hinauf zur Uhlandshöhe, wunderbares Panorama, Berge und Täler und Sonne und Leuchten! Sonst habe ich den ganzen Sonntag gearbeitet. (Heute am Paulus – Buch von Bock) Als ich mit der Hausdame Frau D’Ally andeutend darüber sprach, meinte sie: „Das können Sie alles? – Das ist aber schön für Herrn Bock“. Spreche über diese intimen Dinge aber nicht mit Freunden vom Dobben, damit so etwas nicht als Gespräch zirkuliert. Morgen fährt Bock fort. So hat er mich heute noch mit Arbeit eingedeckt. Da könnte man viel erzählen, aber das geht nun leider nicht. Übrigens habe ich festgestellt: Wenn Du am 28.5. früh um 7 1/2 Uhr einen Brief in den Kasten geworfen hast, so habe ich diesen Brief nicht erhalten. Wie kann das zugehen? Deine wirtschaftlichen Sorgen bewegen mich sehr. Nun will ich erst einmal hören, wie es am 1. Juni hinkommt. Vergiss nicht, das Überstundengeld von Herrn Scholz abzuholen, circa DM 10.-Du musst unbedingt genug Geld für Dich behalten, als Taschengeld, damit Du nicht so in Bedrängnis herumläufst. Die Schulden müssen eben noch einige Zeit konserviert werden. Ich habe doch viel Glück in Stuttgart gehabt, dass ich vollständig Gast bei Herrn Bock bin. Sonst wäre ich niemals mit meinem Gelde zurechtgekommen. Die Fahrt zu Facklers hat nun leider 5.60 DM gekostet und das Geburtstagsgeschenk mit Porto für Michael 6.-DM. Und das war sehr viel Geld für meine Verhältnisse. Wenn die Zeit noch reicht, schreibe ich Dir meine Ausgaben auf. Ich besitze jetzt noch 21.35 DM Morgen geht es also zum ersten Mal in die Post. Und wir wollen sehen, wie sich alles anlässt. Insbesondere die Arbeitszeit. Bis jetzt konnte ich doch so wunderbar an den Mahlzeiten des Hauses teilnehmen, die sehr pünktlich eingenommen werden. Mittagsbrot 12

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1/2 Uhr und Abendbrot 6 ½ Uhr. Bei meiner Arbeitszeit werde ich das gute und schöne Essen sehr vermissen, muss vielleicht in der Kantine essen und so noch Geld ausgeben. Nun wir wollen sehen, was die nächste Woche bringt. Heute fand ich eine 3 Zimmerwohnung angezeigt, aber nicht in der Stadt für DM 95.- aber erforderlich Wohnungsschein Nr. 1(Was dies heißt, muss ich mich erkundigen). Dies am Brett der Christengemeinschaft. Könntest Du nicht auch einmal in Bremen bei dem Wohnungsamt oder Mieterbund!! anfragen, wie das mit dem Wohnungstausch ist und Wohnberechtigungsschein. Wenn ich hier für ein Zimmer DM 40.- bezahlen soll und Du in Bremen DM 45.-, dann können wir hier auch eine teure Wohnung nehmen?! Bock erkundigte sich gleich am ersten Tag nach unserem Einkommen. Da merkte ich, er hatte die Vorstellung, Du würdest mehr verdienen und nicht auf eine so schwere Art und Weise. Er dachte an eine normal bezahlte Bürostellung, wohl so ungefähr wie Frau Harding. Er sagte noch: Dann müssen sie von ihrem Einkommen auch für die Familie sorgen, was ich selbstverständlich bejahte. Ich bin nun erst wenige Tage hier, aber man müsste sehen, ob Du nicht ein anderes Tätigkeitsfeld erobern könntest hier in Stuttgart. Was Du jetzt machst, dass kommt hier niemals in Frage. Ich glaube Bock hat auch Beziehungen zur Oper. Vielleicht könnte er Dir da auch helfen, wenn es auch das Alte ist, man muss doch Geld verdienen. Vorgestern war Bock im „Siegfried“. Ich weiß aber nicht wer ihn eingeladen, das konnte ich am Telefongespräch nicht heraushören. Martha Fuchs war auch hier auf der Tagung, ob sie immer hier ist, das weiß ich nicht. Sie sang auch im Krematorium bei der Totenfeier von Dr. E. Schwebsch. Geliebte Frau, ich wollte eigentlich vom Besuch bei Facklers weiter erzählen, aber es ist

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schon spät und morgen ist mein erster Postarbeitstag! Ich erzähle dann in einem nächsten Brief weiter. Ob ich morgen Zeit habe, das weiß ich nicht. Kommt darauf an, wie lange ich arbeiten muss. Also gedulde Dich noch, mein Liebes. Ich sage Dir innig gute Nacht! Schlafe gut! Ruhe Dich bitte einmal aus! Sei umarmt und mit einem gute Nacht – Kuss von Deinem Johannes,

der Mühe hat, zu begreifen, dass alles Wirklichkeit ist. Es ist mehr geschehen, als wir im Augenblick begreifen.

(Probe „Niederdeutsche Bühne“ 1947/48! Johannes Heymann Mathwich als Regisseur).

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Stuttgart, 2.Juni.1953

Herzliebste Frau, leider wenig Zeit. Gestern Dienst von 8:00 Uhr bis 12:30 Uhr und am Nachmittag von 18:00 Uhr bis 23:00 Uhr 30 h. Heute Dienst von 12:30 Uhr bis 22:30 Uhr und morgen Mittwoch von 9:00 Uhr bis 12:30 Uhr. Der Lohn wird auch hier am 10. und am 25.gezahlt. Du hast wohl gestern, am Montag, das restl. Geld bis zum einunddreißigsten Mai erhalten. Wer weiß, was ich hier nun am 10. erhalte. Im Postbetrieb muss ich nun wieder viel lernen. Alles Neu. Die Kurse, die Orte und was für Namen! Aber ich bin glücklich, dass ich hier bin. Erhielt Deinen lieben Sonntagsbrief. Das kann ich mir gut denken, mit dem Verhalten des Dobbens, darum bat ich Dich in Deinen Mitteilungen diesen Kreisen gegenüber vorsichtig zu sein. Frau Lenz trägt nach meiner Anschauung eine Bitterkeit der Christengemeinschaft gegenüber (der Führung) in der Seele. Steht Raumwigs neue Anschrift nicht auf dem Brief, der zum Perlon – Büchlein gehört, da hatte ich sie glaube ich notiert. Frühere Anschrift: Bremen – Farge, Alte Straße 11 Telefon Farge 336. Der Bericht von Sonntag und Montag fehlt noch. Aber folgt! Die Angelegenheit im Hafen ist ja scheußlich. Hast schon recht, alles herankommen lassen. Deswegen keine schweren Stunden; ich wäre froh, wenn Du bald wieder hier bist, dann lebt man nicht in Sorge um Euch. Durch Frau Lemke werde ich hier gleich mit einer Fa. f. Wohnungen Fühlung nehmen. Gewiss, die Schulden sind fürchterlich! Ich habe gar keinen Zettel mitgenommen. Schreib mir bitte auf, damit ich das täglich vor mir habe. – ich gebe hier fast nichts aus. Ich rauche nun nicht mehr und spare doch auch im Monat. Wie willst Du es mit Deinem Urlaub machen?

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Bei Frau Lemke könntest Du vielleicht ein paar Tage wohnen, aber ob es für Dich eine Erholung ist? Und ich bin auch sehr in der Post eingespannt. Schreibe mir nur, wie Du über alles denkst. Bock kommt am nächsten Montag wieder von der Lenkertagung. Innigst umarmt Dich trotz Eile mit herzlichem Kuss Dein Johannes

(Dieses Bild füge ich, (Rudolf Heymann), ein, weil es Johannes Heymann Mathwich als Oberspielleiter, ganz rechts, in einer charakteristischen wachen Haltung zeigt. „Mozart“, wahrscheinlich 1942?)

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Stuttgart, am 3. Juni 1953 Ameisenbergstr. 76 Geliebte Isfrau, nun reicht der Tag kaum noch zu einer lieben Aussprache. Deinen lieben Brief vom Sonntag habe ich schon bedacht. Heute erhielt ich Deinen eingeschriebenen Brief. Ein Freude – Brief! Ich bin glücklich mit Dir, dass sich alles so gefügt hat. Zuerst einmal vorweg: Schicke mir nie Geld, bevor ich Dich darum bitte. Das bedeutete so viel Mühe für Dich. Wie es wird mit der nächsten Zahlung, das weiß ich noch nicht. Die Papiere müssen doch neu bearbeitet werden. Ich habe aber bereits mit der Dame, Frl. Wirsching, gesprochen. Sollte meine Gehaltszahlung noch nicht dabei sein, so erhalte ich einen Vorschuss. Das wird am Freitag, 5. 6. besprochen. Wenn ich Dir dieses Geld senden soll, muss ich fragen, wohin? Was gedenkst Du denn in Deinem Urlaub zu tun? Du musst Dich doch auch einmal vollständig ausruhen, d. h. bedient und gepflegt werden mit lieben Menschen in der Umgebung. Schön wäre es, wenn Du nach Stuttgart kommen könntest, aber ob man Dir wirklich eine Erholung bereiten kann? Ich habe doch leider viel Dienst! Legers sind leider verreist. Lemkes wohnen nur circa 300 m ab von Bock: Wagenburgplatz 38. Landschaftlich ist es bezaubernd. Ich bestaune immer wieder das Märchen, das ich lebe. Aber seit 8 Tagen ist es hier kalt, wie dort und ich habe manchmal gefroren. Jetzt hat man mir einen elektr. Ofen gegeben. Es waren auch viele Gewitter. Oder willst Du zu Dr. Rawengel fahren? Hast Du angefragt? Um Deine Zähne in Ordnung bringen zu lassen? Davon hast Du doch nichts geschrieben, obwohl es doch sehr wichtig für Dich ist. – Du hast Dich schon genug geplagt. Im Augenblick macht mir die Post Schwierigkeiten, muss 14 Kurse lernen. Meine

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Arbeit für Bock drängt und nun diese hunderte von Ortsnamen lernen. Sie wollen mir auf der Post einen guten Posten sichern, denn sie haben mich nicht unter die Zu – Arbeiter gesteckt. Die Herren meinen es nur gut. Die Kollegen sind auch sehr freundlich. Es ist alles, alles viel schöner liebevoller, freundlicher als in Bremen. Ich glaube, wenn Du hier nur 8 Tage bist, dann fühlst Du Dich als ein völlig anderer Mensch. Ich darf gar nicht an Bremen denken, dann fällt ein Albdruck auf mein Herz. Da aber alles Schöne, was ich erlebe, wenig bedeutet, ohne Dich, oder es mit Dir zuteilen, so wirst Du verstehen, wie mir unsere Wohnungsangelegenheit auf der Seele liegt. Durch die Gastfreundschaft Bocks habe ich ja viel, viel Geld gespart. Um aber den Rhythmus des Hauses nicht zu stören, esse ich in der Post Kantine für 50 Pf.. Ein ausgezeichnetes Essen! Besser als in Bremen. Michaels Brief ist lieb, besonders die Stelle: - dass ich ja schon so in mir habe ! ! – soll auf den Inhalt achten ! ! Herrlich ist der Bursche. Liebste, eigentlich hast Du doch viel Geld in den Händen „gehabt“, aber diese Mietschulden sind fürchterlich, und sie müssen zuerst erledigt werden, damit wir fort! können. Die Umzugsangelegenheit müsste dann auch einmal mit Opitz besprochen werden; was meinst Du? Lass Dich durch nichts mehr bedrücken ! ! Uns gehört die Zukunft! Bremen ist Vergangenheit!! Zwei Oktaven unserer Ehe sind vollendet. Die dritte Oktave beginnt im Zeichen von Pfingsten und Stuttgart! „Zu der ganzen Menschheit Heil“ Welche Kosten hast Du noch in Bremen zu tragen? Ich denke daran und nicht nur…… Mit innigen Wünschen für Dein Wohlergehen umarme ich Dich mit einem Gute Nacht Kuss Johannes 157

Stuttgart, am 5. Juni 1953 Ameisenbergstr. 76 Geliebte Isfrau, bis 24 h hatte ich am 4. Juni Dienst und jetzt ist es 1:30 Uhr in der Nacht. - Du hast schon Recht, bei der reichlichen Arbeit kann man kaum täglich einen Brief schreiben. Aber Dein lieber Brief überraschte mich so. Nun möchte ich gerne, dass Du diese Zeilen noch am Sonnabend erhältst. – Also morgen bespreche ich meine Geldangelegenheit, falls meine Papiere bis zur Lohnzahlung noch nicht in Ordnung sind. Auch sollen wir eine Abschlagszahlung auf unseren seit dem 1. April erhöhten Lohn erhalten, am 10. Juni und zwar DM 10.- . Ich bin überhaupt gespannt, wie viel ich jetzt hier erhalten werde. Ach, wenn wir in diesem Ferienmonat doch noch die Mietschulden fort bekommen könnten, damit wir Bewegungsfreiheit haben. Ich hoffe, Dir in der nächsten Woche doch 100 bis 130.- DM senden zu können. Aber, was weiß ich, was geschieht? Hier ist es immer noch kalt und jeden Tag Gewitter mit Regenschauern. Aber trotzdem bin ich glücklich, und jeden Tag immer wieder, dass ich hier bin. Ich liebe diese Stadt. Und wie dankbar bin ich meinem verehrten lieben Emil Bock. Am Montag kommt er zurück vom Starnberger See. Und ich habe durch die Post so wenig schaffen können. Den ganzen Sonntag wird aber noch tüchtig gearbeitet. Gestern erhielt ich von Rudolf einen Brief. Der hat sich gerade mit meiner Karte gekreuzt. Beiden Jungen bin ich noch den ausführlichen Brief schuldig. Nun, dieser Rudolf: Es grüßt Dich von Berg zu Berg . . . Erleben wir unsere Jungen nicht mit der größten innersten Herzensfreude. Das ist doch ein sehr schöner Brief von Michael. So ist er, alles andere ist Entwicklungszustand. Und wir haben mit unserer „Geschäftelhuberei“ keine Zeit um Geduld zu entwickeln für eine Gesinnung

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und Kultivierung des Alltags. Ich freue mich aus tiefstem Herzen über die Briefe meiner Söhne, wenn ich auch nur „auf den Inhalt“ zu sehen habe. Denke nur, mein Eilbrief ist vom Freitag wohl bis Sonnabend am Abend unterwegs gewesen. So freue ich mich, dass das Päckchen noch pünktlich angekommen ist. Wie lieb er dies bedenkt! Also morgen kommen die Hemden. Herzlichen Dank für alle Deine Mühe. Aber dass die Hemden noch einlaufen, daran hat niemand gedacht. Nun, wir werden sehen. Nun werde ich wohl bald mein schönes Zimmer verlassen müssen, da Dr. Frieling u. Frau von Amerika abgefahren sind und wahrscheinlich hier zu Gast sind. Gesprochen hat noch niemand mit mir darüber. Gerade fallen mir so einige humorvolle Bemerkungen von Emil Bock ein: Er reichte mir den Käse und meinte: „Nehmen sie nur, er hat doch keine Anwartschaft auf die Unsterblichkeit“. Oder, wir sind beim Nachtisch und schlürfen mit dem Löffel die Pampelmusen aus, da meinte er: „Eigentlich habe ich mir die Muse ganz anders vorgestellt“. Ich meinte darauf: „Es gibt aber auch „Pampel“ – Musen. u. s. w. Eine kleine Probe trockener Tischgespräche, es kommt aber auch anderes zur Sprache. Herzlichste Frau, ich bin gewohnt in stillen Stunden mit Dir zu plaudern, aber nun fallen mir die Augen zu: Gute Nacht! und einen Kuss mit viel Dankbarkeit Noch ein paar Rosenblätter für das Kopfkissen der Königin! Dein Johannes Herzliche Grüße an Theo u. Maria und alle Freunde.

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Stuttgart, den 6. Juni 1953 Ameisenbergstr. 76 Liebste Isfrau, nun muss ich doch noch einige Zeilen zur Aufklärung des Geldes schreiben: DM 80.- erhielt ich Vorschuss und dieses Geld sende ich noch heute an Dich ab. Hoffentlich hilft es Dir ein wenig. Die Nachzahlung der Zulage für Monat April und Mai, meinte die Dame, müsste ich noch von Bremen bezahlt bekommen. Da musst Du Dich wohl einmal, bei Herrn Scholz, vielleicht, erkundigen, wann Du das Geld, diese 30 – 40 DM, in Bremen abholen kannst. In Stuttgart ist es so: Am 10. Juni erhalten sie von diesem Nachzahlungsgeld DM 30. – Vorschuss und der Rest wird mit der Abschlagszahlung des Monats Juni ausbezahlt. Also drängele nur ein wenig, dass Du dieses Geld recht bald erhältst, sonst geht das vielleicht hin und her, bevor wir das Geld erhalten. Vor dem 25. werde ich wohl kein Geld erhalten, denn einen Teil des Geldes erhielt ich ja schon in Bremen bis zum 31. Mai ausgezahlt. Aber die Dame stellte mir wohlwollend in Aussicht, wenn ich dringend Geld benötige, so würde sie mir helfen. So sende ich Dir die DM 80. – Was bis zum 25.6. wird, das weiß ich ja auch noch nicht, sollte ich z. B. ein gemietetes Zimmer beziehen müssen, dann habe ich auch Mehrauslagen; hoffentlich bleibt es noch recht lange so !! Ich besitze noch circa DM 30. – Ich denke, dass das Geld doch am Montag bei Dir eintreffen wird. Ja, ja meine Liebste, das Wichtigste ist wirklich, dass wir unsere Mietschulden erledigen und auf das Laufende kommen. Und Du willst nun das Opfer bringen, in Deinen Ferien zu arbeiten? Dann verschönere Dir aber wenigstens die wenigen freien Stunden. Kannst Du nicht öfter einmal nach Worpswede fahren? Zumindestens jedes Wochenende. Ob Du Dich dort auf dem Wohnungsamt oder Mieterbund einmal nach den Tauschformalitäten erkundigst.

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Man sagte mir, es sei am besten, sich an Vermittler – Firmen zu wenden. Das kostet natürlich sofort Geld. DM 5.- Einschreibgebühr und dann muss ich auch genau, Anzahl der Zimmer, Größe, genaue Miete u. s. w. wissen. Und wie verhält sich das Stadtplanungsamt? Eine sehr diplomatische Angelegenheit. Es könnte ja sein, dass Sie uns auch helfen. Wie macht man es da richtig? Ja. Liebste, das sind nun lauter sachliche Angelegenheiten. Aber für uns ist das Wichtigste, dass wir wieder bald alle beisammen sind und was noch wichtiger ist, dass Du aus Deinem augenblicklichen Erwerbszustand herauskommst. Und wenn es auch hier weiter notwendig sein sollte, so wird sich hier gewiss etwas Besseres an Arbeit finden, als diese gewaltige körperliche Anstrengung. Du kommst hier in eine ganz andere Umwelt hinein. Nach meiner Meinung ist eben doch alles anders hier in Stuttgart als in Bremen. Ich bin jeden Tag von tiefster Dankbarkeit erfüllt in Stuttgart leben zu dürfen. Man geht eigentlich immer „spazieren“, immer schönste landschaftliche Ausblicke. Auf der Post ist noch viel Arbeit des Einarbeitens. Es ist ja so dicht besiedelt, da liegt Ort an Ort und alle klingen sie ähnlich. Na, das dauert noch ein Weilchen. Diese Woche habe ich am Vorort – Spind gearbeitet, wie in Bremen, aber ich muss das ganze Württemberg kennen lernen: wie Niedersachsen. Dies beschäftigt mich nur darum so, weil ich soviel für Bock zu tun habe, was mich bis in jede Herznische interessiert. Z. B. Zusammenstellen einer Broschüre: Die neue Reformation (nur für Dich) und Ähnliches. Nun will ich Dir kurz noch von Facklers berichten. Immer reichte die Zeit nicht!! Herr Fackler holte mich am Bahnhof ab mit rührender Liebe. Gertrud empfing mich auf der Chaiselongue liegend. Beide sahen aber gut aus. Ein herzliches Wiedersehen. Das Haus kennst Du besser als ich. Liegt ja wunderbar. Mit unserem Erzählen sind wir gar nicht zu Ende gekommen. Herr Fackler bemerkte: Das wäre ihm immer ein Wunsch gewesen, so nahe

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mit Bock zusammen zu sein. Gertrud meinte dazu, das hätte mit mir einen besonderen karmischen Zusammenhang und sagte zu Herrn Fackler: Aus deinem karmischen Zusammenhang musst Du froh sein, dass Du dabei bist (wieder nur für Dich). Ich musste immer wieder von Dir erzählen und wie es mit Deiner Stimme ist. Na, Du weißt ja, was ich da für Bescheid gebe. Von Michael wurde viel erzählt und von seinen kleinen Streichen. Herr Fackler lachte immer aus vollem Herzen. Wir haben uns überhaupt viel und herzlich gefreut. Ach, Liebste, die Zeit eilt, ich muss zum Dienst. Empfinde Dich innigst umarmt mit herzlichem Kuss Dein Johannes

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Stuttgart - O, am 9.Juni.1953 Ameisenbergstr. 76 Meine geliebte Isfrau, mit großer Freude erhielt ich heute Deine schöne Karte aus Worpswede und bin glücklich, dass Du trotz Deiner vielen Verpflichtungen und Deines Opferlebens wenigstens einige schöne Tage haben konntest. Soeben sprach ich telefonisch mit Haass – Berkow. Am Freitag sehe ich bei ihm „Romeo und Julia“ von Shakespeare. Am Abend werden wir eine weitere Zusammenkunft verabreden. Über alle Menschenbegegnungen habe ich Mühe meine Arbeit zu schaffen. Da muss ich dann immer die Nächte zu Hilfe nehmen. Einliegend die Karte von Käthe Henn. Also morgen werde ich sie wahrscheinlich sehen und sprechen. Am Sonntag lernte ich ein altes Eisenacher Gemeindemitglied kennen. Da gibt es viele Erinnerungen. Welch eine andere Welt hier als in Bremen, zumindestens für mich. Nur unsere lieben Freunde Hans, Antje, Theo und Ria, die einzigsten Lichtblicke. Soeben erhielt ich von Michael einen Brief. Man spürt doch eine innigste Verbindung. Schön ist sein Ausdruck: Froher Dank! Wird selten angewandt. Klingt ganz individuell. – Nur an der spannendsten Stelle – endet der Brief – auch eine Technik. Du kannst etwas lernen! Liebste, nun noch zu konkreten Dingen: Gestern kam Dein Paket an. Das war genial verpackt! Gelernt ist gelernt! Vielen Dank für deine Mühe. Und nun zu den Oberhemden! Das ist wirklich eine Tragödie! Ich hatte sie angepasst!! Und die Kragen schienen auch zu passen. Ohne Köpfe ist ja schlechtes anpassen. Aber die Hemden sind so „fürchterlich“ eingelaufen, dass ich sie nicht tragen kann. Die Kragen wirken auch vollkommen verschnitten. Ich könnte die Hemden nicht einmal offen tragen. Es entstehen Falten oben quer über der Brust. Was soll mit diesen Hemden geschehen?

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Auch die Ärmel sind reichlich kurz und spannen. Ob Michael sie tragen kann? Ich war ganz verzweifelt und konnte die Nacht kaum schlafen. Aber dieses Unglück habe ich immer geahnt. Was ist aber auch für Zeit vergangenen, ehe diese Hemden genäht wurden. Hat denn kein weibliches Wesen daran gedacht, dass dieser Stoff einlaufen wird? Ohne diese Kenntnis wäre das Unglück wohl immer eingetroffen. Ich war sehr traurig, denn ich brauche doch die Hemden bei meinem vielen offiziellen Auftreten. Sehr „bedrängt“ muss ich mir nun mit den ältesten Hemden helfen, die ich sonst nie getragen habe. Komisch? Gelt? Und bei der Hitze hier, man schwitzt viel, da ja alle meine Anzüge keine Sommerkleidung sind, schwitzt die Wäsche leicht. Nun, dass wir das Pech haben, soll uns aber dennoch nicht weiter quälen. Ich bin bis jetzt durchgekommen. Ich muss immer Deine viele Mühe und Arbeit - - und Lauferei bedenken. Meine Schrift ist nicht schön, da ich immer so sehr eilig schreibe. Ich muss Dir gestehn, dass ich morgen schon wieder sehr auf einen Brief warte. Es macht Mühe, aber schenkt auch viel Freude. Deine Schokolade und „Bonchens“ verklären mir immer den späten Abend. Ich wage ja nicht, mir so etwas zu kaufen, höchstens für 10& Pfefferminz. Meine Geliebte Isfrau, ich glaube, dass ich nun alles bedacht habe. Jetzt gehe ich zum Abendbrot mit meinem geliebten und verehrten Emil Bock! Später muss ich noch an die Jungen schreiben Ich umarme Dich mit einem innigen Kuss Johannes

Wenn wir nur bald die Mietschulden erledigen können!!. Nach dem 9. gibt es gewiss einen Bericht über alles.

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Stuttgart – O, 12. Juni 1953 Geliebte Isfrau, gestern erhielt ich wieder eine schöne Worpswede – Karte und danke Dir und warte auf einen Brief. Ob es nun endlich einmal einen Tag Ruhe geben wird bei Dir? Doch, nun kommen die Kinder bald zurück. Bist Du Sonntag wieder in Worpswede? Da hast Du dann doch wenigstens eine kleine Ahnung von „Ferien“. Vielleicht kommt für uns auch einmal eine Zeit, da wir Ferien machen. Am Mittwoch begegnete ich Käthe Henn auf ihrer Durchreise. Saßen für 1 Stunde beisammen auf dem Hauptbahnhof. Freute sich auch sehr für uns. Vorläufig habe ich noch keine so rechte Muße. Muss für die Post so viel lernen und das quält mich vorläufig ein wenig. Die Zeit dafür tut einem leid. Es wäre schöner, sie für die anderen Aufgaben zu verwenden. Aber auch das kommt ins Gleichgewicht. Ich könnte jeden Tag jubeln, dass alles so gekommen ist und habe täglich das Herz voll Dankbarkeit. Wenn wir nur recht bald die Freude teilen könnten. – Jetzt geht es in den Dienst und anschließend nach Esslingen zu Haass-Berkow u. „Romeo & Julia“. Darum, mein Liebes, heute nur diese Karte. Aber Du sollst doch zum Sonntag noch einen Gruß haben. Soeben kam eine Karte von Rudolf. Lieb von den Kindern, dass sie so oft schreiben. Wenn Du nach Worpswede fährst, so grüße herzlich Antje u. Hans u. Meike. Wie dankbar bin ich, dass sie Dir so schöne Tage schenken. Zum Sonnabend werde ich wohl einen Brief erhalten? Sei herzlichst umarmt von Deinem Johannes

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Stuttgart – O, am 13. Juni 1953 Geliebte Isfrau, da brach ja in zwei Tagen eine Fülle auf mich herein: gestern als ich vom Theater heimkam um 12:00 Uhr nachts, dann lag auf meinem Tisch Dein lieber dicker Brief. So hatte ich noch bis spät in die Nacht hinein zu tun – mich mit Dir zu unterhalten. Innigsten Dank für Dein Blumengemälde, es liegt auf meinem Schreibtisch zwischen großen Kristallen. Ich werde noch ausführlich Antwort geben. Aber morgen habe ich noch Sonntagsdienst – u. wenig Zeit. Heute, als ich aus dem Dienst kam, fand ich das inhaltsreiche Eilpaket. O, da war ich aber erschrocken, - doch habe ich mich mit Dir gefreut – also ein freudiger Schreck. Wann werde ich Zeit haben alles anzupassen? – Liebste, hoffentlich verlebst Du das Wochenende wieder recht nach Deinem Sinn und mit viel Freude. Warum fährst Du nicht nach Worpswede? – Du hast doch sobald keine Gelegenheit mehr. Nur noch eine Woche hast Du ein wenig Freiheit, dann sind die Kinder wieder da. Das tut Antje gewiss gerne. – Für mich war es gestern ein erlebnisreicher Abend. Davon schreibe ich dann noch. Diese Karte soll nur ein Vorreiter sein mit innigstem Dank für alles das, was ich erhalten habe.

Mit herzlichstem Gruß und Kuss Dein Johannes

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Stuttgart, am Montag, den 15. Juni 1953 Ameisenbergstr. 76 Herzliebste Isfrau, heute erhielt ich Deine Karte vom Sonnabend. Hoffentlich verlief das Ende des Tages noch zu Deiner Zufriedenheit. Immer musst Du noch so viel Hauswirtschaft machen und dazu gerade jetzt – die Handwerker. – Als ich heute, am Montag, um 9:00 Uhr zum Dienst erscheine, stellt sich heraus, dass ich gar keinen habe, so genannter freier Tag, wenn Tag 6 auf einen Montag fällt. Das ist eine komplizierte Diensteinteilung?! Also frei. Da wollte ich nicht umsonst in der Stadt sein und sah mir im U. T. – Kino am Bahnhof, aufmerksam gemacht durch Dich und in der Erinnerung an Deine Mitteilung, den Filmbericht an: „Eine Königin wird gekrönt“ für DM 1.Ich habe es nicht bereut. Man bekommt wirklich einen Eindruck von einem Welt – Reich u. dazu die alten „kultischen“ Formen einer Königs Krönung. Es lässt sich viel dazu sagen. Dann las ich die Korrekturbögen zur nächsten Nummer der Christengemeinschaft. Der Tag schwindet mir so dahin. Drei dicke Bücher sind durchzuarbeiten über die russische Kirche u. s. w. Und heute Abend muss ich noch Geographie lernen für die Post. Die Augen schmerzen (könntest Du mir gelegentlich meine Augentropfenflasche senden?). Wenn Du zu Dr. Brill kämst, so könnte er mir noch auf den alten, noch geltenden Krankenschein „Weleda“ Chelidoron –für die Augen verschreiben. Aber keine eiligen unnötigen Umstände. Es fiel mir nur geradeso ein. Von Gertrud wollte ich Dir sagen: Sie hatte einen Schlaganfall und die eine Seite war gelähmt. Ist aber alles wieder gut geworden, nur noch schwach. Am Freitag waren Bock und ich bei Haass-Berkow in Esslingen. Da ist aber für Theo nichts bei herausgekommen.

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Es handelt sich um die Abschiedsvorstellung, letzte Inszenierung von Haass-Berkow. Blieb alles freundschaftlich offiziell. Da ich immer mit Bock zusammen auftrat, konnte ich auch nichts Persönliches mit Haass-Berkow besprechen. Er begrüßte uns schon am Eingang, bedankte sich für das persönliche Erscheinen von Herrn Bock. Da saßen wir nun inmitten eines anthroposophischen Parketts, geladene Gäste. Für mich ein eigenes Erlebnis – durch Bock Mittelpunkt zu sein. Ich wurde sehr neugierig betrachtete. In der Pause spazierten wir dann herum zwischen den Neugierigen. Einer konnte es sich nicht verkneifen zu fragen: „Sind Sie Kollege, von Herrn Bock?“ – Innerlichst musste ich ja lachen!! Wenn ich dann immer so an Bremen zurückdenke? Die Bremer würden sich genauso benehmen, wie hier die Neugierigen. Aber es macht Spaß, so unbekümmert dazwischen hindurch zu gehen. Wir unterhielten uns über die Aufführung und Shakespeare. Ich würde Dir gerne alles mitteilen, aber die Zeit reicht nicht. Am Sonntag fuhr Bock in die Stille zur Arbeit, für 14 Tage. Kommt aber inzwischen wieder nach Stuttgart. So wurde am Sonntag früh die Arbeit besprochen. Das ist dann gleich immer ein Berg und sehr viel Zeit habe ich doch nicht neben dem Volldienst der Post. Aber, liebste Frau, wie glücklich bin ich in all dieser Arbeit. Alles was ich jetzt arbeite – ist für die Zukunft! (Keine Niederdeutsche Bühne). Ach, wenn ich nur erst meiner Familie diese Freude und einen Frieden schenken könnte für solche Zukunft. In der Handlung begegnete ich Herrn Paetsch. Er war sehr glücklich, dass ich keine grobe und schwere Arbeit auf der Post mache. Er freute sich so, dass Frau Gräfin Schweinitz (aber nicht unsere, die ist in Goslar; es ist die Schwester)die in der Nähe stand meinte und fragte: „Haben Sie schon eine Wohnung für ihre Familie?“ Was diese Menschen gleich so in Gedanken bewegen? Lieb, nicht wahr? Ich bin hier überhaupt von viel Liebe und Fürsorge umgeben. Ein glückseliger Zustand.

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Heute saß ich und las ich im Garten inmitten von lauter Rosen. Wir aßen auch zu Mittag im Garten . Allerdings schwankte das Wetter sehr. Inzwischen war schon wieder Gewitterstimmung und starke Abkühlung. An alle unsere Freunde müsste ich schreiben, aber es geht noch nicht. Hans und Antje erhielten ja von Dir mündlichen Bericht u. ebenso Theo. Am 19. Juni hat meine Schwester Geburtstag, da will ich auch noch schreiben. Meine liebste Frau, nun sei nochmals innigst bedankt für das Hemdenpaket, dass Du diesen Mut gefunden hast?! Wie viele Mühe macht solche Packerei. (Die andern Hemden werde ich dann bald mit etwas schmutziger Wäsche zurücksenden). Für heute umarme ich dich herzlich mit innigem Kuss und vielem, vielem Dank Johannes

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Stuttgart, am 17. Juni 1953 am Mittwoch Meine liebste Isfrau, nun habe ich den Vormittag in Bocks Zimmer gearbeitet, er ist ja in Murrhardt. In was für einer Welt darf ich leben und welches Vertrauen bringt mir Bock entgegen. – Aber nun bleibt schon wieder wenig Zeit übrig, um 15 ½ Uhr gehe ich zum Dienst bis 23:00 Uhr. So lebe ich täglich in Licht und Schatten, aber das ist wohl der Sinn eines harmonischen Inkarnierens. Liebste Frau, gestern empfing ich Deinen lieben Brief. Nun kommen bald die Jungens und wie wenig Ruhe hast Du gehabt. Kommen sie schon am 23. Juni? Heute erhielt ich beiliegenden Brief von Michael. Es ist schon wichtig zu nehmen, wie oft in seinen Briefen das Wort „froh“ vorkommt. Es wird eigentlich selten angewendet, fast nur bei Festtagen: Frohe Ostern, Frohe Weihnachten. Er hat an den Lauten ein wesentliches „Harmonie“ – Erlebnis, bis ins Bild hinein – des Seehundes. Wie viel Unruhe mag sein Inneres quälen, wenn er zu dem Bilde die Worte findet: froh und ruhig. Sehr schön finde ich es, dass er seinen Brief weiterführte und die Mitteilung vollendete. Michael wurde mir in seiner Abwesenheit ein herzbewegendes Erlebnis. Sein Kampf mit der Schrift, mit dem Schreiben ist erschütternd, aber ich denke, er wird auch die Ruhe finden zur Gestaltung dieser konventionellen Lebensnotwendigkeit. Um zu Deiner „Unruhe“ wieder beizutragen, habe ich ein Päckchen bereit gemacht mit getragener Wäsche und den „verunglückten Hemden“. Das werde ich dann gelegentlich absenden. Die Kinder werden wohl auch schmutziges Zeug mitbringen, da kann meines gleich dazukommen. Frielings sind nun schon angekommen. Frau Frieling wohnt hier im Hause und Dr. Frieling hält noch Vorträge in Frankreich und Straßburg u. s. w., aber Bock hat bestimmt, dass ich das

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Haus noch nicht verlasse. Wie bin ich froh. Jeder Tag hilft doch sparen. Was soll werden, wenn ich erst die teure Miete und meinen gesamten Lebensunterhalt bezahlen soll. Aber dann wird gewiss auch wieder Rat werden. Das Tor zu einer neuen Welt ist geöffnet, da werden auch die Fenster sich öffnen. Unsere Wohnungsangelegenheit behalte im Auge. Wir müssen beizeiten anfangen. Geliebte Frau, ich muss schließen, ich grüße, umarme und küsse Dich! Johannes. Herzliche Grüße an alle Freunde!

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Stuttgart, 19. 6. 1953 am Freitag Liebste Frau dies sollte ein Brief werden, aber Vormittag u. Nachmittags – Dienst. Dazwischen packte ich das Paket und brachte es soeben zur Post. Es wird wohl am Montag ankommen. – Ob diese Karte Dich wohl noch am Sonnabend erreicht? Über Sonnabend bis Montag läuft die Post sehr merkwürdig. Von Dir erhielt ich heute keine Post, gewiss morgen, am Sonnabend. Rudolf schrieb mir, dass sie gestern am 18. Abschied feiern. Kommt er schon heim? O, wie die Zeit vergeht. Ich bin heute vier Wochen in Stuttgart und am 13. Juni 3 Jahre bei der Post. Zu Dr. Lipp. ist zu sagen; er ist ein guter Junge. Aber sie ist Russin und sehr schwierig. Er wird viel zu leiden gehabt haben. Der Arme! So habe ich es hier erfahren. – die Post ist noch immer ein wenig anstrengend durch die neue Geographie. Aber es wird von Tag zu Tag besser. Sonst viel Arbeit, die ich aber mit Begeisterung erledige. Wegen der Wohnung konnte ich noch nichts unternehmen. Bei dem Makler müsste ich ja gleich Anzahlung leisten, das geht aber erst nach dem 25. Sonst erkundigte ich mich schon und mache es immer wieder zum Gespräch. Bei Lemkes konnte ich noch keinen Besuch machen. Die Zeit! Es geht alles noch nicht so. Ich muss mich doch in zwei neue Welten einleben. Bin aber täglich voll Freude! Sei innigst umarmt und von Herzen gegrüßt von Deinem Johannes.

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19.6.53 Stuttgart

Liebste Frau, heute bin ich schon vier Wochen in Stuttgart; man möchte es kaum glauben. Die Zeit fliegt nur so dahin. – Nun kommt schon wieder Arbeit für Dich an. Aber ich dachte, die Kinder werden auch ihre schmutzige Wäsche einbringen und da ist es ein Abmachen. An Unterwäsche hab ich ja auch noch nicht viel mitgenommen. Jetzt trage ich die zweite neue Garnitur. Es ist also keine Wäsche mehr hier. Sie wird gewiss für 14 Tage reichen. --------------------------------------------------------------Im Päckchen, das ist nur für Dich ! Soll ein Ersatz sein für das „Nichtgegenwärtig“ sein. Lass es Dir gut schmecken! Das Wappen Stuttgart auf dem Stoff ist für Michael. Vielleicht näht er sich dies ganz auf seine Radfahr- Fahne. Das Ansteck- Wappen ist für Rudolf. Er hat es sich gewünscht Innigst umarme ich Dich mit (roten Kirschen) Küssen Johannes.

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Stuttgart – O, am 20. Juni 1953 Ameisenbergstr. 76 Liebste Frau, da hast Du ja mit der Wohnung eine ganz interessante Entdeckung gemacht, - es kommt also doch so etwas vor. Die Zeitung, in der die Anzeige stand, musst Du schon wissen. Das erste ist, sofort an diese Zeitung mit Angabe der Annoncennummer zu schreiben. Damit man die Anschrift der Stuttgarter Wohnung erfährt. Wir werden wohl mit 2 1/2 Zimmern zufrieden sein müssen, schon wegen der Miete. Es käme aber darauf an, wie groß die Zimmer sind. Ich wäre schon mit dem kl. Zimmer zufrieden. Nun, erst einmal sehen. Du schreibst bitte an die Zeitung und gibst meine Stuttgarter Anschrift an. Ich sehe schon, alles klappt schneller als wir denken, nur mit unseren Geldverhältnissen wird es schwierig werden. Ich muss mir auch schon Mühe geben mit meinem Geld bis zum Donnerstag den 25. hinzukommen. Aber vielleicht gibt es schon am Mittwoch den Lohn. Es kamen mir noch überraschende Ausgaben dazwischen, wie Uhren – Reparatur mit 3.-DM. Sie ging nicht mehr, war so verschmutzt. 2 – 3.- DM für Bundstifte u. s. w. Für Landkarten zeichnen. Ich habe mich wirklich bemüht, so wenig Geld als möglich auszugeben. Am 25. gibt es ja auch nur erst eine Abschlagszahlung. Die Gesamtabrechnung erst am 10. Juli. O, was wäre wohl geworden, wenn ich nicht die Gastfreundschaft von Herrn Bock genießen würde. Hoffentlich solange, bis wir eine Wohnung haben. Schönsten Dank für die Blüte. Sie kommt zu dem anderen Blumen - Gemälde . Nun wird es schon wieder eilig. Es ist am Sonnabend – Vormittag. Nach 11:00 Uhr muss ich wieder fort, um 12:00 Uhr in der Kantine essen und 12:30 Uhr beginnt der Dienst. An den freien Vormittagen bin ich immer in der Handlung, da ich ja alles zu Fuß machen kann. (Allerdings werden die Strümpfe sehr in Mitleidenschaft gezogen).

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Vor 2 od. 3 Tagen wurde Dr. Lindenberg 50 Jahre alt. Ich muss noch an ihn schreiben. Ich lebe auch in der Zuversicht, dass in Michael viel vor sich gegangen ist. Versuche nur recht lieb zu ihm zu sein, wenn er auch einmal ausrutscht. Wenn nur das Verhältnis zu Rudolf sich bessern würde, dann wäre alles gut. Wenn es gelingen würde, alles zu vermeiden, was seine Eifersucht erregen könnte. Ich habe auch einmal meiner jüngeren Schwester gegenüber an solchen Vorstellungen gelitten. Das dauerte, solange mein Vater lebte. Aber meine Liebste, ich glaube wir können in jeder Beziehung zuversichtlich in die Zukunft schauen. In Stuttgart darfst Du mir nicht mit „Reinmachefrau“ anfangen!! Es ist ja schön was Du alles in Ordnung bringst. Immer beschäftigt. Ich hoffe wir kämen ohne Möbelwagen aus, behelfsmäßig. Oweh, 550.- DM . Wie könnte ich bloß noch Geld schaffen? Leider muss ich schließen, Herzensfrau. Sei herzlich gegrüßt in Wiedersehensfreude. Johannes.

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Stuttgart – O, 23. Juni 1953 Ameisenbergstr. 76 Liebste Is, also heute circa 7 1/2 Uhr abends kommt Rudolf heim. Jetzt sitzt er schon im Zuge. Wie gerne würde ich das erleben, alles was er zu erzählen hat. Mein Paket ist hoffentlich schon angekommen, damit er seine Plakette bekommt. Innigen Dank für Deine Rosenblättchen der Erinnerung. Wenn ich so höre, wie glücklich Du bist, wenn Du so gesungen hast, dann werde ich ganz traurig, dass Du dies nicht beruflich auswerten kannst, statt dessen solch ein Aschenbrödeldasein. – Übrigens in einem Gespräch erfuhr ich zufällig, dass auch die Bettina Janke hier ihr Wesen treibt (Du erinnerst Dich von Berlin her). Hier im Hause von Bock wohnt auch eine Dame, die am Arbeitsamt tätig ist und wenn es nötig ist, wird sie gewiss helfen können. Sie ist oft unterwegs. Ich hab sie noch gar nicht gesehen. Als ich kam, war sie in Hamburg. Es wäre ja eine wunderbare Schicksals Konstellation, wenn Du schon „die“ Wohnung „erwischt“ haben solltest. Gewiss ist der Wohnraum knapp, aber schön wäre es auch sogleich eine Gelegenheit zu haben, nach hier zu kommen. Mir gefällt Stuttgart ja ausnehmend. Sonntag war es international. Es war das große Solitude– Rennen. Es kommt mir manchmal vor wie ein Klein – Paris, wie ich es mir vorstelle, (armer Laie). Du besitzt in dieser Beziehung ja Sachkenntnis. Man sieht viel schöne Menschen und gut angezogene. Schaut man abends auf die Stadt, so sieht sie aus, wie die Revue – Kulisse eines Films. Bremen ist wirklich ein Dorf. Bock ist z. Zt. noch in Murrhardt, kommt aber Donnerstag zurück zu einem Vortrag für die Jugend: „Jugend und ihre Ideale“ – als Auftakt zur Tagung. So habe ich im Augenblick noch wenig Zeit. Es muss noch so manches fertig bis zu seiner Rückkunft.

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Was für einen runden Tisch wolltest Du vom Tischler machen lassen? Meinst Du den „eisernen Blumenständer“ von Frau Dunkel aus Huchting? Da müsste die große Stange hinten fort und eine Tischplatte darauf, so hättest Du genauso einen runden Tisch, wie den von Frau Siewert. Könnte er auch gleich unter Rudolfs Tisch noch die zweite Platte befestigen, so kann man darunter etwas aufbewahren, wie es von uns gedacht war, sonst steht die Platte nur immer herum. Es ist schön, wenn zum Umzug alles in Ordnung ist. Vergiss nur nicht die Lumpenkisten verschwinden zu lassen. Und Michael wird bei einem Umzug kaum Platz haben für seinen „Unendlichen Kram“. Sollte ein Tausch gelingen, so könnten doch beide Parteien den gleichen Spediteur nehmen. Die Möbel der einen Partei werden hin gebracht und die Möbel der anderen mitgenommen. Bis dahin müsste unser lieber Theo aber noch das Klavier in Ordnung bringen, das unten nicht immer die Bretter herausfallen. Kann der Tischler auch den ovalen Tisch in Ordnung bringen? Hoffentlich gibt es schon morgen den Lohn. Aber das ist auch nur eine Abschlagszahlung. Wie meine Bezüge sind, das werde ich erst am 10. Juli erfahren. Wie könnte man nur 1000 bis 2000 DM verdienen, so mit einem Schlag. Ist nicht irgendwo etwas zu erben? Wie wäre es schön, einmal diese Last los zu sein. Unser kleiner Verdienst kann das nur mühselig schaffen. Wenn wir nur mit der Miete erst einmal klar wären. Aber trösten wir uns doch: Das Wesentliche ist geschafft worden. Aus Bremen wollte ich heraus. Die Schicksals Fügung hat mir diese Gnade gewährt. So wird sich alles andere fügen und ordnen. Vorerst einmal kann uns nur die Sparsamkeit helfen und da hat uns Bock schon viel zu geholfen. Wie teuer wäre sonst dieser Monat geworden. Ich muss Dir gestehen: Auf den Schuldenzettel schaue ich immer ein wenig verzweifelt, diese Zahlen sind „atembeklemmend“. Ich bin dennoch bis nach Stuttgart gekommen und Ihr werdet es auch schaffen. Es muss

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gelernt werden: „Lasten – Träger“ zu sein. Bergauf besonders schwierig, aber immer Zukunftsfroh. Es ist nun so, Liebste, der Monat geht dem Ende entgegen und da werden diese Gedanken auch Dir wieder auf der Seele liegen. Trotz aller Arbeit – ich denke sie mit!! Sei froh und freue Dich auf Stuttgart. Hoffentlich wendet sich alles schneller als wir gedacht haben. Mit einem herzlichen Gruß und innigen Kuss umarme ich Dich und Du umarmst den Rudolf und gibst ihm einen Willkommens – Gruß Euer

Johannes und Vati

(Ilse, Rudolf, Johannes, Michael, im Garten der Stubbennerstr. 89 in Bremen Oslebshausen)

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Stuttgart, am 24.6.1953 Ameisenbergstr. 76 Geliebte Isfrau, als ich schon fertig war, am Nachmittag um 15:30 Uhr erhielt ich Deinen lieben und schönen Brief aus Worpswede. Bei allen schönen Erlebnissen hat mich doch die Sorge um Dein Knie sehr beschwert. Wenn es irgendwie geht, würde ich raten, nicht mit einer Operation zu warten, bis wir alle in Stuttgart wieder beisammen sind. Michael schon vorzeitig hierher hohlen, das geht nicht so einfach. Alle Probleme müssen nach und nach gelöst werden. Von der Wohnung habe ich noch nichts gehört. Das ist wohl auch nicht möglich. Wir wollen nichts überstürzen, dann wird sich alles lösen, so wie es bisher geschehen ist. Dieses feste Vertrauen habe ich. Und Du wirst, genau wie ich, aus Deiner unwürdigen Lage befreit werden. Als ich heute Morgen aus dem Fenster schaute, glühte mich eine eben aufgebrochene goldgelbe Rose an. Dann ging ich zur Johanni – Handlung und wer begegnet mir dort in der Handlung: Dr. Isbert. Mit der Rose und mit diesem Menschen stand dann das ganze Frühlings – Erlebnis unserer ersten Begegnung vor meiner Seele. In seinem Hause begegneten wir uns mit einer solchen Rose, die Du hereinträgst. Hinterher sprach ich noch mit Dr. Isbert. Es ist seine geistige und physische Existenz sehr problematisch. Ich bin bemüht eine Klärung herbeizuführen. Sonst war unsere Begegnung sehr herzlich, genau wie vor 21 Jahren. Er sieht sehr wohl aus. Ich hatte sehr gehofft, heute einen – ganz, ganz kleinen Gruß von Dir und Rudolf zu erhalten, von Eurer Begegnung gestern Abend – aber da hat die Zeit wohl nicht gereicht. Hoffen wir auf morgen(O, da habe ich so viel Dienst). Das Geld bekomme ich auch erst am 25. Vielleicht kann ich sofort einen Teil des Geldes absenden, damit Du es schon am Sonnabend in Händen hast.

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Ich will erst einmal sehen, aber ich muss unbedingt meine Zeitschriften – Rechnungen bezahlen, denn wenn ich den Menschen hier persönlich begegne, würde es mich beschämen. Gelt, liebste Frau, das muss wohl sein. Ist das Paket angekommen? Innig küsst Dich und unseren Rudolf Euer Vati

Stuttgart, am Donnerstag 20.6.53 Liebste Frau, soeben Deinen lieben Brief erhalten. Ach, bei Euren Plaudereien wäre ich gerne dabei gewesen. – Leider muss ich gleich wieder fort zum Dienst und vorher noch das Geld einzahlen. Wie erschütternd wenig ist doch dieses Geld. Wie sollen wir davon leben. Aber noch erschütternder Dein Bein, Dein Knie. Hoffentlich übersehen wir dann am 10. Juli, wie hoch mein Lohn eigentlich ist. Wenn ich da an unsere Schuldenliste denke. Wie sollen wir nur da herunter kommen. Wenn ich nur eine Idee hätte, eine Erleuchtung, uns allen in dieser Beziehung zu helfen. Ich bedenke das jeden Tag. Einen herzlichen Willkommen –Gruß für Michael. Was wird er wohl für interessante Geschichten einbringen? Erzählt er auch ein wenig!! Innigst umarmt Dich und Michael Euer Vati

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Stuttgart, am 29.6.1953 Ameisenbergstr. 76

Meine liebste Frau! Das war aber ein schöner Brief, auf den jeder etwas „gekrakelt“ hatte. Da erlebte man so richtig Euer Beisammensein und ich sitze hier einsam und allein und warte auf euch. Dass es mit der Wohnung nicht so schnell klappt ist traurig; wichtig ist ja erst einmal hierher zu kommen, wenn auch noch nicht alles nach Wunsch geht für den Anfang. 12.- DM für eine Annonce ist eigentlich ein bisschen viel. Und wie ist es mit einem Wohnungsvermittler? Da muss man auch etwas anzahlen. Alles kostet Geld! Wenn ich auch nur ein wenig mehr Zeit hätte. Aber ich bin schon glücklich, wenn ich meine Post erledige, z. B. musste ich wegen der Steuer an die Post in Bremen schreiben und an die Niederdeutsche Bühne. Nun fehlen noch Deine Bescheinigungen. Du warst doch wohl nur bei dem Zoll tätig im vorigen Jahr. Also eine Bescheinigung für die Steuerveranlagung, auch Erklärung genannt, wieviel Lohn Du empfangen und welche Abzüge. Ist denn das etwas für Michael, diese Mappe? Mache für mich bitte nur keine Ausgaben. Es geht ja jetzt um jeden Pfennig. Dass Dir Dein Knie bei aller Deiner Arbeit nun noch solche Schwierigkeiten bereitet. Meine besten Wünsche, dass es mit dem Knie bald wieder besser geht. Hier in Stuttgart sind ja so viele medizinische Kapazitäten, da lässt sich solch ein Fall besser anpacken. Gestern war ich bei Herrn Paetsch eingeladen, das heißt eigentlich schon jeden Sonntag, aber ich konnte immer nicht. Nach dem Kaffee ging ich dann auch schon wieder fort. Herr Paetsch ist für Musik begeistert, war viel in der Oper und sagte, er könne viele auswendig vom vielen Hören. Ich könnte viel unterwegs sein, aber ich muss mich in meine Aufgaben hinein arbeiten. Dann mag man gar nicht nach rechts und links schauen. Zu Lemkes müsste ich auch einmal

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gehen, schon wegen der Wohnung, aber auch Legers warten. Morgen will ich in den „Sturm“ von Shakespeare. Nun warte ich auf den versprochenen Brief, um noch mehr von der Ferienzeit Michaels und Rudolfs zu erfahren. Mit dem Abzeichen dauert es aber noch einige Tage. Ich denke, dass es im Brief zu senden kaum geht und zerbrochen wird. Will mal sehen. Weißt Du auch noch, dass die Lackschuhe von mir bei dem Schuster sind? Ich brauche sie nicht, nur dass sie nicht vergessen werden. Hoffentlich wird das Wetter bald beständiger. Solch einen Sommer kennen die Stuttgarter gar nicht. Nun seid fröhlich und freut Euch Eures Beisammenseins.

Ich umarme Dich meine Liebe und die Jungen mit einem herzlichen Kuss Euer Vati (R.Heymann Einfügung:Laut Mietvertrag Einzug in Kornwestheim, Adlerstr. 15. 1. Juli 1954)

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

8 – 12.30

--------

--------

8 – 12.30

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9 – 12.30

16 – 23

12.30 – 18

12.30 – 22.30

außer Montag

18 – 24

18 – 23.30

Am Sonntag

Am Sonntag

9 – 12.30 19 – 23.30

13 – 19

So sieht mein ewig wechselnder Dienst ohne Nachtdienst aus. Damit Du Dir eine Vorstellung machen kannst

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Stuttgart 13, am 13.2.1954 am Sonnabend – Abend Herzensfrau, Deine letzten Briefe haben mich zutiefst bedrückt. Immer wieder kommst Du in so verzweifelte Lebenslagen mit den Geldgeschichten. Es scheint, als hätten wir mit dem Geld überhaupt kein Glück. Ich komme innerlich schon gar nicht mehr zur Ruhe. Gewiss müsste bis Ostern entscheidendes geschehen. Man weiß kaum, wo man anfangen soll. Vor Menschen, die in wirtschaftlicher Not sind fürchten sich selbst die Menschen, die einem scheinbar nahe stehen. Auf die Art, wie wir unser Geld verdienen, da hat und nimmt kein Mensch Interesse. Wären wir noch „Künstler“, dann könnte man sich wenigstens an uns begeistern und wiederum mit diesem „Klein – Geld“, das wir so schwer verdienen, kann man sich schwer aus einer „Schuldengrube“ herausretten. Aber warum sage ich dies alles? Du weißt dies, so gut wie ich. Das Schlimmste eigentlich ist, dass diese Berufs Gestaltungen uns auch noch die Zeit raubt – irgendwie noch einmal nach den Sternen zu greifen. Wir müssen aber zu Geld kommen. Es ist mir unerträglich, Dich in einer Arbeit zu wissen, die Dich eigentlich schon überwältigt, ja, fast die Besinnung raubt, denn wer keine freie Stunde mehr hat, von einem Feierabend ganz zu schweigen, der kann sich kaum noch „besinnen“. Und ein besinnliches Leben ist doch die Grundlage für eine geistige oder schöpferische Entwicklungsmöglichkeit. Aus dieser Stimmung heraus – im tiefsten Gedenken Deiner Not – ging ich zum Süddeutschen Rundfunk. Es ist schon so viel umsonst unternommen worden. Ich war – über Dich und Dein Leben – so verzweifelt, dass ich etwas unternehmen musste. So haben die Herren dann einen Berg Manuskripte über sich ergehen lassen müssen. Aber es wurde alles dort behalten. Über jedes Manuskript konnte ich meine Ausführungen machen. So ergab sich eine interessante Unterhaltung. Für das Problem im „Flieger der Europa A. G...“ war er sehr interessiert. Beide Märchen sind dort, die „Commedia der Liebe“, für den Schulfunk „Der Bamberger Reiter“, die „Geliebte“. Man war interessiert an meiner Bühne und behielt auch Programme und Werbematerial dort. Das große Plakat vom „Hiob“ begeisterte sie in seiner künstlerischen Vornehmheit. Darüber wird sich Theo freuen. „Pilatus“ und „Judas“ hatte ich nicht mitgenommen, aber darum haben sie mich noch gebeten – Wenn ich nicht so komplizierten Dienst hätte, so könnte ich auch als „Sprecher“, Schauspieler oder Vortragender tätig sein. Aber ich muss nun sehen, wie das ganze anläuft und ausläuft, so werden schon Wege gefunden werden. – aber sonst hinterließ diese Stunde eine angenehme

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Einfügung: Hiob Plakat und eine Darstellung, was will Johannes Heymann Mathwich . (Aus einem Brief vom 3.4.1954 Stuttgart, - 3. April 33 nach Christie Geburt – Golgatha) Zur Aufrichtung meiner Bühne möchte ich noch nichts sagen. Dies Problem ist von einer Dornenhecke von Schmerzen umgeben und von Menschen, die meinen mir nahe zu stehen. Hier wird nur der Grundsatz gelten der persönlichen Überzeugung und der innere Auftrag. Dann werden sie vor der Christengemeinschaft und vor den Anthroposophen bestehen. Kritik und Besserwissen wird immer vorhanden sein. Das muss man hereinnehmen, aber man kann es nicht

jedem recht machen, sonst

zerstört man sich selbst.

Man kann kein Gedicht

umschreiben, weil es

Herrn Müller oder Schulze

nicht zusagt. Vor tau-

senden von Menschen

haben meine Spiele schon

ihre Probe bestanden und

die Werftmershalde der

Christengemeinschaft steht

mir zur Verfügung, wie

auch die Waldorfschule. Es

geht nur noch um die

Darsteller. Mir schien es,

als wäre es Dir nicht

mehr möglich mitzuwirken,

nachdem, was alles

gesagt worden ist. Es steht

auch ganz in Deiner

Freiheit. Ich werde die

Menschen finden, wenn

es soweit ist.

Nach meiner Anschau-

ung warst Du immer ein

sehr wesentlicher Mittelpunkt meiner künstlerischen Arbeit, aber man darf auch nicht immer hin und herschwanken, wenn der oder jener mit „seiner Meinung“ stört. Die Spiele sind „mein“ Werk und nicht das „Konglomerat“ vieler Meinungen. Albert Steffen kümmert sich auch um nichts. Mit Recht. Und was habe ich schon alles über ihn hören müssen. – Es soll nicht anmaßend sein, aber in mir lebt das Paulus – Wort: „Ein Zwang liegt auf mir, wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde“. 1. Korinther. 9,16. – ob als Priester – oder als Künstler. Darüber entscheidet das Schicksal! Rudolf von Koschützki sagte: „Es wäre schade, wenn sie Priester würden“. Die Unterhaltungen „Gespräche“ mit Rudolf von Koschützki leben als ein Vermächtnis in mir. –„Ich habe es nirgendwo so gut gelesen“. Er drängte so sehr und wollte noch eine Aufführung des „Pilatus“ erleben. Ehre seinem Andenken! So – geliebte Frau – nun mag das Schicksal sich offenbaren! (Anmerkung: Rudolf von Koschützki war gerade am16. März 1954 verstorben). Einfügung beendet.

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Erinnerung. Wenn wir auch schon in dem Zustand sind über alle unsere Versuche ohne Hoffnung zu lächeln, ich versuche es immer wieder – und so habe ich es gewagt. Ich möchte, insbesondere Dir helfen, dass Du so schnell als möglich aus Deinen Bedrängnissen herauskommst. Am Rundfunk – kann– man noch in der kürzesten Zeit zu Geld kommen, denn das Theater arbeitet viel schwerfälliger. Ich erfuhr noch, dass der Chefdramaturg Schüler des Regisseurs Heinrich Koch ist. Dieser aber wieder ist ein Außenseiter, der besonders in Hamburg mit charakteristischen Inszenierungen hervorgetreten ist, insbesondere religiöse Probleme behandelnd, wie sie heute die Franzosen stellen. Also – nun wollen wir abwarten, was aus dieser Unternehmung herauskommt. Dann war ich bei der „Wofazet“. Tausch Stuttgart – Bremen. Vier Zimmer, Mädchen Zimmer, Bad usw. 158.- DM. In Stuttgart könnten sie mir diese Wohnung eintauschen in eine drei Zimmer mit Bad für 78.- DM. – a – a – a aber – wir können diesem Herrn, ein Herr „von“, repräsentativer Kaufmann keine so komfortable Wohnung in Bremen eintauschen – Man sagte mir, die Firma Bielefeld in Bremen hätte wohl sonst schon den Versuch gemacht. Ob man mit Bielefeld&Sohn noch einmal spricht? Aber es wird wohl wenig Sinn haben (Soeben kamen Legers zurück von einer Faschingsfeier im Zweig in der Waldorfschule und waren begeistert. – ich hatte ja wieder Dienst!! Jetzt ist es 24 h 30). Auf dem Finanzamt muss ich alles wieder von vorn anfangen. – So bin ich jeden Tag unterwegs. Morgen will ich mit der Gemeindehelferin Fräulein Müller meine Kümmernisse besprechen betreffend Wohnung und Unterkunft für Michael. Ich habe ja gedacht – und wenn jeder in Stuttgart woanders wohnt, ich bei Legers, Du mit Rudolf in einem Zimmer und Michael in einer Pension, wenn es noch nicht so schnell klappen sollte mit einer Wohnung – aber das kostet auch alles wieder viel Geld. Jedoch Michael müsste ja bestimmt nach Ostern hier in Stuttgart anfangen. Dieser Schicksalsfall mit Dr. Lippold ist ja merkwürdig. Das wäre doch ein Glücksfall für Michael. Wüsste er nicht eine Familie, wo Michael unterkommen könnte, da er doch Stuttgarter ist. In diesem Sinne muss ich auch noch einmal in der Schule mich erkundigen (Übrigens Dr. Weißert, der Leiter der Schule hat 13 Kinder – die spielten zur Fastnachtfeier ein Spiel). Ja, - was wird nun bis Ostern werden. Die Zeit ist kurz – das Geld ist knapp und die Sorgen sind groß. Eigentlich müssten wir nach

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der Konfirmation (die auch Geld kostet!) alle nach Stuttgart fahren. Da würden uns DM 1000.-gerade reichen. Wo kommen die her ? ? ? Geliebte Frau, nun habe ich viel geschwätzt und wenig Konkretes, greifbares, was uns Zuversicht geben könnte, ist dabei herausgekommen. O – wie mag es mit Deinen Händen gehen? Und wie viel Geld drückt „schon“ wieder in den nächsten Wochen, wenn allein schon die Miete über DM 200. – ausmacht? Wirklich, dieser Druck durch Jahre hindurch ist kaum noch ertragbar. Und doch müssen wir zuversichtlich sein. Es sieht doch trotz allem so aus, gerade weil die Krisis im Augenblick ungeheuerlich, als ob ein neues Stadium beginnt. – es ist nun schon spät. So lass Dich innigst umarmen mit einem herzlichen „Gute Nacht“ Kuss Dein Johannes Und grüße die Jungen herzlich Liebste Frau, – trotz aller Mühen und Nöte – es ist so dringend!! Hast Du meinen Zettel gefunden mit den Wünschen über Einkommen und Steuerangaben und bei welchen Arbeitgebern? Die benötige ich dringend – um vielleicht Steuerrückzahlung zu bekommen für das Jahr 1953. – Schreibe doch sofort an Weißenborn - schreibe noch einen Anlage – Brief, mit der Hand, dass Du musikalisch immer weitergearbeitet hast und dass es Dir darum geht, im wesentlichen – die Urkunden Deines Studiums an der Hochschule für Musik wieder in die Hand zu bekommen. Briefe an - Borgward, Rawengel, Mimi, Facklers -?? Einliegend: Die Krankenscheine. – 2. und andere Ausschnitte. Für Dich und Theo. An Theo muss ich auch noch schreiben und mich bedanken für seine Bemühung. – Die Ödipus – Aufführung besuchte ich, obwohl meine Geldverhältnisse dies eigentlich nicht zuließen – nur aus dem Grunde – sollte ich mit dem Chefdramaturgen vom Südfunk ins Gespräch kommen, so wollte ich orientiert sein, denn „Ödipus“ waren seine Gastspiel – Inszenierung am Staatstheater. Am Schluss der Aufführung traf ich mit Haass – Berkow zusammen. Werde ihn nächstens besuchen. – Dann war ich noch im Film: Das Leben beginnt morgen. Ein Denkmal des „Ungeistes“ unserer Zeit, aber sehenswert (Siehe Bock, „Ungeist – Geist – Heiliger Geist“).

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Martha Fuchs gibt jetzt einen Abend im Rahmen der „Konzerte der Waldorfschule“ – So versuche ich in jeder Weise hier in Stuttgart in die Gegebenheiten hinein zu kommen. – dann begegnete ich den Jahnkes – haben eine schöne Wohnung, drei Zimmer, für 6000.- M. Bauzuschuss – außerdem besitzt er einen Wagen. Vieles haben wir erörtert in Bezug auf das Theater. Sie leben aber auch in zweifelhaften Verhältnissen. Sie geht ins Büro – er verdient gelegentlich. Die Eltern haben sich ganz von ihnen losgesagt. Eine Tragödie für sich. So – liebste Frau, das ist ein gekürzter Bericht. Mit den Ferien werde ich versuchen mich nach Dir einzurichten, so dass ich hoffe am Sonnabend früh in Bremen einzutreffen. Oh – das Reisegeld! Was für Ausgaben – die wir eigentlich anders benötigen würden. Aber dennoch freue ich mich, Euch sobald wieder zu sehen – nicht mehr ganz vier Wochen. – Ach, wir leben in einer verzweifelten Situation. Wenn nur erst mit Michael etwas Klarheit geschaffen würde! – Täglich denke ich darauf, wie ich Geld beschaffen könnte. Und mit der Wohnung sieht auch alles so fragwürdig aus: 1200 Anwärter bei der Post – 600 Vornotierte – und im Augenblick vielleicht 60 Wohnungen. Und bei den Tauschmöglichkeiten immer wieder Probleme. Aber wir müssen hoffen und dürfen trotz alledem die Zuversicht nicht verlieren. Wie lange wirst Du dieses schwere Dasein noch durchhalten? Herzenswünsche für Deine Gesundheit!! Gottseidank, dass Dir der Rudolf noch ein kleiner Trost ist. Ich umarme Dich aus tiefstem mitfühlendem Herzen und küsse Dich, dass Du Mut und Kraft bewahrst Dein Johannes Innigste Grüße für Michael und Rudolf Grüße Theo und Ria Wenn ich heimkomme, muss der Keller für den Umzug bereit gemacht werden – Michael muss an das Gerümpel denken!

Und Deinen Geburtstag musst Du nun so allein verleben! Wie möchte ich Dich aus Dankbarkeit beschenken, aber…. wie schrecklich!

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Stuttgart, 20.Febr.1954 am Sonnabendmittags

Meine vielgeliebte Isfrau, heute Mittag sende ich DM 100.- an Dich ab. Die müssten eigentlich am Montagvormittag dann schon in Bremen sein. Dies kam so. Man konnte ein Gesuch um Beihilfe einreichen, wenn ein Kind konfirmiert wird. Das hatte ich gekannt. Der Erfolg ist der, dass ich für die Konfirmation DM 130.- von der Post geschenkt erhielt. Das wäre also fast das Geld für einen Konfirmation – Anzug. – Du wirst aber gewiss das Geld im Augenblick notwendiger gebrauchen können. Nur nichts Unnötiges ausgeben. Könntest Du davon nicht zwei Monate Miete bezahlen, damit diese schrecklich hohe Summe heruntergedrückt wird. Ich behielt DM 30,- um Steuern zu zahlen. – Es ist für Dich dieses Geld doch eine kleine Freude, wenn alle diese Summen auch unzulänglich sind. Auf meinen letzten Brief habe ich noch keine Nachricht von Dir erhalten. 8 Tage sind es wohl schon wieder her. Aber wo sollst Du auch wohl die Zeit hernehmen?! Am Dienstag hatte ich Besprechung mit der Gemeindehelferin Fräulein Müller in unseren Angelegenheiten. Sie besuchte mich. Gestern war ich in der Waldorfschule. Besondere Möglichkeiten sind nicht vorhanden, also ein verbilligtes Unterkommen. Pension ist möglich. Kostet 120. - / 150. – DM. Die Klassen sind so voll, dass sie natürlich glücklich sind, wenn die Kinder noch in Bremen bleiben könnten. Ich müsste dann noch einmal an Dr. Lippold schreiben, was er meint. Soll man warten, soll man forcieren? Gewaltsame Umstellungen soll man ja vermeiden. Michael würde hier mit Pension und Schulgeld mehr kosten, als meine gesamte Existenz in Stuttgart. Eigentlich ein Unsinn bei unseren Geldverhältnissen. Nun wollen wir noch hören, was Fräulein Müller in unserer Angelegenheit ermöglichen kann. Jetzt muss ich wieder schnell zum Dienst!! ganz schnell. Vielleicht schreibe ich am Sonntag weiter! Innigst umarmt Dich Dein Johannes

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Stuttgart, am 22.Febr.1954 am Montagabend Gruß meine Geliebte Isfrau,

eigentlich wollte ich erst auf Deinen Brief antworten, den Du mir angekündigt hast, aber noch wartete ich vergeblich. Dafür aber habe ich Deine liebe Karte empfangen, auf der „eigentlich“ etwas „viel“ für die Öffentlichkeit steht; man weiß nie, wer da mitliest – Endlich hast Du Dir Deine Arbeit etwas „menschlich“ geregelt. Dies wurde aber auch höchste Zeit. So kann ein Mensch nicht leben. Heute muss ich nun einen Bericht geben, von einem Vorschlag, den mir die Gemeindehelferin Fräulein Müller machte. Ich besuchte also eine Dame, ich nehme an, eine Witwe, die vier Kinder hat, drei Jungen und ein Mädel. Der älteste ungefähr so alt wie Michael. Sie ist berufstätig als Postangestellte und bewohnt eine 4 Zimmerwohnung im Erdgeschoss eines villenartigen Hauses mit Garten. Sie hatte den Plan 2 Kinder aufzunehmen und für die Betreuung des Haushaltes eine Frau zu beschäftigen. So unterhielt ich mich zuerst über die Möglichkeit einer Pension. Aber 300. – DM für zwei Jungen, das ist unmöglich. Im Verlaufe unseres Gespräches tauchte folgende Möglichkeit auf. Sie könnte mir ein Zimmer überlassen für Dich und Rudolf für DM 60.- Es sind alles sehr anschaubare Zimmer mit Dampfheizung und mit zwei Chaiselongues. Alles hell und freudig. Dann wollte sie der Möglichkeit nachgehen, ein Zimmer oder so genannte „Bühnenkammer“ für Michael zu schaffen, ganz nah dieser Wohnung, bei einem Ingenieur, denen es nicht aufs Geld ankommt und die Mitglieder der Christengemeinschaft sind. Wenn dieses möglich wäre, so hätte ich Euch alle untergebracht. Und das könnte dann spätestens ab Ostern sein. Es wurde auch der Vorschlag erörtert, wenn Du das Mittagsbrot – bereiten für alle übernehmen würdest, so könntest Du auch umsonst wohnen. Aber das ließen wir noch dahingestellt. Nun weiß ich noch nicht, ob und was der Raum für Michael kosten wird. Sie meinte auch, vielleicht ist dann noch ein Raum, in dem ich auch noch wohnen könnte. So würde ich dann bei Michael wohnen. Michael will doch gerne in einem Raum für sich wohnen. Essen könntet Ihr dann alle zusammen, vielleicht auch ich, obwohl ich selbst das Mittagbrot in der Post einnehmen würde und die Kinder wochentags vielleicht auch in der Schule, wenn es ihnen schmeckt. Wenn wir keine Schulden hätten, so wäre dies fast mit meinem Geld zu machen. Dies wäre mein Wunsch, damit Du Dich zuerst einmal erholen könntest von Deinen

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Strapazen. Ach!!! könnte ich doch ein Hörspiel verkaufen, das wären dann 1000 – 2000 DM und wir können einmal tief Atem holen. – Was geschieht aber mit unserer Wohnung? Behalten wir sie als Tauschobjekt? Könnten wir sie vermieten? Es müssten doch vertrauenswürdige Menschen sein. Dabei wäre das Hauptproblem, sollten wir doch die Wohnung für einen Tausch benötigen, dann müssten die „Mieter“ wieder ausziehen. Dies Risiko wird kaum jemand eingehen. Sollen wir die Wohnung verkaufen? Aber wohin dann mit unseren Möbeln? Nun, geliebte Frau, das ist wirklich ein Problem. Und Du schreibst mir bitte bald, wie Du über alles denkst, damit ich die Menschen nicht umsonst belästige. Oder ist es Dir lieber, man wartet geduldig, bis sich die Wohnungsfrage löst und die Kinder bleiben in Bremen auf der Schule? Das ist natürlich das bequemste und scheinbar organische. Soll man sich so passiv verhalten? Darf man forcieren und das Schicksal in die Hand nehmen? Was ist für die Kinder richtig? Diese sind eigentlich der Ausgangspunkt meiner Unternehmung. – Dazu – kann man es mir nicht verdenken, dass ich Dich gern in meiner Nähe hätte. In meinem Alter gehen die Jahre schneller dahin. – „An sich“ ist das Ganze nur eine Geldfrage. Wenn – ja wenn!!! ich doch ein wenig Glück hätte und aus meinen Arbeiten, die in allen Ecken und Winkeln modern, noch einen Wert für unser persönliches Leben herausholen könnte. Nun, der Versuch ist gemacht. Fräulein Müller ist sehr liebenswürdig für mich bemüht. Sie erinnert sich ja auch gern an Dich und an das Beisammen sein bei Zwickes, die ja solch ein tragisches Ende gefunden haben in Stettin. Mein Vorschlag wäre natürlich die beste Möglichkeit um eine Pension herum zukommen, denn nicht jeder Vermieter nimmt eine Frau mit ihrem Jungen in ein Zimmer. Also das ist schon einmalig. Wir würden den Übergang für eine Wohnung zusammen bauen können. Die Dame, die Vermieterin, in Deinem Alter machte einen sympathischen Eindruck. Ich war wohl 1 ½ Stunden bei ihr. Sie begleitete mich sogar noch zur Bahn. Ich hätte ja auch noch ein Zimmer für 60 DM.- haben können in dem Haus, aber das geht eben nicht, - aus bekannten Gründen. 1000.- DM müssen her! Aber nicht geliehen! Davon mag ich nichts hören. Geliebte Frau, Du siehst, ich unternehme was nur möglich ist. Ich hatte doch gesagt, am liebsten nehme ich Euch alle nach Ostern mit nach Stuttgart in den herrlichsten Frühling! Diese Wohngelegenheit ist in Degerloch. Dort war ich noch nicht. Ich fuhr mit Großraumwagen den Berg hinauf mit einer Aussicht wie ein kleines Alpental. Herrlich!

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Ich träume viel von einem Sommer mit Dir in Stuttgart. ---------------------------Hoffentlich geht es Dir ein wenig besser, wenn Du nur einmal am Tag in den Hafen fährst? – -

Mir fehlen Anknüpfbahre Hemdenkragen. Die ließ ich Weihnachten wohl dort? Mein Winternachthemd, kommt wohl zum Frühling? – Dies nur nebenbei.

Nun muss ich schließen; der Brief soll noch in den Nachtbriefkasten! Sind die 100.- DM gut angekommen? Innig umarmt und küsst Dich Dein Johannes

Herzliche Umarmung für die Jungen! Im Haus steht jederzeit ein Klavier zu Deiner Verfügung. Dazu Telefon und ein Bad mit gekachelter Wanne !!

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Stuttgart, am 31.März.1954 am Nachmittag, muss gleich zum Nachtdienst Liebste Isfrau, das Opfer Deines Briefes war für mich eine Freude, wie ich sie lange nicht mehr aus Deinen Briefen haben durfte. Diese Fülle schöner Erlebnisse war auch einmal notwendig für Dich. Der Kinder wegen hatte ich Sorge, wie sich Dein Geburtstag gestalten wird. So war es beglückend zu hören, wie sie sich bemüht haben, Dir Freude zu machen. Mehrmals habe ich Deinen schönen Brief gelesen und Frau Leger erzählt; und als ich spät am Abend nachts, von einer Unterhaltung und Besuch bei Haass – Berkow heimkam, las ich den Brief noch einmal. Da die Zeit so kurz ist, will ich nur auf wenige Punkte eingehen. – also Dr. Tetzlaff wird sich in Stuttgart für Dich bemühen (am 13 April). Da wäre ja die Übersiedlung in Kürze in Aussicht. Großartig! Wegen des Entgeltes darf ich noch bemerken – ob Du noch ein wenig Geld in Reserve behalten willst für die Urlaubstage – denn mein Geld schrumpft doch um das Fahrgeld (50.- DM.)zusammen. Was bleibt da noch viel übrig? Und kurz vor meiner Abreise kommt erst die 2. Rate ( Abreise von Bremen) am 26./27.April. Wenn alles so bleibt, wie ich es plane, aber ich habe es schon geschrieben, so komme ich am Sonnabend, den 10. April um 8:00 Uhr morgens in Bremen an und bleibe bis zum Montag den 26. April, also am Montag Abend Rückfahrt nach Stuttgart. Zu Michael möchte ich noch bemerken, dass mir ein Landaufenthalt nicht sehr einleuchtet. Das ist in seiner Wesensart verlorene Zeit. Es wäre etwas anderes, wenn es in eine Berufsgestaltung führen würde. Schaffen und Arbeiten, das kann er, aber „Denken“ muss er lernen. Wenn Fräulein Hoyer ihn hier in Stuttgart nehmen würde? Man müsste ihre Stellungnahme wissen, bevor sie nach Stuttgart abgereist. Ob Du mit ihr und Dr. Lippoldt sprechen würdest? Ich möchte Michael nicht irgendwie „abschieben“. Sein Verhalten am Geburtstag beweist doch, welch guter Kerl in ihm steckt und wie er letzten Endes doch zu seiner Mutter steht. Und dann wird hier das Jahr vorbereitet für die Suche nach einer Lehre. – Wenn ich heimkomme, so müsst ihr (die Kinder) noch einmal alles so aufbauen, wie es war – damit ich auch etwas mitbekomme von der Geburtstagsfeier. Zu meinen Sachen: Nur der Anzug sollte gereinigt werden. Am Mantel sollen nur die Ärmel „sauber“ gemacht werden, da sie durchgestoßen sind. – Hoffentlich ist der Mantel und der Anzug fertig, wenn ich komme, denn ich will nur meinen schwarzen Smoking – Anzug mitbringen – und ziehe den Wintermantel an, damit dieser in Bremen für den nächsten Winter in „Ordnung“ gemacht werden kann von unserem lieben Schneider. Wie steht es mit meiner

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alten grauen Hose? Die auch in Bremen ist. Kann man die noch in Ordnung bringen? An meine beiden Jungen schreib ich noch, um ihnen meine Freude zu sagen, dass sie Dir den Geburtstag so verschönt haben und ihre kindliche Dankbarkeit zeigten für eine Mutter, die ihre Gesundheit opfert, damit die Lebenshaltung im Gleichgewicht bleibt. Wenn ich komme, werden wir viel zu erzählen haben. Alles zu schreiben fehlt die Zeit. Da kommt nun eben Deine Karte. Alles vergebens! Ich ahnte es, darum habe ich die Angelegenheit „in unserem Falle“ nicht so ernst genommen. Nach den mir bekannten Gesetzen ist es für uns schwierig. Aber ich hindere Dich ungern an Impulsen, denn Du hast auch schon viel erreicht, wenn auch ich bedenklich war. Meine Liebst’ – nun Deine Krankheit. Ruhe, ruhe !! Zuerst einmal. Vielleicht kann man dann die wirklichen Hintergründe Deiner Schmerzen besser erkennen. Gute Besserung! Heile! Heile ! und man könnte hinzufügen „mit Weile“. Alles Gute! Für Deine viele Mühe und meinen innigsten Dank. Mit den besten Wünschen umarme ich Dich, mit einem innigen Kuss dankbaren Gedenkens Dein Johannes Herzliche Grüße für die Kinder.

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Stuttgart, am 7.April 1954 Meine liebste Isfrau,

nun habe ich heute den dritten Brief empfangen. Wie kann es aus meinem Brief Dich anwehen: „noch nicht erwünscht“. Mein tägliches Denken und meine Gespräche sind nur mit den Gedanken verbunden, dass Ihr alle so circa ab 1. Mai in Stuttgart seid. Da liest Du meine Briefe zu schnell oder es stört Dich das sachliche Denken. Für mich ist es eindeutig klar, dass wir alle umsiedeln. Mich bedrücken nur die Geldprobleme, denn man kann doch hier nicht mit Schulden machen anfangen. Und die Frau Eßwein, bei der ich das Zimmer bestellte, so ab 1. Mai ist auf das Mietgeld angewiesen. Ich hoffte ja immer noch, dass es mir gelingen könnte Geld zu beschaffen, damit Du die ersten Monate überhaupt nicht arbeiten sollst, aber es gelingt nicht. Im Gegenteil zu Deiner Empfindung ist es so: Ich bin der Überzeugung, wenn Du erst in Stuttgart bist, so wird sich unser Schicksal positiv weiter entwickeln! Und sonst quält sich alles immer so weiter. Bremen muss abgeschlossen werden. Da sollst Du nur einmal Frau Leger befragen über unsre Gespräche. Soeben komme ich von unserm Bock, dem ich alle unsere Probleme vortrug, weil er sich auch nach allem erkundigte. Er war eigentlich erfreut und hoffte, dass Herr Dr. Tetzlaff etwas gelingt. Und was ich mit Frau Eßwein wegen des Zimmers abgesprochen habe, das habe ich Dir doch auch geschrieben. Also – nun besteht wohl kein Zweifel mehr! Und Pfingsten sind wir und zu unserem Hochzeitstage in Stuttgart beisammen und erleben den Stuttgarter Frühling; es ist der 17. Jahrestag, - Frau Eßwein ist ja zurzeit im Krankenhaus, sonst hätte ich sie noch vorher aufgesucht. Fräulein Hoyer zu erreichen wird mir durch den Dienst nicht mehr gelingen. Aber am Sonntag war ich in Tübingen bei Facklers, und Hanne ist sehr gut befreundet mit Dr. Weißert, dem Vorstand der Waldorfschule und des Waldorfschulvereins. Sie spricht wegen der Kinder mit Dr. Weißert, da Michael ja ihr Patenjunge ist. Alles ist vorbereitet – nur mit dem „Geld“ das für den Anfang der Übersiedlung so notwendig wäre, hat es nicht geklappt. Ich bin ganz der Überzeugung von Frau Hörner und habe auch alles so vorbereitet. Meine liebste Frau, was soll ich noch viel schreiben, für mich ist alles klar. Es sollte

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darum schon das Kellerräumen vorbereitet werden. Und die Wohnung vermieten, da hat es keine Not, aber es soll ja auch da bald etwas herauskommen. Man kann Menschen ja nicht einfach eine Wohnung „schenken“, was uns mit großen Kosten in Stuttgart nur möglich ist. Das wollen wir noch überlegen. Wenn wir die Tauschmöglichkeit aufgeben, so müssen wir zumindest eine Entschädigung verlangen. – Hoffentlich vergesse ich nicht die Krankenscheine! Alles Weitere wird wohl mündlich besprochen. Schade, dass Dein Brief so befremdlich klingt – das habe ich gar nicht verdient. Wenn für Michael keine besondere Entscheidung fällt, so fährt er natürlich mit nach Stuttgart. Ich fahre dann am sechsundzwanzigsten Abends zurück und bereite hier alles vor. Meine Liebe, Du wirst in Stuttgart wieder ein „lebendiger“ Mensch werden! Du wirst wieder Freude am Leben haben. So wollen wir uns auf unser Wiedersehen freuen! Dies ist mein letzter Brief. Ich fahre also am Freitagabend hier ab und bin am Sonnabendmorgen 8:00 Uhr in Bremen.

Mit den innigsten Grüßen

für Euch alle

auf Wiedersehen

Johannes und Vati

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28. November 1954 Stgt. – Kornwestheim Johannes Heymann

Stgt.-Kornwestheim am 28.November 1954

Meine liebe Inge !

Für Dein liebes Gedenken zu meinem Geburtstage in einem so ausführlichen Brief danke ich Dir von ganzem Herzen. Es ist zwar schon wieder eine lange Zeit vergangen, aber Du weißt ja von unserer vielseitigen Interessensphäre, dass Du Verständnis haben wirst für den mangelhaften schriftlichen Verkehr .Um so schöner war es festzustellen, dass man sich trotz großer Zeitunterschiede doch das bleibt, was man sich war und ist. Die Sympathie mit dem Osten ist ja heute noch eine weit reichende Zuflucht für viele Zeitgenossen, die in das Geheimnis des Mysteriums von Golgatha nicht vordringen konnten. Man darf wohl sagen, dass für diese Seelen gerade die Konfessionen das Verständnis verbaut haben. So gibt es auch heute viele neue Erscheinungen an Büchern, um die suchenden Seelen für eine ferneuropäische Welt einzufangen. Und doch ist es eine der aktuellsten Aufgaben, das europäische geistige Entwicklungsleben mit dem östlichen Denken auszugleichen.Vom anthroposophischen Gesichtspunkt aus würde gerade das Lukas – Evangelium, das Pfad – Evangelium, wie wir es nennen gute Dienste leisten, denn nach Dr. Steiner ist die lukanische Geburt überschattet, besser gesagt überlichtet, sichtbar gemacht mit den Engelchören: Friede auf Erden allen Menschen die eines guten Willens sind, - von dem Nirmanakaja des Buddha.(Siehe R. Steiner, Lukas – Evangelium).So ist der Buddhismus also schon in das Christus – Ereignis eingemündet .Was in der geistigen Welt bereits vollzogen ist, das ist das Tröstliche, diesen Weg wird auch der östliche Mensch auf seinem Pfad auf der Erde wandeln.

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Es ist nur, man könnte auch sagen tragisch, dass europäische Seelen einen Umweg machen wollen oder schicksalsmäßig machen müssen. Du kommst zurück auf unser Gespräch über die Toten. Dich bewegt die Vielseitigkeit des Erlebens der Toten. Aber löst sich dieses Problem nicht schon mit der Erkenntnis, dass wir als makrokosmisches Wesen hineingeboren werden in den Mikrokosmos des irdischen Wesens und im Tode wieder hineingeboren werden als ein makrokosmisches Wesen. Je mehr wir aber im irdischen Lebensprozess die Organe entwickeln (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten von R. Steiner)zu einer Vorstellungswelt des Makrokosmos, um so eher werden wir ein Verständnis entwickeln für die Vielseitigkeit des Erlebens der Toten. Dies gerade versucht uns Dr. Steiner nahe zu bringen in seinen Vorträgen insbesondere bei Gedenkreden zum Tode von Sophie Stinde: Geburt des Ich – Bewusstseins nach dem Tode- Die inneren Erlebnisse der sogenannten Toten –Das lebendige Zusammenwirken des Geistigen und Physischen. Unser Gedankenleben ist zu sehr belastet mit physischen Vorstellungen und darum müssen wir für die Welt der Toten vollkommen umdenken lernen. z. B. In dieser Welt nehmen wir immer etwas wahr. Wenn wir aber in die geistige Welt der Toten hineinreichen, so werden wir wahrgenommen. Dieses Wahrgenommenwerden, dieses Wissen, dass auf uns geschaut wird, das unterscheidet unser Leben in der geistigen Welt von dem Leben in der physischen Welt. . . Wir werden vorgestellt . . . wir werden wahrgenommen . . .jetzt erheben wir uns zu dem Standpunkt der Toten. Wenn die Erinnerungen nicht lebendig wären an sie, wenn das treue Gedenken nicht wach wäre in den Wachbewusstseinen, so würden die Toten den fortlaufenden Erdenprozess wahrnehmen, aber öde und leer wäre es für sie . . . Dass ein Toter ein schönes Kunstwerk (analogisch gesprochen)von der Erde hinauf sich entgegenstrahlend fühlt, das rührt her von der Tiefe der Innerlichkeit, von dem heiligen

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Gefühl der Erinnerung, die wir an ihn fortdauernd hegen. Die Stärke der Empfindung für die Toten greift ein in unser Seelenleben und vertieft es im Anblick der Toten selber; es macht dieses unsere Seele schöner und schöner. (So Rudolf Steiner)

Das ist eben der Abgrund in der heutigen Welt, dass wir nur Ich – bezogen denken. Wie können wir das Wesen und Wirken der Toten und geistigen Wesenheiten in unserer Seele aufnehmen? Rudolf Steiner hat die Wege gewiesen, die heute eben keine Philosophie denken kann. Ja, Martin Heidegger sagt, man müsste schon sagen “bekennt“, dass er selbst noch nicht wisse, was Denken heiße. Erschütternd ist die Erkenntnis eines heutigen weltbekannten Denkers fast ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von Rudolf Steiners “Philosophie der Freiheit“. Nur einen Satz aus diesem Buche R. St.:“ Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, dass der Denkende das Denken vergisst, während er es ausgeübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet.“ Diese Erkenntnis scheint Heidegger also doch schon aufgedämmert zu sein. Mit seiner “Unkenntnis“ ist er also schon weltberühmt geworden – und Rudolf Steiner? Nach einem halben Jahrhundert aber wenigstens dämmert es einem auf -, dem Heidegger -, was Rudolf Steiner sofort erkannte, wenn er ausführt: “Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, dass es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist.“ Nun meine liebe Inge, muss ich aber Schluss machen, denn es ist schon spät geworden. Mit den besten Wünschen für eine gesegnete Adventszeit bin ich in alter Herzlichkeit Dein Johannes

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Johannes Heymann

Kornwestheim am2. Februar 1955 Adlerstr. 15

Lieber verehrter Herr B o c k ! Anfang Februar darf ich wieder bei Ihnen vorsprechen, wie es abgesprochen war. Sie hatten mir die Durchsicht der Vorträge über die Paulusbriefe in Aussicht gestellt, wenn ich es recht verstanden habe. Ich rufe dann in den nächsten Tagen über Mittag an. Auf dem Heimweg von der Jahresversammlung am Sonntag zog ich mir eine Muskelzerrung in der linken Wade zu. So musste ich heute daheim bleiben. Für mich wurden es schöne besinnliche Tage. Bewundernd und dankbar stehe ich vor ihrem Paulus Buch, das jahrhundertealte Irrungen und Unverständnisse in ein Licht erhoben hat, indem es uns und hoffentlich recht vielen Zeitgenossen möglich ist das Christus – Ereignis zum Erkenntnis – Akt zu leben als Inhalt einer neuen Weltanschauung. Und wenn ich an Albert Schweitzer denke, wenn er in seinem Paulus – Buch schreibt: lebendige Wahrheit kann das Christentum in den aufeinander folgenden Geschlechtern nur werden, wenn in ihnen ständig Denker auftreten, die im Geiste Jesu den Glauben an ihn in den Gedanken der Weltanschauung ihrer Zeit zur Erkenntnis werden lassen . . .dann beglückt es zu wissen, es lebt einer, der diese Tat für unser Geschlecht vollbringt in den Gedanken der Weltanschauung unserer Zeit: Rudolf Steiners Anthroposophie. Welch ein dringliches Verlangen erwacht an Ihren Hinweis, - nicht – „wenn einmal“, sondern recht bald, die Paulusbriefe als Ansporn und Stütze im Streben nach einer neuen exakten Weltanschauung wirken werden. Mit herzlichen Grüßen immer Ihr dankbarer Johannes Heymann 199

(War dem Brief an Lic. Emil Bock nicht beigefügt.)

Aus Albert Schweitzer : Die Mystik des Paulus

Lebendige Wahrheit kann das Christentum den aufeinander folgenden Geschlechtern nur werden, wenn in ihnen ständig Denker auftreten, die im Geiste Jesu den Glauben an ihn in den Gedanken der Weltanschauung ihrer Zeit zur Erkenntnis werden lassen . . Was not tut, ist, das wir alle an dem Entstehen eines Christentums arbeiten, dass denen, die ihr Leben durch Christentum bestimmt sein lassen, nicht erlaubt, für die Zukunft der Welt kleingläubig zu sein, wie es uns die Verhältnisse eingeben, sondern sie zwingt, das Christsein als Ergriffensein von einem sich der Wirklichkeit entgegenwerfendem Hoffen auf das Reich Gottes und Wollen desselben zu betätigen.

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1956 Brief von Emil Bock zum 60. Geburtstag Stuttgart 5. September 1956

Lieber Freund Heymann

Zu ihrem 60. Geburtstag sende ich Ihnen meine allerherzlichsten Glückwünsche, u. ich darf das auch im Namen unseres ganzen Lebenszusammenhanges tun, in welchem Sie ein wichtiges aktives Glied sind. Ich nehme die Tatsache, dass Ihnen der Schritt von Bremen nach Stuttgart möglich war, als ein ermutigendes Zeichen, wenn auch noch nicht ganz deutlich ist, auf welchem Gebiet die neuen Möglichkeiten liegen, die Ihnen das Schicksal damit schenkt. Auch wenn sie nur auf einem ganz stillen Felde liegen, können Sie darin eine schöne Bejahung und Anerkennung all Ihres Helfens und Dienens sehen. Mit einem sehr herzlichen Dank für alles, was Sie für uns getan haben, grüße ich Sie und die Ihren von ganzem Herzen

Ihr Emil Bock

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30. August 1959 Chur-Pilatus- Hermann Budde Pilatus - Premiere und Schweizer Erstaufführung in Chur Johannes Heymann Mathwich

15 Stunden vor unserer Abreise an den Bodensee nach Konstanz – Staad am Sonntag, den 30. August 1959 erreichte uns ein Brief unseres Kollegen Hermann Budde, der jetzt künstlerischer Leiter einer christlichen Bühne “DER WEG“ in Winterthur in der Schweiz ist. Nach langer Zeit hatte er endlich unsere Anschrift ausfindig gemacht. Zu unserer Zeit in Bremen wirkte er als Darsteller mit in unseren Aufführungen: „Pilatus“ – „Hiob“ – „Die Geliebte“. Hermann Budde bat um Manuskripte meiner Stücke für Gastspielaufführungen in der Schweiz. Am 12. September trafen Ilse und ich in Zürich ein und er erhielt die Manuskripte von uns persönlich ! ! !

Ilse Heymann

Johannes Heymann

Hermann Budde

Anfang März 1960 erhielt ich von Hermann Budde die Einladung zur Uraufführung seines Werkes: „Und er sah die Stadt“, am 13. März in Zürich und zur Premiere meines Schauspiels: „Pilatus“ am 19. März nach Chur zu kommen.

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Ich trat die Reise an und erlebte vom 13. bis zum 23. März herrlichste Sonnentage in der Schweiz. Die Unkosten wurden durch die Spesenvergütung und Regie – Honorar abgedeckt. Buddes Uraufführung, in der er in geschicktester Form die modernsten Jugendprobleme behandelte, - stieg in der Kongresshalle in Zürich vor circa 2000 Jugendlichen der reformierten Gemeinden aus der Mittelschweiz. Ein großer Tag und ein großer Erfolg für Hermann Budde. (In Zürich besuchte ich unsern Berliner Pfarrer Otto Palmer – Spielerkreismitglied 1932 -). Von Zürich ging es am Züricher See und Wallensee entlang zwischen schneebedeckten Dreitausendern im Frühlings – Sonnenschein nach Chur (Graubünden). Dort genoss ich in vollen Zügen die Schweizer Gastfreundschaft, lebte bei dem Redakteur Dr. Casal von der „Neuen Bündener Zeitung“ und wurde jede freie Zeit mit dem Wagen durch die Alpen gefahren, zur berühmten Via Mala, bis an die Zufahrtsstraßen zu den Pässen u. s. f. Ich war 1800 m hoch in Arosa, 1600 m hoch auf dem Brambüesch. Sechs Tage lang konnte ich noch in eigener Regie meinen „Pilatus“ überholen. Zuerst stutzten die jungen Schauspieler, aber dann ließen sie mich nicht mehr los. Sie probierten bis in die Nacht um 1:00 Uhr und sagten, jetzt erlebten sie erst, was eine Probe ist. Nach der erfolgreichen Premiere des „Pilatus“ vor einem überfüllten Hause, ich musste mich mit dem Leiter und den Schauspielern vor dem Vorhang verneigen, habe ich dann am Sonntag Chur, nicht ohne Trauer, verlassen. ------------------------------------------------------------------------------------------------Ich fuhr nach Dornach. Dort war ich wieder drei Tage Gast bei Dr. Jochen und Almut Bockemühl. Almut vermittelte mir ein Gespräch mit Karl von Baltz, dem Leiter der künstlerischen Sektion am Goetheanum. Anfrage: ob Komponist Karl Robert Wilhelm, Stuttgart, mit Ilse Barth- Heymann vertonte Gedichte von Albert Steffen in Dornach aufführen können. Es wurde festgelegt, wie dies geschehen kann. Ich kam auch selbst in ein Gespräch über künstlerische Fragen mit Herrn von Baltz. Sonst hatte ich die Schlüssel und lebte stundenlang allein in den Räumen des Goetheanum und Käthe Henn als Ortskundige war mir eine getreue Führerin. – Obwohl ich wusste, dass die Bühne „DER WEG“ auf ihrer Gastspielreise durch die Schweiz am 1. April in Dornach gastieren würde, machte ich doch niemand darauf aufmerksam, außer Käthe Henn, da mir die Aufführung nicht reif genug erschien. Was sich nach meiner Abreise noch in Dornach begab, folgt in einem Bericht von Almut Bockemühl und Käthe Henn.

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3. April 1960 Dornach

Käthe Henn

Abschrift Diesen Brief empfingen wir am Dienstag, den 5, April 1960 von Dr. Jochen und Almut Bockemühl, von Käthe Henn, Almuts Mutter, unserer langjährigen Freundin. (Das in Klammern gesetzte stammt von uns). Almut beginnt den Brief und schreibt: Dornach, den 3. April 1960 Liebe Heymanns ! Haben Ihnen am Freitag nicht die Ohren geklungen weil wir so viel an Sie gedacht haben? Es war ein ereignisreicher Tag, und es ist wirklich alles sehr merkwürdig verlaufen. Doch ich werde genauestens berichten, wie das Drama ablief. 1. Akt. Donnerstag bei Bockemühls im Familienrat. Es war beschlossene Sache gewesen, am 1. April das Stück von einem gewissen Johannes Heymann in der reformierten Gemeinde anzusehen.(Die Gastspielbühne von Hermann Budde, zu deren Pilatus – Premiere ich in Chur war und noch eine Woche Regie führte, gastierte am 1. April in einem Saal in Dornach.) Nun war ausgerechnet der Abschlussabend des anthroposophischen und pädagogischen Seminars (der Freien Hochschule für Geisteswissenschaften in Dornach) auf den Abend gelegt worden. Erregte Diskussionen, was man tun soll. Mutti verzichtete ungern, aber sie sah ein, dass sie den Seminarabschluss nicht versäumen durfte. Jochen empfand es auch als seine Pflicht, die Einladung nicht auszuschlagen. Almut rang sich schließlich auch dazu durch, ihren Gatten begleiten zu wollen. 2. Akt. Freitag nachmittag. Sitzung des Hochschulkollegiums. Herr Steffen (der Schweizer Dichter Albert Steffen und der Vorstand der allgemeinen anthroposophischen

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Gesellschaft in Dornach und der ganzen Welt) sagt, er wäre gerade eingeladen worden von dem Leiter einer kleinen Schauspielergruppe zu einem Stück das am Abend gespielt werden sollte. Ob nicht jemand den Verfasser des Stückes kennte (Heymann Mathwich). Keiner kannte ihn. Nur Suso Vetter, der zufällig an dem Tag zum ersten Mal an diesen Sitzungen teilnehmen durfte, sagte, ja, der Bockemühl kennte ihn. – Ja, dann möchte er doch mal den Bockemühl bitten ihn anzurufen. 3. Akt. Jochen ruft bei Herrn Steffen an. Herr Steffen bittet ihn, doch an dem Abend in das Stück zu gehen und ihn zu entschuldigen. Es interessierte ihn zwar sehr, aber er hätte solange Sitzung gehabt und wäre zu müde. Übrigens Jochens erstes Gespräch mit Herrn Steffen. Er konnte noch anbringen, Herr Heymann würde auch sicher gerne Rücksprache mit ihm nehmen, worauf Herr Steffen sehr freundlich einging und sagte, ja, er solle doch nur kommen, wie gesagt, er interessiere sich sehr für diese Dinge. 4. Akt. Im Auftrage von Herrn Steffen „müssen“ Bockemühls in den Pilatus. Natürlich waren wir froh über diese Entscheidung durch höhere Gewalt. Doch als wir in dem gefüllten Saal sitzen, erlebten wir eine Überraschung. Plötzlich ist es wie in der Osterspaziergangsszene im Faust. Das Volk verstummt, um dann in erregtes Gemurmel auszubrechen. Aber wer hereingetreten ist ist nicht der Doktor Faust, sondern Herr Steffen mit zwei Begleitern. Er konnte es also trotz Müdigkeit nicht lassen. Die Aufführung wurde mit außerordentlicher Spannung verfolgt. Bei den Schauspielern meinten wir manchmal, sie brauchten nicht unbedingt so zu schreien. Am besten war zweifellos der Rufulus, der, obwohl er noch recht jung war, sehr reif wirkte und eine fast meditative Stimmung verbreitete. Wir begrüßten nachher noch Herrn Steffen, der ganz angetan zu sein schien. Offensichtlich imponierte es ihm gerade, dass da die Reformierten mit dem Stück eines

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Anthroposophischen reisten und das noch als ihr Glanzstück herausstrichen. (Wie das in der Vorrede geschehen war). Eine Kritik, die wir gerne aus ihm herausgeholt hätten, bekamen wir leider nicht zu hören. Der Augenblick war auch nicht ganz dafür geeignet. Den 5. Akt, die Nachwirkungen überlasse ich dem Augenzeugen zu berichten. . . . . ………aber Sie sehen, dass Sie bald wiederkommen müssen, um ihre Dornacher Beziehungen weiter zu pflegen. Schluss und Grüße von Almut folgen

Fortsetzung von Almuts Mutter, unserer lieben Freundin Käthe Henn.

Lieber Johannes, liebe Ilse!

Nun darf ich den sechsten Akt schreiben. Abschiedsabend des Seminars. Es wird gesagt, dass Herr Dr.Bockemühl nicht anwesend sein kann aus oben erwähnten Gründen. Volksgemurmel: Wer ist Heymann? Was ist das für ein Stück? Und Steffen war persönlich dort? 7. Akt. Feierlicher Abschied der beiden Seminare im Terrassensaal in Anwesenheit des Hochschulkollegiums und Herrn Steffen. Herr Steffen ergreift als letzter das Wort. Seine müde Haltung wird lebendig, nachdem er den Anfang überwunden hat, er spricht ganz als Dichter ohne konventionelles Beiwerk. Auf einmal fing er an von dem Stück eines Anthroposophischen zu erzählen, eines Herrn Heymann, zu dem er gestern Abend geladen war: Die Frage des Pilatus: „Was ist Wahrheit“? Und führt es des Langen und Breiten aus, erzählt von dem Stück und fügt seine eigenen Gedanken dazu als eine Gabe auf den Weg für die, die fortgehen. 8. Akt. Beim Fortgehen hatte ich eine Begegnung mit Herrn von Baltz. Ich sagte, das es

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doch schön sei, dass Herr Steffen das Stück von Johannes Heymann selbst angeschaut habe. Er schlug sich vor den Kopf und sagte: Ach, jetzt kommt erst der Zusammenhang. Das ist ja ein lebendiger, argumentvoller Mensch, dieser Herr Heymann, u. s. w. . . . . . . . . Ich: Ja, es wäre doch schön, wenn man ihn zur Mitarbeit heranziehen könnte. Sprechen Sie doch mal mit Herrn Steffen darüber. In dem Augenblick geht Herr Steffen allein an uns vorbei und will seinen Mantel anziehen. Herr von Baltz springt herzu, hilft ihm in den Mantel und beide gehen miteinander fort, ich sehe sie noch länger im Gespräch miteinander. Vorhang fällt. Die Schauspieler wurden von Herrn Steffen eingeladen, das Goetheanum zu besichtigen, er bat auch Jochen (Dr.Bockemühl) an der Besichtigung teilzunehmen, was am Samstag nachmittag geschah. Sie durften an der Generalprobe der Eurythmie – Aufführung teilnehmen. Ich glaube, dass sie von allem sehr beeindruckt waren. Also, der Ring schließt sich und fordert zu einer Wiederholung Deines Besuches auf. ………………… Grüße und Unterschrift von Käthe Henn

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1960 Gundhild Kačer

älteste Tochter von Emil Bock

Stuttgart, den 25.9.60

Lieber Herr Heymann! Im Nachlass meines Vaters fand ich jetzt dieses Manuskript mit Ihrem Namen. Darf ich es Ihnen auf diesem etwas umständlichen Wege (ich weiß Ihre Adresse nicht) zurückgeben? Ich denke, es ist am besten, Sie haben es zu Ihrer eigenen freien Verfügung wieder in der Hand. Beim Ordnen des ganzen Nachlasses fand ich auch die von Ihnen durchgearbeiteten Nachschriften der Paulus – Vorträge. Ich habe da erst erfahren, welche ungeheure Arbeit Sie da geleistet haben. Vor solchen Aufgaben stehen wir ja jetzt mehrfach, wenn wir nach zu veröffentlichenden Manuskripten suchen. Wir haben die leise Hoffnung, dass mit der Zeit aus dem Vorhandenen noch ein „Buch“ werden kann, wenn es auch sehr anders sein wird, als die bisherigen Bock – Bücher. Das ist auch noch ein bisschen Zukunftsmusik. Jedenfalls ist im Hinblick darauf von Ihnen bereits ein groß Teil Arbeit geleistet. Das möchte ich Ihnen doch einmal dankbar aussprechen, wenn es auch nicht an mir ist, Ihnen für diese Arbeit zu danken. Ihnen und Ihrer Frau sehr herzliche Grüße Ihre Gundhild Kačer

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30.1.1962 Kornwestheim Ilse Heymann Kornwestheim, den 30.1.1962

Epiphanie liegt hinter uns, der Neujahrsbeginn, das Weihnachtsfest, die Adventszeit. Ihr voran ging eine Art innerer Apokalypse. Ich las den Bericht „Ostpreußisches Tagebuch“ von Graf von Lehndorff; – als mich Not und Kummer darüber nieder zu drücken drohten, brach ein Gefühl des Getragenenseins ins Seeleninnere und verband sich zur Empfindung eines wundersamen Lichtes. So trat der Wille ein, das Weihnachtsfest, die Adventszeit auf das Innigste vorzubereiten und die Beschenkte war man selbst. In der Neujahrsnacht, im Übergang vom alten zum neuen Jahr las uns Johannes, wie seit 30 Jahren (wir erinnerten uns daran) den „Olav Ǻsteson“, - Wir gedachten aller Lieben, die uns so liebevoll Beschenkten, uns bedachten und hielten eine Rückerinnerung an alles was uns das vergangene Jahr 1961, das 100. Geburtsjahr Rudolf Steiners, schenkte. Und wir nahmen staunend wahr, wie reich an Erfüllungen das vergangene Jahr für jeden Einzelnen von uns sich gestaltete. Es setzt sich bis heute noch fort. Da waren zuerst die Auswirkungen von Johannes Dornach – Besuch 1960. Seiner “Drusilla“ –Vorlesung folgte die Begeisterung der jungen Schauspieler für sein Drama, und sie begannen mit den Proben. Für mich und Karl Robert Wilhelm, den Pianisten und Komponisten, wurde der Konzertabend für den April 1961 angesetzt. Das Konzert gelang so gut, dass Herr von Baltz, der selbst auf Vortragsreisen war, nur Gutes, sowohl von Herrn Wilhelms Liederkompositionen und von meinen Gesang gehört hat. Zu diesem Konzert konnten wir Rudolf mit nach Dornach nehmen, und es eröffnete sich ihm die Berufswahl, der künstlerische Weg in Dornach, das dortige Studium. Johannes erlebte seine erste Probe der Künstler an seinem Drama: „Die

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Stunde der Drusilla“. Noch war alles nur veranlagt, Zukunft muss die Gestaltung ausreifen. Ende Juli, anfang August, durften wir die große zweite Sommertagung miterleben, alle vier Mysteriendramen hören, schauen. Vorträge, Eurythmie, ein Konzert von Herrn von Baltz mit dem Dornacher Orchester. Führung durch das Goetheanum, bis ins Atelier unseres verehrten Lehrers, der Furcht vor seinem Antlitz, geprägt in die Totenmaske. Staunende Bewunderung vor den ausgestellten Arbeiten der Kuppelmalerei, der Glasfenster, der Modelle, dem Riesenmodell der Repräsentanten – Gruppe im hohen Atelierraum, Andacht vor der Holzplastik – Gruppe des Menschheitsrepräsentanten, im Goetheanum selbst. Im Urnensaal verweilten wir, durften ins Maleratelier, wurden dort von Herrn Mathesius (Frau Mathesius erarbeitete sich die „Drusilla“) beschenkt mit einer Lithographie, die er eben vom neu entdeckten Verfahren des Steindrucks gemacht hatte. Ich lernte die Sängerin Frau Dietrich kennen, sang täglich morgens mit ihr und gäbe etwas darum, dürfte ich mit ihr noch einmal ein Studium haben, um ihren Weg (durch mich) anderen Menschen vermitteln zu können. Er begeistert mich. In der Broterwerbstätigkeit kamen dann harte Wochen, denn es waren von unserer 20 Menschen zählenden Abteilung durchschnittlich fast immer acht Menschen krank, und wir mussten die Terminarbeiten dennoch (für sie mit) erledigen. Das ergab schmerzhafte Entzündungen in beiden Handgelenken, und ich arbeitete tagelang nur mit Umschlägen am Arm. Regelmäßig, (nun bald, im April, zwei Jahre lang) findet unser Arbeitskreis allwöchentlich am Montag in unserer Wohnung statt. Wir alle lieben uns herzlich, wie am ersten Tag. Es wurden fünf Menschen neue Mitglieder, wir sind nun 13, aber oft auch bereits 15 Mitarbeitende. So beschlossen wir, einen Zweig zu begründen. Auch dieses “Ereignis“ als “Erreichnis“ schenkte uns das Jahr 1961/62. Denn nun wurden wir von Dornach als der „Michaels – Zweig“ in Kornwestheim bestätigt. Johannes ist der Zweigleiter und war bereits

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bei der letzten großen Zweigleiterzusammenkunft am 28. Januar dabei. Am 15. Januar hatten wir Herrn von Grohne als Gast aus Stuttgart bei uns. Er erzählte uns von seinen persönlichen Begegnungen mit Rudolf Steiner, gab uns eine neue Sicht, die wir bisher nirgends lasen von Zielen unseres Lehrers und deren Erfüllung als allerletzte Ausblicke seines Erdenweges und unserer Nachfolge. Johannes und ich durften Mitglieder der Klassenstunden werden.

Es gibt sechs Fenster in einer Reihe, davon sind die äußeren jeweils kleiner, rechts, die beiden, gehörten zu Johannes Arbeitszimmer

Zu Weihnachten beschenkten Johannes „Drusilla – Künstler“ ihn mit fünf (wie im Druck) abgezogenen Exemplaren seines Dramas, das Johannes Ihnen bühnenfertig arrangiert hatte. Dazu kamen Grüße mit dem Briefkopf „Sektion für redenden und musikalische Künste“ von seiner „Miriam“ (Frau Harkness, die in den Mysterien Dramen die Frau Balde spielt) von

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seiner „Drusilla“ Frau Mathesius, die ihr Diplom als Sprachgestalterin zu Weihnachten bekam und von seinem „Felix“, Robert Schmidt, der auch in Dornach einige Rollen in den Mysteriendramen spielt und den wir als einen der Sokrates – Schüler in der großartigen Aufführungen der Dornacher Künstler hier in Stuttgart sehen, hören durften. Der geniale Herr Marwitz spielt den Sokrates, und es ist die größte schauspielerische Leistung die Johannes und ich jemals sahen. Johannes sagte es Herrn Marwitz nach der Aufführung, und er war beglückt, denn wie immer alles in Dornach, musste diese Arbeit errungen, durchgesetzt werden. Hier wurde Geist zur Kunst und Kunst zu Geist. Johannes musste Tränen zurückhalten. Jetzt sah er: Alles was er geschrieben hat, wird durch den zur Genialität erhobenen Weg der Sprachgestaltung gesprochen, gespielt werden können. Hier ist Weg und Endziel vorgezeigt, regielich und durch die überragenden Leistung des Künstlers Marwitz. Johannes arbeitet am sechsten Einakter seiner Gestaltungen der „Sieben Zeichen des Evangelisten Johannes“, „Heilung des Blindgeborenen“ (In der Reihe dieser Zeichen ist das Siebente: „Die Auferweckung des Lazarus“ wurde um 1937 geschrieben). Als Johannes uns den Einakter „Der Hauptmann von Kapernaum“ vorlas, waren zugegen: Michael und Sophia, Rudolf und Astrid und ich. Die Jugend war zutiefst begeistert. Das sagt viel! - Weitere „Erfüllungen“ dieses Jahres waren, dass Michael seiner Sophia wieder begegnete, er hatte sie auf einer Jugendtagung kennen gelernt, dann ganz aufgegeben, als sie nach Berlin ging um dort ihr Abitur nachzumachen, dann aber plötzlich in Kornwestheim bei uns vor der Tür stand und uns persönliche Grüße ihres Patenonkels aus Berlin überbrachte, der damals in Johannes Spielerkreis war! ! ! Ja, an Wundern ist unser Dasein überreich! Noch eine große Erleichterung gewannen sich beide Söhne, denn sie errangen sich einen Wagen und sitzen nun nicht mehr bei Wind und Wetter auf den entsetzlichen Mopeds oder Rollern. Rudolf, dessen Roller von einem amerikanischen Soldaten Totalschaden erlitt,

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er kam mit leichten Verletzungen davon, konnte sich von der Versicherungssumme ebenfalls einen Volkswagen kaufen, der tadellos fährt, ihm halb geschenkt wurde. – Zwei Wagen in einer Familie. Beide Söhne machten den Führerschein ja schon lange! – So brachte uns das neue Jahr wunderschöne Fahrten nach Reutlingen und in die Umgebung, hier. Michael holte zu Neujahr, ganz überraschend, Sophia mit Rudolfs Volkswagen vom Elternhaus in Ulm ab. Sie wollte den frühen Zug nach 5:00 Uhr nehmen, kam aus dem Haus und vor ihr stand Michael und Rudolf mit Wagen und fuhren sie im Auto hierher. Nachts um drei Uhr waren sie von hier abgefahren. Das war ein brüderlicher Abenteuerstreich wie ihn wohl keiner der drei Beteiligten wieder vergisst! – Am 28. Dezember traf sich bei uns unser Kreis. Johannes las seine „Meerfahrt mit Paulus“, weil sie in die 13 heiligen Nächte herein gehört. Danach waren wir beisammen bis 24 h. Alles ging nur bei Kerzenschein von statten, ich hatte die ganze Wohnung umgebaut und 15 Menschen hatten hinterher zur Teestunde Platz im Raum. Es war ungemein festlich und beglückend. Zu diesem Festtag und der „Einweihung unseres Zweiges“ durch Herrn von Grohne arbeitete ich Wochen vorher an der Nähmaschine. Neuer Fenstervorhänge in der ganzen Wohnung waren zu nähen und unzählige Kissen aus Aalen, schon lange zu diesem Zweck aufgehoben (zu klein gewordenen) Wollpullovern. Da ich eine billige Schaumgummiflockenfüllung ausfindig machen konnte, durfte ich mir endlich den Wunsch vieler Kissen für die Bettbänke an der Wand entlang erlauben (Federn waren immer zu teuer), damit zu den zwei Festtagen auch alle Besucher gut sitzen und sich wohl fühlen konnten. – Dann nun fast jeden Sonnabend/Sonntag unsere „Soldaten“ heimkamen, immer einen Festtag erwarteten, ihre Mädchen zu Besuch hinzukamen und noch Rudolfs Freund Rainer aus Ludwigsburg, sind meine Sonnabend/Sonntage mit meinen Soldatensöhnen nicht einsamer geworden, sondern das Gegenteil trat ein und das seit Wochen, Monaten. Und immer nach

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solchen Sonnabend/Sonntagen folgte unser Zweigabend am Montag, wo alles wieder geordert und sauber sein sollte, so kam es, dass ich unsere Weihnachtpost in Ruhe erst aufgenommen und eingehend gelesen habe, als ich in der vergangenen Woche einen Tag daheim blieb. – Waren einmal kurze Zwischenpausen, dann brauchte ich sie tatsächlich als Ruhepausen zur Erholung. Aber ein Ausflug nach Reutlingen um dort unsere geliebte, so sehr kranke (gelähmte) Frau Gertrud Fakler (Frau des Priesters Hermann Fackler) aufzusuchen war ja leider doch kein nur beglückendes Erlebnis. Dort durfte ich einmal ein Vierteljahr lang leben und werde diese Zeit niemals vergessen, so gütig – liebevoll war ich dort aufgenommen, als Michael zwei Jahre alt war und Rudolf sich ankündigte! – (1941? Rudolf 08.10.41*) Hanne war dann einen Tag aus Reutlingen bei uns zu Besuch, mit ihrem Wolfgang – Büblein. Große Festtage des Rudolf Steiner Jahres machten wir mit, sei es durch Vorträge, Musik, Eurythmie. Im großen Sieglehaus-Saal fanden drei Vortrags Abende der Christengemeinschaft statt. Dann nochmals Vorträge zur Zeit des Totensonntags und zu Michaeli. Im Rudolf Steiner Haus war eine Folge von astronomischen Vorträgen mit Lichtbildern, wie wir sie bisher niemals sahen, „Vom Wesen und der Erscheinung der Sternen Welten“, 1. das Planetensystems, 2. Abend: Fortsetzung, 3.Fritsch – Nebelwelten. 4. „Von den Hüllen der Erde“. Dann folgte der bedeutende Vortrag Dr. Bühlers (Arzte des Paracelsus – Hauses), in Unterlengenhardt: „Ein Schicksals Wendepunkt im 20. Jahrhundert“. Mit ungeahnter Souveränität sprach er von den Hierarchien, der ihre göttlichen Konferenz am Sternenhimmel hat, der Synode, die sich laufend vorbereitet und am 4. / 5. Februar ihren Höhepunkt am Sternenhimmel hat. (Alle Zeitungen sind sensationell, interessiert an diesen Ereignissen) hier nennt sie Dr. Bühler ihrer Wesenheit nach, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft bestimmend, planend, dazu eine Sonnenfinsternis auf der südlichen Halbkugel, für uns unsichtbar, (was sagt Dr. Steinert dazu) - - was wird beschlossen. Der erste Vortrag war 1 3/4 Stunde vorher

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so besucht, dass wir umkehren mussten, weil kein Platz mehr zu bekommen war. Die Wiederholung hörten wir dann und werden sie beim dritten Mal (jetzt öffentlich) im Mozart Saal der großen Liederhalle nochmals miterleben. Von Dr. Bühler hörten wir den Vortrag am Mittwoch – Abend: „Krankheitsvorbeugung und soziale Hygiene im Lichte der Reinkarnation“. Grandios, ja erschütternd bis ins Mark ! ! ! – Am Sonnabend, trotz Rudolfs hier sein und dem Besuch seines Freundes Rainer, machten wir abends die Totengedenkstunde für Ehrenfried Pfeiffer mit. Er war ein direkter Schüler Dr. Steiners und fand die Kristallisationen der Samen, aus denen zu ersehen war, welcher Same der gesündeste, kräftigste zur Entwicklung einer neuen Brotpflanze sei, da unser Getreide ja langsam abstirbt. Er hat in großen Farmen in Amerika, biologisch – dynamisch bewirtschaftet, medizinisch die Abfälle amerikanischer Abfallplätze in Humus verwandelt; wurde an Universitäten zu Vorträgen geholt. Eine unsagbare Lebensleistung: Man arbeitet alle seine begonnenen Experimente weiter aus. Am vergangenen Sonntag war die Generalversammlung der Landesgesellschaft Stuttgart, und wir waren von morgens 9:00 Uhr, mit zwei Mittagsstunden Pause, bis abends ½ 8:00 Uhr im Rudolf Steiner Haus. Eine ungeheure Fülle wurde da offenbar, so darf man wohl sagen. Geleistete Arbeit, gesetzte Ziele, Ausblicke! Gestern Abend konnten dann Johannes und ich unserem Kreis davon berichten. Für eine aussichtsreiche Zukunft reichte unserem Michael, durch seine eigene Initiative, das Schicksal gütigst die Hand. Er fuhr am vorigen Sonnabend mit Johannes nach Hepsisau bei Weilheim an der Teck in eine zauberhafte Landschaft hinein und zu einem heilpädagogischen Erziehungsheim, das Gleicherweise märchenhaft schön auf Michael und auf Johannes wirkte. Wie ein Märchenschlusspunkt. Herr Strohschein führte Johannes und Michael drei Stunden durch das ganze Haus, Michael darf dort, wenn er will, sofort als Helfer

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anfangen, wenn er das Militär am 30. Juli verlässt. Die Schulbildung spielt dort überhaupt keine Rolle. Möge Michael sich dort in der Zukunft halten können ! ! ! – Heute ist es bereits der 18. April 1962 geworden. Ich ahnte nicht, dass ich meinen kleinen Bericht eine Seite hinzufügen müsse. Ich schreibe auf der ersten Seite: „Und wir nahmen staunend wahr, wie reich an Erfüllungen das vergangene Jahr für jeden einzelnen von uns sich gestaltete. Es setzte sich bis heute fort.“ Aus welcher Ahnung heraus schrieb ich den letzten Satz ? ? ? ? – Denn, seit dem 27. März, genau an meinem 50. Geburtstag, sind wir in einer zauberhaft schönen nagelneuen Wohnung in Ludwigsburg – Oslebshausen, Schumannstr, 8, III

Und das kam so: Unser Haus in Kornwestheim wurde immer mehr und mehr ein Haus für Ausländer, Italiener, Griechen und was sonst noch, denn, so interessant Ausländer sein können, hier handelte es sich doch mehr oder weniger um ehemalige oder direkte „Zigeuner“. Über uns hauste nun ein Pärchen, das heiraten wollte, vorher hatten wir mit Negern und Negerliebchen sonst was erlebt ! ! ! – (Anmerkung von R. Heymann: Heute (23.09.07) würde man sagen: Es waren Prostituierte, die aus der Gastwirtschaft vom Adler hier oben in dem kleinen Zimmer ihren Geschäften

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nachgingen, das war zwar illegal, aber in der Wohnungsnot damals musste das alles hingenommen werden.). Die Decke oben ist hauchdünn, man hörte einfach alles! - In unserer Not um dem Trubel des Hochzeitstages über uns, es war der 17. März, zu entgehen, luden wir uns zu unseren Freunden Theegarten ein, die uns vor drei Jahren so lieb nach Italien mitnahmen. Theegartens holten uns früh um 10:00 Uhr mit ihrem neuen Wagen (Taunus) ab, wir machten eine herrliche Fahrt und sind am Nachmittag bei ihnen. Frau Theegarten bittet am Abend unsere Frau Conradi, die Hausinhaberin und Vermieterin von Theegartens, nun schon auch Mitglied in unserem anthroposophischen Arbeitskreis Kornwestheim, herauf, und diese sagt plötzlich zu uns: „Ich habe mein Grundstück neben dem Haus verkauft, weil mir die Arbeit zu viel wurde, legte das Geld in einer Eigentumswohnung an, die ich nun vermieten will, möchten Sie die Wohnung nicht haben ? ? ? ? ! ! Sie anschauen, sehen und „ja sagen“ war eines. Sie liegt von Theegartens und Frau Conradi nur ums Eck herum entfernt, hat herrliche Aussicht, bis weit auf Hügel und Berge, hat eingebaute Schränke, automatische Ölheizung, zwei Warmwasserspeicher im Bad, in der Küche, versiegeltes Parkett, und hübsche bunte Gummiplatten auf dem Flur in der Küche, im Kinderzimmer. Der Wohnraum ist mindestens 5 ½ mal 4 1/2 Meter groß, Johannes Zimmer, im Kinderzimmer passten beide Betten, Klavier, Schrank, zwei weitere Nachtschränke, kleine Kommode und Nähmaschine, dazu hat die Wohnung einen großen Südbalkon und einen Nordbalkon, auch geräumig zum Sitzen und für alle Vorräte. Ein großer Keller und – Bodenraum sind vorhanden. – Ich kann nur sagen, kommt alle her und seht unser Glück, unsere Freude. Fensterfronten hat es hier, Licht, Licht, Licht. – Ja, das danke ich Johannes, der seit zwei Monaten wieder arbeitet. Seine Arbeit im Pressearchiv in Stuttgart macht ihm täglich Freude! Nun noch eine so erstaunliche Begebenheit. Ursprünglich hatten wir uns nach Dornach zur

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Ostertagung, ab Palmsonntag, ansagen wollen. Durch die großen Kosten eines so urplötzlichen, aus heiterem Himmel (im wahrsten Sinne des Wortes!!!) kommenden Umzugs ließen wir den Gedanken daran fallen. Da kommt plötzlich von Hermann Budde aus der Schweiz ein Telegramm, ob Johannes ihm nicht am Karfreitag in Dietikon bei Zürich den „Pilatus“ (Johannes Spiel, mit dem unser Freund Budde schon lange mit seiner Wanderbühnen durch die Schweiz fährt) spielen könne. - Obwohl Johannes die Rolle seit 13 Jahren nicht mehr spielte, sagte er sofort zu, denn obwohl, ich und unsere verschiedenen Mitspieler den Pilatus wohl an circa 150 Mal spielten, noch niemals war eine Aufführung am Karfreitag selbst. So nimmt Johannes das als Dankestun dem Schicksal gegenüber und war nicht zu bewegen, sich nicht zu viel aufzuladen. Nun lernt er, lernt auswendig, geht täglich 9 Stunden zur Arbeit, ließ auch am Montag unseren Zweigabend nicht ausfallen. Es ist nun so günstig, dass Rudolf gerade Ostern vom Militärdienst befreit ist (dafür muss er dann Pfingsten Kasernendienst machen), so fährt er uns morgen am Gründonnerstag nach Dietikon. So hoffen wir innig, dass Johannes die Rolle am Karfreitag bewältigen möchte. Am Karsonnabend fahren wir nun doch nach Dornach hinüber und erleben dort die Ostertage, hören das 4. Drama „Der Seelen Erwachen“. Rudolf freut sich unbändig, denn wir haben „seine Asti“ eingeladen mit uns zukommen, damit auch sie ein erstes Mal in Dornach ist. Astrid Brauer hat die 12. Schulklasse jetzt hinter sich, mit sehr gutem Abgangs - Zeugnis und geht nun einen künstlerischen Weg, Holzplastik, später kann der Weg bis zur Waldorfschulwerklehrerin gehen. – Johannes erhielt kürzlich aus Dornach den „Probenplan“, da stehen nun, in der vergangenen Woche, offiziell seine Proben für sein „Drusilla – Drama“ darauf und bereits mit Proben im „Grundsteinsaal“. Wie freute er sich, dass wir nun doch nach Dornach kommen und er „seine Künstler“dort sieht und mit ihnen sprechen kann. Michael hat leider erst Pfingsten militärfrei.

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Ilse Heymann

(Nach dem 31. 12. 1962 geschrieben). Für Freunde, die sich mit uns freuen, ein kleiner Sammelbericht unserer Tage in Dornach, die uns geschenkt wurden durch die Uraufführung, dort im Grundsteinsaal des Goetheanum, von Johannes Drama: "Die Stunde der Drusilla“. Uraufführung am 16. 12. 1962, Wiederholung zur Weihnachtstagung , am 18. 12. 1962

Inge Matthesius als „Drusilla“

Völlig überraschend kam uns die plötzliche Benachrichtigung aus Dornach mit dem eingelegten Veranstaltungsprogramm des Monats Dezember das uns ankündigte: Johannes „ Die Stunde der Drusilla“(zweieinhalb Jahre geplant und vorbereitet) käme nun zur Uraufführung. So machte sich Johannes beruflich frei zur Fahrt nach Dornach, um dort wenigstens noch der Haupt-und Generalprobe beizuwohnen. Michael, der gerade hier bei uns sein konnte, fuhr Johannes und einen lieben Freund aus unserem Zweigabend, der lange Mitglied ist, noch nie aber das Goetheanum gesehen hatte, am 13. 12. nach Dornach.

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Bei herrlichstem Wetter fuhren wir früh um 7:00 Uhr hier ab, aber wie das manchmal mit alten Wagen geht, Michael (der ja alles kann und alles an dem Wagen allein repariert) hatte unterwegs eine Panne. Zum Glück ließ sie sich mit unerhörten Anstrengungen von Michael am selben Tage beheben (er sauste auf geliehenem Rad durch Freiburg, um Ersatzteile zu bekommen, erhielt sie auch) und abends um 1/2 10:00 Uhr waren dann die drei endlich in Dornach, dort schon mit Sorgen erwartet! Am Freitagmorgen war die Hauptprobe, und Johannes konnte bei so manchem noch helfend eingreifen. Doch schon da war er erfüllt und begeistert von dem, was "seine Künstler und Könner" (die

Dornacher) aus seinem

Werk herausgeholt

haben. In der

Generalprobe am

nächsten Morgen war

tatsächlich alles

bedacht worden, was noch

gesagt war und als

nun Rudolf, unsere liebe

Asti und ich am

Sonnabend mittags 1:00

Uhr in Dornach

ankamen

(wir waren erst um

9:00 Uhr abgefahren, es

geht jetzt so prächtig mit der Fahrt über die fertige Autobahn), da erzählte uns Johannes tief begeistert schon so manches aus der eben erlebten Generalprobe. So waren wir sehr erwartungsvoll für den nächsten Tag, den 3. Adventssonntag, den 16. Dezember! Und die Aufführung begann. Wir alle waren überrascht schon vom Bühnenbild, dann vom ersten Auftritt der Drusilla , die herein – geflogen - gestürzt – geschwebt kam, von der herrlichen, schwungvollen Sprache, der ganzen gehaltenen Dramatik, die über dem ganzen Werk lag und die Gegenwart des Paulus so nahe werden ließ. Ein großes Geschenk war uns dieser Tag in Dornach, vielleicht der größte, weil der erste, der

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uns zeigte, dass Johannes Spiele zeitlose Gültigkeit haben und, dass sie nun gesehen und ihrem inneren Gehalt nach erkannt werden; ich persönlich bekam ein ganz besonderes zartes Schicksals-Geschenk. Von meinem 18. Lebensjahr an verehrte ich Dr. Poppelbaum von ganzem Herzen, liebte ich ihn so, wie man Anthroposophie, wie man Dr. Steiner liebt. Als die Pause im Spiel war, durfte ich plötzlich neben Herrn Dr. Poppelbaum sitzen. Er sprach sich in seiner liebenswerten, so feinen, stillen, sonnenhaften Art so positiv zu der Aufführung aus, lobte die Spieler, fragte wie lange Johannes sich wohl schon mit Paulus beschäftigt habe. Als er hörte wohl 20 jahrelang, bewegte er anerkennend bewundernd sein Haupt, - und noch

einmal sprach er

eingehend mit

uns, doch davon später.

Unser verehrter

Herr Steffen war an dem

Tage nicht wohl

auf, versprach aber, am

28. Dezember der

Wiederholung der

Aufführung

beizuwohnen. –

Die Spieler

überhöhten, übertrafen

sich selbst, und so

war ich glücklich, Ihnen

allen ein Geschenk in Buchform nach der Aufführung überreichen zu dürfen. Sie hatten Johannes beim Applaus auf die Bühne geholt und es war beglückend, ihn da oben einmal wieder stehen zu sehen, - sein Element -!!! Nach der Aufführung waren wir alle zu Herrn Prof. von Baltz eingeladen und fanden dort vierundzwanzig junge, künstlerische Menschen versammelt, die alle mit uns die Freude des Erfolges teilten. Es waren entzückende Anekdoten aus der Theaterwelt berichtet und künstlerische Themen berührt. Ein Abend, erfüllt von inniger Begeisterung, Anteilnahme, Bewunderung. Adventlich war der Raum geschmückt, nur Kerzen brannten und es gab durch Frau von Baltz liebevoll zubereitete

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Leckereien, und man feierte den Durchbruch eines “Neuen“, “Unbekannten“, in Dornach und das durch die "jungen Künstler", die man dort ab dem Alter dreißig, vierzig rechnet!!! So fuhren wir am nächsten Morgen, unserem Geschick tiefe Ehrfurcht und Dankbarkeit im Herzen bekundend, wieder heim, um vier Tage zu arbeiten und uns dann zur neuen Fahrt nach Dornach zu rüsten. Es lag der freie Sonnabend 22. Dezember dazwischen, und so konnte ich den Sonntag als unseren vorweihnachtlichen Tag mit Kerzen, Tannen, Krippe richten, an dem wir uns kleine Geschen-ke überreichten, denn am 24.12. früh, machten wir uns wieder auf die Fahrt nach Dornach. Dieses Mal, Johannes und ich mit Michael in seinem Wagen. Wir fuhren bei 19° Kälte über

die Autobahn, der

Vergaser fror

immer wieder ein, es

gab etwas Verzug in

der Zeit, aber 5 Minuten

vor Beginn der

Weihnachtstagung mit

dem “Paradeisspiel“

waren wir auf dem

Dornacher Hügel

angekommen und im

Goetheanum, und

die Aufführung wurde

ein großes Erlebnis

und Geschenk für uns.

Am Abend des 24.

Dezember las dann Herr

Grosse einen Weihnachtsvortrag von Rudolf Steiner. Im Hause unserer lieben Frau Kunze, zu der wir in Dornach immer wieder kommen durften, das Haus liegt in einem parkähnlichen Garten mit riesenhohen, diesmal tief verschneiten Tannen, wir kamen uns wie im Märchen verwunschen vor, brannten unsere Weihnachtskerzen noch um Mitternacht. Michael war mit seinem Auto nach Basel zur Mitternachtshandlung in die Christengemeinschaft dort gefahren. Am 25., dem Weihnachtsfeiertag, erlebten wir eine Klassenstunde, gehalten von Herrn Poppelbaum. Später sagte er uns: "Ja, ich habe auch noch die Betonung von Dr. Rudolf

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Steiner selbst, im Ohr". - Ja, das erlebten wir an diesem Morgen! - - Am Nachmittag wurden wir von Dr. Bessenich eingeführt zur "Eröffnung der Kunstausstellung" in der wir staunend standen vor dem, was Dr. Steiners Angaben zur Malerei nun schöpferisch erstehen ließen, in Ausdruck, Farbe, Aussage. Große Schönheit, erhabene, war zu empfinden. Das Oberufer-Spiel, mit großer Innigkeit, mit edelstem Ausdruck der Hirten, mit einem überragend guten Sternsinger folgte am Nachmittag und abends Dr. Friedrich Hiebels Weihnachtsbetrachtung. Wesentlich erlebbar führte er uns in die zwei Stammbäume der beiden Jesusknaben hinein, und jeden einzelnen von uns ergriffen seine Ausführungen. Am 26., dem zweiten Weihnachtsfeiertag wurde uns ein Lichtbildervortrag von erlesenem seltenem Inhalt dargebracht durch Dr. Adalbert Graf von Keyserlingk: "Über das Michaelzentrum auf dem Monte Gargano“. Graf von Keyserlingh ist der Sohn des Grafen, der auf seinen Gütern Dr. Steiner zu Gast hatte, so dass Dr. Steiner dort seine ersten landwirtschaftlichen Vorträge halten konnte, vor größerer Zuhörerschaft, und das Buchheft seiner Mutter, Gräfin Johanna Keyserlingh "Zwölf Tage um Rudolf Steiner“ liegt täglich auf meinen Schreibtisch, seit Jahren. Dieser Sohn ist, wie uns unsere verehrter Herr Poppelbaum sagte, ein sehr guter Arzt, der seines Asthma wegen anscheinend - und außerdem wahlgemäß, sich mit seinem wackeligen Auto in die Gegend von Apulien begeben hatte. Dort, dieses erzählte uns alles Poppelbaum im Vorraum des Goetheanum strahlend, hatte er die einzige Begegnung mit einem Ziegenhirten und dieser, glückselig mit einem Menschen sprechen zu können, führte ihn zu all den Heiligtümern, dem Michael geweiht, zu all den in Felsen, mit schmalsten Stufen am Abgrund hinauf zu erreichenden Höhlen der Mönche und Pilger, die dort Jahre abgeschieden lebten, im Winter eingefroren vom herab rauschenden Wasser, sich immer erlebend vor dem Abgrund, wenn sie vor die Öffnung der Höhle traten.

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Er zeigte uns in Lichtbildern die unterirdischen Grotten, alle dem Michael geweiht, mit wundervollsten Michael - Darstellungen in Bildern, in Kupfer getrieben. In den Grotten musste man zuletzt auf Knien sich dem Heiligtum nahen, dann nur noch liegend den Höhlengang durchgleiten bis man vor dem Heiligtum des Michael - Bildes sich befand. Unsagbare Opfer brachten Menschen auf den Wegen zu diesen Heiligtümern an Leib und Seele dar und die Erlebnisse traten ein, bei vielen, die sie sehnlichst erwarteten. Manche kehrten noch an der Schwelle um, weil sie sich unwürdig empfanden, sie zu überschreiten. Eine Darstellung eines Michaels bewegte uns alle, die wir zuhören, anschauen durften zutiefst: ichael hält eine Waage in Herzenshöhe mit der Hand. Zu seinen Füssen, unter der Waage befindet sich auf dem Rücken liegend der Drache, mit seinen Hinterfüßen und Schwanz die eine Waagschale herabziehend, mit der Drachenschnauze die andere Waagschale empordrückend; das eine ein Zuviel, das andere ein Zuwenig, in der Mitte Michael. – Nach diesem Vortrag war es uns eine Freude, dass eben Herr Poppelbaum auf uns zukam und uns so ganz Persönliches von Graf Keyserlingh noch dazu berichtete, ein schönes Erlebnis. Nachmittags erquickte uns eine Eurythmie-Aufführung, und abends sprach Prof. Karl von Baltz über „Demeter-Persephone-Natura und Maria“. Die Vorträge waren so gehalten, dass wir nach-und miterleben mussten, und so machten wir die Wandlung (der Entwicklung der Menschen an sich)mit von der Demeter zur Namensgebung und Schicksalstragik der Persephone über die Natura bis hin zur Maria – Maria-Sophia. Und durften ahnen weit mehr als schon ausgesprochen werden kann. Am Donnerstag den 27., ab 10 Uhr morgens, durften wir wieder teilnehmen am Mysteriendrama: “Die Prüfung der Seele“. Der Freitag war dann der 28. und abends die Wiederholung von Johannes "Die Stunde der Drusilla". Morgens war (für drei Vormittage) die gemeinschaftliche Arbeit am Hauptthema

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"Schicksalswirkungen in der Zeit der alten Mysterien", "Der Einschlag des Mysteriums von Golgatha", „Schicksalswandlungen in der nachchristlichen Zeit". Es sprachen wohl fast 10 Persönlichkeiten jeden Morgen zu dem Thema. Herr Poppelbaum, Herr Grosse, unser verehrter „Märchen Meyer“ und Herr Schiller, den Johannes von früher kannte, sprachen unvergessen zu diesem Thema. Am Nachmittag nun hörten wir Georg Hartmann: "Der Herr des Schicksals im Zeitenwandel“ und abends Johannes Drama, das uns ja die Wirkung des Herrn im Schicksal so nah vor die Seele rückte. Herr Albert Steffen, der an allen Veranstaltungen des Tages teilgenommen hatte, war zur Aufführung gekommen. Er hatte große Kopfschmerzen,

hielt seine feine schmale

Hand ständig an die

Stirn und wir waren ein

wenig mutlos darob. Er

erhob sich in der Pause

nicht, sagte zu

niemandem ein Wort,

hörte nur, lauschte. Und

dann nach der

Aufführung sprach er

zu Herrn Prof. von

Baltz, ging dann auf die

Bühne zu den

Schauspielern und

begrüßte dort Johannes,

der wieder auf die

Robert Schmidt als „Felix“

Bühne hatte kommen

müssen, vor ausverkauftem Haus. Da äußerte sich Herr Steffen anerkennend zu jedem Schauspieler gab jedem die Hand und zu Johannes sagte er: "Das ist ja ein abgerundetes Ganzes, ein geistvoller Dialog, ein sehr schönes, ein dramatisches Stück.“ Zu von Baltz hatte er gesagt von Johannes, das ist ein sehr sympathischer Herr. Ich hörte die letzten Sätze und bekam auch Herrn Steffens feine Hand. Er verabschiedete sich mit einem herzgewinnenden Lächeln. Kaum als er gegangen war, umarmte Herr von Baltz den Johannes und machte Luftsprünge vor Freude über den Erfolg und die Anerkennung von Herrn Steffen.

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Wir hörten dann, dass auch Herr Professor Dr. Friedrich Hiebel, Herr Doktor FränkelLundborg und andere, so auch Dr. Büchernbacher sich positiv zu dem Werk von Johannes geäußert haben. Wir wurden nach dieser zweiten Aufführung wieder zu Herrn Professor von Baltz gebeten. Seine liebe Frau, die wie er selbst Künstlerin ist, Musikerin, hatte wieder alles, nun ganz weihnachtlich gestaltet, wir sahen den schönen Baum, Kerzen brannten, und zu uns kam unser Priester Meyer, der vom Spiel ganz begeistert war. Er erzählte entzückende Anekdoten, dabei zwinkerte er vergnügt und liebenswert schalkhaft mit seinen guten Augen. Von den Kritiken, die nun inzwischen in unseren Händen waren(die zwei ersten, Zürcher Zeitung und Baseler) wollte er nichts wissen: „er wollte sich nicht beeinflussen lassen". So glaubten wir, dass er vielleicht im Christengemeinschaftsheft etwas schreiben wolle. Die Züricher Kritik zeigte uns Herr von Baltz schon gleich am ersten Weihnachtsfeiertag. Wir mussten schnell über Mittag zu ihm kommen und er präsentierte uns die Kritik in "Bilderrahmen", mit goldenen Sternchen beklebt, bemalt(von unserer lieben Frau Harkness, die ja alles durchgetragen hatte). Sie ist die Miriam in Johannes Drama. Rot unterstrichen hatte sie: "Die Worte gingen ihnen wie Perlen vom Munde". Man muss nun wissen, warum diese nette Episode wichtig ist. Herr von Baltz hat auf seinen Schultern alles für und wider durchgetragen, trotz größter Widerstände und daher auch auf der ganzen Linie der Beteiligten diese große Freude des Gelingens! – Nun erschien ja inzwischen im Goetheanumheft die dritte, so toll sonders eindrucksvolle, alles erfassende Besprechung von Marcelle Probst. Und eben hörten wir, dass auch im nächsten Heft die Züricher Kritik abgedruckt sein soll(was inzwischen geschehen ist!). Ja, nach allem, was um dieser Spiele willen von Johannes schon gelitten worden ist, kann man wohl unsere Freude und Dankbarkeit für dieses Durchtragen der Dornacher Künstler verstehen. Es ist jetzt sieben Jahre her, dass das Drama "Die Stunde der Drusilla" vollendet

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wurde, und im dreiunddreißigsten Jahr befindet sich Johannes Schaffen auf diesem Gebiet. Die Aufführung “Die Enthauptung des Johannes“, gespielt von Johannes selbst (damals auch selber 33 Jahre alt), der Priesterfrau Frau Fackler, später von Ingeborg Heldberg-Wollmann, fand im Jahre 1929 statt. Einige Tage sind vergangen seit ich die drei Seiten schrieb, möchte aber die mangelhafte Schilderung der Tagung, man kann ja nicht berichten, was da an inneren Erlebnissen bei der Fülle des Dargebrachten in uns Beschenkten vor sich geht, doch zu Ende führen. Der Morgen des 29. Dezember fand uns wieder vereinigt, zum bereits angegebenen "Arbeitsthema": "Christus und die Geistwesen als Gestalter von Reinkarnation und Karma". Am Nachmittag durften wir das Oberufer Dreikönigsspiel hören, sehen; der beste Herodes, den wir je sahen, war Herr Robert Schmidt, er spielte den Felix im Werk von Johannes der „Drusilla“. (Nach allem was wir Deutschen in der kürzlichen Vergangenheit erlebten, ist es Johannes, ich möchte auch sagen mir, kaum noch möglich zu ertragen, was sich in diesem Spiel begibt). Wir erinnerten uns danach an Dr. Steiners Ausspruch, dass wir doch einmal Abstand gewinnen müssten zu Spielen, die noch Fastnachtscharakter in aller Tragik an sich haben, und Johannes bewegte, dass er lange seine "Marien-Spiele" in der Seele trägt. Sie müssten geschrieben werden! – Erholsam war abends die Kammermusik mit Alma Mlosch als Pianistin und Gotthard J. Köhler, Cellist. Am 30.12. morgens Arbeitsthema, am Nachmittag Herrn Steffens: “ Pestalozzi – Schauspiele“. Herrn Hendewerk kann niemand diese Rolle nachspielen, so überzeugend war sie dargebracht, doch regielich litt Johannes geradezu Schmerzen. Die Aussage im Werk ist wundervoll. Die Güte überstrahlte alles, Liebe zu den Menschen! Am Montag, den 31. nahmen wir noch den Vormittags-Vortrag mit, der uns leider nicht gab,

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was wir erwarteten, im Gegenteil, doch möchte ich das schwerwiegende Negative hier nicht erwähnen, es ist immer wieder das Thema" Christengemeinschaft – Anthroposophie“, dass leider, ganz unnötig, berührt wurde. Ich vergaß, dass wir am Vorabend noch zur „Drusilla – Darstellerin“, Frau Inge Matthesius gebeten waren. Auch Frau Harkness kam hinzu. Michael durfte auch Zuhörer sein. Und nun, da das Werk von Johannes in so großartiger Form bereits vor uns gestanden hat, nun begann unsere Inge-Drusilla Szene für Szene mit Johannes durchzusprechen. Frau Harkness, im Stück Mirjam, wie auch Frau Matthesius, Drusilla, arbeiteten bereits schon wieder an dem eben Dargestellten. Es kam jeder zu der Erkenntnis, dass Johannes Spiele Menschheitliches darzustellen haben, nicht nur Historisch - Psychologisches. Da fällt mir ein Ausspruch von Johannes ein: er will das Christliche durch seine Dramen literaturfähig machen. Und da fällt mir Lic. Emil Bocks Ausspruch ein, den er zu Johannes gesagt hat: "ihre Sachen werden noch einmal gelesen, wie meine"(Das sagte er vor vielen Jahren). Nun rüsteten wir also am 31.12. zur Rückfahrt. Aßen noch einmal in dem vegetarischen Speisehaus und erlebten da eine Episode: an unserem Tisch wurde durch ihre Begleiterin eine Blinde geführt, die wir schon öfter beobachtet hatten. Johannes und Michael besorgten uns die Speisen, und ich kam mit dieser Blinden zu einem Gespräch, indem sie vom Erlebten dieser Weihnachtstagung sprach und begeistert von dem Hören des „Drusilla – Dramas“. Ich sagte ihr, dass ich die Frau des Autors sei und sie: "das habe ich mir nach der Aufführung gewünscht, diesem Autor möchtest du beide Hände drücken“. Und so kam es, dass sie es wirklich tat, weil wir an einem Mittagstisch zusammentrafen. Es ergab sich noch ein feines Gespräch mit Johannes und dieser Blinden, die immer erst eine Begleiterin finden muss, ehe sie Dornach erleben kann und dieses Mal zur Weihnachtstagung glückte es erst im allerletzten

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Augenblick. Und diese Blinde dankte uns, Johannes, nun! – Wir kletterten ins Auto, und die Fahrt ging heimwärts über eine spiegelglatte Autobahn. Michael fuhr gekonnt an allen großen Mercedes-Wagen vorbei, die schlichen, wir mit circa 70 bis 80km Geschwindigkeit. Aber es tat auch Not, denn, der alte Wagen, da war wieder etwas los mit der Lichtleitung, wir fuhren Berge mit 90 hinunter, ohne Licht, sobald keine" Streife" zu befürchten war. Hinter Leonberg stand das Auto, hinter einem Tunnel, still. Auf der Strecke war das Benzin alle, sonst reicht der volle Tank immer, diesmal durch zu viel Eis, usw., nicht. Michael sauste mal wieder durch die Gegend, mitgenommen von einem Wagen zur nächsten Tankstelle, zu Fuß mit Benzinkanister zurück. Aufenthalt einer halbe Stunde, das ging noch mal gut. So landeten wir endlich gegen 1/2 20:00 Uhr, herzlich erwartet durch Asti und Rudolf, im mollig-warmen Heim und um Mitternacht war Silvester.

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1964

Ludwigsburg

am 12.7.1964

Johannes Heymann Mathwich

714 Ludwigsburg, am 12. Juli 1964 Schumannstraße 8 Ruf 8 16 23

Meine liebste Isfrau,

dass der Brief so dick ist, das kommt von Inges Brief, aber ich denke Du hast Zeit Dich mit allem zu beschäftigen. Ich habe den Brief so gut es geht versucht zu lesen, aber ich glaube, Du wirst ihn noch einmal vorlesen müssen. Der gestrige Tag ist für uns programmäßig verlaufen. Da wir zeitig dran waren, so fuhren wir zuerst zum Haus. Hanne war glücklich, denn wir konnten ihr durch den Wagen noch einiges helfen. Das Sterbezimmer Gertruds war ein Rosen – Meer mit vielen Lilien. Dann zur Handlung. Diese hielt Pfarrer Reisch. Sie machte einen gewaltigen Eindruck. Jemand sagte, so hätte er noch nie zelebriert. Es war überall zu spüren: Eine bedeutsame Individualität hat hier den Erdenplan verlassen. Dann war ich noch sehr davon beeindruckt: Du hörst ja die Johanni – Handlung! Aus diesem Hintergrund ist mein erstes Spiel entstanden und Gertrud Fackler spielte die Herodias, das Wesentliche aber, wir haben das ganze Johanni – Spiel inszeniert, vom Färben der Vorhänge, dem Einkauf der Stoffe, Färben und schneidern der Kostüme, knüpfen der Perücken. Und Gertrud ging hinüber in die geistige Welt zur Johanni – Zeit. Sie hat es schwer gehabt. Das kräftige Herz wollte sie nicht aus dem Leibe entlassen. Anschließend fand die Urnen – Beisetzung auf dem Friedhof statt. Das war das Erschütterndste, was ich je auf dem Friedhof erlebt habe trotzdem Herr Reisch in Zivilkleidung erhabene Texte rezitiert. Von Rudolf Steiner den Anruf der Sphären – Menschen, dann den 90. Psalm in der Übersetzung von Dr. Frieling und von Paulus !. Korinther. Brief das 15. Kapitel. 231

Das andere will ich nur andeuten: Eine Karikatur von Friedhofs Beamten trägt die Urne und dann das Versenken in die Erde u. s. w, - . Wir wollten gleich heim. Mussten aber noch zum Mittagbrot bleiben. Dazu Herr Reisch, eine junge Priesterin und ein Gemeindemitglied. Dennoch waren wir froh endlich heimfahren zu können. Unsere Hin – und Rückfahrt war in großartige landschaftliche Schönheit getaucht. Natürlich lassen Dich alle sehr herzlich grüßen und waren traurig, dass Du nicht mitkommen konntest. Wir haben, Rudolf und ich, soeben gut gespeist: „Kassler“ und dazu ein Glas Saft. Rudolf ist immer sehr lieb um mich besorgt. Michael hat sich angesagt und will noch kommen. Frau Brauer hat uns eine Torte geschickt, Asti kommt auch, so werden wir einen guten Kaffee veranstalten. Was Du alles über Deine Behinderungen schreibst, das macht uns viel Kummer. Aber wenn man einmal Pause macht, dann kommt erst sehr viel zum Vorschein. Wesentlich wird sein, dass erst einmal die Nerven und die innere Hetze zur Ruhe kommen. Da aber sind vier Wochen zu wenig. Für die Nachkur müssten wir eigentlich noch einmal fort, denn hier zuhause wird es doch nichts Rechtes werden. Die Nachkur ist gerade wichtig. So mein Liebes, morgen werde ich wohl kaum zu einem Brief kommen, - durch den „Zweig“. Sei innig und herzlich von uns allen gegrüßt mit den besten Wünschen für einen besseren leiblichen Zustand, insbesondere des Knies. Johannes - Michael - Rudolf

(Fett gedruckte Zeilen hervorgehoben beim Abschreiben des Briefes, - weil sie zur Entstehung des ersten Stückes „Die Enthauptung des Johannes“ gehören - von Rudolf Heymann).

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24.12.1967 Weihnachten

Ilse Heymann

Michaels Kranksein (Vorheriges Blatt fehlt)

Ein fürchterliches Schneetreiben behinderte jegliche Sicht. Dauernd musste Michael aus dem Wagen steigen um die Fenster zu reinigen, weil die Scheibenwischer es nicht schafften, es wurde Nacht, die Straßen glitschig, gefroren, überall Unfälle, ja er umfuhr sie jedes Mal und landete nicht in den anderen Wagen, wie diese, - im Straßengraben lagen die Autos, die sich überschlugen. Als Michael an die deutsche Grenze kam (er war schon lange wieder sehr krank, ohne es zu ahnen oder wahrhaben zu wollen), verließen ihn die Kräfte und, oh gütiges

, Geschick, einer seiner Mitfahrenden war ein Taxifahrer, der fuhr nun an Michaels statt die Gäste und Michaels Wagen heil nachhause. Früh, um 6:00 Uhr, kurz vor Weihnachten steht Michael vor der Tür, ich machte mich gerade zum Weggehen bereit, kommt herein, holt noch

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etwas aus dem Wagen herauf, fällt auf sein Bett und schläft sofort mit Kleidern, wie er kam, ein. Ich legte ihm nur noch zwei Decken über und musste ja zur Arbeit. Das Herz tat mir weh und ich sah, wie er aussah. Es war die fürchterlichste Nachtfahrt seines Lebens gewesen. Dennoch erzählte er nachher davon ganz beglückt, dass einer eine Gitarre bei sich hatte und sie dann im Wagen während der Fahrt musizierten und sangen, und er mal die Ober – mal die Unterstimme mit Variationen sang und die Menschen ganz überrascht waren, wie er das konnte. Seine musikalische Begabung, Reinheit der Töne, Hören war ja da. Nun erholte sich Michael nicht mehr, obwohl er es sich wirklich einredete und es auch mir sagen wollte. Wir erlebten Weihnachten miteinander, indem er nur im Bademantel zum Lichter anzünden kam, was wir diesmal gemeinsam taten. Er sprach uns mehrere Sprüche, nach Vatis Lesung, sein Rhythmus dabei war gut, seine Sprache schön und klar, auch sangen wir, zart und schön. Vati schenkte Michael ein ganz ganz kleines Radio, das Vati immer überall herum tragen kann in der Wohnung, um die Nachrichten zu hören, was Vati ja immer wichtig ist. Dann legte sich Michael gleich wieder nach nebenan in sein Zimmer. Er aß sogar noch, was ich kochte, sogar Stollen. Er wollte nicht, dass wir die angesagte Fahrt nach Marburg an der Lahn zu Rudolf und Hiltrud absagten, weil wir ja dort unser Marien – Drama lesen sollten im Marburger anthroposophischen Kreis. Wir erlebten beglückende, behutsam umsorgte Tage und haben unsere Hiltrud ganz und gar ins Herz geschlossen. An unsere Lesung im Zweig schlossen sich wertvolle Gespräche an, wertvolle Menschenbegegnungen. – Als wir am 28. 12. 67 gegen 24 h heimkamen, wartete Michael auf uns mit den Worten: „Ich dachte, ihr kommt gar nicht mehr wieder“. Das bewegte mich sehr, da er immer so selbstständig und so gerne für sich alleine war. Am nächsten Morgen schon, so hatte er es in seiner Schmerzensnot vereinbart, musste er früh schon wieder ins Krankenhaus. Es war

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der 29.12., dort lag er vier Wochen mit täglicher Bestrahlung der ganzen rechten LungenSeite. Vom Bürgerhospital kam er ins Katharinenhospital, weil dort feinere BestrahlungsApparate für das Herz vorhanden sind. Um das Herz sei ein Wasserkranz, sagte man uns. Dann aber musste unserem Michael dreimal Wasser aus den Rippen punktiert werden, über 3 l Flüssigkeit. Ende Februar mochte Michael kein Krankenhaus mehr sehen, und er bat inständig, als man ihn vom Katharinenhospital wieder zurück ins Bürgerhospital bringen wollte, ob er nicht nachhause dürfe. Die ebenso freudig anzusehende, wie auch verständige noch jugendliche Ärztin, eben gerade verheiratete Dr. Haberström geb. Lichti, erfüllt Michael jeden Wunsch, da sie weiß, es können immer die letzten sein. Es ist jetzt so, er hat keine Wünsche mehr, er liegt da, nach nur zweitägigem Daheimsein, völlig apathisch. Man nimmt ihm so die furchtbaren Schmerzen. Er hat sie doch mustergültig ertragen. Er ist uns sehr ans Herz gewachsen, in seinem stillen Erdulden, Ertragen und mir immer klarmachen wollen: „Mutti, das muss jetzt so sein, das wird dann schon besser!“ Er glaubte immer daran, dass die Behandlungen der Ärzte die Krankheit ausmerzen könnten. Nun habe ich sie aber wirklich überstanden, war immer wieder seine Hoffnung. Deshalb traute er sich so sehr viel in dem viertel Jahr zu, indem es ihm anfangs so viel besser ging. – In den zwei Tagen, die er daheim war befand, er sich in einem erschütternden Zustand. Der Kollaps der Herzbestrahlung war nicht überwunden, er schlief nicht und konnte kein Essen bei sich behalten, nicht einmal Haferschleim. Da begann er am zweiten Abend, mir alle Möglichkeiten von Selbstmorden zu erzählen. „Nein, mit Gas tue ich das nicht, das würde ja euch und das Häuschen von Hauffs gefährden. Da werfe ich mich vor ein fahrendes Auto, oder einen Zug, oder Gase ins Auto kann man leiten. Ich saß an seinem Bett und sprach von den Nachwirkungen solchen Tuns, nach Äußerungen Dr. Steiners.

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1969

23.4.1969 Brief an Tante Inge (Brief an I.Heldberg – Wollmann

1 Berlin 44

Niemetzstr. 3 II)

Meine geliebte Tante Inge! Zum zweiten Mal hast Du an mich ins Krankenhaus geschrieben. Dort war ich noch zu müde um zu schreiben. Seit Montag bin ich daheim, obwohl die Ärzte mich noch da behalten wollten. Doch es war so, dass es Johannes nicht gut ging und die liebe Familie Hauf mich mit dem Auto von Stuttgart heimgeholt haben. Mache Dir aber, bitte, noch gar keine Sorgen. Johannes ist jetzt im Mathilde Blank Krankenhaus in Ludwigsburg Es kann sein, dass eine alte Narbe, er hatte ja mal ein Zwölffingerdarmgeschwür, aufgebrochen ist. Johannes spukte Blut, aber mit der Lunge hat es nichts zu tun. Ich hoffe inständig heute Abend, es ist Besuchszeit von 6 bis 7:00 Uhr, endlich eine genauere Diagnose erfahren zu können. Man war bisher bemüht die Blutungen zu stillen. Gelingt es nicht, müsste Johannes doch wieder in das Kreiskrankenhaus zur Operation. Wenn ihn da wieder der liebenswerte Prof. Dr. Ratke behandelt bin ich auf das tiefste beruhigt. Das Herz muss durchhalten. Darf ich Johannes noch einmal wieder zurück haben, dann wären wir beide ja endlich einmal wieder gesünder und könnten doch noch einiges verwirklichen, der nie versiegenden Planungen und Ziele. Alles ist in die Hände der Engel gelegt. Wir wollen auf das tiefste vertrauen, dass noch einmal wieder ein Wunder geschieht. Der Blinddarmdurchbruch war ja im 69. Lebensjahr genau so todernst. Du denkst ja an uns! Irm. Telefonierte und sagte ich solle Dir doch Nachricht geben! – Innigst Deine Ilse

Innige Grüße für Edith! Haufs fahren mich täglich im Auto zum Johannes.

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1969

Kornwestheim, den 27. April 1969

Meine geliebte Tante Inge! Meine Karte hast Du gewiss erhalten und bist ganz gewiss gefasst und vorbereitet. Unser geliebter J o h a n n e s folgte M i c h a e l nach am 25. April gegen 20:00 Uhr. Ich will Dir die Woche schildern: am Sonnabend, den 19. April, besuchte mich Johannes strahlend und heiter im Krankenhaus. Frau Brauer hatte ihn zu Tisch eingeladen und fuhr ihn in ihrem Auto zu mir. Sie selber machte dann noch einen zweiten Besuch und so konnte Johannes 2 ½ Stunden

bei mir bleiben. Ich

war ja auf, wenn auch

nur im Morgenrock

und wir erzählten so

heiter. Wie innig

verabschiedeten wir

uns. Unten winkte er

dann noch so heiter und

lebhaft über das Auto

hinweg mir zu, ehe er

einstieg. In der Nacht

vom Sonnabend auf

Sonntag spuckte er

etwas Blut, er erzählte

das am Morgen

unserer lieben Marta.

Johannes

Inge

Ilse

Sie wollte sofort die

Ärztin benachrichtigen. Johannes bagatellisierte alles! Er verbot Marta ans Telefon zu gehen, sie dürfe Rudolf und mir nichts davon sagen, Rudolf hätte seinen ersten schweren Schultag nach den Ferien und ich solle im Krankenhausnichts davon erfahren. Marta und Emil schauten am Sonntag alle Stunde nach Johannes, er war im Bett geblieben und hatte auch Fieber. Marta brachte ihm mittags Suppe, davon aß er nur drei Löffel und schlief am Sonntag viel. In der Nacht um ½ 5:00 Uhr hörte Martha ein Geräusch und fand Johannes einer Ohnmacht nahe und dass viele Blut auf dem Teppich. Da rief sie sofort Frau

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Dr. Sukitsch Hartmann an und so war Johannes schon am Montag um 6:00 Uhr in der Mathilde Blanck –Klinik. Das erzählte ich wohl schon alles auf meiner Karte? Als ich von Haufs aus dem Krankenhaus in Stuttgart zu Johannes Klinik in Ludwigsburg gefahren wurde, traf ich Johannes so an, dass er mir wohl viel sagen wollte, er aber kaum zu verstehen war, man hatte ihn schon an die künstlichen Ernährungsflaschen angeschlossen und ihm Betäubungsmittel gegeben. Was ich deutlich verstand war: „An irgendetwas muss man doch sterben“. Als ich ihn erinnerte, dass wir noch Pläne und Ziele hätten: „Ach, das ist doch jetzt alles illusorisch!“ – dieses aus dem tiefsten Unter – oder – Überbewusstsein gesagt, hat mich vorbereitet. Hat doch Mutti in der tiefsten Narkose gesagt: „Lieber Gott, ich will ja sterben“. In der Nacht saß er auf dem Bett blutete oben, unten, hatte den Flaschenständer umgeworfen. So schnallte man ihn an Händen und Füßen an. Als Rudolf am Mittwoch um 3:00 Uhr aus Marburg angekommen und wir ihn abends zwischen sechs und 7:00 Uhr besuchen durften, hatte man ihm wieder eine Schlafspritze gegeben. Er sagte aber immer wieder: „Macht mich doch los“, er war sehr, sehr, unruhig! Rudolf heiterte ihn auf, rief ihm Ziele und Arbeit ins Bewusstsein, mal bejahte er und lächelte auch. Morgen schreibe ich weiter. Der Brief muss fort. Innigst küsst Dich Deine Ilse. Grüße Edith innigst. Die Kremation ist am Dienstag um 11:15 Uhr im Krematorium, Ludwigsburg. Die Totenweihehandlung am Sonnabend um 9:00 Uhr. Seit Bitte, bitte, so gefasst, wie wir alle. Es war seine Stunde ! ! ! --

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( Foto 1968 Johannes Heymann am Schreibtisch)

Ilse Heymann, geb. Barth Als Unterlage für die Ansprache zur Kremation am 28. April 1969 geschrieben für Herrn von Wistinghausen. Als ich Johannes „Kurzgefasste Rückschau“ noch nicht gefunden hatte.

Johannes Heymann Mathwich Freitagabend, am 25. April um 19,45 Uhr bist Du, Johannes hinübergegangen in das Reich der „Wahrhaft Lebenden“, dreizehn Monate und dreizehn Tage, nachdem uns Sohn Michael Johannes im vorigen Jahr, achtundzwanzigjährig, am 12. März 1968 verlassen hatte.

Am 6. 9. 1896 bist Du in Berlin geboren. Dein Vater war der erste, der den großen Erbhof in Krojanke (ich weiß nicht, wie man den Ort schreibt, es ist doch wohl in Ostpreußen), verließ und als Polizeiamtmann in Berlin lebte. Zwei Brüder heirateten zwei Schwestern, Deine Mutter war dabei das Opfer solcher damaliger Entschlüsse. Sie stammte aus wohlhabender, schlichter Familie, brauchte als junges Mädchen nichts anfassen, arbeiten, tun. Umsomehr war sie dann die Dienende ihres Mannes. Jeder Uniformknopf musste blitzen, sie putzte die Stiefel, Hemd, Knöpfe alles musste bereit liegen. War der Vater auf der Treppe zu hören,

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musste das Essen auf den Tisch kommen. Dennoch lernte ich sie kennen mit dem immer liebenswürdigen Ausspruch: „Das geht doch alles „eins – eins“. Du warst der Erstgeborene, Dein Schwesterchen vier Jahre alt, als sie schon Schillers Glocke auswendig sprach, todernst, und wichtig: „Die Glocke „t“ommt „d“ewackelt“. Des Vaters Ochsenzieher hing immer bereit an der Wand, er regierte mit den Augen! Als Du einmal Deine Brotsuppe nicht essen konntest, rief Dein Schwesterchen erschreckt dem Vater zu: „Nicht hauen, ich aufessen!“ Zu gleicher Zeit lagt ihr Kinder krank, Du an Typhus, Dein Schwesterchen an Diphtherie. Und während man glaubte Dich zu verlieren, starb Dein Schwesterchen. Vom Fenster aus, da noch krank, sahst Du auf der Straße das schwarze Gefährt, Du warst neun-oder zehnjährig, den kleinen Kindersarg, die schwarz gekleideten Menschen, vor allem Deine Mutter. Später wurde noch eine Schwester, Trude, geboren, Deines Vaters große Liebe. In eurem Hause gab es nur zwei Bücher, die Bibel und das Gesetzbuch. Musstest Du Verwandtenbesuche machen, saßest Du immer lesend irgendwo abseits. Zu deinem 10. Geburtstag schenkte man dir Geld. Du warst den ganzen Nachmittag nicht mehr zu sehen, die Geburtstags - Gäste ohne Dich. Am Abend kamst Du mit einer Schillerbüste aus Gips, die hattest Du in Groß- Berlin gesucht, gekauft. Dein Vater sagte: "was willst du denn mit dem Jesus Greifer da?!"(Erschien dem Vater der unbekannte Kopf Schillers Judas ähnlich!) -. Schon bevor Du konfirmiert wurdest, durftest Du bei Deinem evangelischen Pfarrer Fleischmann, der Dich hoch schätzte, den Kindergottesdienst leiten. Vor der Konfirmation fastest Du tagelang. Du dichtest sehr früh, indem du immer die Versmaß - Rhythmen von Gedichten an den Fingern abzähltest und sie nachmachtest. Du solltest Lehrer werden. Und kamst auf die Lehrerbildungsstätte nach Anklamm(Pommer), dort gab es die eigenartigsten Lehrer. Darunter einen Sadisten der die Fremdsprachenformeln so blitzschnell abhörte, dass

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Ihr sie kaum aufnehmen konntet, als Frage, und wenn er Euch dann die Tränen in die Augen getrieben hatte, dann sagte er: „Nous avons, vous avez, nu’ isser wech, wo isser nu ? “ . Die Schüler trafen sich mit den Mädchen des in der Nähe sich befindenden Mädchenpensionates, nachts, in dem sie Laken aneinander knüpften und aus den Fenstern stiegen. Du konntest das nicht tun und hattest schon Sorge, Du seiest nicht so normal wie die anderen. Dafür lagst Du nachts mit einer dunklen Fotolampe unter der Bettdecke, schriebst Deine Gedichte und Dramen, Deine Mitschüler meinten halb im Ernst, halb im Spaß: „Mensch, Dein Federhalter und Bleistift kommen noch Mal ins Museum!" Du schriebst mit 17 Jahren ein Drama: "Ein Glaubenskampf Kampf". Du reichtest es kühn bei der Berliner Theaterkammer ein. Man lud Dich dorthin ein, staunte über Dein jugendliches Alter, beglückwünschte Dich, sprach Dir Lob aus und sagte: "weiter so!" (Johannes hat mir des Öfteren den Namen des Mannes dort, ein ansehnlicher Name, gesagt; da wir aber nie zum Biografie schreiben kamen, worum ich Johannes immer wieder bat, er hatte noch so viele Ziele, kann ich manche Orte und Namen nicht nennen, leider!). Er schilderte den Weg durch dieses Haus so, dass er sich in Grund und Boden schämte, als er durch die Räume der Sekretärinnen ging, die könnten ja alle sein Stück gelesen haben...... Und dann in dem großen Raum des Mannes in einem tiefweichen Ledersessel versank, da war sein letztes Selbstvertrauen dahin. Doch dann kam ja das LOB! In der Lehrerbildungsstätte hattet ihr einen genialen Lehrer, von ihm wurde gesagt, wegen einer unglücklichen Liebe tränke er so viel Alkohol, und wenn er getrunken hatte, brachte er seinen Mops mit in die Klasse, setzte ihn neben das Lehrerpult, und das Tier war ebenso betrunken wie er, dann aber hielt er seinen Schülern die genialsten Deutsch - und Geschichtsstunden. Die Klasse achtete ihn hoch. Einmal sollte ein Schüler ein Gedicht von Heine sprechen. Der Lehrer fragte: "Waren Sie schon Mal verliebt?" Erschrockene Antwort: "aber

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nein...!","Setzen Sie sich, dann können sie kein Gedicht von Heine sprechen!" Hatte sich die Klasse nicht präpariert, musste immer Johannes die Lehrer in geschickte Fragen verwickeln, dann war die Stunde im Nu herum, aber gewiss war sie sehr interessant!!! So kam es, als Johannes das Leben dort nicht mehr aushielt und den Direktor um den Konferenz - Tisch jagte und immer wieder rief: "Geben Sie mir meine Papiere, augenblicklich, keiner verlässt hier den Raum, ehe ich nicht meine Papiere habe. Geschlossen stand die Klasse vor der Tür und wartete das Ende ab, dann brachten ihn alle mit Trauerflor an den Armen zum Bahnhof, versäumten ihren Unterricht. (In Anklamm der Lehrerbildungsstätte hatte sich der neue Direktor eines Tages am Kronleuchter in der Schulaula erhängt!). Als Johannes in der Nähe der elterlichen Wohnung auf der Spreebrücke stand, dachte er nur immer wieder: "ich muss ja hinein springen, denn was wird mein Vater tun?" Die feine, kluge, gütige Mutter vermittelte. Johannes durfte im Haus bleiben, bekam Essen, weiterhin war er für seinen Vater nicht mehr da. So schriebst du von morgens bis abends Adressen, musstest dann aber doch in einen Buchverlag eintreten um dir das Geld für den Schauspielberuf auf der Reichertschen Hochschule in Berlin zu verdienen. Deine Mutter machte alles mit möglich. Im Buchverlag durftest du bei der Inventur immer wieder lesen, lesen, lesen, du hattest einen gütigen "Brotgeber". Von daher kam wohl auch dein fundiertes Wissen. In der Hochschule hattest du immer entsetzliches Lampenfieber. Dann nahm eines Tages deine Lehrerin deine beiden Hände und sagte: „nun das Ganze noch einmal“. Es wurde ganz still und als er geendet hatte, sagte sie: "seht ihr, dieser junge Mann kann noch beten". Als er sich dann freiwillig für den Kriegs Dienst anmeldete, gab es einmal ein Kameradschaftsfest. Da sprach er eine lange Huldigung an das Vaterland. Als er geendet hatte, stürzte sein Vorgesetzter auf die Bühne und rief ihm Kommandoton: "Vom Oberge-

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freiten Hans Heymann selbst verfasst!" Da schwellte sich die Brust des Vaters ein erstes Mal wieder für seinen Sohn! Er zog ins Feld, bis nach Verdun, achtzehnjährig. Sie machten Rast in einer zerschossenen Kirche dort, es gab ein erstes Mal warmes, gutes Essen. Mitten hinein Aufruf zum Sturmangriff, nur mit Sturmgepäck. Alles musste auf der Stelle dort stehen und liegen bleiben, das gute Essen, die Inhalte des sonstigen Gepäcks. Das Feuer zog sich von hinten und vorne immer näher auf sie zu, dann waren sie mitten darinnen. Ein Vorgesetzter steckte den Kopf in den Sand, andere guckten regungslos gerade aus. Johannes spürt einen Schlag gegen die linke Hand, erst ein anderer ruft ihm zu: "Mensch, du blutest ja!" Da fiel die Hälfte der linken Hand herunter, er presste sie an seine Brust und rannte mitten durch das Feuer hindurch. Das rettete ihm das Leben. Von der Kompanie sagt man, sei niemand heimgekehrt, sie hieß nur noch die Totenkompanie. Nach langem Rennen, wobei er bei jedem neuen Einschlag in die Knie brach, sah er auf einem Hügel eine Rote Kreuz Fahne und fand sich dann im Heidelberger Krankenhaus wieder. Wir haben Krankenhaus und Gänge uns später mal angesehen. Da die Hand unsagbar geschwollen war, nähte man ihm einen nicht wahrgenommenen Granatsplitter ein. Er schrie vier wochenlang Tag und Nacht in hohem Fieberwahn. Dann konnte man ihn nicht mehr betäuben und bei vollem Bewusstsein wurde die Hand wieder geöffnet und der Splitter entdeckt. Als man ihm die ganze Hand zuerst amputieren wollte, flehte er die Ärzte an, sie Ihm zulassen, er brauche sie doch für seinen Beruf. Er riss laut lachend im Operationssaal alle Schwestern um, bei dieser Operation. Dann waren später die Nerven falsch geknüpft worden, er litt unsagbar bei schwankendem Wetter und Gewitter. Als sein Vater in Berlin die Nachricht bekam, sein Sohn sei im Krüppelheim in Heidelberg, verkaufte er schon alle Anzüge und behauptete (er wünschte sich wohl das Sohnesopfer), "von da kommt niemand wieder". Als Johannes nach Monaten, noch mit Besteck für einen Einarmigen entlassen wurde, nur auf Probe, lief er schnurstracks zur

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Theateragentur und wurde in Berlin sofort vermittelt an das königliche Hoftheater in Stralsund. Dann machte er eine unsagbare Karriere, wie man das nennt und war schon mit 21 Jahren Spielleiter, bald danach Oberspielleiter am Theater. Er schrieb seine eigenen Werke: " Beethoven“, “Friedemann Bach" mit einem Kapellmeister, der hoch begabt war. Sie suchten, spielten, verwarfen, bis jegliche Musik genau der Dramatisierung entsprach. Es wurden große Erfolge. Den Egmont ließest du zum Schluss, unter Beethoven Musik eine unendliche Treppe aus dem Kerker in die Höhe steigen, ins Licht, andeutend, damals schon: "Er stirbt nicht!" Die Solveig in Griegs Peer Gynt ließ er jugendlich bleiben, denn so sagte er, in Peers Seele steht das gleiche jugendliche Bild, das ihn ja in ihren Armen sterben lässt, ihn zu ihr zurück zog. Er ließ Bühnenbilder bauen, so dass man von Berlin kam und sagte, warum macht so etwas unser Staatstheatern nicht. Als er vor der Erwählung zum Intendanten stand, lernte er die Christengemeinschaft in Eisenach kennen. Priester Gietzke, er war damals in Eisenach. Als ein Gastspiel mit Herrn Bocks „Johannes Spiel“ in der Christengemeinschaft in Eisenach stattfand, ließ Johannes den Thronsessel aus den Theater Requisiten von Eisenach holen. Er selber konnte dann leider nicht bei der Aufführung dabei sein, er hatte im Theater Aufführung und war ständig, immer um seine Spieler herum, bis kurz vor jedem Auftritt eines jeden! Johannes hatte wohl sämtliche Philosophen studiert, Kant, Vaihinger, die Lehre des „ Als – Ob “. Danach empfand er, wäre es ja ganz gleich, ob man gut oder böse, ein Heiliger oder ein Verbrecher ist. Er schaute sich Geheimzirkel an, nahm von allem Abstand, war l e e r im Suchen nach dem "Schein" oder "Schein". Dann lernte er den Priester Richard Gietzke kennen. In vielen Gesprächen durch die Wälder Eisenachs in der herrlichen Thüringer

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Landschaft mit dem Priester, sagte ihm dieser von: "Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten"."Oh, nein,“ antwortete Johannes, “ich bin Künstler mit großer Fantasie, ich kann mir alles sofort vorstellen, genügt nicht das einfache Vater Unser". "Ja, das genügt auch.“. Richard Gietzke sagte noch, wenn sie einen "Fachmann in meditativen Dingen“ kennen lernen wollen, dann müssen sie Dr. Friedrich Rittelmeyer kennen lernen. Dieser Ausspruch so gemacht, hat Johannes nie vergessen. Er begann zu meditieren. Er kommt ein erstes Mal in eine Menschenweihehandlung und verlässt sie entsetzt. Die ziehen sich ja ein Gewand an wie du Punkt....und sprechen und reden und machen Gänge, nur dass sie sich keine Farbe ins Gesicht tun.Und dennoch, es ließ ihn ein tiefer Eindruck nicht los, der des unerhörten Ernstes, einer Wahrhaftigkeit, Substanz und Realitätsempfindung. Er arbeitet jetzt noch intensiver das Vater Unser, geht ein zweites Mal in die Handlung. Da geschieht es, dass ihm plötzlich unaufhörlich die Tränen fließen. Er kann denken: "wie entsetzlich, Eisenach kennt Dich hier als Oberspielleiter und Du weinst ununterbrochen.“ Er konnte seine Arme nicht heben für das Taschentuch. Alles verließ am Schluss den Saal. Er will aufstehen und kann nicht, die Beine versagen den Dienst. Endlich gelingt es, er wendet sich zum Ausgang, da steht Frau Gietzke, spricht ihn an und sagt ihm, was er eben bei dem „Zerreißen des Vorhangs“ am Altar wahrgenommen hat. Von da an baute Johannes sein ganzes Leben um. (Hier möchte ich einfügen, dass Johannes vorgeburtlich ganz im Strom der Anthroposophie darinnen war. Ein Werk, das er schrieb, enthält die Sätze: "noch steht das Weltschmerzkreuz auf des Jahrtausends Schädelstätte, dies Weltschmerzkreuz muss stürzen, und der Gekreuzigte muss auferstehn, damit auch ich einst sterben kann".) In der zweiten Fassung „Forseti“ steht es so gekürzt: " Ein neuer Sakrament Altar im auferstandnen Gott “. Wenn ich mich nicht irre, ist es aus seinem Nietzsche - Drama. Was schrieb er vorher: "Also

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sprach Zarathustra", "Das Hohe Lied der Liebe". Später heitere Dinge, um im Dritten Reich nicht auf zu fallen z. b. „ Hans Clauerts Eulenspiegeleien“. Dieser hat in Trebbin gelebt. („Das Kurmärkische Narrenspiel“). Die Linie der religiösen Arbeiten wurde immer wichtiger. Um diese Linie bis zum Tode fortführen zu können, lernte er Bankkaufmann, wurde in kurzer Zeit Abteilungsleiter, bis er eines Tages die Bücher schloss. Ein lieber Berliner Freund Dr. Lemke nahm ihn in seine Feinpappenpreiserrechnugsstelle auf, er lernte spielend mit hundertsteln von Prozenten zu rechnen. Dann machte er im Dritten Reich, alles neben seiner Tagesarbeit, abends Inszenierungen mit Taubstummen, Gehörlosen im "Feierabend-Amt"!!! - - (wir waren nie, mit nichts engagiert im Dritten Reich). Daneben reiften kontinuierlich seine religiösen Werke. Wann schlief er eigentlich, fragte ich mich oft? Dreierlei Vollberufliches tat er zu gleicher Zeit. Nun liegen hier die Werke: "Judas ", "Pilatus", "Lazarus", die Trilogie, "Sie erlebten Paulus" Diese schrieb Johannes als er ein ¾ Jahr lang bei Lic. Emil Bock im Hause Gast sein durfte, Schriften, Bibliothek bearbeitete. Da entstand diese Trilogie, von der "Die Stunde der Drusilla“, in Dornach am Goetheanum uraufgeführt wurde. Die Kritiken waren überraschend gut. Dann schrieb er seine beiden Werke: "Mathai“, weiter zurück musste er gehen und "Die Mütter Gottes ", schreiben, sowie “Thamar“, “Rahab“, “Ruth“ und “Bathseba“, " Mysterium der Marien". Messiasse aus Aaron der und der aus Israel: "Flucht aus Bethlehem", "Heimkehr aus Bethlehem", "Heimkehr aus Jerusalem", "Vollendung in Nazareth", Begegnung beider Marien, und Begegnung beider Josephe, ehe die junge Maria stirbt und der alte Joseph, der Davidische. Vorher fertig waren: "Die sieben Zeichen des Evangelisten Johannes“, Kana, Kapernaum,

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Bethesda, Speisung der Fünftausend, Wandeln über dem Meere, Heilung des Blindgeborenen, Hauptmann aus Kapernaum. Alles ist erst im Manusskript da und muss nun in die Maschine übertragen werden und auf die Vervielfältigungsbögen. Meine Aufgabe für die Zukunft. Herr Lic. Emil Bock sagte immer zu Johannes: "Schreiben Sie, schreiben Sie". Das hat er getan. Auf Herrn Bocks Anregung und Mithilfe wurde in Berlin genau zu Goethes hundertstem Todestag 1932, der erste Teil "Faust " mit fast über 100 Studenten und Mitgliedern des Spielerkreises in Berlin aufgeführt. Herr Bock sagte von dieser Aufführung: " Herr Heymann, Sie haben ins Schwarze getroffen". In dieser Aufführung sind die Spieler soweit über sich hinausgewachsen zu einer Größe, die sie kaum im Leben wieder erreichen werden. Du bearbeitetest die ganzen „Heliand – Sagen“. Wir führten im Berliner Spielerkreis, in der Aula, Albrecht Str. 3, "Siegfried, Parzival, Heliand“ auf. Von Strindberg aus dessen Trilogie, "Christus" wurde aufgeführt. Johannes wurde von Theaterfachleuten gesagt: „Warum bringt so etwas unser Theater nicht?" Übrigens war vier Jahre mit den Studenten an Goethes Faust gearbeitet worden, erst nur theoretisch, bis sich dann wie von selbst diese große Aufführung ergab. Alle Requisiten wurden selbst hergestellt, alle Vorhänge, Podien, Kostüme. Es war eine festliche Zeit. Gewaltige Aufführungen machtest du mit tausend Menschen auf der großen Erfurter Freitreppe mit dem Frankenburger Würfelspiel. Wie einen Sankt Georg oder Michael ließest du zum Schluss den großen gewaltigen Ritter erscheinen. Der Autor war begeistert. Die Aufführung auf der Dietrich Eckardt - Bühne in Berlin im Stadium oder in Stadiumnähe hatte ihm ganz und gar nicht in der Inszenierung zugesagt. Diese machten bekannte Berliner Regisseure. In Breslau führtest du einmal zweitausend Mitwirkende durch die zauberhaften Bräuche des Jahres: Januar, Februar, und so weiter, Winter austreiben, Oster - Suche, Ernte, Schwert - Tänze, Spinn - Stuben Gebräuche. Der Rübezahl in der unteren Wurzel des

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riesengroß aufgestellten Jahres Baumes, sprach zu Anfang ein Gebet: "Das Brot allein....“ Man sah den großen Könner und ließ meinen Mann schalten und walten, ohne jegliches Abzeichen, gemeint ist Parteiabzeichen. Achttausend Menschen schauten damals, kurz vor Ausbruch des Krieges, 1939, zu. Von der größten Aufführung bis zum kleinsten Kammerspiel beherrschtest du deinen Beruf. Du opfertest aber auch eine feste Karriere für den Weg der Vertiefung mit deinen Werken in die Evangelien. Du schriebst, als man sich schwer verständlich machen konnte, das japanische Spiel aus Max Dauthendey’s Novellen entnommen: “Die acht Gesichter am Biwasee“, eine Wiederverkörperungslegende aus japanischer Sicht. Du schriebst Märchen, Sterntalerr, die sieben Raben, eine gewaltige "Siegfried Tragödie". Das feine Weihnachtspiel nach den Legenden von Fiona Maecloud: "St. Bride“. Das “Pilatus Drama“ schriebst Du in der Gefangenschaft, unter Kartenspielenden, lauten Kameraden in einem Bunker unter der Erde. Dieses Drama brachte uns sofort nach dem Krieg unseren Broterwerb. Wir bekamen von unserer befreundeten Mimi Schlesselmann aus Godenstedt meterweise Leinen; Förster Rieckhof, Meike Köhlers Vater, konnte uns Holz beschaffen zum Bau der Reisebühne; der Schuster dort am Ort schnitzte uns die römischen Sandalen. Unerhörte, wundersame Ereignisse durften wir in unserem Leben erleben. Sie alle werde ich für die Zukunft festhalten, wenn es eine gibt. Am 4. April 1960 wurde der Kornwestheimer Zweig gegründet, den er so treu und regelmäßig hielt. Er wünschte sich die Worte von Novalis zum Erdenabschied: .

“…Du bist der Tod und machst uns erst gesund…!“

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1973 im Mai Berta Duhs

Erinnerungen festgehalten,

Kornwestheim

von Ilse Heymann Der Anfang des Kennenlernens von Berta Duhs und Johannes – Vater muss schon nach der ersten Inflation gewesen sein, 1923. Damals befand sich noch an Johannes Seite seine zweite Frau, Ursula mit Künstlernamen genannt Ursula Dion. Über sie einmal mehr, sie hatte sich mit 15 oder 16 Jahren das Leben nehmen wollen, durch Ertrinken, wurde aber gerettet. Johannes Schwester Trude führte Ursula Johannes zu, und Johannes heiratete sie damals "aus Mitleid" ( ! ! ! ). Er machte sie zur Schauspielerin und so nannte sie sich mit Künstlernamen: Ursula Dion. Berta betrachtete beide manchmal in der Christengemeinschaft und wunderte sich über das ungleiche Paar. Ursula war kindhaft klein, schaute immer geradeaus, Johannes wandte sich immer wieder ihr zu, gütig. Berta erlebte durch Johannes, Ursula Dion und meine Tante Ingeborg Heldberg, damals einen „Sketsch“ in der Christengemeinschaft aufgeführt, anlässlich Fastnacht ( ? ), der damals gut ankam, sagt Berta. Ob es Johannes - Vaters erstes Eintreten in die Tätigkeit der Berliner Christengemeinschaft war ? – Proben im Berliner Christengemeinschaft - und - Studenten Kreis gingen oft bis nachts, nach 12:00 Uhr, einmal war es 2:00 Uhr früh. Berta musste um 1/2 6:00 Uhr morgens aufstehen, um 6:00 Uhr aus dem Haus gehen - wann war sie dann zum Schlafen daheim, fast immer nur vier oder fünf Stunden. Zwischen Arbeitsschluss und Probenbeginn wurde der Haushalt gemacht, eingekauft, und so weiter. Es war bei den Parzival - und - Faust - Proben, dass es so spät wurde. Berta hatte außerdem eine Fahrt quer durch Berlin bis nach Weißensee, dauerte über eine Stunde! Berta arbeitete als Spezialistin für Metallarbeiten, die Fingerspitzengefühl verlangten, sie arbeitete nicht am Fließband. Als ich in Johannes Lebensbegegnungen miteinbezogen wurde, wir heirateten, zogen wir nach dem langen Kennenlernen von Herbert und Berta Duhs in deren eigenes Haus hinaus 249

nach Wildau -Wald bei Königswusterhausen in Berlin. Wir durften so den Bombenangriffen auf Berlin entfliehen. Dort sprach Johannes öfter mit Berta über seine schöpferischen Arbeiten. Dann erlebte Berta das unerhörte Aufleuchten in seinen blauen Augen. Wie blau schimmerten sie manches Mal, erstrahlend! Ein lichtes Wesen umgab ihn ganz. War Johannes im schöpferischen Tun, erlebte Berta, dass er alles Schwere hinter sich lassen konnte. Sie erfuhr von den Arbeiten: "Enthauptung des Johannes“ , "Verrat des Judas" , "Auf erweckung des Lazarus "," Nächte über Karasaki". Seelenmysterien entstanden dort in der Stille der Zurückgezogenheit. Etwa zwei Jahre wohnten wir in dem so bezaubernd gelegenen Haus, unter richtigen Waldbäumen, hohen Kiefern und doch Garten auch, mit Blumen, Terrasse. 1942 bis Mitte 1944 wohnten wir dort. Am erstem Oktober 1942 zogen wir in Herbert und Bertas Haus. Am achtem Oktober wurde Rudolf ein Jahr alt. In dem ersten Winter hatte ich noch keine Hilfe. Dann kam, noch ganz jung, 14 - bis - 15 jährig unsere, getreue, fleißige, liebenswerte Elisabeth, als meine Hilfe, zu uns ins Haus. Wie prächtig konnte sie mit den beiden, Michael und Rudolf umgehen. Scherze machte sie und jeder Bock von Rudolf war augenblicklich verflogen. Als Elisabeth den ersten Winter noch nicht da war, betreute Berta beide Söhnlein. Johannes und ich mussten abends zu Proben fort, nach Berlin hineinfahren. Berta hört Rudolf oben leise Jammern und Stöhnen, laut weinte Rudolf nie. Berta ging hinauf und merkte, dass Rudolf Bauchweh hatte. Sie nahm ihn auf den Arm, sein schweres Köpfchen fiel auf ihre Schultern, schlaftrunken, sie rieb ihm das Bäuchlein und da kamen die vorher wohl nicht genug gemachten "Bäuerle“ hoch. Selig schlief Rudolf dann lächelnd weiter. War das ein liebes Kind, sagte Berta immer wieder. Ich sagte: "Ja, er war unser Sonnenschein". „Das war er“, so Berta. Ein anderes Mal hütete Berta wieder bei uns ein, Rudolf, der so gerne aß und schlief und

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schlief und aß, hatte sich voll gemacht, aber alles so verdrückt, dass er bis unter die Arme bräunlich war. Berta fragte sich:"Wo kommt das alles her?" - Windeln fand sie in der Schnelle auch nicht, steckte den schlaftrunkenen Rudolf einfach ins Badestuben – Waschbecken, während er weiterschlief, hat ihm gar nichts ausgemacht, halb schnaufelte er und schnarchelte er. Ein Kopfkissen musste als Windel herhalten, kaum hingelegt, schlief das so in sich ruhende Kind fest wieder ein. Als Rudolf dann laufen und auch schon etwas sprechen konnte, wurde er zum " Spazierengehen“, im Winter, mit einem kleinen Paletot, Wollmütze, angezogen. Brav ging er nun, mutterseelenallein, immer rings um das Haus herum, - wie ein Weiser. Ab und zu schaute er nach unten, zu Bertas Fenster hinein. Manchmal machte Berta das Fenster auf, dann setzte sich Rudolf auf den Rahmen, sie unterhielten sich ein Weilchen. Wenn Berta das Fenster schloss, ging Rudolf wieder brav und seelenruhig ums Haus herum spazieren, lächelte ab und zu zum Fenster hinein. Hatte er ein Eisenbahnwägelchen, ließ er es bedächtig hin - und - herfahren und aus seinem fast immer lächelnden Gesicht kam aus dem Mund ein begleitendes "Aah ". Und das konnte er mit Wonne lange Zeit so tun, da brauchte niemand dabeizusein. Sein Essen war ebenso unproblematisch, da wurde immer und immer wieder nochmals ein Häuflein des Essens auf dem schon fast leeren Teller zusammen geholt und jedes bisschen, was in den Mund kam, wurde mit geschlossenen Augen, Köpfchen nach hinten, mit diesem „Aah“ begleitet. Und dann, als die Tbc-Hilusdrüsen-Schwellung einsetzte, wolltest du gar nichts mehr essen, höchstens noch manchmal Kartoffeln, ausgerechnet nur Kartoffeln. Ach, dass man dich uns wieder gesund machte, mit fast zweijähriger Trennung ! ! ! ! ! ! --------Und Berta dachte auch an das Bernsteinkettchen, was um deinen Hals gelegt war, ich habe weder Michaels Zahnen, noch deines, Rudolf, als irgend Schlafstörendes in Erinnerung.

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Veilchenwurzeln hattet ihr zum Zahnen und Draufbeißen! Berta hat mir noch geholfen, aus Berlin mit neun Koffern fortzugehen und wir haben strahlend aus dem Zug geschaut. Bei uns einen voll gepackten Schlitten - im Herbst -! Den zog ich voll gepackt mir nach, rechts und links je ein Kind und noch Taschen und anderes Gepäck.

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Soweit erst einmal, ich muss das Paket noch packen, es ist schon wieder 23:00 Uhr. Um 8:00 Uhr will Herr Hauf morgen früh hier nach Freiburg abfahren. Gute Nacht. Is – Mutter

(Um 1938? Ilse und Johannes Heymann)

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Biographie Johannes Heymann Mathwich Ein Versuch 1973 am 16. Okt. von Ilse Heymann Johannes, lass mich in Du – Form aufschreiben, was ich aus Deinem Erzählen, aus Deinen Kinder – und Jugendjahren, Deinem Zuhause, weiß. Niemals hast Du Deine Eltern sich einmal Küssen sehen, keine Zärtlichkeit und Du fragtest Dich in Deinen Jugendjahren; "wie bin ich eigentlich zur Welt heruntergekommen?" - Der Ochsenziemer hing an der Wand und Deine feine, zarte Mutter, die man sehr lieb haben musste, sprang, wenn sie die Schritte des Vaters auf der Treppe hörte, dann musste das Essen fertig auf dem Tisch stehen. Wie war sie besorgt um jeden Uniform - Knopf des Vaters, wie mussten diese zu jeder festlichen Veranlassung, sobald die Polizei - Uniform angelegt wurde, blitzblank geputzt sein. Es waren zwei Brüder Heymann, die die beiden Schwestern, davon die eine deine Mutter Hedwig, heirateten. Deine Mutter liebte den Vater nicht, aber musste ihn heiraten, es wurde so bestimmt. Du hattest ein Schwesterchen, es war vier Jahre alt, - als Du einmal Deine Suppe nicht essen mochtest, kam der Vater mit dem Ochsenziemer, Schwesterchen rief: "Nicht hauen, ich Suppe essen! "Dieses Schwesterlein starb, Ihr beide, Du und sie, mit Diphtherie lag ihr zu Bett. Du warst schon aufgegeben, doch es starb dein Schwesterlein, wohl fünfjährig. Du erlebtest, im Nachthemd vom Krankenlager gelaufen, am Fenster, wie unten der kleine schwarze Sarg aus dem Haus getragen wurde, dazu all’ die schwarz gekleideten Menschen, deine Mutter . Du warst wohl elfjährig. Die Zucht des Vaters war eine solche, die nach sich zog, dass Du zu diesem Geburtstag Geld geschenkt bekamst. Dann warst Du als Geburtstagskind verschwunden und er kamst mit einer Schillerbüste aus Gips, wohl nur zwei Hände breit hoch, nachhause zurück und zeigtest sie. 253

Es sagte dein Vater: "was willst du denn mit dem Jesus - Greifer da?". Er kannte also Schiller nicht und dessen große Nase musste ihn wohl zu diesem Ausdruck veranlasst haben. Du aber lebtest schon mit vielen Dichtern in allem Geschichtlichen in deiner Gymnasiumszeit. An den Fingern zähltest Du die Rhythmen von Reimen und Versen ab und machtest dann nach dem ähnlichen Rhythmus Deine Versuche zu dichten. In deinem Elternhaus gab es nur das Gesetzbuch und die Bibel und da Du lesehungrig warst, von Anfang an, musst Du wohl die Bibel immer und immer wieder lesend zur Hand genommen haben. Das erklärt, dass Du schon in frühestes Jugend ein Drama über "Esther", und "Magdalena" geschrieben hast. Auch erstaunte ich später, w i e Bibelkundig Du warst. Wurde ja auch, als wir uns schon kannten, das Drama "Hiob“ geschrieben. Und alle Deine Werke des "Neuen Testamentes". Ein tief frommes Gemüt hattest Du und Dein Pfarrer Paul Fleischmann schätzte Dich hoch und schon mit 14 Jahren warst Du Helfer im Kindergottesdienst. Vor deiner Konfirmation unterwarfst Du Dich wochenlang einer Askese im Essen, hungertest, um würdig den Tag beginnen zu können. Es entstanden damals Texte wie Hymnen, die alle verloren gingen. Der Tag war ein tief eingreifender an Ernst, an vorherigen Ringen, um das Wissen der Wahrheit des Christus, - aus tiefsten Untergründen Deines Wesens veranlagt. Als Dein intellektueller Weg alles infrage stellte, der durch alle Philosophien sich hindurch rang, musste das Erkenntniswissen der Anthroposophie dieses vorherige Ahnen, erst erkenntnismäßig neu zum Wissen bringen. Ein mühsamer Weg lag vor dir, das Ziel wurde errungen. Ein junges, werdendes Leben, Streben und Tun war Vorbereitung dazu. Deine Eltern ließen Dir Geigen - und Klavierunterricht zuteil werden, so kam es auch, dass Du frühzeitig im evangelisch - kirchlichen Bereich Orgel spieltest. Mit Deiner Schwester Trude, sie war ein Nachkömmling, vom Vater sehr geliebt, musiziertest Du und wie sie mir erzählte, schlugst du manchmal den Takt mit deinem Geigen - Bogen auf ihren Kopf, wenn ihre 254

Klavierbegleitung nicht klappte. Als ich darüber erschrak, sagte sie lachend: "Nun, mein Kopf ist noch dran, er hat das ja ausgehalten". - Als achtzehnjähriger wurdest Du zum Soldatendienst eingezogen, musstest als eben Neunzehnjähriger ( 6.9.1896 geboren) im Herbst 1915 in den Krieg ziehen. Es wurde Dir die linke Hand so zerschossen, das Klavier - Orgel - und Geigenspielen vorbei war. In Deinen Kindheits- Ferien duftest Du immer wieder auf das Westpreußische Gut kommen. Dort hütetest Du, noch recht klein, einmal die Gänse. Was reizte diese, dass sie sich plötzlich alle feindselig gegen Dich wandten und Du mit großem Entsetzen Ausreiße nehmen musstest, um ihren scharfen Schnäbeln zu entkommen. Elfjährig warst Du, als man Dich allein mit einer nicht ganz normalen, alten Tante auf den Kutschbock des Pferdewagens und Gespanns setzte und Dir sagte, Du mögest die Tante in die Stadt bringen. Es war über eine Stunde Fahrt mit dem Pferdewagen. Diese Irre, alte Tante nun griff immer wieder in die Zügel, lachte so eigenartig kichernd, Dir wurde himmelangst dabei und ganz schaurig zu Mute. Doch kamt ihr Heil in der Stadt an. Schöne Erinnerung war das „ Zum Markt fahren“. Da wurde Deine gesunde, gute Tante, die Bäuerin, unterwegs schon immer gefragt, ob sie auch wieder ihren handgemachten Käse bei sich habe, was immer bejaht wurde. Daheim bei der Mutter musstest Du oft Stundenwege durch Berlin zum Einkaufen machen, weil irgendwo irgendetwas um einen Pfennig billiger war. Später sagtest Du einmal zu mir: "Haben meine Eltern denn nie bedacht, wie viel mehr Schuhsohlen als eingesparte Pfennige ich da abgelaufen habe?" - Die Schuhe besohlte selbstverständlich in damaliger Zeit fast jeder Vater selber,( auch der meinige" Opernsänger") Auch machtest Du Ferien in Westpreußen, im Hause des Bruders Deiner Mutter. Dort wohnte die jüdische Lehrerfamilie, bei der Du, so beheimatet wie Du in der Bibel im Alten Testament warst, mit Begeisterung Hebräisch lerntest. 255

Als Du später in Berlin eine Theateraufführung in jüdischer Sprache hörtest, aus Israel kommende Schauspieler, warst Du so erfüllt vom Sprache klang, der Größe und Tiefe des Inhaltes des Dramas, erfüllt von der Darstellungskunst der Schauspieler, dass Du den Text des Schauspiels erwerben konntest und noch später mir den Sprachklang ergreifend vormachen konntest. Wie beglückte Dich die Bemerkung deines Lehrers zu Deinem Aufsatz: "Die Predigten unserer Zeit verglichen mit denen des Untergangs Israels". Er schrieb an den Rand Deines Heftes: "Nur dem Dichter erlaubt!“ - ganz glücklich und stolz machte Dich das! ! ! – Was alles hattest Du schon als 16 jähriger gelesen: Darwin, Haeckel, Büchner, Kant, Renan, Dr. Friedrich Strauß und Zola u. a. (siehe Abschnitt zwei Deines eigenen biografischen Berichtes). Das Ergebnis war Dein Schauspiel "Ein Glaubenskampf". Dies reichtest Du beim Verband Deutscher Bühnenschriftsteller ein und wurdest gebeten, Dich dort vorzustellen. Siebzehnjährig und schüchtern, wie Du warst, hattest Du das Gefühl, als Du dort durch die verschiedenen Büroräume gehen musstest, als schauten Dich alle an: "Die haben sicher alle mein Drama gelesen", so dachte es in Dir und Du wärest am liebsten im Erdboden versunken. Dann standest Du vor Dr. Arthur Dinter und Dr. Lachmanski. Sie baten dich Platz zu nehmen und plötzlich, versankst Du in einem viel zu weich und tief gepolsterten Sessel und Dein Selbstvertrauen war völlig dahin geschwunden. Dann aber machten Dir diese beiden Persönlichkeiten Mut und wollten Dir eine freie Hörerstelle an der Berliner Universität ermöglichen. Dazu kam es nicht. - Du warst ja zum Regisseur geboren der Bühnenlaufbahnweg musste beschritten werden. Das sieht man in dieser Nachbetrachtung. Dr. Steiner sagt einmal: "zum Regisseur muss man geboren sein". Das warst du - wie es sich in deinem Lebensweg bestätigt. –

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Was erlebtest Du nun in der Seminarschule zu Anklagen in Pommern: Deine schriftstellerischen Arbeiten musstest Du dort, wenn am Tage keine Zeit blieb, nachts unter der Bettdecke mit einer roten Fotografen Lampe schreiben. Die Mitschüler meinten: "Mensch, Dein Federalter kommt mal ins Museum". Die Mitschüler schätzten Dich alle. War es doch so, wenn sie Hausaufgaben nicht gemacht hatten, dass sie vor der Deutsch -, der Geschichte - , der Erdkundestunde sagten: "Heymann, Du musst den Lehrer ins Gespräch verwickeln, damit die Stunde herumgeht." Es gelang immer. Du schriebst unter der Bettdecke, während Deine Mitschüler an Bettlaken aus dem Fenstern stiegen, um sich heimlich mit den Mädchen vom Lyzeum auf dem Friedhof zu treffen. Du hieltest Dich selbst schon für nicht normal, oder krank, weil Du das nicht mitmachen konntest. Du schriebst dort "Der Schwarze Tod" und "Ein Glaubenskampf“, die Pest behandelnd. Merkwürdige Lehrer waren in dieser Seminarpräparanden - Anstalt Unterrichtende. Der eine ein Sadist. Er frug so blitzschnell die unregelmäßigen Verben ab, bis der Zögling stockte, das heulen bekam und dieser Lehrer sagte: "Nous avons, vous avez, nun isser weg, wo isser nun?“ – Den anderen Lehrer schätztet ihr hoch. Oft kam er betrunken zum Unterricht und es ging die Legende um ihn, dass er eine unglückliche Liebe habe. Mit dem Alkohol im Blut hielt er euch die genialsten Deutsch - und Geschichtsstunden. Dieser Lehrer konnte sich alles erlauben, Ihr liebtet in. Er brachte des Öfteren seinen Mobs mit zum Unterricht, der war dann ebenso betrunken wie es selbst. Einmal, als ein Gedicht von Heine gesprochen werden sollte, sagte er zum Schüler: "Waren Sie schon mal verliebt?“ Der verdutzte Schüler stotterte wohl ein “Nein“. Antwort des Lehrers: "Dann setzen Sie sich, dann können sie auch kein Gedicht von Heine sprechen!“ In die Zimmer zur Aufsicht kam ein älteres, gouvernantenhaftes Wesen, vor dem ihr alle aber 257

Respekt hattet. Die Zustände in der Schule spitzten sich so zu, dass Du, Johannes, eines Tages den Direktor der Schule um den großen Lehrertisch im Direktorenzimmer jagtest, ihn fordernd, Deine Papiere herauszugeben, keine Stunde länger würdest Du in diesem Gebäude noch bleiben. Du bekamst die Papiere dann. Deine Mitschüler legten Trauerflor um die Arme, versäumten eine Unterrichtsstunde und begleiteten Dich geschlossen zum Bahnsteig und abfahrenden Zug. Als Du dann, in Berlin angekommen, auf der Brücke der Spree standest, dachtest Du: "Was tue ich jetzt, springe ich ins Wasser?“. Du gingst heim. Du warst von dem Augenblick an für Deinen Vater: "Der verlorene Sohn", ja, später der „Kommunist". Die feine, zarte, verständige Mutter war es, die die weiteren Wege ebnen half. Der Vater hatte gesagt: "Essen und schlafen kannst Du hier, mehr nicht", und so begannst Du zuerst Adressen auf Briefumschläge zu schreiben, dann durftest Du in einen Verlag, Schlesischen Verlagsanstalt, um Dir eine finanzielle Grundlage zu schaffen für den Schauspielunterricht. Gutes geschah Dir in dieser Verlagsanstalt. Es wurde Inventur gemacht, damals nahm man sich anscheinend Zeit dafür, oder wurde sie Dir zugebilligt um Kenntnis von den Bücherinhalten zu gewinnen? Es wurde Dir und vom gütigen Leiter immer wieder gesagt: "Schauen sie nur hinein in die Bücher, nehmen sie sich ruhig die Zeit dazu". D a s brauchte man Dir wirklich nicht öfter zu sagen, so saßest Du oft hoch auf der Leiter vertieft in Buchinhalte, lesend. Ein glänzendes Gedächtnis bewahrte Dir alles und wie erstaunten Universitätsgebildete Menschen über Dein Wissen, Deine Gesamtkenntnisse und Bildung. Man brauchte nur Geschichtliches anzudeuten, Du wusstest Daten, beteiligte Menschengestalten mit Namen und ihren Schicksalen auf das Genaueste. Welche Dichter und Denker kanntest Du nicht? Wie bewandert in allem dramatischen Schaffen der Einzelnen, wie aber auch Religionsgeschichtlich und Philosophisch! Auf der "Reicherschen Hochschule für dramatische Kunst" in Berlin wagtest Du dann für 258

das Schauspielstudium „Vorzusprechen“ und bekamst freies Studium. Du hattest eine schwere Zunge und lispeltest. So fiel Dir der Sprachunterricht schwer. Noch ehe jeglicher Unterricht begann, standest Du schon in den Schulräumen auf der Probebühne und übtest. Du gerietest so in Erregung, das wiederum das Sprechen nicht gehen wollte. Eine tief mitfühlende Lehrerin nahm Deine beiden Hände in die ihrigen, und sagte: "Nun noch ein Mal". Da wurdest Du ganz ruhig. Als Du geendet hattest, sagte sie zu den Mitstudierenden: "Dieser junge Mensch kann noch beten ". In diese Zeit fiel die tiefe Zuneigung zu einem bildschönen Mädchen. Ihr ward Nachbarskinder und musiziertet miteinander. Maler rissen sich um dieses Mädchen, um es zu porträtieren. Sie hatte rotblondes gelocktes, warmrötlich schimmerndes Haar, ein Angesicht wie eine Iphigenie (Ich dürfte sie kennen lernen bei der Totenfeier deines Vaters, Johannes. Sie war verheiratet und hatte drei Kinder, war es 1935 oder 1936? Immer noch, wie ein Bild, so schön war sie, immer wieder musste ich sie anschauen und staunen, Johannes, dass deine Zuneigung sich mir hat zuwenden können. Unter eigenartigen Geschehnissen, ich berichte diese später, hattest du mir von diesem schönen Mädchen deiner Jugendzeit erzählt. Dass sie auch, als verheiratete Frau, immer noch in eurem Hause ab und zu zu Gast war, kam durch die Freundschaft eurer beider Elternpaare). Du erzähltest mir von Lenchen Malon, ihr Mädchenname, dass Du eine Ausflugsfahrt mit dem Schiff über den Müggelsee in Berlin zur drübigen Insel gemacht hattest. Dort erzählte sie Dir, im Auftrag ihres Vaters, dass sie einen ganz bestimmten Mann zu heiraten habe. Wie benommen habt ihr beide dann die Rückfahrt über den See angetreten. Dir brach eine Welt zusammen. Du aber warst es, der das Mädchen trösten musste, denn es bekam Weinkrämpfe und wurde ohnmächtig. Der behilfliche Ober brachte Eisbeutel, Du holtest das Mädchen aus der Ohnmacht zurück. Als Du heimgekommen warst, machtest Du einen Selbstmordversuch. Als Du die vielen blutigen Taschentücher sahst, erschrakst Du für Deine 259

Mutter. Sollte sie diesen Anblick haben? N E I N ! Du verstecktest alles und ließest die Tücher waschen: "Du hattest so starkes Nasen bluten gehabt! ! ! ! -" Aus dem Studium heraus musstest Du Soldat werden, warst noch achtzehnjährig. Bei einem Kameradschaftsfest sprachst Du ein langes selbstverfasstes Gedicht. Der Kompaniechef stürzte geradezu auf die Bühne und rief: "Vom Pionier Heymann selbst Verfasst!“. Das sahst Du Deinen Vater ein erstes Mal, was dich betraf, lächeln. Dann ging es in Richtung Verdun zur Front. Noch singend und jubelnd hatte man euch junge Soldaten am Lehrter-oder Friedrich Bahnhof in Berlin verabschiedet. Die Mutter sehr ernst. – Ihr machtet endlich, nach langem, ermüdendem Fußmarsch in einer Kirche halt. Es gab grüne Bohnen mit Hammelfleisch, Du wusstest das immer noch wie heute. Es schmeckte euch Hungrigen so ausnehmend gut. Mitten hinein kam dann der Angriffsalarm. Ihre musstet das Geschirr, noch mit Inhalt stehen lassen, aus der Kirche stürmen und aufs freie Feld hinaus, im Herbst 1915 war das. Im März 1916 saht ihr junge Kompanie euch plötzlich von Granatwerfern eingekesselt. Vor euch, hinter euch platzten die Granaten. Die jungen Soldaten warfen ihre Gewehre fort, ja alles was sie hatten, versuchten sich einzugraben. Ein Major, im wahrsten Sinne des Wortes kopflos geworden, hatte seinen Kopf in die Erde gesteckt. Du riefst plötzlich einem Kameraden zu: "Jetzt hat mich ein Stein getroffen" und der „Du blutest ja“. Ein Granatesplitter teilte dir die linke Hand in zwei Hälften. Da drücktest Du die Hand an Deine Brust und ranntest los, mitten durch das Sperrfeuer hindurch. Bei jedem neuen Einschlag gingst Du in die Knie. Als Du nach fast Dreiviertelstunde rennen die Rote - Kreuzfahne auf einem Hügel sahst, verlorst Du das Bewusstsein, durch den hohen Blutverlust. Man fand Dich und brachte Dich in das notdürftig eingerichtete Feldlazarett. Dort schnitt man Dir die ganze Uniform auf, weil man dachte, Du seiest innerlich getroffen, weil alles voller Blut war. Die Stiefel, voller Lehm mussten auch von den Füßen geschnitten werden. So fandest Du Dich vor, beim Erwachen. 260

Man versorgte notdürftig Deine Hand gab Dir neue Kleidung und die Anweisung auf einem Gefährt Platz zu nehmen, dass euch leichter Verwundete zu irgend einem Geleise und abgehenden Zug, Richtung Deutschland bringen sollte. Auf dem Gefährt hieltest Du es bei den unebenen Äckern, ohne Wege, über die diese Fahrt ging, nicht aus. Man lies Dich absteigen und sagte Dir die Richtung, in die Du weiterlaufen solltest. Unterwegs trafst Du einen deutschen Major, der Dich ansprach: "Na, Jungchen, wo hat es Dich denn erwischt"? -

Diesen „Major“ trafst Du "Unter den Linden" in Berlin wieder,

als wir beide uns schon begegnet waren, dieser Major hatte Dich wieder erkannt, nach 20 Jahren. Da Du als Kind Typhus hattest, nach dem Dir die Haare sehr bald stark ausgingen, Du schon früh eine sehr hohe Stirn hattest, könnte das das Erkennungszeichen für den Major gewesen sein – Du fandest dann in Frankreich den dürftigen Bahnhof. Dort stand ein Zug und mit Dir noch andere leichter Verwundete stiegen ein und warteten. Dann ging dieser Zug wirklich ab in Richtung Deutschland. Nun begann aber eine qualvolle Fahrt für Dich, Du fiebertest bereits, konntest Dich nicht mehr aufrecht halten, man wollte Dich als Schwerverletzten wieder aus dem Zug heraus tun. Du batest und flehtest man legte Dich dann ins Gepäcksnetz. In Heidelberg endlich kamst Du dann in ein schneeweißes Bett, sahst weiß gekleidete Schwestern. Eine Ältere war wie eine Mutter Dir besonders gut gesinnt, Du kamst Dir vor, wie neugeboren. Doch hatte man leider bei Deiner dick angeschwollenen Hand nicht bemerkt, dass man noch einen Splitter mit eingenäht hatte. Der war noch drinnen und machte Dir vier Wochen die Nächte und Tage zur Qual. In großen Buchstaben, im Fieberwahn, ja schreiend auch, klagtest Du Gott an - auf den Nachttisch geschrieben. Als sich dann ein eitriger Abzeß an der Handoberfläche zeigte war es mit deinem Gesundheitszustand so schlimm geworden, dass man ohne Betäubung Dir die Hand aufschneiden musste. Da rissest Du, laut lachend, die Schwestern, die Dich hielten, 261

vor Schmerzenskrampf um, dazu fiel der Instrumenten Tisch zu Boden. Dann aber erholtest Du Dich endlich, als der letzte Splitter aus der Wunde entfernt worden war. Doch stellte sich heraus, dass man die Nerven falsch verknüpft hatte und so warst Du in der Hand wetterfühlig. Ein nahendes und sich entladendes Gewitter verursachte elektrische Schläge in Deiner Hand, noch nach dreißig Jahren. Wie sehe ich Dich stumm, nur die Hand gegen die Brust gepresst bei Gewitter in den Wohnräumen umhergehen! - als Dein Vater daheim die Nachricht bekam, Du seiest in das Krüppelheim in Heidelberg eingeliefert worden, sagte er: „Von dort kommt niemand wieder“ und verkaufte alle Deine Anzüge. Du aber standest ohne Garderobe dar, als Du kurzentschlossen, nach der Entlassung aus dem Heidelberger Lazarett, Dich in Stralsund... - - - - nach dem Soldatensein und Deinem ersten Engagement in Stralsund und zuhause erlebte Ferien, brachten Dich Deine Mutter, Lenchen Malon und deren Mutter zum Bahnhof an den Zug. Lenchen, obgleich erst verlobt, trug schon ein Kindlein von dem zu heiratenden Manne und war todunglücklich. Du flüstertest ihr zu: "Wenn der Zug sich in Bewegung setzt, steigst du auf, ich halte dich fest und du fährst mit mir nach Stralsund, das werdende Kindlein ist dann meines". Der Zug fuhr an, Lenchen fiel in eine Ohnmacht, beide Mütter fingen sie auf. Das war euer endgültiger Abschied voneinander. Sie heiratete den ungeliebten Mann, bekam drei Kinder und war sehr unglücklich. - - - .. beim Stadttheater um ein Engagement bemühtest. Damals musste man alle Garderobe, vom Frack bis zum „Cutaway“ selbst stellen. Wie glücklich warst Du, dass man Dir nicht drei Finger amputiert hatte, so wie es die Ärzte wollten. Angefleht hattest Du sie, Dir die Finger an der Hand zu lassen, Du seiest Schauspieler von Beruf und brauchtest Deine Hand. Mit eiserner Energie hast Du dann an Apparaten geübt, um die Hand, die Finger irgendwie beweglicher zu bekommen, hattest Du

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Stralsund 28 .IX. 1917 Lasst uns suchen und krönen mit Laubgewind die Stirnen, die noch Schönem ergeben sind. Hans Heymann

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doch schon ein Essbesteck für einen Einarmigen. So stelltest Du Dich in Stralsund dem Theaterdirektor vor, und das geschah folgendermaßen: Du klingeltest unten an der Haustür, da wo der Direktor wohnte. Die Vakanz musst Du irgendwoher erfahren haben. Oben schaute ein waschechter Berliner zum Fenster heraus und fragte in gutmütigem Berliner Dialekt: "Wat woll’n se denn junger Mann?“ Das Herz wurde Dir gleich warm. Oben eingelassen, sprachst Du diesem Theaterdirektor dann vor. Don Carlos: “Dreiundzwanzig und nichts für die Unsterblichkeit getan, ich bin erwacht . . .“ … schicken Sie mich mit dem Herrn nach Flandern…..“ - Du hattest überhaupt nicht bemerkt, dass Deine Schuhspitzen unter den Teppich geraten waren, Du ihn damit aufrolltest und dicht vor dem Stuhl des Direktors landetest. Dieser sagte: " Junger Mann, engagiert sind se, wenn se aber nochmals so’n Angriff uff mir vorha’n, denn sajen se dett man gefälligst vorher!". Den Direktor, seinen Namen weiß ich leider nicht mehr, man nannte ihn immer nur Papa….., gab Dir dann gleich ein Rollenbuch in die Hand, das solltest Du Dir ansehen und am nächsten Morgen im Theater erscheinen. Als Du am Morgen zögernd auf die Bühne gingst, schallte Dir entgegen: "Wills’te nich’ ein kleines bisschen nett zu mir sein, nett zu mir sein ..!.“ Der Direktor sah dich hinter dem Vorhang, rief dich gleich hervor: "Mitmachen, junger Mann, gleich mitmachen“. Du wusstest wirklich nicht, wie Dir geschah, hattest Du doch bisher nur Klassiker studiert, Heldenrollen gelernt und fandest Dich nun vor, in einer langen Reihe Tanzschrittemitmachender zu dem Operettentext. Doch dann kam ein Tag, Du warst, wie schon früher in deiner Studienzeit immer auf der Bühne, bei jeder Probe dabei, als der Hauptdarsteller dem Direktor absolut nichts recht machte. Er rief Dich und sagte: "Da versuch mal die Rolle" und Du bekamst sie. Da Papa "sowieso" schon etwas ältlich und bequem war, bekamst Du immer häufiger regieliche Aufgaben und wurdest in kürzester Zeit zum Spielleiter ernannt und bald zum

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Oberspielleiter, der mehrere Spielleiter unter sich hat. So begann an den verschiedenen Theatern Deine glänzende Laufbahn für Klassiker. Andere, schlichte Dramen erhobst Du zu Klassikern, durch Deine Regiekunst. Bald gingen Deine Inszenierungen durch die Zeitungen, Deine Bühnenbilder, die Du bis ins Einzelne mit dem Bühnenbildner und im Malersaal besprachest. Man kam von Berlin zu Dir und sagte: "Warum macht denn so etwas unser Staatstheater nicht!". Deine Inszenierungen, Bühnenbilder - Modelle waren auf den verschiedensten Ausstellungen. Einen Egmont ließest Du enden, indem Du ihn aus dem Kerker Stufen hinauf schreiten ließest ins Unendliche, um auszusagen, dieser Mensch geht in seine Befreiung, nicht in den Tod. Eine Solveig im Peer Gynt ließest du jung bleiben, weil sie so immer in Peer’s Herzen gelebt hat. -------------------------------------- - - - Auf dich wartete in den ersten Theaterjahren die folgende zweite Tragödie: Du warst zwanzig, einundzwanzigjährig. Eine vierzigjährige Frau, Witwe, verfolgte Dich, wo Du gingst und standest. Sie fiel auf offener Straße Dir zu Füßen, beschwor Dich, Du müsstest sie heiraten. Sie drohte, dass sie Deinem Vater "wer weiß was" erzählen würde. Der Schock vor Deinem Vater, die Drohungen, ließen Dich diese Frau heiraten. – Kommt darinnen doch ein unerhört unschuldvolles Leben zum Ausdruck, Du wusstest einfach nicht, Dir da zu helfen ! ! ! Dann übergoss sie in rasender Eifersucht Deine Bücher mit Petroleum, Du warst ja ein "Bücherwurm", ein immer arbeitender, lesender, Lernender. Als sie eines Tages Dir die Müllschaufel über den Kopf geschlagen hatte, das Blut rann, rissest Du die Wohnungstür zum Treppenhaus auf, weil Du dort Schritte hörtest. Jetzt hattest Du Zeugen, und diese Ehe, die keine war, wurde wieder geschieden. Bei der standesamtlichen Trauung hattest Du schallend gelacht - -, nun war diese grausige Episode beendet. ------ Diese Frau war eine Jüdin. ---------------------------------------265

Die dritte Tragödie, eine weitere schwere Prüfung, begann bald darauf .Deine Schwester machte dich bekannt mit einem Mädchen, zierlich wie ein Kind, auch klein von Wuchs, auch eine Jüdin, Du heiratest sie. Sie wünschte sich keine Kinder, Du sehr. Du halfst ihr, dass sie im Schauspiel „ dabei“ sein konnte, doch machte sie Dir das Leben ebenfalls zur Qual

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Johannes

Ursula Dion

Vater Heymann

Ein chinesisches Spiel veranlasste Dich, das gesamte Eisenacher Theater in ein chinesisches Gewand zu kleiden. Die Zuschauer waren entzückt. Alles war in einen Rhythmus getaucht, eine Komödie, in der zuletzt auch der letzte Zuhörer mitmachte. Grandiose Wirkung erzeugtest Du an Heiterkeit, Gelöstheit unter den Menschen. Du zogst sie in den Bann der jeweiligen Ereignisse auf der Bühne, seien sie heiter oder zutiefst tragisch. Wieso war es an der Eisenacher Bühne, mit der Aufführung dieses chinesischen Spieles zu einem solchen "Bombenerfolg", wie man in der Theatersprache sagt, gekommen? Du ließest die Schauspieler alle in einem gleichen Rhythmus schreiten, einmal langsam, einmal geschwinder, dann fast hüpfend und anderes mehr. Unter den Schauspielern entwickelte sich Meuterei und folgender Dialog: „Was ist denn jetzt in den Heymann

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hineingefahren, jetzt macht er uns alle zu Marionetten!" Du aber ließest unberührt und immer wieder den Text auf diesen oder jenen gleichen Rhythmus sprechen. Ein Kollege der Schauspieler berichtete Dir die Gespräche. Dieser hatte gesagt und die Schauspieler damit beschwichtigt: "Nun wartet doch mal ab. Heymann hat uns bisher alle zu größten Erfolgen geholfen, wer weiß, was für eine Absicht er jetzt mit diesem Tun verfolgt". Es kam der Tag an dem Du dann zu den Schauspielern sagtest: "Ab heute haben Sie alle jetzt für jede Nuance des freien Spiels freien Lauf, jetzt machen Sie aus ihren Rollen, was Sie vermögen, wie Sie schönste Wirkungen am besten herausholen". Selbstverständlich stand er auch da weiter beratend und immer mehr Feinheiten herausholend, bereit. Was hatte er nun mit diesen Vorproben erreicht und geschaffen, er, der geniale Regisseur? Eine geradezu Begeisterung erweckende, mitreißende "Ensemble – Kunst“. Der eine warf dem anderen die Wortbälle zu, die Nuancen wurden aufgegriffen, in packendem Rhythmus und Schwung fortgeführt, es gab kein Loch, keinen Leerlauf. Geradeso, wie sichtbarlich im Spiel die notwendigen Requisiten im chinesischen, wie auch japanischen Theater auf die Bühne befördert werden, so hier im Rhythmus geworfen die notwendigen Apfelsinen und im Rhythmus ebenso Gebrauchsgegenstände schwingend tänzelnd hereingebracht, alles auf offener Bühne, dass geschah alles so fesselnd, schwingend, mitreißend, dass eben, wie schon gesagt, das ganze Haus, das Publikum in diesen Begeisterung erweckenden Schwung mit hineingerissen wurde, und alle "Mitspielende" waren, was Heiterkeitsstürme auslöste und das "Haus jubeln machte". – Und dazu nun im großen Gegensatz die tiefernste Tragödie eines "Friedemann Bach", die Du selbst gestaltest. Als Du dem Direktor Dein Werk vorlegtest, lehnt er ab: "Dazu gebe ich meine Einwilligung nicht". Du antwortetest: "Und wenn ich alles auf eigene Verantwortung hin unternehme?".

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"Bitte !" Und du wusstest, wird es ein Erfolg, wird dieser Direktor d e n für sich in Anspruch nehmen und die Kasseneinnahmen dazu. Das aber war Dir gleich, wenn Du die Absicht hattest, etwas durchzusetzen. Der Direktor hielt es für unmöglich, dass man Sebastian Bachs "Mathäus – Passion“ von der Theaterbühne her, aus dem Hintergrund erklingen lassen dürfte. Doch der Erfolg gab dir Recht und die Kritik auch. Du bist durch Eisenach unterwegs gewesen, mit unendlich vielen Gesprächen. Du konntest für diese Aufführung ein Laien – Orchester, dazu einen Eisenacher Chor und oh Wunder, die bedeutendste Sopran - Solo – Sängerin, welche auch das Lied "Kein Hälmlein wächst auf Erden" von Friedemann Bach zu singen hatte, für die Aufführung begeistern. Und diese Aufführung wurde für diese Saison "d e r" Theatererfolg. Bei der Aufführung Deines eigenen Werkes "Friedemann Bach" saß das Publikum minutenlang still im Zuschauerraum, stand auf und verließ, ergriffen schweigend das Haus. Die Kollegen schenken Dir einen großen Lorbeerkranz mit der Aufschrift: „Nicht der Beifall, das Gedenken sei unser Sieg“. Dieses Friedemann Bach - Manuskript ist nicht mehr vorhanden. In dieser Aufführung ließest Du einen jungen Anfänger spielen. Er hieß Friedrich mit Nachnamen, man könnte das vielleicht in den Theatergeschichtlichen Aufzeichnungen des Eisenacher Theaters nachprüfen, doch liegt Eisenach in der DDR, jetzt! Wie gefügig, wie hingebefreudig und hingabefähig sind junge Anfänger, die alle Ideale ihres Berufes so frisch lebendig in der Seele tragen! Diesen jungen Menschen musst Du in eine Vertiefung der Darstellungskunst hineingeführt haben, dass das "Friedemann Bach Schicksal“ diese tiefe Erschütterung im Publikum ausgelöst hat. Friedemann Bach, der begabteste der Bach – Söhne, gerät in die Spaltung, in den Wahnsinn, weil er dem Inhalte Deines Dramas nach, von dem zerstörenden Wahn gepackt wird, er müsse den Vater überflügeln mit seinen eigenen Kompositionen. Er sitzt und schreibt. Mitten in diesem zähen Tun und Ringen erklingt immer und immer wieder, aus dem

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Hintergrund der Szene, unsichtbar, in seiner Seele auftauchend, des Vaters "Matthäus – Passion". So zerreißt Friedemann Bach immer und immer wieder seine Schöpfungen, verbrennt sie im Kaminfeuer. Er kommt dem Wahnsinn nah, bricht zusammen. Da ertönt aus dem Hintergrund, wenn ich mich nicht irre, wird die Sängerin visionär sichtbar, das unglaublich tröstende, wundervolle Lied von Friedemann Bach: "Kein Hälmlein wächst auf Erden". Über diesem Zusammenbruch und Erklingen dieses gesungenen Liedtextes schließt sich der Vorhang. Der Aufwand der Mitwirkenden war ein ungemein großer. Hinter der Bühne haben sie dich, Johannes, auf die Schultern gehoben. Alle waren voll der tiefsten Dankbarkeit bei diesem Werk aufgerufen worden zu sein, mitzuwirken. Selbstverständlich verlor der Direktor des Theaters kein Wort des Dankes, und die riesige Kasseneinnahme gehörte ausschließlich dem Theater. Was tat das Dir? – Nichts. Du hattest Dich selbst bewiesen, Dein enormes Können dargestellt und Deine Fähigkeit, menschenverbindende Kunst verschenken und tätigen zu können. --------------------------------------------------------------------Damals war es üblich, dass viele Abstecher in die umliegenden Orte von den fest stehenden Theatern aus gemacht wurden. Das waren stets sehr anstrengende Tage. Früh wurde am Nachmittag per Zug abgefahren, um auf den jeweiligen Bühnen noch Stellproben vorzunehmen, denn oft waren sie bedeutend kleiner als im Theater des Engagements. Übernachtet wurde niemals an Ort und Stelle und so mussten die Mitternachtszüge benutzt werden. Es war üblich, dass die Schauspieler zur damaligen Zeit wie Degradierte nur Vierter- Klasse -Wagen benutzen durften, außer es zahlte einer von sich aus den Zuschlag für die dritte Klasse. Damals gab es noch vier Klassen! Da Du sehr sozial dachtest, Dir die in ihren Mänteln nachts erschöpft einschlafenden Kollegen auf den harten Bänken wie unwürdig Behandelte erschienen, wagtest Du harte Auseinandersetzungen mit dem Direktor. Dieser

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antwortete zuletzt: „ Heute fahren Regierungsräte in der vierten Klasse". Es kam wieder Gast-

spieltag und euer Besteigen der vierten Klasse-Abteile. Da liefst Du, Johannes, sowohl die Abteile durch, dann draußen auf dem Bahnsteig immer wieder rufend: “Regierungsräte, bitte, aus der vierten Klasse aussteigen". - Siehe da, von da an durfte das gesamte Theaterensemble und die Mitarbeiter dritter Klasse fahren. ------------------------------------------------------------------------------------------------Hier möchte ich einige Theatererlebnisse einfügen, weil sie an den Anfang, in die Stralsunder Theaterzeit fielen. Jeder junge Anfänger wird „ausprobiert“, auf die Probe gestellt. Welches Schauspiel es war, ist mir unbekannt. Alle hatten als Ritter lange Rittermäntel um und Schwerter bei sich. Am Abend spielte als Gast Werner Kraus ( ? ). Als Du Dich in seiner Nähe befandest, hatten die gewitzten Kollegen Deinen Rittermantel mittelst Sicherheitsnadel an unterster Spitze an den Rittermantel des Gastes angeheftet. Wohin nun dieser Gast ging, musstest Du zwangsweise Folgen, wenn nicht eure Rittermäntel wie Fledermausflügel sich über die Bühne spannen sollten. Der „Gast“ drehte sich wütend nach Dir um: "Was soll das?“, und wieder: “Wohl verrückt geworden?“--Du hobst die Schultern. - Der Akt war vorbei, es nahte der dritte. Du entdecktest hinter der Bühne, vor Deinem Auftritt einen großen hässlichen roten Regenschirm, weiß bepunktet. Der war dort abgestellt als Requisit von der Aufführung des „Fidelen Bauern“. Schnell vertauschtest Du ihn mit Deinem Schwert und gingst mit ihm, verborgen unter dem Rittermantel auf die Bühne hinaus. Es kam die Stelle im Drama, wo ihr Ritter kreisrund, mit dem Rücken zum Publikum standet und dem Trauerzug entgegensaht, der von oben die BergStufen herab kam. Getragen wurde auf den Schultern von vier oder sechs Rittern die Bahre mit dem "Toten Ritter". Alle ringsum stützten sich auf ihre Schwerter, Du auf den bunten

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Schirm. Plötzlich hoben sich die Schultern des einen im Lachen, das setzte sich kreisrund fort. Jetzt wurde der „Tote“ auf seiner Bahre auf den Boden gelegt. Wehe, wenn eine Schauspielerschar aus dem "Häuschen" gerät, während einer Aufführung durch irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse, sie ist nicht mehr zu bändigen. Einmal angelacht durch den roten Schirm anstatt Schwert, folgt unweigerlich der nächste Streich. So war es auch hier. Hinter den Kopf des Toten, bei der Bahre, hatte man sein großes Feder-Barett gelegt. Jetzt stieß einer mit der Fußspitze so über den Kopf des "Toten ", dass die Feder unweigerlich ihn im Gesicht zu kitzeln begann. Dieser “Tote“ pustete, doch die wippende Feder landete natürlich wieder in seinem Angesicht. Da fiel das Wort: "Der Tote lacht!“Da gab es kein Halten mehr, man sagte dann: "Die Vorstellung wurde geschmissen". Der Schuldige wurde gesucht, Du meldest Dich, Johannes, Du solltest fristlos entlassen werden und 20 RM Strafe zahlen. Die Kollegen verhinderten es und sammelten gemeinsam die Summe von 20 RM. Du aber hattest Deinen "Einstand" bestanden und Dir „Respekt" erworben. Es kam eine "Gesellschafts - Komödie" zur Aufführung. Dazu brauchtest Du als "Regierungsrat“ einen Frack. Schon während der Proben hattest Du ein Telegramm an die Eltern nachhause gesandt, dass sie Dir dringend einen Frack anfertigen lassen müssten. Von Tag zu Tag wartest Du, dass der Frack eintreffen sollte. Jeder Künstler hatte seine eigene Garderobe zu stellen, so war das früher. Es kam der Tag der Hauptprobe, da hat alles im richtigen Gewand zu erscheinen. Du hattest schon tagelang verzweifelt versucht, von irgendwoher einen Frack leihweise zu bekommen. Es war in Stralsund einfach unmöglich. Am Vorabend der Generalsprobe schickte man Dich zu einem Schneider. Du kommst in die Werkstatt und siehst auf einem Bügel einen nagelneuen Frack hängen. Du sprichst mit dem Schneider, Du redest mit Engelszungen, Du beschwörst ihn, und bekommst immer wieder

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dieselbe Antwort: “Den Frack kann ich Ihnen doch nicht geben, den habe ich doch für meinen Schwiegersohn zur Hochzeit gemacht". Du fragst, wann die Hochzeit sei. „ Nicht morgen, nicht übermorgen". Du versprichst, dass dem Frack nichts geschieht, dass er nagelneu zurückkommt, dass der Deinige ja nun eintreffen müsste, usw. und so fort ! ! ! Es nützt nichts, Du bekamst immer die gleiche verneinende Antwort. Da fasstest du einen wilden Entschluss, es ging um Dein Engagement, es ging um den Verbleib am Theater, um Deine Existenz, Du griffest nach dem Frack mit Bügel und ranntest einfach davon. Der Schneider folgte Dir nicht nach, hat er zum Schluss Deine Verzweiflung wahrgenommen, dass Du einfach keinen anderen Ausweg mehr wusstest ? ? ? --Jetzt kam die Anprobe im Theater, es stellte sich heraus, dass der Bräutigam viel kleiner war als Du. Die Hose ließest du herunter, es ging gerade noch, auch der Frack, aber die Frackweste ließ handbreit zwischen Weste und Hosenbeginn das weiße Frackhemd schimmern. Die Kollegen lachten wieder einmal lauthals, "Mensch, mach Dir doch als Geheimrat einen langen weißen Bart, der verdeckt dann alles!“, Du sagtest: „Ach, ich lege, wie eine Angewohnheit dieses "Geheimrates" einfach immer den rechten Arm weit über diesen Spalt, zwischen Bauch und Brust und halte die Stellung beim Spiel als Marotte so durch", er illustrierte das. Da stürzt der Postbote in die Garderobe: "Herr Heymann, der Frack aus Berlin ist da!" Dieser Postbote war in der Wohnung des Johannes gelandet, dort hat man ihm gesagt, dass er so schnell wie möglich mit dem Paket ins Theater laufen sollte, da drinnen wäre ein Frack den der Herr Heymann dringendst brauchte. Da war er nun, kann man sich die Rührung eines Johannes Heymann über seine Mutter vorstellen ? Sie war es ja immer, die als sein guter Engel fungierte zwischen Vater und Sohn. “Der Frack war da“, Engagement und Aufführung gerettet ! ! ! - Und das in schwerer Nachkriegszeit.

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Eine weitere Begebenheit: die Kollegen wussten sehr gut, dass Du, Johannes, keinen Alkohol trankst. Es reizte sie. Nun ist Alkohol auf der Bühne zu verabreichen aufs strengste verboten. In den Schnapsgläsern ist nur Wasser. Du hattest in Deiner Rolle mit Bravour und Schwung ein Schnapsglas zu leeren. Die Kollegen füllten es heimlich mit Branntwein – Schnaps, randvoll. Du, nichts ahnend, kipptest das Glas hinunter. Der Mund blieb Dir offen stehen und die Sprache war weg. Du konntest den ganzen Abend hindurch Deine Rolle nur angestrengt akzentuiert flüsternd zu Ende bringen. - Ein anderes Mal hattest Du, wiederum schwungvoll, beim Abgang eine Aktentasche, die auf dem Tisch zu liegen kam, mitzunehmen. Du greifst zu, die Tasche rührt sich nicht vom Fleck. Du überspieltest den Schwung, versuchst es noch einmal und trägst die Mappe hinaus, doch wie ? – An den Kulissen waren Kilogrammschwere Eisenplatten angebracht, damit sie sich in die Tiefe der Bühne senkten. Diese schwergewichtigen Platten hatte man Dir, trotz offener Bühne, in die Tasche schmuggeln können. Das „Halloh!“ , die Freude, fröhliche “Schadenfreude“ bei so Gelungenem kann man sich denken. Du hattest den „Hexer“ inszeniert. Die Zuschauer durften raten und Preise gewinnen, wer der Hexer sei. Da geschah es, dass ein Seil, des von zwei Seiten gehaltenen Riesenkronleuchters, sich löste, und der große Kronleuchter auf offener Szene vor dem Publikum über die Bühne hin - und her schwankte. Dir blieb vor Schreck der Atem steh’n, welch ein Unglück, wenn der Kronleuchter sich aus der Verankerung riss. Es ging ohne größeres Unglück ab, Du atmetest tief auf. Nach der Premiere kommt ein Freund von Dir hinter die Bühne und sagte: "Das ganze war ja voller Spannung, zuletzt habe ich ja auch wohl alles herausbekommen, nur das eine nicht: Sag mal, was war das mit dem tollen Schwanken des Kronleuchters, das war gespenstisch und unglaublich, man dachte jetzt kommt der Hexer gar von oben!“ 273

In Bremen war es, und zwischen den Jahren 1950 - 52 als ich den entsprechend älter gewordenen einstigen Darsteller deines "Friedemann Bach" kennen lernte. Eine Gastspielgruppe, der Herr Friedrich angehörte, gastierte in Bremen. Da erlebten wir, dass dieser genial veranlagte, damals so junge Künstler, nur zu einer Mittelmäßigkeit, einer Art "Komödiantentum" sich entwickelt hatte. In welchen Höhenflug hattest du, Johannes, damals diesen jungen Künstler durch dein großes Werk hineingerissen. -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

circa 1937

(Diese Bilder hatte Johannes immer auf seinem Schreibtisch stehen! Is 9. Januar 1984).

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Lieber Johannes !

Kornwestheim, am 27.Oktober 1973

Wenn ich Dein Leben betrachte, bis zu den ersten drei Abschnitten Deiner eignen Aufzeichnungen und meiner Ergänzungen, dann nimmt man wahr, was Deine ewige Individualität sich als Lebensziel für die Erde vorgeburtlich gesetzt hat, wie von "Anfang an" einzutauchen in die Welt alles dessen, was uns das Alte Testament zu sagen hat und einzutauchen dann in die Hintergründe dessen, was uns im Neuen Testament an Offenbarung geschenkt wurde. Zu hintergründen Welt – und Menschengeschichte, bis Du angetreten in dieser letzten Inkarnation. Du suchtest dir das Elternpaar, das völlig bar jeder Literatur war, außer dem Vorhandensein des Gesetzbuches und der Bibel. Man hätte meinen können, du hättest auch an Hand dieses "Gesetzbuches" vielleicht "Rechtsgelehrter" werden wollen, das wäre ein mehr dem äußerlichen Beruf zugewandter Weg gewesen. Dich zog es hin zur Gesamterkenntnis w a s i s t d e r M e n s c h. Wie ist die göttliche Welt an ihm beteiligt. Du fandest die Antworten zur neuen CHRISTUS - Erkenntnis durch Dein finden der "Anthroposophie", uns von Dr. Rudolf Steiner geoffenbart, geschenkt. Ganz in das Künstlerische zuerst eintauchend, beruflich, fandest Du in den Dramen der Dichter alle Höhen und Tiefen, die es als Menschenleid zu durchleiden gibt. Dann wurden Dir erlebbar, erleidbar alle Schmerzen derer, die in unmittelbarer Nähe des Christus Ereignisses, ihm innig verbunden, lebten. Sie wurden zu Gestaltungen Deiner Dichtung. Du studiertest im Elternhaus immer und immer wieder das Alte, - das Neue - Testament. Wenn nicht schon früher so doch gewiss in deinem 14. Jahr, da wo Ahnungen früherer Inkarnationen in die Ichgestaltung eingreifen, der Mensch ein so dringend Suchender wird, sich selbst oft nicht kennt, ja leidvoll irre wird an sich selbst und ob bewusst oder unbewusst der große "Fragende“ wird, da schreibst Du ein "Esther-Drama“ und

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„Der schwarze Tod“, ein Spiel in dem Du für die Unschuld der Juden, die Wasser - Brunnen vergiftet zu haben, eintrittst. Viele Begegnungen mit jüdischen Menschen sind veranlagt in deinem Schicksalsweg. Deutschland hatte ja unzählige, jüdischer Religion angehörige Mitmenschen, ehe die Verantwortlichen „Unverantwortlichen“ des "Tausendjährigen Reiches“ im Hitlerregime meinten, wenn man die Menschen tötete, wäre auch ihre Religion für alle Zeiten vernichtet. Wärest Du je so tief eingetaucht in alles das, was die Bibelaussagen uns geben, wenn viele, etwa schöngeistige Literatur in Deinem Elternhaus vorhanden gewesen wäre? Du nahmst somit auf Dich in ein Elternhaus geboren zu werden, indem man Dich ganz und gar nicht verstand. Die uneigennützige Güte, Liebe, Deiner Mutter unterstützte Deinen Weg, der zuerst so ganz ins Künstlerische gehen musste, verstanden hat sie wohl kaum das "Warum“. Im 20. - Lebensjahr bis Du endlich, nach allen Erziehungleiden, Deiner Studienzeit auch in der "Reichertschen Hochschule für dramatische Kunst" da angekommen, nach Soldatensein müssen, Krieg, Verwundung, rasenden physischen Schmerzen, Deiner innersten "Berufung" nachgehen zu können, als Schauspieler alle Höhen und Tiefen vor die Menschen, zu deren eigener Katharsis hinstellend, ihnen vorleben, vorleiden zu können. Du wirst Spielleiter und Oberspielleiter und führst die jungen Anfänger - Schauspieler und Schauspielerinnen zu Wirkungen weit über sich selbst hinausgehend, nur die jeweilige Gestalt verschenkend an die Zuhörer, Anschauer weitergebend. Ich selber durfte solch Arbeiten an mir selber, durch Dich, erfahren, 1932 neunzehnjährig als Gretchen im Faust zum hundertsten Todestag von Johann Wolfgang von Goethe. Als bei der Aufführung in der Berliner Kochstraße „Schul Aula“, sozusagen durch Studenten, Laienspieler der ganze erste Teil des Faust - Dramas ungestrichen gespielt wurde, sagte Lic. Emil Bock, dass alle Spieler eine solche Höhe in der Darstellung erreicht hätten, 276

wie sie sie wohl in ihrem Leben kaum je erreichen werden. Nur ein Beispiel vorerst. " Herr Heymann, Sie haben ins Schwarze getroffen", sagte Lic. Emil Bock, damals wörtlich. Erst fünfundzwanzigjährig hast Du eine glänzende Bühnenlaufbahn, man sagt Karriere, hinter Dir. Doch mit Deinem persönlichen Schicksal, Du heiratest ( wann ? ), ein junges Mädchen, Jüdin, die Dir deine Schwester ans Herz gelegt hatte - - - aus Mitleid. Dieses Mädchen war schon mit 15 Jahren am Rande der Verzweiflung gewesen, ins Wasser gegangen, um zu ertrinken. Dieses Wesen solltest Du annehmen und Du tatest es, wie alles im Leben gründlich, Du heiratetest sie, das Mädchen. Sie aber machte Dir das Leben recht schwer. Doch warst Du gut als großer Frager mit allen intellektuellen Antworten in unserer Zeit wie an ein Ende gekommen, an den Rand Deiner eigenen Existenz. Es war der Vorhang zum Publikum noch offen, Du hattest den letzten Satz Deiner Gestalt gesprochen, konntest Dich noch mit aller Energie rückwärts hinter den Vorhang begeben, da brachst Du zusammen, an allen Gliedern fliegend, wie im Krampf. Du musstest für eine Zeit diesen Beruf aussetzen. Dein Vater hilft zum Eintritt in eine Bank. Du schreibst inzwischen die Schauspiele " Magdalena“,“ Mose“,“Forseti“. Bist jetzt seelisch am Ende Deines Fragens, da keinerlei Antwort zu finden war. 28 jährlich, im Ereignis der absoluten „Ich – Ergreifung“ begegnest du dem Pfarrer Gietzke, findest zur Christengemeinschaft, zur Anthroposophie. 34/35 jährig löst sich aller persönlicher, jüdischer Umkreis aus Deinem Leben. Hinneigung Deiner jüdischen Ehegattin zu einem anderen Menschen, der aber ganz plötzlich, ohne ihr Wissen heiratet, Du bewahrst sie vor einem weiteren Selbstmordversuch, und dann ihre Verbindung zu einem recht zweifelhaften Menschen, von dem sie plötzlich ein Kind unter dem Herzen trug, lässt Dich endlich, mit ihrem Einverständnis diese Ehe lösen.

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1930, Du warst 34 jährig, trat ich in deinen Lebensumkreis ein. 1931 kamen wir uns so nahe, dass du die Frage an mich richtest, ob ich gewillt sei, einmal, wenn mein beruflicher Lebensweg abgeschlossen sei, deine Frau zu werden. Wie du sagtest, sei Lichtes mit mir in Deinen Umkreis eingetreten. Du begannst damals alle germanische Literatur: Edda - Spiele, Siegfried, Baldur, Parzival - Gralswege zu gestalten, seien es als Laien - Spiele oder Deine eigenen Dramen „Kondwiramur“. Auch das Spiel "Sankt Bride“ wurde gedichtet und uraufgeführt in der Berliner Christengemeinschaft, damals noch in der Albrechts Straße, später in der Potsdamer Straße im Zentrum Berlins. Die Albrecht Straße liegt beim Bahnhof Friedrich Straße, jetzt alles DDR. 1937, du warst einundvierzigjährig, ich fünfundzwanzigjährig, heirateten wir. Michael – Johannes, unser Sohn wurde 1939 geboren, unser Rudolf - Sohn 1941. Du machtest Inszenierungen an vielerlei Orten und freiberuflich, abends. Für deine Familie standest Du im Broterwerb durch gute Freunde, Herrn Lemke, in dessen Feinpappen - Fabrik feinste Prozentualberechnungen für die Preise auskalkulierend. Kam Dir da Dein Volontär - sein bei Der "Deutschen Verkehrsbank" in Berlin zu Hilfe? Was aber hast Du an Werken geschrieben, wie ging da, bei allem äußeren Tun, Hilfestellung für alle Künstler, Dein eigener SchaffensWeg entwicklungsmäßig weiter? -

Siehe Werk Aufstellung ! –

Um 1943/ 44 wieder in den Krieg. Dieses Mal als Ausbilder: "Flugzeugerkennungsdienstausbildungslehrer"! 1945 am neuntem August ankommend, entlassen aus der Gefangenschaft,“Belumer Schanze“ bei Cuxhaven warst Du, standest Du in Godenstedt bei Zeven, eine Autostunde entfernt von Worpswede, bei Bremen, früh zwischen 4:00 und 5:00 Uhr auf der Landstraße. Ich kam von der Weide, vom Kühe melken, saß auf dem Kutschbock. Sprang von da herunter, Dir entgegen! Ein neuer Lebensabschnitt, wieder ganz im Künstlerischen verankert, begann. 278

28.März 1975 Kar-Freitag

Dornach

Ilse Heymann

Liebe Hiltrud, lieber Rudolf! Gestern schon, 26. März war dein Brief mit Hiltruds Namenszug, euren guten Wünschen und lieben Worten, im Goetheanum Brief - Ständer. Emil machte mich darauf aufmerksam. Hätte er das nicht getan, hätte ich ihn vielleicht nicht so bald gefunden, denn er stand ganz rechts, nach dem Mittelstreben ich suchte immer links, gleich neben dem großen H. ich freute mich und hob ihn auf bis zum Donnerstag, früh 6:00 Uhr. Da erwachte ich und dachte, wie tief angerührt an meine Mutter, deren Todestag ja 27. März ist. Als sie mich, vor meinem 18. Lebensjahr verließ, um sich in Berlin - wir wohnten ja in Gera, in Thüringen - der schweren Gallenoperation zu unterziehen, nähte sie noch am Vorabend ihrer Abreise an einem hellblauen Unterkleid für mich, hatte es zum Teil schon mit Spitzen verziert, etwas, das man sich damals, wir uns, nicht hätte kaufen können. Ahnte sie, dass sie zu meinem Geburtstag nicht zurück sein würde, wollte sie es noch fertig machen, - was nicht mehr gelang?! – Ich weiß, dass mein Lebensweg ihr damals Sorgen machte, war ich doch erst Schulentlassen und freiwillig in ein Lebensmittel - Handlungs - Büro gegangen, um Stenografie und Schreibmaschine zu erlernen, weil mein Vater gesagt hatte: "du darfst keinen künstlerischen Weg einschlagen, ehe du nicht einen Brot - Erwerbs - Beruf hast, der dich immer „über Wasser halten kann“. - - Zur Kremationsfeier meiner Mutter kam Johannes Heymann Mathwich, weil Ingeborg Heldberg - Wollmann, die Schwester meiner Mutter, damals in seiner Neueinstudierung seines Dramas: “Enthauptung des Johannes“ die Darstellung der “Herodias“ übernommen hatte. Dort gab ich ------- meinem zukünftigen Manne ------- zum ersten Mal die Hand und er führte mich hin zur Christengemeinschaft, zur Anthroposophie und Mitgliedschaft

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und so zu vielen Malen auch nach Dornach. 1975, zum dreiundsechzigsten Lebensjahr, gedenke ich hier des Todestages meiner Mutter, der sie mir den Weg nach Berlin wie's - zur Schwester Ingetante - Sprachgestaltung Vater und zur “Gretchen – Darstellung“, 1932 am 26. März, Goethes hundertstem Todestag, in der Aula Kochstraße in Berlin, da, wo gegenüber das Goldwarengeschäft des Großvaters Barth noch - nun in andern Händen – bestand. Dann folgte die Darstellung der “Magdalena“ in Johannes - Vaters Werk: „ Die Auferweckung des Lazarus“. Ingetante spielte die „Martha“. Die “Bride“ im Bridespiel, Vater als „Cathal“. Dann ermutigte mich Vater zum Gesangsstudium, half mir die Wege finden. Hielt „Wache“auf der Straße vor der "Deutschen Überseeischen Bank" in Berlin, wo ich zitternden - klopfenden Herzens den nur Nenn - Onkel Bankdirektor Walter Graemer aufsuchte, ob er mir die Aufnahme - Prüfungs - Summe geben könne ? ? ? - - - Und alles gelang. Nach zweieinhalb Jahren Studium auf der Akademischen Hochschule für Musik, Berlin - Charlottenburg, Fasanenstraße 1, Theater -Engagement, Verlobung am 27.3.1936 und Eheschließung 1937 und Michaels Kommens - Ankündigung 1938, Geburt 30.5.1939 - volle Lebenserfüllung über Erwarten gut und schön! – Und dann Dornach, Konzert hier 1961. Johannes Vaters Uraufführung: “Stunde der Drusilla“ , 1962. Als ich am Sonnabend, den 22. März, hier, im schönen Zimmer, wieder bei der lieben 78 jährigen Frau Haller, bei ihr wohnte in Studienjahren Dora Gutbrod, angekommen war, bewegte mich alles was Johannes - Vater, Michael, du - Rudolf, ich, wir in Dornach erlebt haben. Als ich Johannes in Berlin begegnet war, wir 1930 schon wussten, dass wir uns „gut“ seien, wurde es Johannes ermöglicht, 38 jährig, hierher nach Dornach zu fahren. Es war das Jahr an dem alle vier Mysteriendramen in einem Zyklus gegeben wurden. 280

Johannes - Vater, der nach besonderen Schicksals Gegebenheiten das Eisenacher Theater, an dem er zuletzt Oberregisseur war und wo man ihm den Intendanten - Posten angeboten hatte, verließ, war von Lic. Emil Bock sozusagen nach Dornach beordert worden, so wörtlich Lic. Emil Bock zum Vater Johannes: “Das sie dann nicht sagen, wir, die Priesterschaft, hätten sie ihnen, Marie Steiner und der Künstlerschaft, weggeschnappt!" – Denn Johannes - Vater wollte den Weg des Priesters gehen, mit voller Bejahung von Lic. Emil Bock, welcher Johannes Vater schon in Eisenach kennen lernte - . Wie der Weg anders verlief, sei hier jetzt nicht erwähnt - doch folgendes: fast mittellos, auf Askese eingestellt, fuhr Johannes hierher. Er lebte auf einem Dachboden, der nur über eine “Hühnerleiter“ zu erreichen war. In der Luke sitzend, mit nach draußen, auf der Sprossenleiter sich stützenden Füßen nahm Johannes sein Frühstück ein. Ein halber Liter Milch pro Tag, morgens noch frisch, abends dick und trockene Brötchen. Wie erfüllt sich sein Wunsch: “Einmal in Speisehaus Essen und dort Gespräche führen zu können?" Seine Schweizer Franken wurden so knapp, dass er dachte, so peinlich ihm das auch war, dass er irgendjemanden um einige Schweizer Franken bitten müsste. Am Morgen, auf dem Weg zum Goetheanum hinauf läuft Herr Rissmann vor ihm, einer aus dem Berliner Spieler Kreis, den Johannes leitete, als bereits tätiges Mitglied für die "Gemeinde - Arbeit", Johannes möchte ihn ansprechen, da hält man ihn auf, spricht ihn an und während Johannes etwas verzweifelt denkt: “Nun verliere ich Herrn Rissman aus den Augen“ - - - !, geben ihm zwei Damen, denen Johannes sein Werk “Die Enthauptung des Johannes“ zum Lesen gegeben hatten, ihm das Maschinengeschriebene Spiel zurück und äußerten sich begeistert darüber - - - aber Herr Rissmann war nicht mehr zu sehen. Dann fühlt sich das Manuskript so dick an - - und Johannes findet darinnen eine Tafelschokolade und 50 Schweizer Franken. „Wunder der Fügung“. So ging er beglückt, am letzten Tage seines Hier seins im Jahre 1934, 38 jährig, ein erstes und einziges Mal ins 281

Speisehaus Essen und sah "die Großen" und hatte ein intensives Gespräch, das ihn freute. Und hatte Geld zur Rückfahrt. Von hier sandte mir Johannes das Bild „Wir fanden einen Pfad", dass ich aus Berlin mitnahm, rettete! – 1961, lernte Johannes Professor von Baltz kennen, als er für Herrn Karl Robert Wilhelm einen Konzertabend festmachen konnte in dem ich Kompositionen, Lieder von Herrn Wilhelm sang. Dabei erlebten sich Herr Professor von Baltz und Johannes so herrlich gleich gestimmt in Ihren künstlerischen Ideen, Sein und Denken, dass Herr Professor von Baltz Johannes - Vater am liebsten nach Dornach geholt hätte - als Regisseur und Theater - Fachmann! Es ergab sich, dass dieses Kennen lernen nach sich zog die Uraufführung von Johannes erstem Werk aus der Trilogie “Sie erlebten Paulus“, „Die Stunde der Drusilla“, 1962, hier in Dornach im Grundsteinsaal Sohn Michael - Erlebnisse hier, litt ich nach und dachte an Deine Suche nach einem Zimmer in Dornach und hier gewolltem Studium und wie es anders kam! - - - Und ich durfte nun hier, gestern am 27. März, meinen Geburtstag im Speisehaus feiern und bewirtet mit Kaffee und Kuchen, welch ein Gegensatz zu Johannes Darben. 1930. Marta und Emil Hauf, Frau Brauer, meine liebe Frau Wirtin Haller und Frau Öhmchen, die Eurythmistin, bei der Gudrun und ich in Ludwigsburg waren. - - Am 26.hatte ich die Begegnung mit Helmut Anders, aus dem Berliner Spielerkreis 1930 bis 1936 bekannt. Wir tauschten Erinnerungen aus viele, viele und gedachten derer die alle schon die Todesschwelle überschritten haben: Seine Frau Inge, Johannes, Michael, Dr. Voss, (zweiter Faust) und Elli Voss, Dr. Vermehren (Faust), Heinz Bittermann(Parzival), Herr Rissmann und sein Freund Manholt und viele, viele mehr. Und heute ich im Speisehaus: Junior Klaus Tetzlaff im großen Kreise seiner Familie. 282

Doch davon morgen, es ist jetzt nach 23:00 Uhr. Die Aufführung des „Barabas“ von Steffen war gegen ½ 20 Uhr zu Ende und Gudrun und ich trennten uns. Ich wollte noch im Speisehaus ein Müsli essen, da treffe ich Herrn Tetzlaff Jun. Du erinnerst dich an ihn, Rudolf? Gute Nacht für heute. 30.3.1975 gegen 15:00 Uhr Inzwischen wurde es Ostern und heute, 30.3. nachher Gedenkfeier für Dr. Rudolf Steiner. Als ich am 23.März in der ersten Pause im Vorraum unten sitze, spricht mich ein Herr Nissen aus Stuttgart an, denn ich setzte mich an diesen Tisch zum KaffeeTrinken: „Sie und ihren Mann habe ich vom Rudolf Steiner Haus mal hinunter zum Bahnhof gefahren" ich „ Sie kennen meinen Mann?“, “Ja“ Gleich war Johannes sozusagen mit mir, neben mir! Gudrun geht von meiner Seite weg in ihr Quartier, es setzten sich neben mich Herr und Frau Gildemeister, früher Bremen. Diese sahen unser „Pilatus Drama“in „Merklohe“ bei Nienburg in der herrlichen Kirche mit Deckenmalerei. “Sie waren die „Luzifera“, später erst nannte Vater sie „Claudia Prokla“. „Wir sagten uns, das müssen doch Anthroposophen sein, wagten aber nicht, sie hinterher an zu sprechen!", „ Oh“, antwortete ich, „Wie hätten wir uns aber gefreut, wenn Sie uns angesprochen hätten!" – Dann sitze ich im großen Saal, neben mir der Generalsekretär der dänischen Landesgesellschaft. Immer wieder kommen wir ins Gespräch, erzähle ihm vom Konzert, vom Vater und seiner Uraufführung der „Drusilla“ im Grundsteinsaal. Alle Werke soll ich ihm senden, man könne sie dann ins Dänische übersetzen!!! --- Bei Frau Haller haben zwei vorher Angemeldete abgesagt, und ich kann wieder zu ihr, was doch mein Wunsch war. So wirkt Vater immer und überall mit, ich bin nicht allein! Innigst grüßt euch eure Is – Omi – Mutter. Frau Gutbrod gab ich die Hand, sie schwärmte von Swantje, und ich auch. 283

25. April 1975

im Gedenken an Johannes

Ilse Heymann: 1969 an den gleichen Wochentagen, wie in diesem Jahr 1975, hast du deine Schmerzenswoche, genau sieben Tage lang, angetreten, um den Schritt über die Schwelle, am Freitag den 25. April 1969, zu tun.

Sechs Jahre sind es her, als es Sonnabend, den 19 April - Tag gab. Seit vier Wochen lag ich im Krankenhaus, wieder einmal operiert, sollte innerhalb der nächstfolgenden Woche entlassen werden. Du hattest dich wiederum solange allein verpflegen müssen. Nun warst Du an diesem Sonnabend zu Tisch zu unserer Freundin Frau Gudrun Brauer eingeladen, weil sie Dir angeboten hatte, Dich dann nach Stuttgart zur Besuchszeit für mich, im Auto mitzunehmen. Wie mundete Dir da bei Gudrun das Mittagsmahl! Immer wieder drängtest Du Frau Brauer: "Wir dürfen keine Minute zu spät kommen, bitte!" “ Ja, ich fahre so schnell als ich kann, wir schaffen es, Herr Heymann!“. Und so war es auch. In all den vier Wochen hattest Du, Johannes, wenn es auf Dich allein ankam, Dich niemals verspätet. Wir beide winkten uns schon immer vorher durch die Glastür freudig - glücklich – selig zu. Ja, so war es. Frau Brauer verspätete sich mit ihrem Wiederkommen und Dich Abholen und so waren wir im Besuchsraum, von dem aus man die Straße überschauen konnte, über eine weitere Stunde, allein im großen Raum, beisammen. Dann stand der Wagen unten, Frau Brauer winkte und du eiltest hinunter. Niemals vergesse ich, wie du hinter dem Auto standest und mir zuwinktest, ehe du eingestiegen bist. Es war ein so freudiges Winken, wie spürte ich das, sollte ich doch bald zu dir nach Hause zurückkehren. Der Sonntag verging ein wenig in halbem Schlafzustand, doch auch in angeregtem Gespräch mit meiner Zimmernachbarin, welcher ich den "Gedenkbericht für Michael“ - Michael - Johannes - Sohn - er starb am 12. März.1968, gegeben hatte, woran sich Fragen ergaben. Am Montag früh, 9:00 Uhr, steht plötzlich Marta Hauf im Krankenzimmer, sie, unsere Freundin, welche uns in ihr 284

wunderschönes Haus, in die Wohnung des ersten Stock, einziehen ließ, um mir zu sagen, dass Johannes, Du, im Krankenhaus von Ludwigsburg sein müsstest. Ich fragte nichts, war doch die Grundahnung von tiefernst Kommendem sogleich in der Seele da. Emil Hauf, unten im Auto wartend,( ich war sogleich von den Ärzten aus dem Krankenhaus entlassen worden), fuhr mich in das Deinige, nach Ludwigsburg, Johannes! Da lagst Du in einem kleinen Zimmer, das höchstens für zwei Betten bestimmt war, hereingeschoben dazu im dritten Bett. Meine Worte: "Johannes, was machst du, wie geht es dir, bedenke, was wir für die Zukunft noch planten, Almuth Rudolph und Sophia Timm sollten die doch die beiden Marien darstellen?" Johannes, Dein vorletztes Werk. Du antwortetest: "Ach, das ist doch jetzt alles illusorisch". Im weiteren Fragen von mir kam die Antwort: "An ETWAS muss der Mensch doch sterben“. Da wusste ich, dass Du Dich anschicktest die Todesschwelle zu überschreiten. Dieser Satz wird mir nun im Laufe der Zeit ein wundervolles Vermächtnis: an Etwas muss der Mensch doch sterben. Welche Gelassenheit, welche Einsicht, welcher Gleichmut, wie vorbereitet warst Du schon innerlich auf diesen kommenden Schritt. Mir geht es nun so, wenn Altersschmerzen, auch schon bei mir, auftreten, gibt es gar kein Lamento, ich höre immer den unerhört tröstlichen Satz von dir: "An Etwas muss der Mensch doch sterben!" Danke, Du mein Lebensgefährte, für diese Worte! In diesem Augenblick, wo ich das hinschreibe, erschütterte die Wohnungsstubentür als hätte man einen Ball dagegen geworfen und das gleiche genau ein zweites Mal. Ich gehe verwundert auf den Flur, denke, welche Türen und Fenster sind denn offen. Keine Tür und kein einziges Fenster. Das war und ist auch kein Flugzeug in der Luft zu hören, von denen die Durchbrechung der Schallmauer und damit das Dröhnen an der Tür hätte ausgehen können. Es hat auch keine Fensterscheibe gezittert, wie sonst immer dabei. Da ich im ganzen Haus alleine bin, kann auch unten bei Hauf’s keine Tür zugeflogen sein. 285

Es geschah dasselbe gerade eben ja auch zweimal hintereinander, fügte mir weder einen Schrecken noch Angst zu, nur großes Verwundern und Staunen, denn solch ein Geräusch innerhalb meiner Wohnung habe ich noch niemals wahrgenommen. - lassen wir es ganz dahingestellt sein! - Eben sprang ich die Treppe hinunter in Hauf’s Wohnung, nachzusehen, ob da irgendein Schräggestelltes Fenster, eine Tür zu geflogen ist. Auch da nichts dergleichen. - - Hiltrud und Rudolf kamen, Rudolf war schon da, seit dem Dienstag, 22. April, am Sonnabendmorgen schon traf sich unser Zweig und Astrid Haueisen und Herr Türck im "Schauraum", so heißt dieser Raum, tief unten - wie in Katakomben, wir suchten sehr lange mit dem führenden Krankenpfleger den Raum, eilten tief unter der Erde, unter dem Krankenhaus, wie in einem Labyrinth suchend, umher, bis wir ihn endlich fanden. Wir gedachten Deiner Johannes! Ergreifende Ereignisse: Wie bei Michael - Johannes, Deinem Sohn Michael, so auch bei Dir, Johannes, kam Herr von Wistinghausen genau zur rechten Zeit noch an. Michaels TodesStunde war uns vom Krankenhaus, Bürgerhospital, nicht vorher angekündigt worden und die Deinige ging so schnell vonstatten. Herr von Wistinghausen war d a ! Du hattest mehrere Male geflüstert, fast unverständlich: "Priester, Priester". Als Herr von Wistinghausen eintraf richtig rief ich es dir, wie freudig, mit heller Stimme zu: "Herr von Wistinghausen ist da“. Genau wie Michael - Johannes schlossest auch Du während der feierlichen Handlung des Sakramente der "Letzten Ölung" die Augen. Du ganz bewusst und schlossest selber ganz willensvoll deinen Mund trotz des dicken Schlauches den man Dir eingegeben hatte. Herr von Wistinghausen sagte, als die Feier zu Ende war, bei der du bewusst über die Schwelle gegangen warst: "Er ist eine ganz große Persönlichkeit". Ein erschütternder Anblick war es, als ich sah, dass die Tropfflasche, an die Du angeschlossenen warst, künstliche Ernährung,

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noch immer in Dich hineintropfte, in Deine Adern, durch die Zuführungsnadel, obgleich Du Deinen physischen Leib bereits verlassen hattest. Wir mussten den Raum für kurze Zeit verlassen, Ärzte und Schwestern kamen, den Tod bestätigend, Dich versorgend, die Flaschen lösend. Dann durften wir nochmals hinein und nahmen nun bewusst Abschied von Dir. Die Schwester sagte zu mir auf dem Flur vorher: "Frau Heymann, ich denke es ist auch in ihrem Sinne, dass ihr Mann schon heute gestorben ist. Wir haben heute solche Mittel, dass wir das Leben noch für 14 Tage hätten verlängern können, aber ich hatte den Eindruck, dass ihr Mann das nicht hätte wollen“. Ich bestätigte ihr, was sie sagte und musste denken, dass mit einem so dicken Schlauch im Munde diese 14 Tage ja nur eine verlängerte Qual gewesen wären. “Niemals hätte mein Mann das gewünscht noch gewollt“, antwortete ich der liebenswerten Schwester. Dann übergab sie mir auf dem Flur alles, was Johannes gehörte. Seit dem Montag Deiner Einlieferung in das Krankenhaus hattest Du mich um deine Uhr gebeten, Johannes. Ach, wie wäre sie Dir ein Helfer gewesen in den qualvollen, langen Tages- und Nachtstunden. - Ich fand sie nicht, durchsuchte alle Deine Taschen im Anzug im Bademantel, suchte im Nachttisch. Am Donnerstag hatten Rudolf und ich für Dich eine neue Uhr gekauft. Als nun die Schwester mir Deine Sachen übergibt, fällt etwas auf den Boden. Es war die Deine, so sehr gewünschten und von mir gesuchte Uhr. Das Glas war zersprungen. - Wir haben Dir daheim die Kerzen angezündet und Dir Gedenkfeierworte zugesprochen. Hiltrud betreute ganz und gar den Haushalt, war so fein in ihrer Haltung, Rudolf und ich schrieben die Anschriften, dann wir alle drei. Als Hiltrud und Rudolf einen kleinen Spaziergang machten und ich im Sinnen dachte, wie wird nun alles finanziell werden, es war vorrätiges Geld nicht da, klingelte der Postbote und übergibt mir vom Todesjahr unseres Michael - Johannes, 1968, 900DM Steuerrückzahlung. Noch niemals hattest Du die Steueraufstellung so früh fertig gemacht, in keinem Jahr, Johannes. Was hatte Dich veranlasst, dass Du sie dieses Mal so gründlich, schon Anfang 287

April 1969 eingereicht hattest, so dass diese, für uns hohe Rückzahlung schon am Vormittag des 29.4.1969, 4 Tagen nach deinem Hinübergehen bei mir eintraf ? ? ? - - Astrid Haueisen und Herr Türck haben die Totenmaske abgenommen. Es war ein erstes Mal, dass diese beiden Bildhauer das taten. Das WIE dabei, schilderte mir Astrid später. So war es denn geschehen, dass sie nicht wussten, dass dabei das Haupt des Toten ganz gerade liegen muss. Du hattest, im Schauraum sichtbar, dein Haupt seitlich geneigt. Die große Gipsglocke, die über das Todeshaupt gelegt werden muss, hatte darum, durch ihr Gewicht, Deine Nase leider zur Seite gedrückt, so, als hättest Du in Deinem Antlitz eine schiefe Nase gehabt. Astrid regulierte dieses auf meine Bitte hin dann später für mich und Rudolf, indem sie nochmals einen Plastelinabzug von der Bronze - Maske machte und im weichen Material die Nase gerade bog. Danke, Astrid! So hängt bei mir nicht die Bronzeplastik in Raum, sondern der zweite Gipsabdruck. Unendlich viele, - wie geführte Begebenheiten - hier anzureihen, würde dieses Bedenken Deiner Todeswoche gleichen Datums der Tage, zu sehr verlängern. Tagebuchmäßig hielt ich sie alle fest. Als Rudolf kürzlich in deinem Bett schlief, Johannes, dachte ich, warum sollte ich nicht Deinen Raum beziehen, zu den Nachtstunden. Ich tat es und wachte am Morgen, gegen 5:00 Uhr auf, noch nicht im hellen Tagesdenken: "Geist, alles ist aus dem Geistigen geworden". Ja, natürlich hat man diese Gedanken im Tagesbewusstsein vorherig schon bewegt und gehabt, aber ich war doch glücklich, dass sie mir in Deinen Raum, frühmorgens im Aufwachen entgegen tönten. Am Pfingstmorgen erwachte ich gegen ½ 5 Uhr, da hörte ich im Halbschlaf die Worte: "Seid umschlungen Millionen “. In keiner Weise hatte ich sie vorher gedacht, noch in Beethovens Musik gehört. Sie waren an dem Pfingstfest da, das in höchster Weise das Fest der Brüderlichkeit ist. "Ausgießung des Heiligen Geistes". -- -

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Wie doch Ahnungen in der Seele auftauchen. Als Johannes mich nach dem letzten Krankenhaus - Besuch verließ, sagte ich noch zu ihm: "Wenn ihr die Bismarckstraße hinunterfahrt, dann schaut zur rechten Seite hin, dort hängt in einem Glaskasten ein wunderschönes Foto von Dr. Bopp. Er war unser aller Arzt in Stuttgart gewesen und ein halbes Jahr vor Johannes in die geistige Welt hinübergegangen. In dem Augenblick, als ich das zu Johannes sagte, denke ich im Innersten: "Oh, Dr. Bopp wird mir meinen Johannes doch nicht nachholen?" - Dr. Bopp und Johannes hatten intensive Gespräche über anthroposophische Lebenserfahrungen, sie waren sich gut, achteten einander hoch. War es eine Vorahnung von Kommendem? - - - Dr. Bopp hat unter anderen ein Schauspiel "Die Grenze“ geschrieben. Das hatte ich im Krankenhaus, der Carl- Unger - Klinik gelesen, als ich dort einmal drei Wochen lang lag. Von dieser „Grenze“ und dem Bewusstsein „Hin und Her“ wusste Dr. Bopp, wusste Johannes. Daher die starken Beziehungen der beiden Persönlichkeiten zueinander. Du, Rudolf, hattest mir zur “ Schmerzenswoche “ von Johannes, in diesem Jahr 1975 geschrieben. ---

Ja, du kamst am Dienstag an, 1969, dann waren wir zusammen am

Mittwoch bei Johannes - Vater. Da hatte Johannes schon Lungenentzündung bekommen und hohes Fieber. In der vorhergehenden Nacht, angeschlossen an die Ernährungsflaschen und Blutübertragungsflaschen, nach einem Speiseröhren - Leber riss(?)-, war er mit allen Flaschen in der Nacht umgestürzt, als er im Fieberwahn aus dem Bett heraus wollte. Die beiden Männer in seinem Zimmer erzählten uns das. Darum war Johannes - Vater an Händen und Füßen festgebunden und wünschte dauernd von uns, dass wir ihn los machen sollten. Er, dieser königliche freie Geist, diese souveräne Persönlichkeit musste erleben, dass ihre Freiheit beschnitten wurde - - und wir konnten und durften ihm nicht helfen! Am Donnerstag darauf dann die wundervolle Klarheit, als er zur Besuchszeit Herrn von Wistinghausen alle Vorgänge seines Krankseins erzählte. 289

Das Fieber und die Lungenentzündung und die Blutungen hatte man zum Stillstand gebracht, mit unserem heutigen "falschen Wundermitteln!!!?“ - in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag wurden wir um 2:00 Uhr in die Klinik gerufen. Dachte man, dass Johannes schon in dieser Nacht hinübergehen würde oder wusste man, dass die Operation am nächsten Tage so tief ernst sei ? - Gewiss! Ja, in der Nacht scherzte Johannes noch: "nun bekomme ich Blut von einem jungen siebzehnjährigen Mädchen“.

(Ilse und Johannes Heymann auf den Cannstatter- Wasen 1965)

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8.01.82 Liselotte Wiedemann

28 Bremen 1 Kasseler Strasse 7

Lieber Rudolf, Ihr Brief war eine Überraschung - vielen Dank. Sicherlich werden Sie Ihre Mutter mit Ihrem Plan sehr erfreuen. Ich halte - wie man so sagt – alle Daumen, dass ihr Vorhaben gelingt. Wie mag es Ihnen und Ihrer Familie gehen? Swantje - Michaela wird nun im kommenden Sommer schon 10 Jahre-. Vor circa vier Jahren wollte ich Ihnen einen Zeitungsnotiz schicken, aber sie erreichte Sie nicht - sehen Sie anbei. Ich hatte den Brief immer noch auf meinem Schreibtisch liegen. Vielleicht haben Sie gehört, dass Elke ebenfalls vor einem Jahr verstorben ist - das ist schon ein seltsames Schicksal. Mir geht es verhältnismäßig, gemessen an meinem Alter von 71 Jahren, recht gut. Zu meiner Freude habe ich immer noch Arbeit als Arztsekretärin zur Aufbesserung meiner Finanzen, allerdings nur sechs Stunden täglich. Es ist liebt, dass Sie Arends gedenken. Für mich sind meine Beiden natürlich unvergessen; ich bin dankbar, dass ich sie ein Stück Weges habe geleiten können -, und es war auch schön, dass ich eine kleine Strecke drei Kinder hatte; das war 1947. Ihnen und Ihrer Familie meine besten Wünsche. Für heute viele Grüße, auch an Ihre Frau, Liselotte Wiedemann.

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Mimi Schlesselmann

Godenstedt 1a ,den 9. 03. 1982 2730 Seedorf

Lieber Rudolf, Deinen lieben Brief habe ich bereits vor langen Wochen bekommen und komme erst heute dazu, Dir herzlich zu danken. Was Du für Mutters Geburtstag vorhast, ja, das ist großartig - sie wird sich freuen. Eins von den Werken deines lieben Vaters kenne ich auch - ich besitze es sogar “ Die Frage des Pilatus ". Dieses Stück wurde hier bei uns damals 1946 aufgeführt, vielleicht war es die Uraufführung. Ach, wie lange ist das her. Mit der Zusammenfassung aller Werke wirst Du Deiner Mutter das schönste Geschenk übergeben am 27.3. Lieber Rudolf, ich werde Dir mit diesem Schreiben einen kleinen Beitrag mitschicken, Du magst ihn zur Mitfinanzierung verwenden und ich überreiche gleichzeitig mein Geburtstagsgeschenk für Deine von mir hoch verehrte und geliebte Mutter Ilse Heymann, leider kann ich für Eure Schule nicht mit einer Spende dienen - leider, verzeih bitte. Nun sei herzlich gegrüßt von Deiner Mimi Schlesselmann, Gruß auch an Deine Familie.

50. Hochzeitstag

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12.03.1982

Berta Duhs

Eyke von Repkowplatz 2 1000 Berlin 21

Lieber Rudolf Heymann, für die Mitteilung von 25.1.82 über die Herausgabe der schriftstellerischen Arbeiten von Johannes Heymann Mathwich, die auf die Büchertische der Christengemeinschaft zum 27. März, dem Geburtstag von Ilse Heymann ,dem70. kommen werden, bin ich von Herzen froh. Wenn ich auch nur in einer stillen Verbindung seit der ersten Begegnung mit Johannes und Ilse geblieben bin, den Verhältnissen entsprechend, ist diese eine sehr innige und wird es bleiben. So habe ich vieles erfahren, auch persönliches Schicksal. Ich weiß, dass Lic. Bock und der Dichter Albert Steffen Joh. Heymann Mathwich begleitet und bestätigt haben in seinem künstlerischen Schaffen. Viele bedeutsame Gespräche hat es gegeben während der Zeit des gemeinsamen miteinander Lebens in dem Haus in Wildau (jetzt Ostzone) in der schlimmen Zeit. – Gern möchte ich mich als Einzelperson mit einem kleinen Betrag beteiligen an dieser Aufgabe der Herausgabe. Als sozial Betreute vermag ich es nicht. Nun hatte ich in jüngster Zeit ein Telefongespräch mit Winfried Mierau, einen gemeinsamen Freund. Er tröstete mich und sagte: „das tu ich für dich!“ Ich hoffe, es ist geschehen. Ich habe von Johannes Heymann Mathwich drei Exemplare von: die Frage des Pilatus, einmal als Lese - und zweimal als Bühnenwerk, Schauspiel in drei Stufen, als Geschenk von Johannes Heymann erhalten! Auch ein Heft: ein Vorwort aus der Broschüre: christliche Dramatik, von der Arbeit der Heymann Mathwich Bühne, in der Kriegszeit. Ich nehme an, dass das Buch, die „Frage des Pilatus“ zu Ostern Beachtung finden wird. – Nun möchte ich noch bemerken, dass die Verbindung mit Johannes und Ilse Heymann uns diese überragende Menschen - Gemeinschaft erleben ließen, innerhalb von etwa fünf Jahren; durch diese beiden Menschen: er als Künstler, Ilse als verstehende Mitarbeiterin, ergriffen wir den Impuls intensiv zu versuchen, Goethes Faust und Parzival durch Studium und laienhafte Darstellung zu entschlüsseln. Eine Fülle von Geheimnissen wurde Offenbarung! Herzlich dankend Grüßt Berta Duhs 293

24.10.1985 Erinnerungen – Gedenkbericht – Die Kindheit

Ilse Heymann geb. Barth Kornwestheim am 24/25.10.1985

Lieber Rudolf ! Zur Lehrertagung in Stuttgart warst du bei mir, um in meiner Wohnung zu übernachten, während ich in den Gasthof “Stuttgarter Hof“ zum Schlafen ging. Beim gemeinsamen Frühstück, morgens, nach 7:00 Uhr, ich kam herüber, oder es war zum Mittagessen, erzählte ich Dir von der “Michael –Tagung“ in Stuttgart und, dass ich bei Frau Ita Bay und Herrn Kuoppamäki die Gruppenarbeit mitgemacht hatte: „Das Kind im Evangelium“, Die Arbeit begann mit der Aufforderung, es möge doch jeder Anwesende sein allererstes Kindheitserlebnis, an dass er sich erinnere, erzählen. Das meinige war so: Die Eltern lebten damals in Wuppertal – Elberfeld/Barmen. Wieso, weiß ich nicht. Vater soll ja volle vier Jahre im Krieg gewesen sein, als Ausbilder, (wo für?), er erzählte dankbar, dass er niemals auf einen Menschen hat schießen müssen. Meine gesamte Verwandtschaft waren Berliner, ich aber 1912 in Osnabrück geboren, weil Vater, als Opernsänger da am Nationaltheater Osnabrück, als Bariton mit Bassbuffofach, engagiert war. Ich muss in Wuppertal – Elberfeld daher circa zwei oder drei Jahre alt gewesen sein. An den Vater dort erinnere ich mich nicht. Es war immer an dem Sonnabend, so wurde es mir berichtet, wenn der Hausputz war und die Eingangstür nach draußen offen stand, dass ich entwischte. An zwei Dinge erinnere ich mich, einmal, dass ich zwischen zwei großen Räumen, einer großen Tür auf einer Schaukel hin – und – her schwang. (Angestoßen doch sicher, von wem?). Ein zweites Mal war ich einen ganzen Tag lang verschwunden, meine Mutter erhielt erst abends, nach 22:00 Uhr Gewissheit, dass ich gefunden worden sei. Der Wachmann hatte immer wieder gesagt: “Bis Elberfeld kann doch kein so kleines Kind laufen!“ 294

Endlich rief er abends dort an: „ Ja, ich war auf einer Brücke entdeckt worden, mit zwei blonden Zöpfen mit roten Schleifen, eine davon sei verloren“. Meine Erinnerung: „ Ich liege in einem Bettchen, neben mir ein kleiner Junge, es riecht merkwürdig, (wahrscheinlich nach Pie), und dann über mir das Angesicht meiner Mutter. Du amüsiertest Dich, Rudolf, und hast mich gebeten mehr zu berichten und zu schreiben. Das tue ich nun. Du sagtest: „Schreibe doch mal eure Hochzeit und die merkwürdige Hochzeitsnacht auf“. Ja, das wird Folgen.

Karl Heinz Barth (1911) Vater von Ilse Heymann geb. Barth

Doch mir fiel noch etwas zu Wuppertal ein. Ich sehe mich vor dem Sofa liegen, aus Leibeskräften schreiend, tief gekränkt, zutiefst beleidigt, untröstlich. Irgendwer hatte mir einen Befehl gegeben. Hatte ich ihn nicht ausgeführt! Es hatte mit vielen Sofakissen zu tun. Kam nun eine Mahnung so, dass ich mich zutiefst unverstanden fühlte? Dieses sich verletzt fühlen muss geradezu zu Wutanfällen geführt haben, man sagt zum: “Trotz“. Ich weiß nur, dass ich mich „unverstanden fühlte“ und damit ein Weh, das kaum zu beschreiben ist. Und 295

das kam wohl immer wieder vor. Wir Kinder waren ja auch viel fremden Hilfskräften ausgeliefert, das war früher so üblich, dass eine Frau mit drei Kindern eine Hilfskraft haben musste, besonders weil meine Mutter ja Konzertsängerin war. Wo war Vater als wir in Wuppertal waren? Gewiss schon 1914 als Soldat eingezogen, denn es wurde immer gesagt, dass er alle vier Kriegsjahre hat Soldat sein müssen. Er war ein guter Schütze und dadurch “Ausbilder“ geworden. Er hat einen Schlüsselbeindurchschuss bekommen und war dadurch eine zeitlang bei seiner Familie. Wir lebten damals in Berlin, mit Mutter Wollmann –

Werner,

Mutter , Ilse,

Hans - Erich, Vater

Baumann, Tante Ingefrieda, unserem Mädchen Lisbeth Dobers in einer Zweizimmerwohnung, Küche, Bad, langem Flur, zusammen, mit meinen beiden Brüdern, Werner und Hans – Erich. Abends waren beide Räume “Schlafzimmer“ zu je drei Liegen. Lisbeth Dobers schlief auf einem Ausziehbett auf dem langen, sehr schmalen Flur. Es wurde abends erstellt, morgens zusammengeklappt, vom Flur entfernt. Kriegsgelder gab es nicht, so war 296

Mutterchen laufend unterwegs, um Gesangs – Klavierstunden, Englisch – Französisch Unterricht zu geben. Da Großmütterchen krank war, wir nur die zwei Stuben hatten, war Mutti viel außer Hause. Großmutter war die unermüdliche Märchenerzählerin. – Essenmarken wurden verteilt. Da meine Mutter sehr beliebt war unter den Kaufleuten, hob man alles was es auf Marken und mal extra gab, für unsere Familie auf, was Mutti abends stets abholen konnte. Wir waren tagsüber betreut durch die Hilfskraft Lisbeth Dobers und auch durch unsere innig geliebte Tante Inge, sie war ja die Schwester meiner Mutter. Sie war

Ilse Barth als Elisabeth

Opernsängerin, aber nicht immer im Engagement. Ich entsinne mich, sie später einmal als “Hänsel“ in Humperdincks Oper “Hänsel und Gretel“ gehört, gesehen zu haben. Sie war spielbegabt und so wurden von ihr für alle Feste “lebende Bilder“ erstellt. – Wir wohnten in Berlin – Neukölln, Niemetzstr. 3. Meiner Mutter Bruder wohnte nicht weit von uns, Richardt – Platz 1, in Neukölln. Er war Oberstudienrat, Professor an der Humboldt297

Universität für Studenten, ein großer, schöner Mensch, liebenswürdig – liebenswert, voller Güte. Unsere Tante Motte, seine Frau, hatte ein immer offenes Haus, für hungernde Studenten. Meine Cousinen waren Ingeborg, dann, einige Jahre jünger, Cousine Irmingard mit ihrem Zwillingsbruder Horst. So hatte unsere künstlerische Tante Inge mit diesen drei schönen Kindern, meinen beiden Brüdern und mir schon sechs Kinder zur Verfügung. Fehlten noch einige, wurden sie aus der Nachbarschaft hinzugeholt. – Früher musste man seine eigene Theatergarderobe stellen. So hatte Tante Inge einen reichen Fundus davon. Ja, Theaterfundus

Ilse Barth als Elisabeth im Tannhäuser von Richard Wagner

nannte man das. So erinnere ich mich, dass Tante unter vielen anderen das Märchenbild des Froschkönigs erstellte. Der Brunnen gelang wundervoll, Sträucher, Gebüsch rings um, auf dem Brunnenrand saß die bezaubernd – schöne Königstochter, Cousine mit dem langen 298

blonden Haar: Ingeborg. Der goldene Frosch war da, die goldene Kugel. Was mich am tiefsten beeindruckte, war dann auch eine Schlange, die Tante aus einem grünlich und schwarz gefleckten Tuch, mit Kopf aus Pappe, gebastelt hatte, eine rote lange, schmale Zunge züngelte aus ihrem Maul. Ich selber durfte einmal das Rotkäppchen sein, das entsetzt am Bett der Großmutter steht, im Bett aus Pelz geformt lag der Wolf. Ich hatte ein Körbchen mit Wein und Kuchen an dem einen Arm, vor Schreck den Daumen der anderen Hand am Mund, die Augen vor Entsetzen

Ilse Barth als Elisabeth im Tannhäuser von Richard Wagner

weit aufgerissen. Ich hörte zufällig hinterher folgendes: “Sie stand ja wie angewurzelt, völlig erstarrt, ganz Rotkäppchen“. Irgendwie blieb mir das Gesagte deutlich im Gedächtnis hängen. Eine künstlerisch – getränkte Kindheit. 299

Vater kam einmal zum Urlaub nachhause. War es durch die Verwundung der Schulter? Er nahm mich auf den Arm, er war für mich ein fremder Onkel. So habe ich, leider nie, eine ernste Tochter – Vater – Beziehung bekommen. Durch Muttis Gesangsschülerinnen, die auch zu uns kommen, denn ein Klavier war selbstverständlich da, (später erst recht, durch Vaters Üben, Mutters Unterrichten), war sehr viel Musik in unserem Hause. Meine Mutter, ausgebildet als Konzertsängerin bei Frau Prof. Schmalstich in Berlin, bei ihr studierte auch mein Vater, sie lernten sich im Studium kennen,

Ilse Barth als Elisabeth

waren Vater und Mutter sehr bekannt geworden, nach Ende des Krieges in Berlin, als Solo – und Duettsänger. Duette sangen auch immer wieder Tante Inge und Mutti, die Schwestern, in der Neuköllner Wohnung, meine Mutter begleiteten alles. In Wellen von Musik wuchs ich auf. 300

Sehr deutlich in Erinnerung ist mir Großmütterchens Bild auf der Totenbahre, die man ihr im Hause von Onkel Oscar und Mottetante bereitet hatte. Sie war aufgebahrt im Musikzimmer, indem ein großer Flügel stand, da wo „lebende Bilder“ erstellt wurden. Man konnte zum großen Essraum, mit Erker, mit großer eichener Anrichte, die Flügeltüren aufmachen. Auch zum Flur und zu Onkels Arbeitszimmer mit großer Bibliothek. Da im großen Mittelraum lag Großmutter stumm und still, weißen Angesichtes mit Blumen geschmückt. Mann stand und staunte, wusste noch nicht, was das bedeutete, weinte nicht.

Ilse Barth als Elisabeth

Der böse Rübenwinter in Berlin brach an. Brot aus Rüben, Kuchen aus Rüben. Was bekam man als Mehl, das es immer Klüter gab? So erlebte ich mit, dass mein Bruder Hans – Erich, der eigentlich ein sonniges Kind war, an so vielen Morgenden, vor dem Schulanfang,

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Wutanfälle bekam, weil er seine Suppe nicht essen wollte und doch sollte. Das ging dann soweit, dass man ihn in der Toilette einsperrte, wo er sich auf den Boden warf und mit den Füßen gegen die Toilettentür aus Leibeskräften trampelte. Wie oft wird er da zu spät zur Schule gekommen sein? – Später, als er Soldat war, im Zweiten Weltkrieg, seinen letzten Urlaub, ein paar Tage, in Berlin verbrachte, fragte ich ihn, warum er seine Suppe nie habe essen wollen, da sagte er: „Ja, mussten denn in der Suppe immer Klüter sein?“. Damals konnte er das wohl noch nicht fragen, als Sechs – oder Siebenjähriger? Ob das Kriegsmaterial

Ilse Barth als Iphigenie in Iphigenie in Aulis von Christoph Willibald Gluck

sich gar nicht sämig rühren ließ? Zwischen dem sechsten und siebenten Lebensjahr bin ich hingefallen, holte mir dabei ein großes Loch am linken Knie. So etwas heilt ja wieder, aber bei mir gab es mit dem Knie Komplikationen. Es schwoll übermäßig dick an. So geschah es, dass ich, (es war wohl drei bis

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viermal), immer wieder in das Neuköllner Krankenhaus zur Behandlung eingeliefert werden musste. Das erste Mal wurde, mit Narkose, das Knie punktiert, um das Wasser abzusaugen. Ein anderes Mal wurde mir ein Lichtbogen für das Knie angeordnet. Ich entsinne mich, dass es immer und immer wieder mit einer festen Gummibinde umwickelt wurde. Kam ich nach

Brüder Werner und Hans – Erich Barth

sieben, bis acht Wochen aus dem Krankenhaus heim, schien der Kummer behoben zu sein Aber die Schwellung kam immer wieder. Da legte man mir einen Gips an. So wurde ich morgens mit einem Leiterwagen zur Schule gefahren und ich schämte mich schrecklich: “Die Menschen denken, ich könnte noch nicht laufen“! – Unter dem Gips fing es an schrecklich zu 303

jucken. Die gütige Mutter gab mir eine lange Korsettstange, wie man sie früher in den Schnürrkorsetts hatte. Als der Gips nach einem halben Jahr abgenommen wurde, hatte ich mir das ganze Bein wundgestoßen, das Knie war wieder dick angeschwollen. Meine arme Mutter, da saß sie am Bett und weinte bitterlich. Nun hieß es, ich hätte Tbc im Knie, Tuberkulose. Da hülfe nichts anderes als in die französische Schweiz, zu Dr. Rollée nach Lesyn, in die Sonne, zur Behandlung geschickt zu werden. Es war Inflation – Zeit. Ich kaufte einmal einem einzigen Bonbon für 1000 Mark.

Ilse Barth als Sophie im Rosenkavalier von Richard Strauß

Nachher bezahlte man die Esswaren, Brot, Gegenstände, mit in Körben gesammeltem Geldscheinen, nach Gewicht, zu zählen waren die Millionen, die Billionen, die Trillionen nicht mehr. Wie oft bekam man damals Geld und trug es sofort am gleichen Tag zu Einkäufen wieder fort! – Ehe ich von Berlin fortkam, erlebte ich noch mit, dass von den Dächern 305

geschossen wurde. Die Spartakisten seien das, wurde gesagt(Nov.1918). Die Mutter brachte mich zu Freunden, er war Architekt der außerhalb von Berlin ein Häuschen hatte. Da gab es eine Kartoffelsuppe, auf der schwammen Speckstückchen. Ich hatte niemals so etwas Wundervolles gegessen! Die einzige Tochter betreute mich liebevoll. Mir passierte, dass ich einen großen Tintenklecks machte. Der Vater trat ins Zimmer, fragte: „Wer hat das gemacht ?“ Seine Tochter antwortete: “Ich war das“, und bekam eine schallende Ohrfeige. Zutiefst im innersten schämte ich mich, sagte aber nichts. Auch dort fing man zu schießen an

Ilse Barth als Sophie

und wir durften keine verdunkelten Fensterläden aufmachen. Wie viel Schulzeit ich hatte, weiß ich nicht mehr, damals gab es zweimal Zeugnisse im Jahr. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich in Betragen „lobenswert“ hatte. An das, was mir die Kinder auf der Straße nachriefen, erinnere ich mich auch: „Ilse billse, niemand will se, kam der Koch und nahm se 305

doch!“. Es hat mir nicht viel ausgemacht, es kränkte mich nicht, ich nahm das gelassen hin. Von meinen„Trotzanfällen“ in Berlin weiß ich nichts mehr, die besorgte ja mein, sonst so liebenswerter Hans – Erich! Erinnern kann ich mich nicht an meinen fast fünf Jahre älteren Bruder Werner. War er gar nicht zuhause? – Kinderverschickungen gab es in Berlin. So wurde mein Bruder Hans – Erich, meine Cousine Ingeborg, ihr Bruder Horst und ich nach Kolberg gebracht. Dort tauchten „Läuse“ auf. Wer sie hatte, bekam einen großen, dicken Verband um den Kopf, wurde mit anderen tagelang isoliert gehalten. So klein wir Kinder

Ilse Barth als Sophie

damals waren, (alles lag vor meiner Kniegeschichte), hatten wir Angst vor dem eingepackt werden… Wir hatten, obwohl langes Haar, besonders Ingeborg, keine Läuse. – Dort besuchten uns Vater und Mutter, Vater hatte Fronturlaub. Ein Foto zeigt mich auf seinem Schoß, er blieb auch da nur ein „Onkel“ für mich. Ingeborg, die Große, sorgte dafür, dass 306

nicht alles zugleich aus dem Koffer genommen wurde, dass eingeteilt wurde. So klein ich noch war, es kränkte mich. Zurück in Berlin, geschah dann wohl das verhängnisvolle Hinfallen. Auch dort besuchte mich mal der Vater im Krankenhaus. Ich hatte ein Püppchen mit langem Haar. Das kämmte ich nun für ein Püppchen – Foto in meinem Krankenbett und

Ilse Barth als Sophie

setzte das Püppchen mit dem Rücken zum fotografierenden Papa, damit man diese schönen Haare sehen sollte .Papa versuchte vergebens mir klarzumachen, dass man doch Püppchens Angesicht sehen müsse. Ich meinte, man müsse die schönen langen Haare sehen. So geschah es dann. Das Foto habe ich noch heute. Auf meinem Flur musste die Entbindungsstation sein. 307

Ich überraschte die Schwestern und alle meine Besucher, dass ich täuschend – ähnlich Erstgeborenen – Geschrei nachmachen konnte ich meine: “Ebenerstgeborenen - Geschrei“. – Das vergnügte alle Schwestern und meine Besucher. Immer wieder wurde ich aufgefordert das klägliche oder auch laute Geklage zu wiederholen. Singen durfte ich so viel, wie ich

Ilse Barth als Cho Cho – San genannt Butterfly in Madame Butterfly von Giacomo Puccini

wollte. Meistens hatte ich nur einen jüngeren Krankenhausgast in meinem Zimmer. Wir lagen nur zu zweit. – (Dass es die Einbindung Station gewesen sein muss, von der ich das Nachamenkönnen so kleiner Babystimmen hörte und nachmachte, wurde mir ja erst klar, als ich, größer geworden, darüber nachdachte). 308

Nun sollte ich tatsächlich zu Dr. Rollée in seine Klinik in die französische Schweiz geschickt werden. Wir, meine Mutter, waren befreundet mit dem Bankdirektor der Deutschen – Überseeischen Bank und dessen Frau, von uns genannt „Tante Hedchen“, (Hedwig) und „Onkel Walter“.. Tante Hedwig hatte Gesangstunden bei meiner Mutter. Es wurde eine tiefe

Ilse Barth als Butterfly

Freundschaft zwischen diesen beiden Menschen. Ja, es war dadurch sogar möglich, dass Tante Hedchen (das Ehepaar Walter Grämer hatte keine Kinder), mein Mütterchen zu fragen wagte, ob sie ihnen unseren Hans – Erich – Jungen abgeben würde. So etwas hätte Mutti nie getan. Tante Hedchen erzählte mir(viele Jahre später durfte ich in ihr wunderschönes, großes 309

Haus in Berlin – Wilmersdorf einziehen), das der „Wonneproppen“ Hans – Erich immer in die Gegend „piete“, nur nicht ins Töpfchen, sein Nippelchen war irgendwie-wo angewachsen, bis es durch eine kleine Operation gelöst wurde. Dieser Bankdirektor Graemer war in der Lage das Visum für meine Übersiedlung nach Frankreich durch seine Beziehungen zu bekommen. Damals im Krieg eine ganz schwierige Sache! Er war es dann auch, der mich in die Klinik zu Dr. Rollée brachte. Da saß ich nun im Bettchen auf der Terrasse, die das zweite “Zuhause“ wurde, weil wir Tag – und Nacht draußen blieben, bei Wind und

Ilse Barth als Butterfly

Wetter, außer es gab Gewitter, Blitz und Donner. Ich schrie und weinte, heulte. Der gute Onkel stand unten, gehbereit und warf mir immer und immer wieder einen Ball von unten nach oben, in mein Bettchen. Es muss ihm das Herz schier wehgetan haben, mich so, in 310

der fremden Sprache, die ich doch nicht verstand, verlassen zu müssen. Ich sah ihn weinen. – Dann ging er und ich war meinem Geschick überlassen. An mein linkes Bein wurden schwere Gewichte gehängt, ich konnte lange, lange Zeit nur liegen. Die Sehnsucht nachhause war urgroß, bis ich dann langsam die Sprache verstand, selber sprach. Nach immer wieder gemachten Röntgenaufnahmen durften Gewichte entfernt werden, ich dann aufrecht sitzen. Der Sommer ging vorbei, der Herbst, dann gab es Schnee. Oh, wie man sich da sehnte, da unten, um das Haus herum auch auf einem Schlitten zu sitzen, Schneebälle zu machen, sich

Ilse Barth als Butterfly

damit zu bewerfen. Auch dort sang ich soviel ich wollte. So gewann ich Liebhaber, die mich aus der Knaben – und Männerstation besuchten. Einen davon hatte ich so lieb gewonnen, dass ich seinen Kopf an mich zog und ihn küsste. Danach sah ich ihn nie wieder. Man muss das wohl gesehen haben und ihm verboten haben mich weiterhin besuchen zu dürfen. Das tat 311

weh. Ich war im zweiten Stock. Ich durfte, an einem Faden, gebastelte, kleine Geschenke zu den Jünglingen hinunter lassen und am Faden welche für mich nach oben ziehen. Als ich, etwa nach einem Jahr laufen durfte, dürfte ich in den unteren Stock gehen. Als ich an das Bett meines Beschenkers trat, versteckte er sich unter der Decke und kam tatsächlich nicht

Ilse Barth als Butterfly

darunter hervor, so sehr ich auch bettelte und bat. – Es waren oft im Sommer Gewitter, lauter Donner, funkelnde Blitze. Dann war sämtliches Personal Vorort mitten in der Nacht, auf den Beinen, um unsere Kinderbetten in die kleinen Säle zu schieben. Dort lagen wir zu acht Bettchen, beieinander. Da fing ich dann meistens laut zu beten an, so intensiv, dass rings um 312

mich keines der Kleinen oder Größeren mehr fürchtete. – Wer hatte einen das gelehrt? – Hat meine Mutter mit uns gebetet, ich erinnere mich nicht Dass ihr Gemüt tief fromm war, möchte ich annehmen, sie hatte Güte, viel Liebe, ihre Schülerinnen verkehrten, liebten sie. – Womit beschäftigen sich so eingesperrte Kinder? Meine ältere Bettnachbarin, die übrigens öfter ihre Mutter zu Besuch hatte, die ihr immer Baissée mitbrachte, ich bekam mal eines geschenkt, (war das gut!), und ich hatten uns Fliegen gefangen. Diese hatten wir mit einem Faden umknotet unter unserer Bettdecke, wie ein Haustier ans Gitter gebunden. An dem Tag

Ilse Barth als Manon in Manon Lescaut von Giacomo Puccini

gab es im Garten ein Musikkonzert von Bläsern. Da wurde mir mein unmögliches Tun, durch Musik, so klar, dass ich mich wiederum entsetzlich schämte und das arme Fliegentier sofort losmachte und davon fliegen ließ. Dann wurde es Weihnachten. Alle, alle Kinder hatten die größten Hoffnungen auf 313

Weihnachtsgeschenke. Der “Heilige Abend“ kam. Außer dem, was die Schwestern im Haus uns bereiteten, empfing ich alleine keinerlei Paket, nichts von daheim. Kann man sich diese Enttäuschung in einer Kinderseele vorstellten? Ich, noch kleines Kind, haderte mit Gott. Wie aber heilsam war der ganze Vorgang für mich. Ich hatte Ehrgeiz – und – Eitelkeitsgefühle, was für ein Paket ich bekommen würde. Ein sehr, sehr großes Paket kam dann nach drei Wochen an, als Weihnachten längst vorüber war, wir alle ja wieder in unseren Betten in unseren Räumen standen, keine Zuschauer mehr da waren, wie es bei der Weihnachtsfeier,

Ilse Barth als Manon

unten, in einem großen Saale der Fall gewesen wäre. An dem Inhalt des Paketes hatte ich keinerlei Freude mehr. Eine große Babypuppe kam zum Vorschein, dazu alles, was solch ein kleines Baby braucht. Windeln, Hemdchen, Bettchen und noch vieles andere war im Paket. Ich habe es nicht einmal behalten. Und was für Wege und Kosten mag es meine Familie 314

gekostet haben. Es war ja Nachkriegszeit und Frankreich. Ich konnte ja erst später über den Grund der Verspätung nachdenken. Wie ungerecht ist doch ein Menschenkind, ob erwachsen oder klein, wenn die Dinge nicht durchdacht werden, werden können. Wie lange mag das Paket an der Grenze, mit Zollabfertigung gelegen haben und was es damals noch an Hindernissen gab. Ich habe kaum je mit dieser Puppe gespielt, machte mir nichts aus Puppen. Ich hatte ja so kleine Kinder um mich, die ich, als ich laufen konnte, aufs Töpfchen setzen durfte. (Liebe Mutter, Tante Inge, auch Lisbeth, bitte, verzeiht mir alle negativen Gefühle und

Ilse Barth als Mimi in La Bohème von Giacomo Puccini

Empfindungen: heute!). Auf der Veranda in freier Luft, packte ich mein so großes Paket aus und hatte keine Freude daran. – Ein großes Staunen, ja Erfurcht empfand ich, als ich in den dritten Stock gehen durfte, von einer Schwester geleitet, zu einem jugendlichen Menschenkind, dass schwerst krank war, aber 315

immer wieder von den Schwestern genannt, gelobt wurde. Dieses junge Mädchen machte entzückende Handarbeiten im Bett, zog Püppchen an, beschenkte alle rings um. Nun durfte ich endlich zu ihr, die ich schon lange aus der Ferne bewundert hatte. Ein bildschönes Angesicht schaute mich an. Aber der Kopf war mit einer Lederhalterung umgeben, die den

Ilse Barth als Mimi

Kopf hoch hielt. Die Arme bewegten sich frei, was war aber so krank an die, dass sie, nur etwas hochgestüzt liegen konnte, immer nur liegen? War da eine schwere Tbc schuld, war das wunderschöne Mädchen nicht mehr lange lebensfähig? Ja, sie starb in der Klinik. Das 316

Personal, die Schwestern alle, trauerten um sie. Auch ich hatte ein entzückend bekleidetes Püppchen von ihr geschenkt bekommen, hielt es hoch in Ehren. War das der Grund, warum ich auch später zwei Hände hohe Püppchen immer wieder selbst benähte, bekleidete? Sie waren für mich Prinz und Prinzessin, hatten in einem Schrankfach ihr eigenes Reich, mit kleinen Korbmöbeln und allem was zu einer Wohnzimmereinrichtung so gehört. – Nun galt es also Abschied zu nehmen, aus diesem Haus, das mich über ein Jahr hinaus beherbergt hatte. Sagen muss ich noch, dass wir hervorragend verpflegt wurden. Da gab es Butter zu weißem oder dunklem Brot. Es gab Pflaumenkonfitüre, die ich lange gesucht habe, später, in so vielen Geschäften. Eines Tages, vor circa zwei oder drei Jahren, bringt mir meine Cousine Irmgard solch ein Konfitürenglas als Geschenk mit. Ich war hoch beglückt! – Noch erzählen muss ich von gewaltigen Natureindrücken, die ich im hochgelegenen Lesyn (Lysin ?) bekommen habe. Da wir Tag – und – Nacht auf der Veranda verbrachten, auch im Winter, erlebte ich das donnernde Lawinenabstürzen in den Bergen, uns gegenüber. Riesige Wehen von Schneepulver begleiteten sie und nachher war an der Stelle, wo sie abgestürzt waren, kein Wald mehr, nur noch eine große Schneise, kahl und leer, halb weiß, halb dunkel. Urgewaltig – farbige Himmelsereignisse sog man in sich auf, sowie ein Gewitter losbrach, die Erde sich verfinsterte, waren die Wolkenmassen da, in immer neuer Formation Farbenspiele. Beim ersten Blitz und Donnerschlag waren alle Schwestern da uns in die Säle zu schieben. Wenn ich spät an die Reihe kam, war ich glücklich, immer noch schauen zu können. Bat man mich zu singen, wenn Besuchszeit war, ich konnte ja keinen Besuch erwarten, da sang ich alles was mir einfiel. Ich war das Singen ja „von Haus aus“ gewöhnt. – Als ich von dem Jüngling, unter mir im ersten Stock, alle standen auf der Veranda, Abschied nahm, versteckte er sich nicht und weinte (so ganz verstand ich das ja nicht!). – Er holte mich ab, der Architekten – Onkel Robert Wollmann, Muttis zweiter Bruder. So war ich erst noch acht Tage von Mutti und den beiden Brüdern Werner und Hans – Erich 317

getrennt. Von meinen Brüdern hatte ich immer geschwärmt, freute mich ungemein auf sie, aber ….Also ich war bei Onkel Robert und seiner „Brünhilde“ – Frau. Ja, auch sie eine Opernsängerin, die die Partie der Brünhilde in Wagners Opern gesungen hatte, sie war Engländerin, sprach perfekt deutsch. In Frankfurt am Main war ihre herrliche Wohnung. Von dort will ich zwei Begebenheiten berichten. Onkel hatte einen großen Schreibtisch. Alle Möbel waren kostbare Antiquitäten, (was ich erst später erfuhr).In einer Schale lagen Stifte, ob Federhalter oder Bleistifte (?), ein Zentimeterstab, zusammengeklappt, ihn untersuchte ich, wusste ja nicht, wie er zu öffnen sei. Ich zog ihn auseinander und er brach entzwei. Ich fragte nicht, wie man den auseinander, in die Länge ausfalten musste. Immer und immer wieder fragte mich Onkel Robbi, ob ich das Metermaß zerbrochen hätte, er nahm mich mal auf den Schoß dabei, war ganz liebevoll. Warum sagte ich immer wieder „Nein“? –Vor diesen beiden Menschen, Tante Lonni, Onkel Robert hätte ich doch wahrhaftig keine Angst haben müssen. - Angst hatte ich auch gar nicht. Ich wollte nichts kaputt gemacht haben. Das war es. Aber es zeigt doch, dass ich nicht ganz ehrlich war. Schade, wie muss das Onkel und Tante enttäuscht haben. Sie hatten keine Kinder. – Ich hatte in Frankfurt Schulmädchen auf der Straße gesehen, mit tellerartigen Mützen, wusste aber ja nicht, dass diese für eine Schulklasse angefertigt wurden, auch nicht für welche Klasse. Nun wünschte ich mir solch eine Mütze. Die gute Tante Lonny ging mit mir von Hutladen zu Hutladen. Ich bekam Baskenmützen aufgesetzt. Nein, ich wünschte mir feststehende, tellerartige. Niemand konnte sich erklären, was ich meinte. Hätte ich sagen können „Schulmützen“, wäre man vielleicht dahinter gekommen. So war’s hoffnungslos, ich fing an zuheulen, und hörte überhaupt nicht mehr auf zu heulen. So fürchterlich konnte ich „Wünschen“. Unverrichteter Sache fuhr Tante Lonny mit mir heulendem Kind nachhause (und ich war doch so nahe an der Erfüllung meines Wunsches, weil Tante Lonny die Mütze doch bezahlt hätte). - Ja, dass war eine ganz große Tragödie. – Auch das war gewiss ein 318

Erziehungsmoment: „ Man kann nicht alles haben, was man sich wünscht!“ – Jetzt also wurde ich nachhause gebracht, per Eisenbahn. Nichts kannte ich davon, denn die Eltern waren schon wieder umgezogen nach Hagen in Westfalen, weil Vater da ein neues Engagement nach dem Kriege bekommen hatte. Meinem Alter entsprechend kam ich nun in die erste Klasse des Mädchengymnasiums. Ich hatte eigentlich zwei Klassen zu wenig gehabt. (Oder mehr?). Nur, weil meine getreue Mutter täglich mir Diktate diktierte, stets mit mir die Schulaufgaben machte, durfte ich in dieser Klasse, im Gymnasium bleiben. Dort in Hagen erlebte ich nun meine erste Opern - Aufführung. Es war „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck. Sie beeindruckte mich zutiefst. Im Wald - Akt ließ man, nach Gretchens Gebet, vierzehn Engel eine, wie in den Himmel gebaute, große Treppe hinuntersteigen: schneeweiße Engel, mit großen schneeweißen Flügeln, in Wolken und Licht getaucht. Überirdisch schön war das und hat wohl meine Frommheit noch vertieft. Diese Bilder haben ein lebendenlang, ganz gewiss, nachgewirkt. (Später, in Stuttgart im Opernhaus, sah ich sozusagen eine Karikatur davon und war zutiefst betrübt für die betrogenen Kinderseelen).Dann durfte ich auch „die Königskinder“ hören, sehen. In dieser Oper sang Vater den Holzfäller, der die Königskinder, im Schnee erfroren, auffindet. Ich war so fürchterlich gepackt davon, dass ich nicht begreifen konnte, dass Vater bei diesem Geschehen s i n g e n konnte. Tagelang weinte ich innerlich um diese Königskinder, konnte mich kaum wieder fangen. Meine Ankunft im Hagener Bahnhof habe ich vergessen zu schreiben. Ich hole das Ereignis hier nach. War Vater dabei, mich abzuholen, ich erinnere mich nicht, hatte er Proben? Mutti war da und meine beiden, so innigst in den Himmel gelobten Brüder. Da geschah es, das sie, als sie mich sahen, auf dem Absatz umdrehten und davonliefen. Ich war zutiefst gekränkt. - Warum war was so? Ich war ja dunkelbraun gebrannt, durch die Höhensonne in der Schweiz. Dann war das linke Bein ja durch die monatelangen Gewichte, an dem linken Bein, wohl gleich lang geblieben, aber spindeldürre gegenüber dem rechten, normal 319

entwickelten. Bein. So erinnere ich mich an keinerlei gemeinsame Spiele mit meinen Brüdern. Wenn Irmingard Wollmann, meine, nur ein Jahr jüngere Cousine, echtes Berliner Kind, bildschön und mit entzückender Kleidung zu uns zu Besuch kam, rissen sich die Brüder um sie, spielten mit ihr „Räuber und Gendarm“, sie ließ auch alles über sich ergehen, mit sich

Ilse Barth als Anna in Hans Heiling von Heinrich Maschner

geschehen, ob man sie fesselte, bis zu blauen Striemen, sie konnte schon immer viel einstecken, (war hart gegen sich) oder, was es da sonst noch gab. Ich stand abseits 320

beobachtend, kam zum Mitspielen nicht infrage. „Klingeln abreiten“, ja, mit vielen Kindern der Straße und Irmingard – Cousine, das machte ich mit. Die größeren Knaben machten den Schutz an den Klingeln, per Schraubenzieher ab, wir bildeten eine lange Schlange, indem wir uns alle an den Händen hielten und der elektrische Strom durchzuckte uns. Auch wurde an einem Haus jede Klingel gedrückt, dann rannten wir davon. – Einen „Roller“ bekam ich geschenkt. Die Straße, Buschei genannt, war ein steiler Weg zum Wald hinauf, nicht weit von unserer, auch abwärts laufenden Straße. Diese Buschei – Straße sausten wir Freundinnen mit dem Roller hinab. Ein Wunder, dass da niemals etwas Schlimmes geschehen ist, ein Wunder auch, dass ich das alles mit meinen beiden Beinen tun konnte. Ich erinnere mich an mein Heimkommen. Wir waren in einer Wohnung gelandet, im vierten oder fünften Stock, mit lauter schrägen Dachgeschosswänden. An die konnte ich mich nur schwer gewöhnen. In der Ecke des Wohnzimmers hatte man mir Spielzeug über Spielzeug aufgebaut, auch wiederum eine Puppe. Ich war ja nur gewöhnt im Bett zu spielen, wusste überhaupt nichts mit den vielen Sachen anzufangen. Wie muss ich alle meine Lieben enttäuscht haben? – Der große Flur, Dachbodenflur, außerhalb der Wohnung gehörte uns ganz zum Leben dazu, denn auf diesem langen Flur befand sich die an der Decke angeschraubte Schaukel. Auf ihr saßen abwechselnd mein guter Hans – Erich und ich lauthals singend. Ich erinnere mich nicht, dass die unter uns Wohnunginnehabenden, Nachbarn, sich jemals beschwert haben. Eine Last allerdings bürdete ihnen mein Hans – Erich- Bruder auf. Links vom Flur war die große Waschküche für alle Hausbewohner, rechts gegenüber unsere Toilette. Davor waren noch Bodenkammern. Hans – Erich betrieb eine sehr fruchtbare, weiße Mäusezucht. Dass ein Mäusepaar sich so schnell verzweifachen, vervierfachen würde, hatte wohl niemand gewusst, noch angenommen…Eines Tages war die große Schar, von circa 30 Mäusen ausgebrochen. Sie zeigten sich dann in allen Wohnungen. So sehe ich Mütterlein und mich vor mir, mit Schuhkartons, darinnen Speck und Milchschälchen in allen Wohnungen vor 321

die Mäuselöcher stellen, hoffend die Mäuse wieder anzulocken. Und wahrhaftig einige kamen zum Vorschein, aber wie? Das ausgelegte Gift der Nachbarn für die grauen Hausmäuse hatte sie vergiftet, so krochen sie heran, tranken noch etwas Milch und verendeten vor uns. Oh Trauer von Hans - Erich, als er mittags aus der Schule kam. –

Ilse Barth als Anna in Hans Heiling von Heinrich Maschner

Vater war ein so guter Schütze, er kaufte für Werner und Hans – Erich Luftgewehre, mit Bolzen, machte am Ende des langen Flures eine beringte Zielscheibe an die hinterste Flurwand und unter Vaters Anleitung durfte auch ich schießen. Ja, an das Ereignis erinnere ich mich gut. Auch wurden wir vom Vater in die Requisitenkammer des Theaters mitgenommen. Da wurden wir Kinder dann fotografiert. Vater war ein Hobbyfotograf. Er baute sich die Fotoapparate selber zusammen, wie auch aus unzähligen Teilen ein Radio. Es war sozusagen 322

eine Sternstunde für ihn, für uns alle, als es die ersten Töne von sich gab. Wir alle staunten. Da Großvater Barth ein Fachmann für Uhren war, er hatte in der Kochstraße, in Berlin ein Uhrengeschäft, auch Silber – und Goldwaren, war mein Vater sehr geschickt in allem Handwerklichen. Er reparierter alle unsre Uhren im Haus ein Leben lang selber. – Es war mir geschehen, gerade als unsere geliebte Tante Inge, Muttis Schwestern zu Besuch aus Berlin bei uns war, dass ich aus einem Mittagsschlaf erwachte und lauter Farbenkreise vor mir sah, die nicht verschwinden wollten. Ich schrie vor Angst und obwohl Ingetante und meine Mutter mich zu beruhigen versuchten, dieses mit allen möglichen Liebezuwendungen, dauerte der Vorgang lange. Ich konnte leicht außer mir geraten, auch später noch und der Berliner Arzt Dr. Peters, der die Möglichkeit hatte, solche Vorgänge zu erklären, sagte: „Ätherleib und Astralleib arbeiteten nicht recht zusammen, daher eine gelinde Spaltungserscheinung. Was die Antwort hieß, ergründete ich erst später. Dr. Peters war ein anthroposophischer Arzt. In Hagen fing mein Geigenunterricht an, war ich 10 oder 11 Jahre alt. Es war ein alter Herr, bei dem ich Stunde bekam, ein Geiger aus dem Opernhaus – Orchester. Er war sehr genau, korrigierte jeden unreinen Griff. Ich musste Übungen IMMER UND IMMER WIEDER wiederholen. Dennoch nahm mir das die Freude am Geigen nicht. Und es kam der Tag, an dem ich an einem Schülernachmittag meiner Mutter, in unserer Wohnstube, Gesangs – Klavier – Schülerinnen, auch geigen sollte. Ich legte in eine Melodie, die Mutti begleitete all mein Gefühl, ja, Weltschmerzgefühl hinein. Ich musste sie mehrere Male wiederholen und hatte das Gefühl, ich könne den Menschen mit meinem Spiel etwas geben. So etwas wirkt sehr positiv, regt an zum Weiterüben. Zutiefst bedauerte ich meine Mutter, die mich kaum je zu Hausarbeiten heranzog, ich sollte geigen, dann auch Klavier üben und Schulaufgaben machen. Mutti musste ja damals noch im großen Kessel unsere Wäsche waschen. In Hagen war es üblich, dass man seine gesamte 323

Wäsche zum Bleichen auf den großen Rasen ausbreitete und hinlegen musste. Das war so üblich. Also wurde die schon einmal gekochte Wäsche mit Körben hinunter getragen, immerhin vier bis fünf Treppen, draußen ausgebreitet, und allesamt dann wieder gekocht. Oh, arme, arme Mutter ! ! !

Ilse Barth als Anna in Hans Heiling von Heinrich Mascher

Im Nebenhause wohnte ein bildschönes kleines Mädchen. Dorthin wurde ich des Öfteren zum Spielen eingeladen, auch gab es immer wieder etwas Gutes zu essen, zu leckern. Ich gewann 324

dieses kleine Mädchen so lieb, dass ich, als ich es plötzlich mit einem kleinen Jungen spielen sah, der auch mit zu ihr in die Wohnung kommen durfte, fortan niemals mehr zu ihr gegangen bin, so tief eifersüchtig war ich, es war in mir etwas zerbrochen. Das Mädchen ahnte davon nichts. Immer wieder fragte mich seine Mutter, warum ich denn nicht mehr kommen wolle. – Ich hatte immer nur Resignation, konnte den Schmerz nicht bezwingen. - Auf der Straße wurde an den glatten Häuserwänden mit großen Bällen „Köpfchen, Brüstchen, Ärmchen, Knie“, u.s.w. gespielt. (Ja, das Spiel hieß so!). Da waren ein circa zwölfjähriges Mädchen, eine Katholikin. Sie hatte immer Geld bei sich und es stellte sich heraus, dass sie dieses immer irgendwo gestohlen hatte. Ich war entsetzt, stellte sie direkt deswegen zur Rede. Sie antwortete mir, von wegen Schuldgefühle: „Ach, dann gehe ich eben zum Pfarrer und beichte“. (Und dann stahl sie wieder!) Entsetzt fragte ich Mutti, ob das denn so richtig sei, ob man das so tun dürfe? Natürlich bekam ich zur Antwort: „Nein, das sei ganz und gar nicht in Ordnung“. Das beruhigte mich. Dennoch wünschte ich mir ungemein, in den großen Prozessionen in Hagen/Westfalen, die immer und immer wieder stattfanden, Vater fotografierte sie immer wieder, mitlaufen zu dürfen. Ich sah mich da wohl als engelhaft. Mehr wohl sollte es bedeuten, vom Katholischen aus gesehen, dass alle weiß gekleideten Mädchen „Bräute Christie“ seien. Nach langen Wanderungen durch die Straßen, ich also auch im weißen Kleid, mit großer weißer Kerze, mit weißen Schuhen, weißen Blumen im offenen Haar, landeten wir in einer katholischen Kirche. Man kniete nieder, stand wieder auf, bekreuzigte sich, (wie oft und wann?), da schämte ich mich so entsetzlich, dass nicht zu wissen, dass ich niemals wieder in einer Prozession mitgelaufen bin. Ich hatte Geburtstag, ich durfte mir eine Freundin einladen, es war ein Mädchen aus meiner Klasse. War es mein 11. oder 12. Geburtstag? Mit ihr sehe ich mich immerfort Erdnüsse aufmachen, die mir Mütterchen so reichlich, es war mein Wunsch, geschenkt hatte und höre noch heute das herzzerreißende Stöhnen meiner Mutter, denn sie lag nebenan im Bett mit Gallenstein325

krämpfen. Wo war Vater, bei den Proben (?), wo waren die Brüder? Ich befand mich so mutterseelenallein, trotz meiner Freundin, an meinem Geburtstag. Man konnte der Mutter bei ihren Schmerzen so gar nicht helfen, das war so traurig. Vater wollte keiner Operation zustimmen, damals endeten sie so oft tödlich und so quälte sich meine Mutter circa 11 Jahre

Ilse Barth als Margiana in Barbier von Bagdad von Peter Cornelius

lang mit immer wiederkehrenden Krämpfen. Als sie dann operiert wurde, war alles zu spät. Doch davon später. Mit den Eltern durfte ich damals Konzerte besuchen. Ich konnte nicht verstehen, wieso man nach einem solch großen Solopianisten, einem Soloviolinisten nicht absolut sprachlos, schweigend nachhause ging. –Einen faszinierenden Geiger hatte ich in 326

einem Café erlebt. Eine Gesangs - Schülerin meiner Mutter hatte mich, (ein erstes Mal!) in ein Kaffeehaus mitgenommen. Ich durfte mir ein Sahnebaiser aussuchen, bekam Schokolade zu trinken und dazu spielte ununterbrochenen die Kaffeehauskapelle mit einem Sologeiger. Ich wagte es, durch alle die besetzten Stühle, mit Menschen um die runden Tische, mich hindurch zu schlängeln und stand nun wie angewurzelt und hörte der Kapelle und diesem Geiger zu. Zuletzt glaubte ich, er spielte nur noch für mich. Ich konnte mich nicht mehr trennen, bis ich von meiner Gastgeberin zum Heimgehen abgeholt wurde. Vater war nun schon wieder an ein anderes Theater engagiert worden. Es war das Stadttheater in Gera/Thüringen. Wo war ich beim Umzug, ich erinnere mich an nichts?! Vaters Gage musste sich wohl sehr erhöht haben. Wir zogen in eine wunderschöne Wohnung ein, im zweiten Stock, mit Küchenbalkon zu weiter Aussicht über Gärten an Gärten, Wiesen, Felder bis hin zum Bismarckturm auf dem weitentfernten Hügel. Wir besaßen nun vier Räume und noch eine Bodenkammer, die einen der Brüder beherbergte. So bewohnten wir ein schönes – großes Esszimmer, nach der breiten Straße hinaus, mit Tür zum Musikzimmer mit hübscher grünlich gehaltener Polstergarnitur, mit kleinem rundem Tisch davor. Ein besonderer Holzständer trug eine Wagner – Büste, die man auf vielen Fotos unserer vielen Wohnungen wieder findet. Die Eltern müssen sie wohl mal geschenkt bekommen haben. An der gegenüberliegenden Wand stand das Klavier. Wie oft saß daran meine Mutter, mich zur Geige begleiten, Hans – Erich mit meiner Mutter vierhändig alle Opernouvertüren, usw., spielen und Mutti umgeben von Gesangs Schülerinnen und immer und immer mein Vater, sich selber begleitend, wenn auch oft nur mit einigen Akkorden, seine Gesangsübungen machend, seine unzähligen Opernpartituren studierend. Dann rief er oft meine Mutter aus der Küche zu sich:“ Mütterchen“, höre ich ihm sagen, “Soll ich es klanglich so nehmen, heller oder dunkler gefärbt“. Bei komischen Partien: “Kommt die Komik so besser heraus, oder so?“ Und Mutti beurteilte fachmännisch. Ja, die Eltern arbeiteten harmonisch zusammen. Wir 327

alle in der Familie bekamen immer Freikarten, die Vater aber vorher „einreichen“ musste. So nannte man das. Hatte Vater in einer Oper “zu tun“, so erwartete er nach der Aufführung stets unsere Stellungnahme zu seinem Singen, seinem Spiel. Gerne hörte er auch Kritik, die von uns Kindern kaum kommen konnte, man hatte doch viel zu wenig Erfahrung. Mein Hans –

Ilse Barth als Elisabeth in Tannhäuser von Richard Wagner

Erich – Bruder hatte ein unglaublich untrügliches Gehör für die Reinheit von Tönen, er sang ja schon früh unzählige Lieder, von Schubert, Brahms, Beethoven, alles, was er durch die Eltern hörte, als Autodidakt mit sehr warmen Timbre, als Bariton, er konnte sagen: „Wie hat da die Sopranistin das hohen C nicht sauber bekommen“, und anderes mehr. Wir kamen als 328

Kinder und Schüler immer wieder spät zu Bett. Das war so üblich. Hans – Erich war die Gewissenhaftigkeit selbst. Bekam er Hausaufgaben nicht fertig, saß er die Nacht hindurch daran. Das dankte ihm sehr Onkel Robby, als Hans – Erich in dessen Architekturbüro anfing und Baumeister wurde. Er der konstante “Arbeiter“ und Bruder Werner der geniale „Entwerfer“, „Erfinder“ . Ich habe später Baufassaden anschauen können, die voller Harmonie in ihrer Fassade waren, bildschön. Hans – Erich machte dann alle baulichen Berechnungen. Onkel Robbie gewann vielfache Preise und somit immer neue Bauaufträge. – Bruder Werner spielte Klavier, begann mit Jazz, kaufte sich ein Saxophon und war plötzlich in einer Kapelle, in der er als Pianist und Jazzer pro Abend 20 Mark verdiente. Und das noch als Schüler, zum großen Leidwesen meiner Eltern. Als er nun beim Architekten Onkel als lernender anfing, hochbegabt als Entwerfer, konnte er, verwöhnt durch sein früheres zu gutes Geld verdienen nicht abwarten, bis Onkel ihm ein richtiges Gehalt gezahlt hätte, er begann als „Vertreter“ für immer wieder wechselnde Firmen und Artikeln, landete dann in Hamburg. Von ihm muss ich Zukünftiges ein anderes Mal berichten.

Mutti und Ilse in der Küche. Dieses schrieb mein Bruder Hans – Erich Barth Geb. am 13. Jan 1911, gefallen bei Woronesch in Russland 1942

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20.5.1984 Kornwestheim am 20.5.1984 Liebe, geliebte, innigst – verehrte Mutter ! Du bist, seit dem 27.3.1930, es war mein 18. Geburtstag, in der „Geistigen Welt“. Das hindert mich ganz und gar nicht, Dir zu schreiben, an Dich zu denken, an euch alle, die Hinübergegangenen, denn IHR seit die wahrhaft Lebenden. Ich war ganz gewiss von uns drei Geschwistern, Dir noch d a s Sorgenkind, beide Brüder waren ja als Lernende im Architekturbüro Deines Bruders, meines Onkels Robert Wollmann, Lernende, in Frankfurt am Main. Ich hatte, als Theaterkind aufgewachsen, viel Freude an der Musik, an ernsten Opern. Sie waren mir Erzieher, außer Deinem und Vaters Vorbild. Viele menschliche Beziehungen, von Frau zu Mann, Schicksalstragiken, erweiterten früh meinen jugendlichen Horizont. Ich sang gerne, hatte erste Gesangsstunden bei Dir, geliebte Mutter, spielte Geige und Klavier. Einen Nähkursus von einem viertel Jahr durfte ich nach Schulabgang absolvieren, (Puppenkleider hatte ich unzählige genäht, meistens Prinzessinnen – und – Prinzen Kleidung). Für meine Tanzstunde, die beide Brüder haben durften, war kein Geld vorhanden. Welche Ausbildung sollte wohl ich nun nehmen? Vater wollte nicht, dass ich in einen künstlerischen Beruf ginge, er sorgte sich wohl um mein Mädchentum. Es sagte auch so: „Ehe du nicht einen Beruf erlernt hast, der dir, wenn künstlerisch das Leben schwere Wege geht, deinen Broterwerb sichert, darfst du nichts Künstlerisches erlernen…“ Kurz entschlossen ging ich also in ein Exportkontor, Großhandel für Lebensmittel, lernte Stenografie und Schreibmaschine, war dort zehn Monate als Du die Erdenwelt verließest, liebe Mutter. Du nun gingest drei Wochen vor deinem Tod nach Berlin, um Dich dort, (nach über 11 oder 12 Jahren Leiden, mit entsetzlichen Krämpfen, es verursachten das die Gallensteine), 330

operieren zu lassen. Deine Schwester, unsere geliebte Märchentante, sie war 11 Jahre jünger als, Mütterlein, unsere Tante Inge – Frieda, sie nannte sich auch Ingeborg Heldberg, nach einer Verwandtenlinie, es war ihr Künstlername, denn auch sie war ausgebildete Sängerin, war an der Oper, ich nahm sie noch als „Hänsel“ wahr in Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“. Sie arbeitete in der Berliner Charitée, (bei Prof. Flatow (?), den sie sehr verehrte), als Sprachheilpädagogin. Sie veranlasste Dein Kommen nach Berlin zur Operation. Schon als man Dich öffnete, war alles zu spät, Krebs hatte bereits Galle und den ganzen Trakt ringsum, den Magen auch, zerstört. Du lagst drei Wochen noch, mit entsetzlichen Krämpfen, da, die Hilfen, die man heute hat, gab es noch nicht, Du fielst oft in Ohnmacht. Wenn Du daraus erwachtest, hattest Du ein liebes Wort, manchmal einen Scherz für die Dich betreuenden Schwestern auf den Lippen. Sie sagten: „so etwas hätten sie noch nie erlebt“. Während der Operation sollst Du in der Narkose gesagt haben: „lieber Gott, ich will ja sterben“. Das hatte wohl mehrere Gründe, darüber möchte ich hier schweigen. Tatsache war nun, dass ich in Gera / Thüringen, meinem 18. Geburtstag ohne Dich begehen musste. Du aber hattest mit großen Buchstaben auf je zwei Postkarten einmal den Bäcker, ein andermal den Blumenladen angeschrieben, dass sie mir eine große Platte Kuchenstücke ins Haus bringen sollten, der Gärtner eine schöne Hyazinthe. Ich solle mit meinen Musizierfreunden feiern. Wir hatten ein kleines Orchester gegründet, dass der hochbegabte Abiturient des Knaben Gymnasiums, Fritz Oeser, leitete. Wir haben unseren Eltern und Umgebung damit einige freundliche Stunden bereitet. Ich war darinnen stets die Solosängerinnen, geigte aber auch in der ersten Stimme. So kamen denn, eingeladen von mir, wohl 12 junge Menschen zu mir. Mein Chef hatte mir den Tag freigegeben. Wir waren sechs Mädchen, darunter hochbegabte Zwillingsschwestern, die das Knaben Gymnasium besuchten, darunter auch mein jugendlicher Freund Bub Weise. Unzählige Gedichte bekam ich von ihm. Gegen 15:00 Uhr waren wir alle versammelt, ich saß aber noch am Klavier und spielte ein wenig. 331

Bub Weise fragte mich, neben dem Klavier stehend: “Ilse, willst du meine Frau werden“? – In seinem Hause war ich schon des Öfteren mit großer Liebenswürdigkeit aufgenommen worden. Nun aber geschah etwas Merkwürdiges. Ich antwortete ihm wohl nicht. In mir aber war ein klares: „Nein“. „Wie müsste denn mein Mann sein“, so fragte es mich selbst, ganz innerlich. – Da erschien über dem Klavier, wie in einer Wolke, in einer wie runden Wolkenhülle Wesenhaftes. Es war keine Menschengestalt, doch ich empfand: „das bist Du“. Zu diesem Zeit. starb meine geliebte Mutter im Krankenhaus in Berlin und durch ihren Tod, bei ihrer Kremation, gab ich Johannes Heymann, meinem zukünftigen Lebensgefährten ein erstes Mal die Hand, nichts ahnend, nichts voraus wissend. Mein Chef hatte am 27. März, nachmittags einen Anruf von Tante Inge erhalten, dass Mutti hinübergegangen war. Er sollte es mir aber erst am nächsten Tag sagen und mich veranlassen nach Berlin zu kommen, zur Kremationsfeier für Mütterlein. Ich bin nicht mehr in das Exportkontor zurückgegangen, obwohl ich noch fast zehn Monate unsere wunderschöne, „Fünfzimmerwohnung“ in Gera bewohnte. Vater glaubte immer, dass er nochmals an das Reußsche Theater zurückengagiert würde, wenn der Intendant Ils das Geraer Theater verlassen müsste. Vater war inzwischen nach Osnabrück engagiert worden. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung und so entschloss er sich schweren Herzens die Geraer Wohnung aufzulösen. So kam ich nach Berlin, lebte in der Wohnung von der künstlerischen Tante Inge. Man hatte mir, durch Beziehung, einen Büroplatz im „Varia-Buchverlag“ möglich gemacht, denn auch damals stempelten unzählige Jugendliche . . .Ich lernte weiterhin Maschineschreiben und Stenografie. In den achten Tagen, die ich nach der Kremationfeier meiner Mutter, in der Berliner Wohnung bei Tante Inge verbrachte, ging Tante Inge zu Proben zu Johannes Heymann. Er studierte mit ihr, seiner Frau, Herodias und Salome, ein, spielte selber den Johannes in 332

seinem Werk „Die Enthauptung des Johannes“, es war geplant damit auf Tournee zu gehen. Wie tief erleichtert muss er gewesen sein, als Tante Inge, nach dem Tod meiner Mutter, zusagte, weiter zu proben. Meine Großmutter, eine echte Märchenerzählerin, war viel krank gewesen. Sie war klein und zart, hatte vier Kindern das Leben geschenkt, darunter ihre Älteste, meine Mutter “Margarete“. Der Sohn danach war wohl Onkel Robert, der ein eigenes Architekten Büro in Frankfurt am Main besaß, Onkel Oskar wurde Studienrat an einem Mädchengymnasium und Professor an einer Universität in Berlin (welche?). Tante Inge war die Nachzüglerin, 11 Jahre jünger als meine Mutter Margarete und somit war meine Mutter (ihre Schwester) ihre Erzieherin, die sie auch abgöttisch liebte. Sie nannte sie von klein auf ihre “Dedda“. . . Tante Inge hatte Johannes Heymann gesagt: „wenn meine Dedda stirbt, bin ich unfähig zu weiteren Proben, werde nicht auf Tournee gehen können“. Mit welchen Empfindungen stand wohl Johannes Heymann in der Kremationsfeier vor dem Sarg meiner Mutter - ? – Mit welchen Gesprächen wohl hatte er Tante Inge überzeugen können, dass gerade jetzt die Proben an diesem Werk der Toten tiefste Beteiligung möglich machen könnte, er hatte die Anthroposophie, durch Dr. Rudolf Steiner ins Leben gerufen, kennen gelernt. Wie viel auch stand für Johannes Heymann damals existenziell auf dem Spiel . . . Er stand in keinem Engagement, war freiberuflich tätig, die Tournee über Eisenach, wo er Oberspielleiter am Eisenacher Theater gewesen war und weiter nach Hamburg, stand fest. Wie war es überhaupt möglich, dass in der damaligen Zeit, der Armut Deutschlands, der Armut des Künstlerstandes, ein Mensch seine eigene Reisebühne erstellen konnte, dazu alle Kostüme, Beleuchtung und was dazu gehörte? Durch Tante Inge hatte Johannes Heymann „Mutter Dullo“ kennen gelernt. Unter diesem Namen kannten wir Kinder, meine Mutter, mein Vater Frau Dullo, wohnhaft in Lichterfelde (Ost -? -). Sie war Lehrerin, hatte ihren Mann, ebenfalls Lehrer, verloren, erzog vier Kinder allein, durch ihren Beruf. 333

Bei ihr eingeladen, durch Tante Inge, war Johannes. Mutter Dullo wusste von seinem Künstlertum durch Tante Inge. Dort, bei Mutter Dullo war es nun auch, dass Johannes Heymann meine Mutter, vor ihrem Gang in das Berliner Krankenhaus kennen lernte.

(Es geht aus anderen Darstellungen hervor:

Mutter Dullo unterstützte Finanziell diese erste Tournee mit dem eigenen Werk.).

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27. März 1982

70. Geburtstag Ilse Heymann Zum 70. Geburtstag wurde Ilse Heymann der Band „Botschaft vom Toten Meer“ als Geschenk überreicht.

(Viele Freunde hatten dazu beigetragen, dass diese Herausgabe finanziert werden konnte). Zum 70. Geburtstag meiner Mutter Bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr führt uns unser Engel, dann verlässt er uns und kommt im zweiundvierzigsten Lebensjahr wieder und schaut mit uns zusammen an, was wir in der Zwischenzeit getan haben. Um das Jahr 33 in jedem Leben tritt die größte Geistferne ein. In diesem Moment tratest Du in das Leben meines Vaters als Achtzehnjährige. Du musst ihm in diesem Moment wie ein irdisch gewordener Engel erschienen sein. Du trugst äußerlich, wie innerlich etwas “Engelhaftes“ an Dir und spieltest das Gretchen zum hundertsten Todestag von Goethe 1932 (Erster Teil Faust ungestrichen). Noch fünf Jahre wartet Vater, bis Du voll ausgebildet und als Sängerin selbstständig geworden bist, die Antrittsarie als Elisabeth singst, dann heiratet ihr im Jahre 1937 und Michael wird 1939 geboren, euer ältester Sohn. Kurz darauf beginnt der Krieg, Du steigst voll in Vaters Arbeit ein. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches reist Ihr mit der Heymann -Mathwich -Bühne durch ganz Norddeutschland. Du bist Schauspielerin geworden in Vaters Werken. Genäht hast Du alle Kostüme, sie werden einmal gestohlen, das wird alles von Dir neu genäht, in einer Nacht! Am nächsten Tag wurde aufgeführt. Die Vorhänge hast Du gefärbt. Mit der DM-Zeit und den verschiedenen “Wellen“, Fresswelle, Kleidungswelle, u. a.

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verlöscht das Interesse und dadurch erstirbt alle künstlerische Arbeit. Du gehst zu Fendt, Baumwollballen ausputzen und erfrierst Dir die Füße, dann in den “Europahafen“ putzen an zwei Stellen von morgens 8:00 Uhr bis nachts um 12:00 Uhr, -( meine schönste Kinderzeit) -, als Putzfrau. Vater wird durch Lic. Emil Bock nach Stuttgart geholt. Er arbeitet bei der Post, für Emil Bock und entwirft seine eigenen Werke, die Paulus – Dramen. Du lernst Stenografie und Schreibmaschine um eine Anstellung beim statistischen Amt zu bekommen. Lange lässt man dich warten, bis Du fest angestellt wirst. Du steigst ein in die Geburtenstatistik. Der Computer weist Euch jeden Fehler nach, eine zermürbende Arbeit. Nebenher erste Versuche doch noch einmal eine Bühne aufzubauen. Als Angestellte im Statistischen Landesamt in Stuttgart: wie viele Schicksale gehen durch deine Hand. Vater arbeitet nach der Pensionierung ab und zu bei Wüstenrot, eine Zeit lang führt er das Archiv der “DM – Zeitung“. Die noch heute in anderer Form weiter lebt Nebenher singst Du im Rudolf Steiner Haus und auch am Goetheanum Lieder von Karl Robert Wilhelm. In der Adlerstr.15, Kornwestheim, in der Schumannstr. 8, Ludwigsburg, Im Weizen 14 wieder in Kornwestheim, entstehen die vier Frauen des alten Testamentes, der Weg des Levi Matthäus, die Mysterien der Marien. Alle Arbeit wird geleistet, oft lesen Du und Vater zusammen die gerade neu entstandenen Werke für zwei Personen. Michaels – Schicksal, - ein schweres Schicksal – wird durchgetragen. Du musst jeden Tag morgens um 6:00 Uhr weg und kommst’s abends um 18:00 Uhr wieder. Vater ist in dieser Zeit viel allein, Michael wechselt oft die Arbeit, bis sich zeigt, dass die

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Ruhelosigkeit seines Lebens in dieser Krankheit ihren Ursprung hat. So sitzt Du oft im Amt, Sorgen über Michaels Schicksal, der Schmerz über die fehlende Anerkennung von Vaters Arbeit. Der unerwartet schnelle Tod von Vater 13 Monate und 13 Tage nach Michels Sterben, am 12.3.1968, lässt unsere Familie plötzlich halbiert noch weiterleben. Nun, 13 Jahre nach Vaters Tod, lebst Du im Ruhestand, Unruhestand, schau ich auf die Stationen zurück: Gretchen, Sängerin, Schauspielerin, Putzfrau, Statistikerin, nebenbei Mutter von zwei Söhnen, so kann ich nur sagen, der “Engel“, der Vater an die Seite trat hat, alle Höhen und Erniedrigungen dieses Lebens arbeitsam durchgetragen. Rudolf Heymann

1968

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1999

Koroni, Peloponnes in Griechenland

Erinnerungen von Rudolf Heymann.

Die folgenden 39 Seiten Erinnerung an die Gespräche mit meinem Vater Johannes Heymann Mathwich sind entstanden aus verschiedenen Fragehaltungen. Die erste Seite bezeichnet die vielen Frauengestalten, die der Vater in seinen Dramen hat sprechen lassen. 1. Wie konnte er so viele verschiedene Frauengestalten zum Leben erwecken, woher hatte er dieses innere Wissen, wie sie in seinen Dramen sich ausdrücken werden? 2. Waren das alles Erinnerungen an Menschen und ihre Gefühle, die er in dieser Inkarnation gesammelt hatte? Während der Schulzeit als Lehrer war ich immer wieder mit diesen Erinnerungen morgens aufgewacht, und der Entschluss, sie einmal aufzuschreiben, ergab sich in diesen Ferien. Es war 30 Jahre nach dem Tod meines Vaters am 25. April 1969.

Johannes Heymann Mathwich um 1965

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KORONI, Donnerstag, den 22. Juli 1999

Isit

Wandlung der Isit

1934

Bride

Geheimnis der Bride, Cathal

1934

Thamar, Rahab, Ruth, Bathseba

1963

Die Marien

1965

Maria , Joseph, Epiphanie

1969

Maria, Mutter Jesu Sieben Zeichen 1

1961

Judith, Marcus, Hyllos

2

1961

Thamar, Lea Menam, Sirach

3

1961

Johanna, Susanna

4+5

1961

Die Mutter, die Nachbarin, der Blindgeborene Martha, Magdalena, Lazararus

7

6

1962 1929/35

Sein Weib, Hiob

1927

Salome, Herodias, Johannes

1927

Martha aus Bethanien, Maria aus Magdala, Judas

1929

Claudia Prokla, Pilatus, Rufulus

1944/1945

Drusilla, Felix, Mirjam

1952/1953

Marianne, Licinius, Aristarchus

1952/1953

Berenike, Titus. Alexander

1952/1953

Nina

1943

Kondwiramur

1943

Chidori

1943

Die Geliebte

1943

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KORONI Dienstag, 6.Juli 1999

“Sie haben ins Schwarze getroffen”!

Das waren die Worte von Lic. Emil Bock als mein Vater Johannes Heymann Mathwich im Jahre 1932 in Berlin zu Goethes Todestag den 1. Teil Faust mit einer Laienspielgruppe der Christengemeinschaft zur Aufführung brachte. Meine Mutter, damals 20 Jahre alt, spielte das Gretchen. Es gab nur eine Aufführung, da sich ein tragender Mitspieler für eine zweite weigerte. Aus dieser Laienspielgruppe sind später tragende Persönlichkeiten der Christengemeinschaft hervorgegangen. Seit dieser Berliner Zeit verband meinen Vater mit Lic. Emil Bock eine lebenslange Freundschaft. Mir wurde die Bedeutung dieser Freundschaft erst in dem Moment deutlich, als ich mittags bei Tisch beiläufig erklärte, dass uns unser Mathematiklehrer im Hauptunterricht mitgeteilt hatte, dass Emil Bock verstorben war. Er war verheiratet mit einer Tochter von Bock, was ich damals nicht wusste. Wortlos stand mein Vater vom Tisch auf und fuhr direkt von Kornwestheim nach Stuttgart, wo Emil Bock aufgebahrt worden war. Erst später erfasste ich die schicksalhafte Beziehung meines Vaters zu Bock. Gerne wäre mein Vater Priester der Christengemeinschaft geworden, er besuchte auch das Seminar, aber es wurde nichts daraus. Bock sagte zu ihm: „ Sie haben eine eigene Aufgabe“. So war es auch. Mein Vater saß ein Leben lang zwischen den Stühlen, auf sich allein gestellt, und doch hatte er im Alter eine große Stütze durch diese Freundschaft zu Bock. Er gab ihm viele Hinweise sein Einzelschicksal zu verstehen und es einzubetten in den karmischen Strom, in dem ja einerseits die Christengemeinschaft lebte, und

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andererseits die anthroposophische Gesellschaft ihren lebendigen Lebensweg ging. Dieses Motiv “dazwischen” war nicht leicht zu leben. In den späteren Jahren, - vorher war ich “Schlüsselkind“ gewesen -, als mein Vater pensioniert war, spielten die Gespräche um diese Situation oft eine Rolle. Ich wollte daraus im jugendlichen Überschwang immer eine Biographie schreiben, die dieses Einzelschicksal, sowohl in der früheren, wie in der jetzigen Inkarnation in ihrem Zusammenhang behandelte. Es war mir ein selbstverständliches Wissen um den Zusammenhang der jetzt tragenden Mitglieder der Christengemeinschaft und meines Vaters Einzelschicksal. Erst später merkte ich, dass mit diesen Dingen sehr vorsichtig umgegangen werden muss. Viele ältere Mitglieder der Gesellschaft wussten von solchen karmischen Zusammenhängen über die es aber keine schriftlichen Mitteilungen und Aussagen von Rudolf Steiner gibt. Dieses Wissen, wenn sie es nicht weitergeben, stirbt mit ihnen. Damit verliert auch die anthroposophische Gesellschaft an Substanz, wenn dieses Wissen nicht auf neue Weise gefunden, erarbeitet wird. Früher prägende Gestalten, sollten nicht wieder tragende Funktionen bekommen, damit nicht zu stark aus der alten Inkarnation Bestimmendes in die neuen Institutionen einfließen sollte. Das waren Gedanken bei unseren Mittagsgesprächen. Sie haben mich geprägt; dazu gehören all die Gestalten, die in meinem Vater lebten, bevor sie in seinen Stücken zu Dialogen zusammentraten. David mit seiner Beichte vor Bathseba, ein Ich- Drama, Boas und Ruth, Drusilla, Berenike, Gestalten um Herodes und vor allem die Geheimnisse der Essäer. Matthäus, sein Schicksal vom Zögling, Levit der Pharisäer, - ihre eschatologische Erwartung - , dann der Wechsel zu den Essäern, - das Durchmeditieren der 42 Generationen - , die Erkenntnis, er muss geboren sein, und er setzt sich an die Straße als Zöllner, einmal wird Er hier vorbeikommen, dann werde ich “Ihn” aus meiner Schulung heraus erkennen, und der 341

Christus brauchte nur zu sagen “folge mir nach”. Dass diese Worte des Christus auf einen Menschen trafen, der vorbereitet da auf ihn gewartet hatte, wird oft übersehen, wenn man diese Stelle in der Bibel liest. Matthäus wird als Vierter, Jünger des Christus. Heute wandelt Christus unter uns im Ätherkleid – haben wir die Schulung ihn zu erkennen? – So fanden diese Gespräche mit dem Vater immer einen Bezug zur Gegenwart, und die Gestalten die er schuf, alles biblische Gestalten, sie sprechen zu uns in einer heutigen Sprache. Sind unsere Seelen gerüstet für das Ereignis unseres Jahrhunderts. Ich war damals 18/19 Jahre alt und hörte dies alles mit großem Interesse. 1959/1960/1961 KORONI, 7. Juli 1999

Aus heutiger Sicht kann man noch andere Fragen stellen als ich sie damals als 19 Jähriger bewegte. Es hat mich immer fasziniert, warum Rudolf Steiner gerade das Leben Goethes an den Anfang der Vorträge über das „Karma des Berufes“ stellt, aber es wird dann im Verlaufe der Vorträge deutlicher und da fällt ein Satz .der mich im Zusammenhang der Zeitsituation in der mein Vater lebte (Zwei Weltkriege, Vernichtung der Juden), von 1896 bis 1969 - man sehe auf das „Zahlenspiel“ „ 96 / 69 “ - besonders bewegte, da heißt es: „Die Weltereignisse selber sich aufrufen diejenigen menschlichen Individualitäten, die durch ihr Karma geeignet sind“ – es wird hier auch statt Weltereignisse vom welthistorischen Gang der Ereignisse gesprochen. - Wofür geeignet? Das auszusprechen, was in dem gegenwärtigen Zeitbewusstsein die Menschen voranbringt, was die Seelen bildet, die Gegenwartsaufgaben zu bewältigen. – 342

Lebt man mit so einem Satz und schaut mit der Überzeugung des 19jährigen,

das was dein Vater macht, ist bedeutsam,

- diese Überzeugung hat mich nie verlassen, ich habe nie zu meinem Vater einen Abstand suchen müssen - , auf die Individualität hin, so erscheinen die Gestalten, die in meines Vaters Seele lebten und mit seinem Seelenblut niedergeschrieben wurden, noch in einer anderen Sichtweise. Es sind fast alles tastende Gestalten, die auf dem Wege vom Heidnischen und oft aus dem Jüdischen zum Christlichen das Neue zu verstehen suchen. Die Fülle der Gestalten, die in den Dramen eine Wandlung durchmachen, stellvertretend: Matthäus, Drusilla, Berenike, der Kornhändler Felix, sie ertasten in ersten Anfängen das Christliche. - Wenn wir zukünftig verstehen werden, dass das Christentum keine neue Religion ist, sondern ich finde mein ich im Ich durch den Christus, dann kann ich alle Werke meines Vaters als Selbstfindungswege zu diesem Ich ansehen. – In diesem Zusammenhang bekommt ein Thema, das später noch behandelt wird eine neue Färbung. „ Selbsterziehung zum Genie „. Darüber wollte Vater im Zusammenhang mit Heinrich von Kleist ein Buch schreiben. Von mir anders gewendet: Selbsterziehung zur Begegnung mit dem höheren Ich, dem Genius. In den 50er Jahren schrieb Johannes Heymann Mathwich diese drama – tischen Gespräche meistens als mit drei Personen besetzte Stücke, wie in den dreier Bilddarstellungen – Sante conversatione - heilige Unterhaltungen. Es war für mich faszinierend als junger Mensch zu erleben, dass mein Vater ein inneres Leben mit diesen Gestalten z. B. des Pilatus pflegte, das völlig unabhängig war von den äußeren Lebensumständen. In der kurzen Zeit der Internierung – nach 343

Kriegsende 1945 – durch die Amerikaner an der Nordseeküste, schrieb er nur mit einer kleinen Bibel ausgestattet im Gefangenenlager „Was ist Wahrheit“. Das Stück war in ihm fertig, er musste es nur niederschreiben. Als er die letzte Zeile geschrieben hatte, es war in einem Erdbunker, stand oben im Eingang seine Frau mit einer Rose in der Hand. Sie durfte ihn in diesem Lager besuchen. Es klingt kitschig, aber so war es. Mit diesem Stück reisten meine Eltern nach der Freilassung – mein Vater war nie P. G. – Parteimitglied der Nationalsozialisten – von Dorf zu Stadt, bis zu 30 mal im Monat wurde aufgeführt, mit einer eigenen Reisebühne. Drei Schauspieler und zwei Frauen voraus, die den nächsten Ort erkundeten. Von 1945 bis zur DM Zeit, also drei Jahre. Danach erlosch das Interesse schlagartig an geistigen Fragen. So lernte mein Vater zweihundert Pfarrhäuser kennen und nach der Aufführung, - ob nun in der Kirche oder einer Scheune im niederdeutschen Bauernhaus -, die Seelennot der Menschen: „Warum hat Gott diesen Krieg zugelassen?“. Die ganze Arbeit meines Vaters: eine neue Bedeutung auf dem geschichtlichen Hintergrund? Die Frage werde ich nicht beantworten können, denn jede Antwort vor dem Hintergrund der Verbrechen der Nationalsozialisten wäre zu platt und zu einfach. Gedacht kann werden, dass hier versucht wurde noch einmal - und unsere Zeit lebt mehr noch aus dem Alten Testament – die ungeheure Umbruchsituation vor zweitausend Jahren , - die sich heute auf höherer Stufe wiederholt - , im Seelenleben von Menschen so aufleben zu lassen, dass wir mit ihnen zusammen ein Stück Weg gehen auf dem langen Pfade der Verwandlung unserer Seelen. Für mich waren diese Wandlungen nachvollziehbar, wenn der Vater im kleinen Freundeskreis zum ersten Mal sein Stück vortrug. Das sind unvergessene Momente, 344

wo durch die Betonung, die Stimmführung, die innere Dramatik, das Seelenblut, das in jeder Zeile mitvibrierte auf den Zuhörer überging. Die Dramen meines Vaters sind keine Lesedramen. Sie entfalten ihre Kraft erst, wenn sie im Wort erklingen. Gespielt erzeugen sie eine ungeheure Kraft, denn ihr Geheimnis liegt darin, dass zum Beispiel in der „Paulus – Trilogie“ Paulus nicht selber auftritt, aber indem von ihm gesprochen wird, ist er immer lebensnah anwesend. Für mich war die Darstellung des Paulus von Rembrandt, sie hing in meines Vaters Zimmer, eine lebendige, sprechende Gestalt.

KORONI, nachts, 7. Juli 1999 „Was willst du mit dem Jesusgreifer!“ Dieser Satz löst viele Erinnerungen aus. In der Schule hatten wir Goethe und Schiller im Gespräch behandelt und so ergab sich zuhause mit dem Vater im miteinander Reden der obige Satz. Er kennzeichnet das Verhältnis meines Vaters zu seinem Vater, meinem Großvater. Mit seinem ersten Geld hatte sich mein Vater - nach der evangelischen

Konfirmation - eine kleine

Schillerbüste gekauft. Diese anschauend, fiel der obige Satz aus dem Munde seines Vaters. Er war im Kaiserreich Polizist und streng in seiner Erziehung. Seine Liebe und Zuwendung galt der jüngeren Schwester meines Vaters. In den Augen des Großvaters kam mein Vater als Krüppel aus dem 1. Weltkrieg zurück, den wollte der Großvater nicht mehr sehen. Wäre er für das Vaterland gefallen, dann hätte man auf ihn Stolz sein können. Auf dem Totenbette schaute er nur seine Tochter an; seinen Sohn, meinen Vater nicht mehr. In dieser Zeit hatte mein Vater „Die Auferweckung des Lazarus“ geschrieben. Sein Vater lag auf den Tod im Lazarus Krankenhaus in Berlin und auf seiner weißen Bettdecke stand in roten Buchstaben: „Lazarus“. 345

Wie viele junge Menschen war mein Vater als Freiwilliger in den 1. Weltkrieg gezogen. Vor Verdun, sie waren schon an aufgeschichteten Leichenbergen vorbeimarschiert, kam seine Einheit, bevor sie die vorgelagerten Schützengräben erreichen konnten, in eine der Berüchtigten doppelten Feuerwalzen. Dabei wurde geschossen auf eine vordere und hintere Linie, die sich aufeinander zu bewegten. Für die Kompanie meines Vaters gab es nach keiner Seite ein Entrinnen. So, den Tod vor Augen, gab es nur einen Weg, durch die Feuerwalze hindurch. Dabei traf ein Splitter die Erkennungsmarke meines Vaters, die er über dem Herzen trug, wurde abgelenkt und flog in die linke Hand. Mit dieser Verletzung rannte er durch die Feuerwand und kam ins Lazarett. Dort flehte er darum, ihm die Hand nicht abzunehmen, er sei Schauspieler. – . So nähte man die Wunde der Hand zu, ohne zu erkennen, dass man den Splitter miteinnähte. Er wurde nach Heidelberg zurück verlegt. – Mit dem Auto haben wir den Ort später ( 60er Jahre ) einmal besucht. – Hier, drei Tage wahnsinnig von Schmerzen, wurde endlich der Splitter gefunden und herausoperiert. Seitdem trug er die linke Hand, Kleiner – und Ringfinger verkrüppelt, versteift und verkürzt so geschickt, dass man es nicht gleich bemerkte. Diese Zeit der unvorstellbaren Schmerzen tagelang, und Wundfieber, haben ihn an die Schwelle gebracht zwischen Leben und Tod. Darüber sprach er nie. Diesen Krüppel wollte der eigene Vater nicht mehr sehen. Geigenspiel und Orgelspiel, beides vom Vater gelernt, waren dadurch unmöglich geworden. Von seiner Kompanie war er der einzige Überlebende. Die Schulzeit muss schwer gewesen sein. Sicher war mein Vater ein begabter Schüler, so stand einmal unter einem Deutschaufsatz „ nur dem Dichter erlaubt “. Die menschlichen Verhältnisse an der Schule müssen katastrophal gewesen sein, und als sich der Direktor am Kronleuchter der Schule erhängte, verließ mein Vater die 346

Schule ohne wirklichen Abschluss. Er besuchte eine Schauspielschule bevor er freiwillig in den 1. Weltkrieg ging. Nach dem Krieg kehrte er in diesen Beruf zurück.. Was er im Einzelnen für Rollen spielte, weiß ich nicht. Ferien gab es nicht, denn im Sommer suchte man das Sommerengagement, so spielte er auch in Bad Homburg vor der Höhe. Mit 17 Jahren hatte mein Vater schon angefangen zu schreiben. So endete ein Stück: „Ein neuer Sakramentsaltar dem auferstandnen Gott“. Mit diesem Satz nahm er in sich vorweg die spätere Begegnung mit der Bewegung für religiöse Erneuerung, (Christengemeinschaft ) als 27jähriger in Eisenach. Da war er auf der Höhe seines Könnens als Oberregisseur am Theater und begegnete mit 27 Jahren, also im Jahre 1923, der Christengemeinschaft und dadurch auch der Anthroposophie. In dieser Zeit war er zum zweiten Mal verheiratet mit einer jüdischen Frau, über deren Ausbildung ich nichts weiß. Über seine drei Ehen hat mein Vater nie mit mir gesprochen. Das Wenige, was ich davon weiß, hat meine Mutter, die dritte Frau, Ilse Heymann geb. Barth, mir sehr viel später erzählt. Die Begegnung mit seiner ersten Frau, die viel älter war als er, endete wohl deshalb in der Ehe, weil sie ihm damit drohte, - die Beziehung zu seinem Vater richtig einschätzend -, von ihrem Verhältnis zu ihm seinem Vater zu erzählen. Da sie ihn später, so meine Mutter, mit einer Kehrschaufel und anderem Gerät verprügelte, wurde die Ehe aufgelöst .Seine zweite Frau gehörte in meiner Einschätzung völlig zu seiner Biographie. Sicher sind Wesenszüge von ihr eingeflossen in die vielen weiblichen Rollen, die aus dem Jüdischen stammend, in seinen Werken zum Leben erweckt wurden. Die Fülle der Kenntnisse jüdischen Seelenlebens, wie es in den Frauengestalten Thamar, 347

Rahab, Ruth und Bathseba z. B. zum Ausdruck kommt, sind ohne sie nicht zu denken. So glaube ich, dass es eine tief, prägende Beziehung war. „Für den Herrn dort zahle ich mit“ – dieser Satz, von seiner zweiten Frau in der Berliner Tram gesprochen, kennzeichnet ein wenig das Verhältnis der Eheleute. Meine Mutter, seine dritte Frau, lernte mein Vater als 18jährige am Grabe ihrer Mutter stehend, kennen. Da gaben sie sich zum ersten Mal die Hand. In den äußeren Dingen hat mein Vater immer viel Hilfe gebraucht, so auch in den praktischen Dingen des Lebens durch meine Mutter. In der Jungfrau geboren, 6. Sept. 1896, war mein Vater immer, ganz besonders dann im Alter, eine zarte, reiche, feinfühlige, großzügige Seele. In der Erziehung der beiden Knaben völlig hilflos. Das machte meine Mutter mehr oder weniger allein. - Sie hatte ein Temperament, das oft auch bei einzelnen zu regelnden Familienangelegenheiten sich so zeigte, wie bei einem Auftritt im Theater – (übertrieben gesagt). Folgende Geschichte kennzeichnet sie ganz gut: Er lebte zu dieser Zeit in einem kleinen Zimmer – circa 1931 – unter dem Dach für sich, während seine Frau Besuch von „Freunden“ in ihrer vorher gemeinsamen Wohnung empfing. In dieser Situation war mein Vater machtlos und erst durch das energische Einschreiten meiner resoluten Mutter wurde diese für ihn unwürdige Situation aufgelöst. Diese zweite Ehe war auch kinderlos, wie die Erste. Nach dem Tode meines Vaters, 1969, hat meine Mutter bewusst noch einmal einen Briefverkehr mit dieser zweiten Frau, sie lebte in England, gesucht und durchgeführt. Mein Großvater mütterlicherseits war Opernsänger, meine Großmutter Sängerin und Klavierlehrerin. So wuchs meine Mutter mit Gesang und völlig im Künstlerischen 348

lebend auf. Den Vater durfte sie nach Bayreuth in die Wagner – Aufführungen begleiten. Das waren für diese große Seele mächtige Eindrücke. Sie selbst besaß eine wundervolle Stimme. Die Eltern bestanden auf einer Ausbildung in Stenografie und Schreibmaschine, erst dann durfte sie Gesang studieren. Sieben Jahre nach ihrer ersten Begegnung heirateten meine Eltern, das war im Jahr 1937. Damals war meine Mutter als Opernsängerin im eigenen Engagement in Osnabrück, Stettin u. a. Mein Bruder Michael Johannes wurde 1939 geboren, ich, Rudolf Georg, im Krieg 1941. Der Krieg beendete die aufsteigende Gesangskarriere meiner Mutter. Sechs Jahre später waren alle Bande, die man in diesem Beruf braucht zerrissen. So stellte sich meine Mutter ganz in den Einsatz als Schauspielerin der Wanderbühne meines Vaters, der

HEYMANN - MATHWICH - BÜHNE

bis zur

Währungsreform.. Wie aus einem Selbstzeugnis meines Vaters hervorgeht, hatte er 1927 in Eisenach einen Zusammenbruch, der mit einem stark durchgeführten Schulungsweg der Anthroposophie auch zusammenhing. Darüber hat er mit mir nie gesprochen. Die Schicksalsentscheidungen danach lassen vermuten, dass ihm damals der Himmel offen stand und ihm ein Blick auf sein Schicksal gewährt wurde. Aus dieser Zeit stammt das mit Kreide gezeichnete Bild aus der Apokalypse, die 24 Ältesten um das Lamm Gottes(.Apokalypse Joh. Kap. 7). Von nun an wollte er ganz aus dem neu Erkannten Wesentliches arbeiten. Aus dem gewöhnlichen Theater stieg er aus und versuchte mit seinen eigenen Werken zu arbeiten. In dieser Situation, 1927, war ihm Pfarrer Gitzke ein Helfer, wie schon früher angedeutet. Sicher gibt es von diesem Zeitpunkt an ein Vorher und ein Nachher in der Biographie meines Vaters. Immer wieder hatte er lebensbedrohende Situationen zu überwinden. 349

In Breslau war eine Typhus – Epidemie ausgebrochen ( 1918 ), die Toten wurden in Möbelwagen aus der Stadt gefahren. Mein Vater war schon vom Arzt aufgegeben, dann erholte er sich doch. Seit dieser Zeit, er hatte fast alle Haare verloren, blieb ihm eine Halbglatze zurück, die ihn älter erscheinen ließ, als er eigentlich war. Dazu gehört auch ein im Alter nicht erkannter durchbrochener Blinddarm, den er nach schwieriger Operation überlebte. Diese Todeserfahrungen geben allen seinen Aussagen in seinen Werken einen authentischen, erlebten Charakter. Wovon er spricht ist durchlebt. Für mich als junger Mensch, und heute, ist dies der Prüfstein für sein Lebenswerk. Der Erstgeborene: „Der Sohn ist Tod“, diesen Satz schleudert Bathseba dem David entgegen, der weiß, dass auf diesem Sohn die Verheißung ruht. Es ist einer der Höhepunkte in diesem Werk „Bathseba“ – aus: „Geheimnis der Mütter“ – Es muss meinen Vater tief getroffen haben, dass wenige Zeit später, nach der Niederschrift von Bathseba, sein eigener Erstgeborener, mein Bruder Michael an Krebs starb. Dreizehn Monate und dreizehn Tage später starb mein Vater. ( Michael + 12. März 1968 – Johannes Heymann Mathwich + 25. April 1969 ) So erspürte ich oft mit meinem Vater im Gespräch, dass es sich bei den Dramen, den Dialogen nicht nur um Literatur handelte, sondern es lagen erfahrene Geschehnisse vor, zu denen er den Zuschauer, Zuhörer hingeleiten wollte. In unserem Gesprächen zuhause spielte immer ein Satz eine tröstliche Rolle, obwohl ihn zu zitieren vermessen ist, den Lic. Emil Bock zu meinem Vater gesagt hatte: „Ihre Stücke werden noch einmal so gelesen, wie meine Bücher“. Es ist dieser Satz Ausdruck einer Freundschaft, mit der Emil Bock auch helfend in das Schicksal meines Vaters eingriff. Manchmal denke ich bei aller Verwüstung der heutigen Seelen, wann werden die Fragen 350

nach dem Sinn des Daseins wieder gestellt. Wann entsteht wieder der Hunger nach dem Geistigen? Warum lebe ich? – „Was ist Wahrheit?“.

KORONI, Donnerstag, den 8. Juli 1999 „Die Erlösung des Hiob“ und HEYMANN MATHWICH BÜHNE war ein Plakat, das noch in vielen Exemplaren von den Tourneen vor der Währungsreform übrig war. Die Druckbuchstaben in schwarz waren auf gräulich – gelblichem billigen weichen Papier – aus der Nachkriegsproduktion – gedruckt. Das schnitt der Vater, Papier war immer teuer, in DIN A 5 Format zusammen, heftete es und versah es mit einem Buchrücken. Das machte er sehr geschickt. Auf diesem weichen Papier eilte sein weicher Bleistift – dieser war besonders ausgesucht – ohne jede Korrektur von seiner weichen Hand geführt, in einer kleinen Schreibschrift, über die linienfreie Seite exakt und gerade. Musste mittags abgewaschen werden, so half er mit und schrieb nachher dort weiter, wo er unterbrochen hatte. Diese Manuskripte sind in ihrer sorgfältigen Ausführung schon im Schriftbild kleine Kunstwerke. Zu verstehen ist diese Arbeitsweise nur, wenn man sich vorstellt, so wie es der Vater auch öfter geschildert hat, dass er über zehn Jahre mit diesen Gestalten im inneren Dialog lebt, bevor er dann niedergeschrieben wurde. Vater machte im Umfeld der Gestalten viele Studien; alle Landschaftsschilderungen z. B. der Weg der jungen Maria zu Elisabeth über Höhen, Tiefen, Berge, Täler stimmten genau, - ich bin es in Israel abgefahren -, obwohl er selber nie in Israel war. Auch der Blick auf Bathseba an der Quelle ist, steht man am Abhang der alten ursprünglichen Stadt Jerusalem, genau beschrieben. Diese profunden Kenntnisse, historische, geographische waren es auch, die Emil Bock veranlassten, meinen Vater von Bremen nach Stuttgart zu holen im Jahre 351

1953 oder etwas früher; wir, die Familie, übersiedelten erst 1954. Die Zeit, in der Vater die Nachschriften von Paulusvorträgen von Emil Bock durchzuarbeiten hatte und auf Wiederholungen zu achten hatte, war eine arbeitsreiche. Auf Veranlassung von Bock gelang es Herrn Paetsch, Leiter in der Bremer Post, dass mein Vater von der Bremer Post nach Stuttgart wechseln konnte. Beide Städte lagen in der damals amerikanisch verwalteten Zone. Hier arbeitete der Vater als Postfacharbeiter – ein Broterwerbsberuf, - in dieser Funktion sortierte er Briefe in verschiedene Fächer als Verteiler über Baden-Württemberg. Dazu musste er alle Verteilernetze in Süddeutschland neu auswendig lernen um zu wissen in welches Fach welcher Brief gehörte, um seine richtigen Weg zu nehmen. Ich habe diese Karten gesehen mit den zahllosen Orten in eine Richtung. Vater stand vor diesen Fächern, einen Stoß Briefe in der Hand, man denke an die verkrüppelte linke Hand, und mit der anderen wurden die Briefe in die Fächer sortiert, - wehe es wurde falsch sortiert. In dieser Zeit benutzte er für „Meerfahrt mit Paulus“ die öffentliche Ausleihe der Stuttgarter Bibliothek. So hatte er ein dickes Buch eines Segel – Kapitäns studiert, der das Mittelmeer besegelt hatte und nun genauestens schildern konnte, aus Kenntnis der Wetterverhältnisse, wie die Fahrt des Paulus in der Zeit der zwölf Heiligen Nächte sich zugetragen haben konnte. Das hatte mein Vater als Hintergrundwissen erarbeitet. Alle Befehle zu Segelmanövern des Kornhändlers Felix beruhen auf diesem Studium. Er wohnte in dieser Zeit - 1952 -1954! - bei einem liebevollen, mit Emil Bock befreundeten, Ehepaar Leger in einem unbeheizten Zimmer. Als die Kosten des elektrischen Ofens zu teuer wurden, wurde der Ofen abgestellt. In eine Decke 352

eingehüllt und mit Handschuhen an den klammen Fingern schrieb er dort die Trilogie „ Sie erlebten Paulus“ in der Winterkälte. Als ich im Jahre 1967 als Eurythmielehrer zu arbeiten begann, sagte mein Vater zu mir: „Du arbeitest etwas, das dir Freude macht, und du kriegst es auch noch bezahlt.“ Dahinter verbarg sich sein Doppelarbeiten seit seinem 27. Lebensjahr mit wenigen Ausnahmen. Nach seinem Ausstieg aus dem Theaterleben als erfolgreicher Regisseur, übte mein Vater verschiedenste „Brotberufe“ aus, um seinen neuen Intensionen und Erkenntnissen leben zu können, seine eigenen Werke zu inszenieren. Nach dem inneren Zusammenbruch, 1927, dem auch ein körperlicher folgte, fing er an, durch Freunde vermittelt, in einer „Tabakpreiserrechnungsstelle“ zu arbeiten. (Dieser Zusammenbruch war ja der eigentliche Aufbruch in eine Neue Welt, seine Welt!). In Eisenach kam es zu einer denkwürdigen Aufführung des Werkes „Die Auferweckung des Lazarus“ finanziert durch Freunde. Ein Kritiker schrieb nach der Darstellung: „Die Eingeweihten sterben nicht aus“, Daneben begann nun die anthroposophische Arbeit im Spielerkreis der Christengemeinschaft. Zusammen mit meiner Mutter, damals noch Ilse Barth, gestaltete er die Tagungen mit, auf denen auch meine Mutter als Sängerin auftrat. Der Lenker der Christengemeinschaft Friedrich Rittelmeyer lobte ihre Stimme. In der Zeit des heraufkommenden Nationalsozialismus hatte meine Mutter ihre Engagements als Sängerin an der Oper, und der Vater lebte von Auftragsarbeiten. Sie wohnten in Berlin Karlstr. Ecke Friedrichstr, in einem Atelier. Es hatte eine 10m breite und 4 bis 5m hohe Glasfront, diese hatte den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Hier wurde die ganze Zeit durch bis 1944 anthroposophisch gearbeitet und Laienspiel gepflegt. Mein Vater, wie schon gesagt, 353

war nie P. G., er versteckte in dieser Zeit kein einziges Buch seiner großen anthroposophischen Bibliothek, obwohl er wusste, dass unter seinen Zuhörern Anhänger der Nazis waren. Er wurde immer wieder bedroht, „Ich stelle ihnen einen SA – Mann vor die Tür“. Durch die politischen Verhältnisse wurde seine künstlerische Arbeit eingeschränkt. Während des Krieges arbeitete er mit Blinden, Tauben und Gehörlosen Theaterstücke und gab ihnen dadurch wieder Lebensmut. Von diesen Aufführungen gibt es schöne Theaterfotos. Eine frühere Auftragsarbeit, als Regisseur hatte er einen Namen, war eine Aufführung mit 2000 Darstellern, darunter ganze Nazi – Gruppen als Statisten, auf der Freitreppe des Erfurter Dom. Achttausend Zuschauer kamen. Es ging um den Jahreslauf und die Entstehung des Brotes durch das Jahr. Gegen heftigen Widerstand der Nazis begann die Aufführung mit dem Gebet: „Das Brot allein….“ Das Dirigieren dieser Massen von Menschen, zum richtigen Zeitpunkt zu erscheinen, beherrschte er. Ein Bild dieser Treppe in Erfurt hing immer in seinem Arbeitszimmer. Wegen der furchtbaren Bombardierungen von Berlin zogen meine Eltern mit uns, Michael und Rudolf, um nach Wildauwald, einem Vorort von Berlin. Mein Vater sagte am Beginn des Krieges, „ bevor er endet müssen wir westlich der Elbe sein“. Da kam der Ruf von einer anthroposophischen Bäuerin, Frau Schlesselmann: „Muss Evakuierte nehmen, kommen sie mit beiden Kindern“. Meine Mutter konnte mit neun Koffern, gefüllt mit Büchern und Manuskripten, Berlin noch vor dem Einmarsch der Russen verlassen und über Bremen, Zeven nach Godenstedt fliehen. Ein Bild für die Tatkraft meiner Mutter. Noch ein Rückblick in die 20er Jahre. Frau Dullo, die Mutter meiner Patentante, finanzierte die ersten Aufführungen der Dramen „Verrat des Judas“ und „Die 354

Auferweckung des Lazarus“, sowie „Die Enthauptung des Johannes“. Es entstand eine erste Reisebühne. Der zeitliche Hintergrund wird bestimmt durch massenhafte Arbeitslosigkeit, Hungerzeit, Börsenkrach – meine Eltern hatten einen leeren Brotteller in dieser Zeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser trug die geschnitzte Inschrift: „Alle Dinge kommen zu denen, die zu warten verstehen“. Aus dieser Zeit gibt es auch eine lebenslange Freundschaft zu Frau Fackler, die ihm Hilfen geben konnte zu der im Lebensumbruch erlebten Rückschau auf das Alte Ägypten und sagen konnte, warum die Ägypter so glänzende Leiber hatten. Später besuchten wir sie in Reutlingen, wo ihr Mann Pfarrer der Christengemeinschaft war. Bei einem letzten Versuch mit einer Reisebühne gastierten wir in Reutlingen, vorher in Heilbronn und später sogar im Festsaal der ersten Waldorfschule in Stuttgart, mit „Meerfahrt mit Paulus“. Die Stecktechnik der Reisebühne hatte ich aus Vorhangschienen entwickelt. Heute gibt es solche Systeme überall zu kaufen. Im Krieg selber bereiste meine Mutter als Sängerin im Auftrage der Wehrmachtbetreuung die Südküste Frankreichs, umschwärmt von den Soldaten und Offizieren. Sie bekam in dieser Zeit ein üppiges Honorar, sodass mein Bruder ein rotes Tretauto und ich einen Roller geschenkt kriegten.. Dadurch verlor sie auch ein Verhältnis zum Geld. Nach dem Krieg hatten wir solange ich zurückdenken kann, immer Schulden. Mein Vater versuchte in dieser Zeit des Krieges, Stücke zu schreiben und fertig vorzubereiten um mit ihnen an der Front zur Wehrmachtsbetreuung beizutragen, da er wusste, auch von meiner Mutter, dass die Soldaten nicht nur leichte Unterhaltung wollten, wenn sie am nächsten Tag mit dem Tod rechnen mussten, (U-Boot Besatzungen). So entstanden „Die Nächte über Karasaki“ – „ Chidori“ –und „Kondwiramur“, in denen der Reinkarnationsgedanke im japanischen Kleide anklang. 355

Das wurde aber nach Vorführung – man bedenke Kostüme, Text lernen Kulissen – als zu ernst abgelehnt. Mein Vater wurde, wegen der Verletzung aus dem ersten Krieg nicht als aktiver Soldat, eingezogen als “Flugzeugerkennungsdienstausbildungsleiter“. Er hatte alle Schattenrisse der feindlichen Flugzeuge in den verschiedensten Flugpositionen zu lernen und den Flackbesatzungen zu vermitteln. In dieser Funktion wurde er nach Zeven verlegt. Hier besuchte ihn meine Mutter. Auf der Suche nach einem Nachtquartier findet sie im letzten Haus des Dorfes Godenstedt die Bäuerin Frau Schlesselmann. Durch deren mutige Frage: „Warum heißt ihr Sohn Michael“ erkennen sie sich als Anthroposophen. Das war sehr gefährlich im „III Reich“. Mitten im Krieg hatte meine Mutter im Zug einen Streit um Sitzplätze erlebt, sie war aufgestanden und ging in den Zwischengang der Toiletten. Die Streitenden setzten sich. Der Zug bekam Tieffliegerangriff und auf der Bank, wo auch meine Mutter vorher gesessen hatte wurde den Sitzenden die Fersenbeine durchschossen, sodass sie nicht mehr aufstehen konnten. Meine Eltern haben durch die Kriegswirren hindurch immer eine starke Führung erlebt, die sich wie ein roter Faden durch diese Jahre zog. Dafür waren sie tief dankbar.

KORONI, Freitag, den 9. Juli 1999 Von den „Brotberufen“ war die Rede. Mit der Lizenz meines Vaters als Regisseur wurde die Niederdeutsche Bühne in Bremen wiedereröffnet, er war sofort entnazifiziert worden. Er betrachtet diese Bühnenarbeit, oft in Plattdeutsch. als Handwerk, dass er aber, wie die erfolgreichen Inszenierungen zeigten, voll beherrschte. Meine schönsten Kindheitserinnerungen knüpfen sich an diese Zeit. 356

Das muss alles nach der Währungsreform gewesen sein und nach den drei Jahren der Reisetätigkeit mit der eigenen Bühne und den eigenen Werken. In einem gelben Postbus, als Sohn des Regisseurs bevorzugt behandelt, ging es auf das Land hinaus zu einer Freilichtaufführung. Am Schluss wurde die Kostümkiste und die Requisiten auf ein Fuhrwerk verladen, da durfte ich vorne auf dem Kutscherbock sitzen. Es ging durch den Wald zur Freilichtbühne. Da wurden schon die wenigen Kulissen aufgebaut, und bald füllte sich das Rund. Es wurde ein Schwank in Plattdeutsch gespielt. Die „Zweite Entnazifizierung“ führte dazu, dass auch bisher braun Belastete in ihre vorherigen Berufe zurückkehren konnten. Das wiederum führte dazu dass mein Vater von den, wie man heute sagen würde, braunen Seilschaften, aus seiner leitenden Stellung vertrieben wurde. So wurde er ein zweites Mal Opfer der Nationalsozialisten, die zusammen hielten und ihn verdrängten, eine bittere Erfahrung. Mein Vater konnte nur noch einzelne Inszenierungen machen und arbeitete nun schon teilweise doppelt –( wie in der Nachkriegszeit üblich)-, als Postfacharbeiter bei der Bremer Post am Hauptbahnhof und an der Niederdeutschen Bühne (1948 – 53). - Zur Charakterisierung der Zeit sei angefügt, dass wir Kinder das Privileg hatten, in dem trümmerübersäten, kaputten Bremen, einen Roller zu besitzen. Er war aus „Gusseisen“ mit Eisenrädern. Er wurde schwarz angefertigt in der Bühnenmeisterei. Die Katastrophe war, dass er, wenn man über eine hervorstehenden Plattenrand zu schnell führ, zersprang. Er wurde zwar mehrmals wieder zusammengeschweißt, mit großer Mühe, aber es hielt nicht lange. Einen sder größten Erfolge mit seiner Reisebühne hatte er, als er im „Glockensaal“ in der Nähe des Bremer Domes „Die Frage des Pilatus“ aufführen konnte vor fast tausend Zuschauern. Diese Situation wurde von seinem hoch – 357

begabten Theatermaler Theodor Schlonski im Bild festgehalten. Die Erzählungen von diesem Erfolg begleiteten meine Kindheit. Das plattdeutsche Lied „Adschüß min Jan und lev och mol…“ hatte ich in Erinnerung an meine singende Mutter in den Ohren in der Zeit, da ich monatelang still liegend im Krankenhaus sein musste. Als Folge des Krieges hatte ich „Hilusdrüsenschwellung“, eigroß, eine nicht offene Tbc. Ich lag eineinhalb Jahre in der Isolierstation und durfte meine Mutter nicht berühren. Ich sah sie nur am Fenster in den Baracken in denen wir lagen oder an der Tür. Wenn die Sehnsucht zu groß wurde, sang ich es vor mich hin und weinte dann anschließend lange. Meine Mutter als Sängerin, mein Vater als Vortragender, so gestalteten sie . musikalische Abende. Aber das Wirtschaftswunder mit dem sich entwickelnden Desinteresse für alles Geistige forderte seinen Tribut. Wir kehren zurück zum Broterwerb. Meine Mutter, - Sängerin, gefeiert in Osnabrück, Stettin und Stralsund als die „kommende Stimme“, wie es in den Kritiken hieß -, fuhr mit dem Fahrrad bei jedem Wetter hinaus in eine offene Lagerhalle am kaputten Hafenpier, wo Frauen saßen und nasse Baumwolle von Brandflecken freizupften,die von verunglückten Schiffen stammten, die gebrannt hatten. Es waren Massen von Ballen, die von Hand „verlesen“ wurden um dann neu gepackt zu werden . Bremen hatte vormals die größte deutsche Baumwollbörse. Die Frauen mussten dann die gezupfte, reine Wolle wieder feststampfen. Diese wurde illegal „etwas“ angefeuchtet, damit sie schwerer wog. Auftrag des Besitzers, aber darüber schwiegen alle. Die Gespräche der Frauen waren sehr ordinär untereinander. Da saß meine Mutter, vor den Lagerhallen, die halb untergegangenen Kriegschiffe waren zu sehen. Später hatte sie eine bessere Arbeitsstelle. Die ersten Neubauten nach dem Krieg entstanden im Hafen von Bremen, da konnte meine Mutter die Kontore der Zöllner putzen 358

(wahrscheinlich 1951 – 1954). Damals fuhr ich nach der Schule mit dem Fahrrad hin und half ihr beim Reinigen und Bohnern der Böden. Da sie zwei Stellen bekam und sehr sauber putzte, war sie von morgens bis nachts 24 Uhr voll beschäftigt. Bremen lag in Trümmern, man konnte vom Hafen bis zum Bahnhof durchschauen, da stand kein Haus dazwischen. Aber im Hafen strahlten die Lichter der Schiffe, wie sonst nur der Weihnachtsbaum. Solche Gefühle hatten wir, wenn wir abends nach Hause fuhren, und meine Mutter froh war nicht allein zu sein, wenn ich auch keinen besonderen Schutz bot. Das Fahrrad, auf dem sie fuhr, hatte Michael, mein technisch hochbegabter und geschickter Bruder aus vielen Einzelteilen vom Schrottplatz zusammengebaut. So etwas war damals ein Schatz. -

Meine Mutter, die Sängerin als Putzfrau, mein Vater der Schauspieler,

Regisseur, Dichter als Postfacharbeiter; Künstlerschicksal ? Hungern mussten wir nicht. An Klagen meiner Eltern aus dieser Zeit erinnere ich mich nicht. Fahrradfahren hatte ich gelernt auf einem „Fahrrad“ ohne Kette, das gab es nicht und Ohne Schläuche und Mäntel auf den Felgen fahrend, ein Höllenlärm, geschoben von meinem Bruder. Zöllner Happen Emden, - so hieß er weil er als einer der wenigen Überlebenden der glorreichen Emden, die nach erfolgreichem Kaperkrieg untergegangen war, sich so nennen durfte, als Auszeichnung, - hatte immer alles schon geputzt, wenn meine Mutter kam. Er wollte sich mit ihr gerne unterhalten. Da war meine Mutter froh, wenn ich dabei war als Schutz, wofür verstand ich damals noch nicht. Er hatte damals beim Untergang sechs Stunden im Wasser gelegen, bevor man ihn fand rettete.

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KORONI, Samstag, den 10. Juli 1999

In dieser Zeit wohnten wir in Bremen – Oslebshausen in der Stubbenerstr. 89 in .einem kommunistischen Arbeiterviertel. Der vierte Wohnungswechsel in Bremen. Über uns wohnten auch Kommunisten und die Umzüge mit roten Fahnen prägten das Straßenbild. Die einzelnen Straßen hatten ihre „Banden“ und ich sehe meinen mutigen Bruder noch mit einer langen Baulatte, die er vor sich her über die Straße schwenkte, um eine Horde Kinder zu vertreiben und so die Straße vor unserer Wohnung wieder freizuschaffen. So war das in diesem Viertel. Der Bahndamm, hoch gelegen, war nicht weit und wenn Kohlenzüge dort hielten zum Rangieren, wurden Kohlen organisiert. Meine Eltern beteiligten sich nicht daran. In der Wohnung waren einzelne kleine Kohleöfen, die im Winter zu heizen waren. Ein Leben lang besaßen meine Eltern keinen Kühlschrank, -Mutter erst in den letzten Lebensjahren-, keine Waschmaschine, keinen Fernseher und kein Auto. Davor wohnten wir wie sich später herausstellte bei einer Verrückten, die wenn sie meinen Eltern auf der Straße begegnete, den Rock hob um zu zeigen „ihr könnt mich mal…“.Ich nehme an, dass uns diese Wohnung zugewiesen wurde bei der damaligen Wohnungsnot, gegen den Willen der Besitzerin. Von hier kam mein Vater schnell mit dem Trolley – Bus (Ein Bus mit elektrischer Oberleitung) zur Endstation der Straßenbahn in Gröpelingen und von dort zur Niederdeutschen Bühne. Oft wurde dieser Weg auch zu Fuß zurückgelegt um das Fahrgeld zu sparen. Damals rauchte mein Vater noch Juno – dick und rund –. Die durfte ich für ihn holen. Zu einer der schönsten Kindheitserinnerungen gehörte der Sonntag, an dem es manchmal „Bienenstich“ zu essen gab. Für uns Kinder gab es auch „Roller mit Gummireifen“ zu leihen, stundenweise! Besitzen war unvorstellbar. Alles lebte 360

damals auf „Pump“. Über einen Gag von den Komikern Dick und Doof wurde damals verständnisvoll herzlich gelacht. Es ging um den Kauf eines Wohnwagens: „Wenn du ihn vorher bezahlst, kriegst du ihn nachher umsonst“. Davon konnte man nur träumen. In der Aufzählung der Wohnungen sind wir immer rückwärts gegangen von der Gralsteter Wohnung aus und kommen jetzt zu der Obergeschosswohnung im Pfarrhaus , gelegen an der Endstation in Gröpelingen. Die Straßenbahn, um zu wenden, fuhr hier kreischend im Kreis. Dieses Quietschen, Klirren und Singen beherrschte unseren Tageslauf. An die erste Wohnung in der Brombergerstr. kann ich mich auch noch erinnern. Sie bestand aus zwei Zimmern. Eins unten, das Arbeitszimmer und einen Stock höher das Küchenwohnzimmer, alles sehr klein und eng. Aus Platzmangel schlief ich auf dem Tisch um den die Stühle gestellt wurden, damit ich nicht herunterfalle. Hier gab es Trümmergrundstücke, aufgerissene Straßen mit fehlenden Kanaldeckeln. Das wurde für meinen Bruder zur Mutprobe. Er stieg ein und man wusste nicht, wo er wieder herauskommt. Ich hatte natürlich große Angst. Meine Eltern wussten davon lange nichts. Von hier aus zog mein Bruder mit einem Handwagen kilometerweit entfernt zum Weserstrand um Sand für den Sandkasten zu holen. Als er beladen war, konnte man ihn kaum aus dem Sand ziehen. Aber mein starker Bruder schaffte es. Am Schluss, ich konnte nicht mehr, es war mittlerweile dunkel geworden, saß ich auf dem Sand im Wagen und mein zäher Bruder zog alles. Meine Eltern machten sich Sorgen. Spät in der Nacht kamen wir zurück. Wenn Besuch kam von alten Schauspielerkollegen, die sich auch mal bei uns sattessen wollten, meine Mutter kochte unwillig aber gut und war immer, auch wenn wir nichts hatten, verschwenderisch. Nun wurden lebhaft alte Zeiten beschworen und neue, meist Luftschlösser entworfen. Dabei ging die Stimmung hoch, und ich spürte 361

die Wärme, die in allem lebte auch wenn wie man heute sagt „alles nur heiße Luft“ war. Es ging bei uns, schon durch das Temperament meiner Mutter immer hochdramatisch zu. Aber BENEFIZ BEI MATTLER war ein großer Erfolg, wie ein Plakat aus Hamburg zeigt. Mayer-Brink, der Dichter, seinen Namen erinnere ich gut. In der Erziehung meines Bruders war meine Mutter nie Konsequent und bewegte sich in Extremen. So wurde mein eigensinniger – aber auch genialer Bruder – mit dem großen Kochlöffel verdroschen,- wie man das damals nannte – und dann wieder durch zu starke Zuwendung in das andere Extrem geführt. Ich schaute dem zu, kriegte nie was ab, es lag ja auch nichts vor, und lernte durch Mitleben. Meinen Vater erlebte ich in diesen Situationen als hilflos. Im Theater konnte er ein unvorstellbares, heftiges Temperament entfalten und die Schauspieler zu großen Leistungen anfeuern, aber zuhause wendete er dieses Temperament nicht an. Nach dem frühen Tod meines Bruders schaute sie reumütig auf diese Zeit zurück. Mein Bruder war sehr schwierig auch in der Schule. Er warf ein Tintenfass nach seinem, von ihm eigentlich geliebten Lehrer, Dr. Balzun. Passte meinem Bruder etwas nicht, Anfragen nach fehlenden Hausaufgaben, blieb er nächtelang weg und wenn es kalt wurde, warf er kleine Steine ans Fenster und wurde wie der „verlorene Sohn“ wieder aufgenommen. Der Anlass war dadurch nicht gelöst. So war oft beim Mittagstisch eine große Spannung, wo ein Wort das andere gab, und mein Vater dann wortlos den Tisch verließ. Mein Bruder kannte seine Macht und spielte sie aus. Später in der Pubertät spielte der Selbstmord in ihm eine ungeheure Rolle, oft musste ich ihn begleiten und ihn von solchen Gedanken abbringen, da saßen wir dann am Straßengraben, hilflos wie Kinder in dem Alter sind. Das alles gehört zu dem Spannungsfeld und war der Hintergrund, vor dem mein 362

Vater seinen inneren Weg mit seinen Dramen ging, trotz aller äußeren Hemmnisse. Wie schon gesagt, ging meinem Vater die Bedeutung dieser Persönlichkeit meines Bruders, die da als Sohn in seiner Nähe lebte, erst nach dessen Tod auf. Nach drei Tagen spiegelte das „Toten – Antlitz“ die Reife eines über Fünfzigjährigen, einer bedeutenden Persönlichkeit. Furchtbare Schockerlebnisse erlitt mein Bruder als Kind. Bei Schlesselmann, in Godenstedt auf dem Bauernhof, will Michael in das Bauernhaus, es tritt Verdunkelung ein wegen Fliegeralarm, und er rennt auf der Türschwelle einem Knecht in die Arme, so dass das heiße Wasser einer Wanne, die der Knecht hielt, über den Rücken meines Bruders floss. Mit furchtbaren Verbrühungen schreit mein Bruder tagelang im Krankenhaus in Zeven. Meine tapfere Mutter saß tage-und nächtelang dabei. Das war seine zweite Verbrühung mit großen Narben auf dem Rücken. Als 4jähriger zieht er die Tischdecke herunter auf der heißer Kaffee in einer Kanne war. Das war die erste Begegnung mit dem Verbrennen. Später hat er mehrer Unfälle, die er mehr oder weniger verletzt übersteht. Einmal reißt ihn ein betrunkener Autofahrer mit seinem Lieferwagen vom Moped und flüchtet. Der Bruder bringt das Auto zur Polizei, weil an dem nach vorne offenen Türgriff Kleiderreste hingen. Der Griff hinterließ eine tiefe Fleischwunde in der Nähe der Leber. Dieser Sohn an der Seite meines Vaters ist eine Lebensschrift, die ich nicht entschlüsseln kann, aber die doch zu der Persönlichkeit meines Vaters dazugehört. Diese Bremer Zeit haben meine Eltern, nach Berlin, trotz anthroposophischer Gesellschaft und Christengemeinschaft als sehr schwer und vereinsamend erlebt. Durch die Vermittlung von Emil Bock, wie aus den beigefügten Briefen ersichtlich, konnte diese Situation, die Aussichtslose, aufgelöst werden. Auch die Anstellung meiner Mutter beim statistischen Landesamt, Geburtenzählung, 363

geht auf die Unterstützung durch Bock zurück. Nun bewährte es sich, dass sie damals eine Ausbildung in Stenographie und Schreibmaschine auf Veranlassung der Eltern machen musste. In Kornwestheim, Adlerstr. 15, wohin wir von Bremen (Stubbenerstr.89) umgezogen waren, hatten wir eine schöne Wohnung mit Blick über die ganze Stadt. Hier hatte der Vater ein schönes Arbeitszimmer. Die Wohnung gehörte reichen Gaststätten Besitzern. In der Gaststätte verkehrten viele amerikanische Soldaten aus drei Garnisonen und die deutschen Fräuleins in entsprechendem Aufzug. Für mich war das Theater. Leider vermietete die Wirtin das Dachgeschoßzimmer über dem Arbeitszimmer meines Vaters an die „Fräuleins“. Ich hörte aus meinem außerhalb der Wohnung liegenden Kämmerchen, wie die Leute kichernd und knarrend die Stiege heraufkamen und dann in dem Zimmer verschwanden. Gar manche Nacht werden sie den Eltern den Schlaf geraubt haben. Die Arbeitsatmosphäre in dem darunter liegenden Arbeitszimmer war sicher beeinträchtigt. Hier entstanden die wunderbaren Mariengespräche. Der Gegensatz ist nicht deutlicher zu kennzeichnen, was innere Unabhängigkeit von äußeren Gegebenheiten angeht. Beim Eingang zu unserem Haus im Erdgeschoß, wir waren im zweiten Stock, war ein Kuhstall. Um zum Eingang zu kommen, musste man im Viereck um den Misthaufen herumgehen. Hier begann nun die Arbeitssituation, wo mein Vater bis zum Tode von Emil Bock, 1959, für diesen, und in der Post am Hauptbahnhof Stuttgart und anschließend noch an seinen Dramen arbeitete.

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KORONI, Sonntag, den 11. Juli 1999 „Meine Stücke sind doch etwas episch“, in diesem Sinne äußerte sich Albert Steffen zu meinem Vater nach der Uraufführung der „Stunde der Drusilla“ im Grundsteinsaal des Goetheanum. Für den Vater war das ein großes Lob, dass Albert Steffen die Seelendramatik und die Dramatik im Dialog des Werkes erlebt hatte. Wie war es zu dieser Aufführung gekommen in Dornach? Ein Mitglied der Reisebühne 1945 – 1948, Hermann Budde hatte sich mit einer Spielergruppe in der Schweiz selbständig gemacht und bereiste die Gemeinden in der Schweiz. So kam er auch in die Dorfkirche in Dornach. Hier hatte er die Dreistigkeit, obwohl er mit der Anthroposophie nicht vertraut war, der Leitung des Goetheanum mitzuteilen, ich spiele hier ein Stück von einem Anthroposophen „Frage des Pilatus“, -Was ist Wahrheit -. Erst wollte Albert Steffen jemanden schicken, betrat dann aber überraschend selbst den Aufführungsraum. So kam es zur Verbindung mit dem Vater und zur Einstudierung der „Stunde der Drusilla“ aus der Trilogie „Sie erlebten Paulus“, durch die Schauspieler: Frau Mechthild Harkness, Frau Maier – Matthesius Und Herrn Robert Schmidt. Die Darstellung im Goetheanum bekam gute Kritiken. Das war das für den Vater eine große Freude in seinem Alter (1962). Eine geplante Tournee kam leider nicht zustande; wie so oft in seinem Leben, war ihm ein größerer Bekanntheitsgrad versagt geblieben. In Dornach wurde es mehrmals gespielt. Frau Harkness ging nach Australien an eine Sprachgestaltungsschule als Ausbilder. Frau Maier – Matthesius heiratete in zweiter Ehe einen israelischen Kaufmann und lebte mit ihm in Israel. Ihre Rolle als Drusilla war wie ein Vorklang zu diesem späteren Leben. Das hat den Vater später immer wieder sehr bewegt. Eine der schönsten Erinnerungen an Hermann Budde war ein gemeinsames Mittagessen in Meersburg am Bodensee. Er, seine junge Freundin, meine Mutter und 365

mein Vater; ich durfte zuhören. Hier wurden alte Zeiten wach, die Nachkriegsjahre, Hermann Budde spielte damals den Sancho Pansa in „Die Geliebte“ von meinem Vater. Ab und zu bekam Vater „Tantiemen“ in Schweizer Franken, das war damals ein Schatz, nicht sosehr im Materiellen, sondern im geistigen Sinne. Als die junge Schauspielerin Hermann Budde verließ, nahm er sich das Leben. Dieser Tod traf den Vater tief. Hätte Hermann Budde den Zugang zur Anthroposophie gefunden, wäre es dann anders ausgegangen? Mein Vater starb an Leberzirrhose, einem Alterskrebs, nachdem er zwei lebensbedrohende Operationen überlebt hatte, dank dem Können der Ärzte. Ein Leben lang hatte mein Vater immer wieder heftige Ohrenschmerzen. Nun wurde es so schlimm, dass er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Jetzt wurde ihm in der Hals-Nasen-Ohrenklinik in Stuttgart das Felsenbein bei örtlicher Betäubung, aufgemeißelt, sodass der Gehörgang offen lag und gereinigt werden Konnte. Es blieb keine Lähmung zurück. Damit der Patient jederzeit befragt werden kann, fand nur die örtliche Betäubung statt. So erlebte der Vater das Öffnen des Felsenbeins bei vollem Bewusstsein. Die zweite Operation war der schon geschilderte Blinddarmdurchbruch, mit dem der Vater schon mehrer Tage zugebracht haben musste, bis er entdeckt wurde. - Für mich war dieser Zustand ein Beweis, wie unabhängig er sich von Schmerzen machen konnte. – Da in einem gewissen Zeitpunkt bei dieser schweren Operation der Verdauungsvorgang aufgehalten ja umgekehrt wurde, sagte der Vater: „Jetzt verstehe ich das Traumlied von Olaf Ǻsteson, wenn es da heißt, „da fühlte ich im Munde Erde, wie Tote, die in Gräbern liegen“. Auch diese Erfahrung musste er in so hohem Alter noch machen, kurz vor seinem Tode. 366

Meine Mutter und ich standen am Sterbebett. Sie hatte sich verabschiedet, da nahm ich seine rechte Hand, er drückte die meine fest, darauf atmete er tief seine Seele aus (25. April 1969). Am Vorabend seines Todestages und der Vorbereitung der Operation für den nächsten Tag, lag mein Vater in heitere Stimmung. Er hatte zuhause einen Blutsturz gehabt. So unrasiert, machte ich die unpassende Bemerkung, er sehe jetzt wie Hemingway aus, der sich gerne unrasiert fotografieren ließ. Dass es um ihn ernst stand, war ihm und uns bewusst, aber er war heiter und gelassen. Wir waren wenige Tage vorher mit ihm zur Musikertagung in Dornach gewesen, wo er mit von Baltz freundschaftliche Gespräche geführt hatte und die Fahrt mit uns, Hiltrud und mir, im Auto dorthin und die Fahrt zurück, das musikalische Erleben, sehr genossen hatte. Zur selben Zeit lag meine Mutter mit einer Unterleibsoperation für längere Zeit im Krankenhaus, eine immer wiederkehrende Folge der schweren körperlichen Arbeit nach der Währungsreform.. Kaum aus dem Krankenbett entlassen, musste sie dann am Grabe ihres geliebten Mannes stehen. Als der Stein für das Urnengrab mit dem Namen meines Bruders versehen worden war, ein weißer, weicher geschliffener Marmorstein, (Von der Bildhauerin Astrid Haueisen), strich der Vater liebevoll darüber und zeigte die Stelle, wo demnächst sein Name stehen würde, und so geschah es dann auch.

KORONI, Dienstag, den 13. Juli 1999 „Eine alte jüdische Seele“ sagte Frau Dr. Sukitch-Hartmann, als mein Vater aufgebahrt war und die Totenmaske durch fachmännische Hand von Frau Astrid Haueisen, (jetzt verheiratet mit Ulrich Oelssner), abgenommen wurde. 367

Bei den vielen Brotberufen waren wir am 9. Juli 1999 stehen geblieben. Dazu Gehörte auch die Einarbeitung in das „Lochkartensystem“ und dessen Übertragung in modernere Formen der Aufarbeitung bei der Bausparkasse Wüstenrot, nach seiner Pensionierung. Aufgrund seiner schnellen Auffassungsgabe hatte er gleich eine leitende Stellung in der Abteilung. Dieses Dazuarbeiten zu seiner geringen Pension ermöglichte kleine Reisen zum Bodensee, den er in seinen vielen Stimmungen über alles liebte. Einen weiteren Schritt in die Moderne vollzog er 1962-63, als er das Archiv der neu gegründete Zeitschrift für Verbraucher DM verwaltete. Hier erlebte er die großen Interessengegensätze der Hersteller und der Verbraucher hautnah. Es war das erste Mal, dass Produkte im Sinne des Verbrauchers getestet wurden. Immer wieder stand die Zeitung durch angezettelte Prozesse vor dem Ruin. Hier in der Marienstr. in Stuttgart holte ich ihn oft am Freitag mit dem Auto ab und dann hörte ich immer das Neueste. Zur selben Zeit entstanden die Gespräche der heiligen Familien.: - Joseph erzählt seinen Traum Maria, - Die andere Maria, erzählt von der „Verkündigung am Brunnen durch den Engel an sie“ ihrem Mann, der als Zimmermann arbeitete. -

Die beiden Marien unterhalten sich über das Rätsel des 12jährigen Jesus, - der im Tempel lehrt -. Einer muss zunehmen, der andere muss abnehmen! - .

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Bei der Rückkehr der einen Familie aus Ägypten, sprechen die beiden Josephe miteinander (Fragment). - Nach dem Tod der Ehepartner sprechen Maria und Joseph, die nicht die direkte Verbindungen zur geistigen Welt hatten, über den 24jährigen Jesus. -

Hier Brotberuf dort die Dramen mit Inhalten, die völlig neu waren. Es muss das im Leben meines Vaters immer zusammen gesehen werden. Für mich, wie in der Jugend normal, war das Tagesgeschehen oft interessanter. 368

Wer sprach mit dem Vater über das, was in seiner Seele lebte? Lic. Emil Bock war verstorben. Wo waren noch Freunde und verwandte Seelen?

KORONI, Mittwoch, den 14. Juli 1999

In Kornwestheim, zwischen Ludwigsburg und Stuttgart gelegen, bildete sich in den sechziger Jahren ein Freundeskreis, der auch ein anthroposophischer Arbeitskreis wurde. Daraus wurde eine Zweigarbeit, die mein Vater sehr gewissenhaft durchführte. Nach seinem Tode führte Herr Hauff diese Arbeit weiter. Immer waren die Freundeskreise um den Vater herum anthroposophische Arbeitszusammenhänge. Durch die Entscheidung für die Anthroposophie in seinem 27. Lebensjahr, brachen die verwandtschaftlichen Beziehungen mehr oder weniger ab. Was Verwandtschaft sein kann habe ich in meiner Familie als Kind nicht erlebt, obwohl die Mutter meines Vaters, auch seine Schwester noch lebte. Es waren Seelenbekanntschaften, die immer eine Rolle spielten. Unser Haus war immer für Gäste offen und angeregte Gespräche erfüllten den Raum. Manchmal zuviel für die Arbeitsweise meines Vaters. Dieses sich Zurückziehen für Stunden oder auch Tage hasste meine Mutter in jungen Jahren, und sie warf schon mal Schuhe oder andere Gegenstände gegen die Tür. Aber das sind so Erzählungen, reumütig von meiner Mutter erinnert, die den Tod ihres Mannes um 17 Jahre überlebte. Zwei Brüder hatte meine Mutter, beide fielen im II. Weltkrieg, einer war kurze Zeit im K.Z., eine Denunziation. Kein Wort sprach er über diese Zeit. So waren meine Eltern mit dieser Seite des Nationalsozialismus früh in Berührung gekommen.

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KORONI, Donnerstag, den 15. Juli 1999

Einer der tragenden Mitglieder im Zeig war Emil Hauff, Rektor des Kornwestheimer Gymnasiums. Aus seinem weiten Bildungshorizont brachte er für die Arbeit vom Vater ein tiefes Verständnis mit, das sich zu einer verehrenden, anerkennenden Freundschaft steigerte. Er las den Aristarchus, wenn meine Eltern „Meerfahrt mit Paulus“ in verteilten Rollen vortrugen, an verschiedenen Orten. 1967 nahm er meine Eltern in sein kleines Haus auf, im Weizen 14, als seine Kinder auszogen. So hatte der Vater hier eines der ruhigsten Arbeitszimmer gefunden, alles in großer Kleinheit, aber den genügsamen Eltern entsprechend. Bis auf die selbstverständliche, für meine Mutter nicht ganz nachvollziehbare „Kehrwoche“. Eine Perle des Gesprächs der Nachbarn. Diese Kehrwoche war der Grund, warum meine Mutter sich nach dem Tode meines Vaters, früh entschloss, in ein Altersheim zu gehen. Sie hatte ein kaputtes Knie. In einer Theatervorstellung nach dem Krieg, war sie in der Rolle der Geliebten von Sancho Pansa, das Stück hieß auch „Die Geliebte“, intensiv spielend auf die Knie gestürzt so, dass sie sich das Knie verletzte. Damals nicht ernst genommen, wurde daraus eine lebenslange Behinderung, die zu mehreren Operationen führte, immer mit der Gefahr zum Versteifen des Gelenkes. Damit im Hafen arbeitend, Fahrrad fahrend, der Weg zum statistischen Landesamt, immer lebend mit dem Gedanken beim Verschieben eines Knorpels wird jeder Schritt zur Qual. KORONI, Freitag, den 16. Juli 1999 Erinnern kann ich mich an Godenstedt, nicht an Berlin, nicht an Wildauwald. In Godenstedt flohen wir bei Fliegeralarm in einen Erdbunker auf dem Hof. Der Schweinestall wurde getroffen, die Tiere schrieen die Nacht durch, und keiner traute 370

sich heraus, 1945, da war ich 3 ½ Jahre alt. Ich sehe meinen Vater noch Kartoffeln schälen, denn wie alle, musste er auch auf dem Hof mitarbeiten. Eine Sonderrolle hätte man damals nicht verstanden. Die Reisebühne: Frau Schlesselmann hatte nicht weit von Godenstedt in Worpswede das Försterehepaar als anthroposophische Freunde. Nun brachte Herr Rieckhoff das Holz, Frau Schlesselmann hatte Gardinenstoff, der wurde mit Tinte blaugefärbt und aus beidem entstand 1945 die Reisbühne. Die Kostüme nähte meine Mutter. Ich konnte das alles später noch bewundern, denn das Bücherregal in Vaters Zimmer bestand aus den Resten dieser Reisebühne. Die Kulissen der Bühne waren circa drei Meter hoch, hinten ein offenes Rechteck, in dem auch Requisiten, ein Thron oder anderes Platz hatten, bei dem man auch aus der Mitte auftreten konnte. Davor rechts und links zwei Türme mit rechten Winkeln. -------------------------------I I I Rechteck I Türme

I I ------------

I Türme I ------------

______________________________________________ vorne Publikum

Mit dieser Bühne begann die Arbeit nach dem Elend des II. Weltkrieges und dem Wüten des Tieres, wie es in der Apokalypse heißt, mit den Werken „Frage des Pilatus“, - Was ist Wahrheit….? - „Die Erlösung des Hiob“, - Warum ist das Leid in der Welt…..? - „Die Geliebte“, unter anderem.. Nebenher versuchte er es auch mit einem Hörspiel „Der Flieger der Europa A.G.“,

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dies zeigte, dass er die weitere politische Entwickelung wach verfolgte. Jetzt wurde drei Jahre lang bis zu dreißig Mal im Monat gespielt. Eine enorme Lebensleistung. Meine Mutter 33 bis 36 Jahre , mein Vater 49 bis 52 Jahre alt. (Hier wurden Lebenskräfte aufgezehrt, die im späteren Leben fehlten!) Wie schon angedeutet, wurden die Eltern von den Bauern, in deren Scheunen sie spielten oder von den Pfarrern in deren Kirchen sie auftraten, nach dem Spiel zum Essen eingeladen. Die Tourneen nach dem Krieg auf zerstörten Straßen, halbseitigen provisorischen Holzbrücken, die ständigen Wechsel von der rechten Autobahn zur linken und wieder zurück, machten die Fahrten sehr gefährlich. Eine Fahrt erinnere ich noch gut. Ich saß auf dem Mittelmotor eines englischen Armeelastwagens. Mein Bruder sollte in das Internat nach Hannover gebracht werden. Es war dichter Nebel. Die ständigen Wechsel bei nur einspurig befahrbaren Brücken und die stundenlange Fahrt führten dazu, dass der Lastkraftwagenfahrer furchtbar erschrak, als er feststellte kilometerlang auf der falschen Seite der Autobahn im Nebel gefahren zu sein. Ich wurde während der Tourneen bei einem Maler – Ehepaar Wiedemann im Schluh bei Worpswede in Pension gegeben. Diese Trennungen waren für mich sehr schwer, das steigerte sich dann noch als ich, wie schon berichtet, so isoliert im Krankenhaus liegen musste. Dazwischen lagen für mich meine schrecklichsten Kindheitstage im Internat Benefeld zusammen mit meinem Bruder. Schon behaftet mit der Krankheit, Hilusdrüsenschwellung, war ich sicher ein unangenehmes Kind für die Betreuer. Nicht essen wollen u. a. Dazu kam die unheimliche Umgebung mit den offenen Eingängen zu der unterirdischen Munitionsfabrik und dem im Wald gelegenen Waschhaus, in dem jemand erschlagen worden war, wie es hieß.. Die Leiterin, Fräulein Fritze,

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liebte meinen Bruder, wie es ihm oft geschah, er war so hübsch und wenn er wollte, hilfsbereit. Ich war lästig, schwächlich. Sie wurde für mich zum Schrecknis. Endlich wurde meine Krankheit erkannt und ich aus dieser Situation erlöst. In der Zeit der strengen Bettruhe spielten in meiner Fantasie die Stücke, von denen ich Bruchstücke mitbekommen hatte, ein Eigenleben. Sie weiteten sich aus in eine kindliche Spielwelt, in die nur die freundlichen Schwestern mitgenommen wurden, die anderen wurden ausgesperrt.

KORONI, Samstag, den 17. Juli 1999

So unausgewogen, wie ich damals als 17, 18, 19 Jähriger bei den Mittagsgesprächen war, so regten mich die Inhalte doch oft an. „Selbsterziehung zum Genie“, das war so ein Gedanke, den man als Überschrift über ein ganzes Kapitel stellen könnte. Mit diesem Satz verband sich beim Vater ein ausgedehntes Studium der Biographie von Heinrich von Kleist. Seine Auffassung war, Kleist kam in seinem Leben an einen Punkt, wo er ohne Anthroposophie keinen weiteren Weg sehen konnte. In „Wie erlangt man …“ von Rudolf Steiner gibt es eine Schilderung auf dem Schulungsweg bis zum Erleben des absoluten „Nichts“. Das erlebte Kleist, so wollte der Vater es darstellen. Dann beginnt ja erst der innere Weg. In einem Aufsatz wollte er, anhand der Werke von Kleist, eine innere Biographie der Seelenentwickelung darstellen, die diese „Selbsterziehung zum Genie“ aufzeigen sollte. Viele Studien hat er dazu unternommen. Die Darstellung von Günther Blöcker „Kleist und das absolute Ich“ waren eine der Hilfen, die seinem Anliegen entgegenkamen. Wenn er darüber sprach, geriet er in Begeisterung, und ich spürte,

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hierüber kann er nur so sprechen, weil er in sich einen ähnlichen Weg gelebt hatte. Ein anderes Werk sollte seine Lebensarbeit krönen. Aus dem intensiven Studium der „Schriftrollen vom Toten Meer“ – sie lagen seit 1953/54 in der Übersetzung vor -, eine Meisterleistung, dem Studium des Lebens der Essäer, wollte er eine Biographie schreiben über Jeschu Ben Pandira, den Begründer des Ordens der Essäer. Begriffe wie „Die Pflanzung“ für die Gemeinde der Essäer, - „Messiasse aus Aaron und der aus Israel“ – die doppelte Messiaserwartung – priesterliche Linie, königliche Linie, - „Jesse“ – die Wurzel -, spielten immer wieder eine große Rolle wenn er von der Person Jeschu Ben Pandira sprach, der hundert Jahre vor der Geburt Christi gelebt und sein Kommen vorverkündet hatte. Sein Märtyrer-Leben wurde oft in der „Leben - Jesu – Forschung“ mit dem Leben des Christus verwechselt. Dies aufzuklären mit Hilfe der Angaben von Rudolf Steiner, lag ihm noch sehr am Herzen. Die durchgearbeiteten Zyklen, ausgeliehen aus der Stuttgarter Staatsbibliothek, (kaufen war nicht möglich), ich holte sie immer nach der Schule – und seitenweise von Hand abgeschrieben! - später bekam er sie von dankbaren Mitgliedern des Kornwestheimer Zweiges als Geschenk -, lesen sich mit seinen Anmerkungen versehen sehr übersichtlich und zeigen sein intensives Studium. Zu diesem Jeschu ben Pandira-Werk ist er nicht mehr gekommen. - Die beiden Söhne aus den zwei Stammbäumen (Matthäus, Lukas), die erwartet wurden, Messiasse aus Aaron der und der aus Israel – wurden vorgefeiert bei den Essäer an der Tafel, der eine zog ein, und gegenüber der andere in ihrem Kloster nach den rituellen Waschungen in Vorbereitung auf das gemeinsame Mahl. Das lebte im Vater jahrelang bis daraus die Gespräche wurden der Familien, der beiden Marien, der beiden Josephe, der Maria als Witwe

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und dem Joseph als Witwer über den 24 jährigen Sohn. Wie gerne hätte ich dem Vater eine Reise nach Israel ermöglicht. Als ich in der Vorosterwoche 1981 in Israel war, stimmte, wie gesagt, geographisch alles was er geschrieben hatte. Seine Seele war mit der jungen Maria, man nimmt heute an 15 Jahre alt, seelenlebendig über Berge und Täler geschritten. Er brauchte die äußere Gegenwart nicht, als Schattenbild dann im Seelischen. Es war lebend in ihm und für mich verklärten seine Zeilen das Wenige, was über der Erde noch überhaupt von damals zu sehen war. Nach seinem Tod steckte in seiner geliebten „Triumph“ – Schreibmaschine ein Aufsatz über „Die Philosophie der Freiheit“ von Rudolf Steiner. „Seelische Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode“, diese Formulierung fesselte seine Gedanken lange Zeit. Ohne es zu wissen schrieb er diesen Aufsatz in seinen letzten Stunden vor seinem Tode. Immer wieder hatte er davon gesprochen, auch im Sinne Kleists, die Seele als Beobachter, Seelenbeobachtung, daraus lernte ich viel. Worum ging es ihm? Er wollte darstellen, dass die „Philosophie der Freiheit“ in ihrem Inhalt abgelesen ist bei dem Verfolgen des Weges von Herrn Eunike, nach seinem Tode, bei seinem Durchgang durch die Bereiche der geistigen Welt. Im Besonderen die Verwandlung seiner Gedanken im Auftreffen auf die Realitäten der geistigen Welt. Seelisch beobachten, - wie müssen sich die irdischen Gedankenformen verändern um in der geistigen Welt auch zum Erkennen fähig zu werden. Das war sein Versuch. So verstand mein Vater die Aussage von Rudolf Steiner, die „Philosophie der Freiheit“ ist das Ergebnis seelischer Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode.

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KORONI, Sonntag, den 18. Juli 1999

Die Mittagszeit war immer eine besondere Stimmung, ich kam von der Schule nach hause, meine Mutter arbeitete noch im statistischen Landesamt Der Vater hatte mit dem Essen auf mich gewartet. Abends, wenn mein Bruder von der Arbeit zurückkehrte, kamen immer unvorhersehbare Spannungen auf. Nach einer abgeschlossenen Drechslerlehre, schriftlich nicht ausreichend, aber die gefertigte Stehlampe ein Meisterstück, hatte er verschiedene Arbeitsstellen. Wie schon gesagt, trotz guter Vorsätze von beiden Seiten entluden sich diese Spannungen, wo ein Wort das andere gab. Meine Mutter und mein Bruder hingen sehr zusammen. Es gab Phasen des Anschweigens, dann wieder erzählte mein Bruder alles, beides war extrem. Diese Auseinandersetzungen beherrschten meine Kinder - und Jugendzeit. Dagegen empfand ich mich immer als langweilig. So wurde in nur einem Tag ein „reiches“ Seelenspektrum erlebt, abgearbeitet, was zu dem ruhigen häuslichen Leben nicht passte. Wie sehnte sich der Vater eine ruhigere Lebenswelt herbei, nein es war anders. Eineinhalb Jahre lang musste er, mussten wir dem langsamen Siechtum, dem immer dünner Werden meines Bruders zuschauen. Hektisch wie immer, vier Wochen Bestrahlung, dann sechs Wochen herumfahren in ganz Deutschland und sogar bis nach Wien, bis auch das im stetigen Wechsel nicht mehr ging. Während des Studiums am Eurythmeum brachte ich ihm immer frische Milch mittags in das Bürgerhospital. So war das vorletzte Lebensjahr meines Vaters in dieser großen Spannung. Wechselnde Stimmungen! Mein Bruder Michael war froh, dass er, Michael, sich nicht das Leben genommen hatte, er war froh, dass er geistig nicht krank war, was vorher vermutet wurde, sondern dass er eine richtige Krankheit hatte.

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Nach dem Tod seines Erstgeborenen Michael hat der Vater Angefangenes geordnet, so die Reihenfolge seiner Werke für eine Drucklegung, den Aufsatz über „Die Philosophie der Freiheit“, aber das Gespräch der beiden Joseph aus Aaron und Israel blieb Fragment. ------„Wo uns der Christ als Christ interessiere“! Dieser Satz von Gotthold Ephraim Lessing – aus der Hamburgischen Dramaturgie – Vater hat ihn in Aufsätzen immer wieder behandelt, ist auch so eine Kapitelüberschrift für die Mittagsgespräche. Christ sein ist langweilig, sie haben ihren Gott und ihren Teufel, sie wissen was gut und was böse ist. Dass die Verhältnisse anders sind, wissen wir alle. „So ist das Drama, wo uns der Christ als Christ interessiere, noch zu schreiben“, dieses Motiv hat den Vater immer beschäftigt und angeregt. Es könnte über allen seinen Arbeiten stehen. Was heißt den Christus zu erkennen? Eine Antwort könnte das Schicksal des Evangelisten Matthäus geben: Seine vier Lebensstufen. Wie schon angedeutet. Erst Levit, Schüler bei den Pharisäern. Als Essäer hatte er die Aufgabe in der Schulung, die Generationenfolge, 42 Stufen, rückwärts zu meditieren bis zu Abraham, in allen ihren Facetten und seelischen Eigentümlichkeiten – deshalb tauchen sie auch am Anfang seines Evangeliums auf. War eine solche Meditation rückwärts bis zum Stammvater Abrahams erfolgreich, so musste der Messias geboren sein. Das war die Verheißung durch Jeschu Ben Pandira. Was heißt aber dieses Durchleben der Einzelschicksale in der Meditation? In den vier Frauenschicksalen, Thamar, Rahab, Ruth und Bathseba hat mein Vater

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das lebendig gezeigt. Keine seelische Regung vom Brechen des Gesetzes, der Erniedrigung als Hure, Thamar,Aufgabe des eigenen Volkszusammenhanges, Rahab, Ehebruch und Vereinsamung, Mord , Bathseba,fehlt in diesem Vererbungsstrom, der einmal die leibliche Grundlage für die Geburt des Messias sein wird. Das wurde alles von Menschen gelebt und erlitten. So stand der Christusseele jedes menschliche Gefühl in dieser Inkarnationsfolge der Geschlechter nahe. Wie der Umgang mit der Ehebrecherin zeigt, war Christus kein menschliches Gefühl fremd. Solche Gedanken waren mir in den Mittagsgesprächen fassbar, aber den Seelenreichtum dieser Schicksale zu erfahren, zu erseelen, der fehlte mir völlig. Aber Christsein hieß für mich damals schon, nicht ein gerader Weg zu Gott, sondern erst wenn mit allem was auf der Erde lebt, miterlebt, mitgelitten werden kann, wenn die Seele in diesem Sinne Seelenreichtum erwirbt, kann von einem anfänglichen Christentum, einer anfänglichen Nachfolge, gesprochen werden. Matthäus erarbeitet sich in dem Durchmeditieren der 42 Stufen den Seelenreichtum, der ihn fähig macht auf seiner dritten Lebensstation als Zöllner den Christus zu erkennen. – Es ist die Anwendung eines von Heinrich von Kleist so formulierten seelischen Könnens: „ Das geschulte erkennende Gefühl“ So braucht Christus nur zu sprechen: „Folge mir nach“. Oft sprach der Vater im Blick auf unsere Zeit von zwei Situationen: - „Folge mir nach“ oder „Verfolgungswahn“ – Nachfolge Christi oder Verfolgungswahn. Wie viele Menschen rennen durch die Welt, ich selber auch, immer einem „Wahn“ nach, ohne zu wissen welchem.

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Dabei vergeht das Leben so schnell. So könnte man auch mit diesen beiden Begriffen ein neues Kapitel der Mittagsgespräche beginnen. Die Fülle der Gespräche in den Dramen des Vaters mildern den Verfolgungswahn und weisen einen Weg zur Nachfolge. So habe ich versucht die Dramen meines Vaters anfänglich zu verstehen.

Marburg, Samstag, den 31. Juli 1999 Das Pergamon Museum in Berlin. Wie oft sprach der Vater davon. Sein Atelier lag nicht weit davon, Karlstr. 23, Ecke Friedrichstr. Heute heißt die Karlstr. Reinhardstr. Wie schon gesagt auch der Krieg hatte die 10m Glasfront dieser Wohnung im 5. Stock nicht zerstört. Erst nach der Wende wurde das obere Stockwerk um - und ausgebaut.

Von Urbildern der dramatischen Gestaltung: Osiris – Gilgamesch – Odysseus – Hiob - Paulus. Oft kam in den Mittagsgesprächen die Rede auf den Pergamon Altar, das Ischtar Tor im Berliner Museum und der Name des damaligen Leiters Prof. Andreae. Dahinter verbarg sich die Idee, nicht nur den Pergamon Altar anzuschauen, sondern auf den Treppen zu spielen, aus dem Ischtar Tor Gilgamesch auftreten zu lassen. So entstanden die oben genannten Werke. Ob durch die Nationalsozialisten diese Spiele im Museum verhindert wurde, weiß ich nicht. Aber die Idee war im Vater immer lebendig. Zu seiner Lebenszeit gab es noch die „DDR“. Steht man vor den Stufen des Pergamon Altars, kann man sich das dramatische Geschehen im Spielablauf gut vorstellen. Auch den Auftritt aus dem Ischtar Tor mit

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seiner Übergröße kann man sich mit etwas Phantasie vor das Auge stellen. Man wäre dann als Publikum weitergewandert. Wie eine Vorbereitung auf das Christentum lebten diese Gestalten Osiris, Gilgamesch, Odysseus, Hiob und Paulus in ihrem Kulturreichtum in der Seele von Vater.

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Als Nachklang dieser Gespräche schaue ich heute auf die gedruckten Dramen in der von ihm gewünschten Reihenfolge und Anordnung mit einer inneren Befriedigung. Teilweise durch die damals noch lebenden Freunde durch Spenden mitfinanziert, später durch eigene Mittel, wurden so, wenigstens aus dem handgeschriebenen Text, diese gedruckten Dramen möglich.

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Bühnenbilder(Pilatus) gemalt von Theo Schlonski Bühnenmaler für Johannes Heymann Mathwich

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Dramen von Johannes Heymann Mathwich I.

BAND

Vorspiele Wandlung der Isit, Geheimnis der Bride

II.

BAND

Botschaft vom Toten Meer Levi. Mathai Geheimnis der Mütter: Thamar, Rahab, Ruth, Bathseba Mysterium der Marien Flucht aus Bethlehem Heimkehr aus Bethlehem Heimkehr aus Jerusalem Heimkehr aus Ägypten Vollendung in Nazareth (Fragment)

III. BAND

Die sieben Zeichen des Evangelisten Johannes Hochzeit zu Kana Speisung der Fünftausend Hauptmann von Kapernaum Wandeln über dem Meer Heilung in Bethesda Heilung des Blindgeborenen Auferweckung des Lazarus

IV. BAND

Verkündigung und Passion Erlösung des Hiob Enthauptung des Johannes Verrat des Judas

V.

BAND

Frage des Pilatus Was ist Wahrheit?

VI: BAND

Sie erlebten Paulus Trilogie Stunde der Drusilla Meerfahrt mit Paulus Traum der Berenike

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BAND I

BAND II

BAND III

BAND IV

BAND V

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BAND VI

Gezeichnet von Johannes Heymann Mathwich: Kostümstudie 385

Jesus Christus 1. - wurde am 14. Nisan des jüdischen Kalenders. - dem Rüsttag zum Massot – Fest - im 18. Jahr und 7. Monat der Regierung des Kaiser Tiberius - unter dem Konsulat des Sulpicius Galba, - im 4. Jahr der 202Olympiade, - um gerechnet am 3. April 33 des jüdischen Kalenders, - in den Nachmittagsstunden auf dem Hügel Gulgoleth (Golgatha) bei Jerusalem gekreuzigt. 2. - Vom Kreuze abgenommen wurde er - am beginnenden 15. Nisan, den großen Sabbat des Massot – Festos (beginnt 45 Minuten vor Anbruch der Dunkelheit am Freitag). - am 3. April 33 des jüdischen Kalenders; 3. - begraben wurde er - am Freitag, den gebildeten April 33 jüdischer Zeitrechnung (am gleichen Tage). 4. - Geboren wurde er am 24. Dezember (heutige Zeitrechnung), in Jahre 7 vor der Zeitenwende, gestorben im Jahre 33 nach der Zeitenwende, war also 38 bis 39 Jahre alt. (Aus einer Notiz für die Vorbereitung eines Arbeitsgespräches mit Lic. Emil Bock).

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Johannes Heymann Mathwich (Wenige Tage vor seinem Tod, 25. April 1969. Manuskript in seiner Schreibmaschine).

Rudolf Steiners Erlebens -Weg der “Philosophie der Freiheit“ und die beiden

“Unbekannten Bekannten“.

Zum fünfundsiebzigsten Jahrestag des Erscheinens (1969).

Viele Mitteilungen hat uns Rudolf Steiner über sein Werk “Die Philosophie der Freiheit“ mit auf den Weg gegeben, wenn er in “Mein Lebensgang“ von der ersten Entwicklung der Gedanken, dem Werden, dem Reife – Prozess und von der Zielsetzung berichtet. Das Jahr 1894 ist das Erscheinungsjahr der “Philosophie der Freiheit“. Seit dieser Zeit sind 75 Jahre vergangen. Aber schon im Jahre 1885, die Zeit, in der er persönlichen Kontakt aufnahm zu der einundzwanzigjährigen Marie Eugenie delle Grazie in Wien machte er uns mit dem ersten Hinweis auf die “Philosophie der Freiheit“ im “Lebensgang“ bekannt. Von dieser Zeit sagt er auch: “Im Hause Marie Eugenie delle Grazies verlebte ich schöne Stunden meines Lebens“. Aber Prof. Karl Julius Schröer hörte eine Vorlesung von delle Grazies Epos “Robespierre“ und lehnte es ab. Prof. Schröer, der Lehrer und väterliche Freund Rudolf Steiners erschien nie wieder, während Rudolf Steiner diesem Kreise verbunden blieb. Die Schwierigkeiten und den Widerspruch zwischen ihm und Prof. Schröer fasste er kurz zusammen: “Schröder sah in jeder Hinneigung zum Pessimismus etwas, was er “die Schlacke ausgebrannter Geister“ nannte“. “Delle Grazies Haus war eine Stätte, in der der Pessimismus mit unmittelbarer Lebenskraft sich offenbarte, eine Stätte des Anti – Goetheanismus“. “Aber gerade in dieser Zeit reiften die ersten Gedanken zu meiner später erschienenen “Philosophie der Freiheit“ heran“.

LEBENSGANG - KAP. VII

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Im Jahre 1888 wurde Rudolf Steiner für das neu gegründete Goethe - Archiv in Weimar als Mitarbeiter eingeladen, um die ersten Schritte zu dieser Arbeit zu machen, wurde er nach Weimar berufen. Dies war seine erste Reise nach Deutschland, die er nach Berlin und München fortsetzte, “…ganz dem Leben in dem Künstlerischen gewidmet, dass diese Orte bieten“, wenn auch das erschütternde Erlebnis mit Eduard von Hartmann in Berlin überwunden wird und musste. Nach seiner Reise kehrte Rudolf Steiner für eine kurze Zeit nach Wien zurück. Damals erschien Robert Hamerlings satirisches Epos “Homunkulus“. Die grotesken Bilder, die Hamerling malte, stießen viele Verehrer seiner Werke ab. Rudolf Steiner aber begründete seinen tiefen Eindruck. “Dennoch zog mich der “Homunkulus“ an. Zeigte er nicht, wie man in die geistige Welt eindringt, so stellte er doch dar, wohin man kommt, wenn man sich allein in einer LEBENSGANG – KAP. VIII

geistlosen bewegen will“.

Aus den Erkenntnissen im Kunstwerk entsteht die zukünftige Aufgabe: “Eine Philosophie der Freiheit“, eine Lebensansicht von der geistdurstenden, in Schönheit strebenden Sinnenwelt, eine geistige Anschauung der lebendigen Wahrheitswelt schwebte vor meiner Seele“.

LEBENSGANG – KAP. VIII

1888 übernahm er für kurze Zeit die Redaktion der “Deutschen Wochenschrift“. Diese redaktionelle Tätigkeit brachte ihn in Verbindung mit einer Gesellschaft von Persönlichkeiten, die wissenschaftlich oder parteigemäß den Sozialismus zur Geltung bringen wollten: “Es war mir persönlich schmerzlich, besprechen zu hören, dass die materiell – ökonomischen Kräfte in der Geschichte der Menschheit die eigentliche Entwicklung tragen und das Geistige nur ein ideeller Überbau dieses “wahrhaft realen“ Unterbaues sein sollte. Ich kannte die Wirklichkeit des Geistigen“.

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“So war ich denn als Siebenundzwanzigjähriger voller “Fragen“ und “Rätsel“ in Bezug auf das äußere Leben der Menschheit, während sich mir das Wesen der Seele und deren Beziehung zur geistigen Welt in einer in sich geschlossenen Anschauung in immer bestimmteren Formen vor das Innere gestellt hatte. Ich konnte zunächst nur aus dieser Anschauung heraus geistig arbeiten. Und diese Arbeit nahm immer mehr die Richtung, die dann einige Jahre später mich zur Abfassung meiner “Philosophie der Freiheit“ geführt hat“.

LEBENSGANG – KAP. VIII

Kurz vor seiner Übersiedlung nach Weimar im Herbst 1890 begegnete der achtundzwanzigjährige Rudolf Steiner im März 1890 dem geistvollen Menschenkreis im Hause von Rosa Mayreder. “Im Hause Rosa Mayreder dürfte ich des Öfteren teilnehmen an Unterhaltungen, zu denen sich da geistvolle Menschen versammelten“. “Es war dies die Zeit, in der in meiner Seele sich meine “Philosophie der Freiheit“ in immer bestimmteren Formen ausgestaltete. Rosa Mayreder ist die Persönlichkeit, mit der ich über diese Formen am meisten in der Zeit des Entstehens meines Buches gesprochen habe. Sie hat einen Teil der innerlichen Einsamkeit, in der ich gelebt habe, von mir hinweg genommen“.

LEBENSGANG – KAP. IX

Die ersten drei in sich abgeschlossenen Lebensjahrzehnte hatten in ihm zum Abschluss gebracht, was seine Seele bis dahin erstrebt hatte. “In dem Hinarbeiten auf meine “Philosophie der Freiheit“ lebte dieser Abschluss“. LEBENSGANG – KAP. X “Aber in meinem Inneren stellte sich am Ende dieses ersten Lebensabschnittes die Notwendigkeit ein, ein Verhältnis zu gewinnen zu gewissen Orientierungen der Menschenseele, - wie der Mystik. Die Mystiker wollen im Innern Zusammenleben mit den

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Quellen des menschlichen Daseins. Man gelangt aber in die innere Region des bloßen Fühlens, wenn man die Ideen nicht mitnehmen will.

LEBENSGANG – KAP. X

Rudolf Steiner aber lehnte den bloßen Gefühlsweg zum Geistigen ab und suchte das Zusammensein mit dem Geiste durch die vom Geiste durchleuchteten Ideen auf dieselbe Art, wie der Mystiker durch Zusammensein mit seinem Ideenlosen. “Aus solchen Untergründen heraus bildeten sich die Ideengestalten, aus denen dann später meine “Philosophie der Freiheit“ erwuchs. Ich wollte keine mystischen Anwandlungen in mir beim Bilden dieser Ideen walten lassen, trotz dem mir klar war, dass das letzte Erleben dessen, was in Ideen sich offenbaren sollte, von der gleichen Art im Innern der Seele sein musste, wie die innere Wahrnehmung des Mystikers. Aber es bestand doch der Unterschied, dass in meiner Darstellung der Mensch sich hingibt und die äußere Geistwelt in sich zur objektiven Erscheinung bringt, während der Mystiker das eigene Innenleben verstärkt und auf dieser Art die wahre Gestalt des objektiven Geistigen auslöscht“.

LBENSGANG – KAP. XI

Viele Schwierigkeiten und den dadurch bedingten Zeitverlust bereiteten Rudolf Steiner die Darstellung von Goethes naturwissenschaftlichen Ideen, die naturwissenschaftliche gegenüber der mystischen Ausdrucksart. Aber er musste auch weiterkommen in den Formen, was sich ihm als geistige Erlebnisse vor die Seele stellte in der Anschauung der Weltvorgänge. So verliefen die letzten Jahre des ersten Lebensabschnittes damit abwechselnd, sich zu rechtfertigen vor sich selbst und vor Goethe. Aber es erwuchs ihm noch eine andere Aufgabe. “Auf unbestimmte Zeit war ich wieder vor eine Aufgabe gestellt, die sich nicht aus einem äußeren Anlasse, sondern aus dem inneren Werdegang meiner Welt – und Lebensanschauungen ergeben hatte. Und aus diesem hatte sich auch ergeben, dass ich in

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Rostock mit meiner Abhandlung über den Versuch einer “Verständigung des menschlichen Bewusstseins mit sich selbst“ das Doktorexamen machte“. LEBENSG. – KAP.XIV Dennoch betont Rudolf Steiner immer wieder das Erleben in dem Werden seines Schaffensprozesses und selbst in Bezug auf seine Inaugural – Dissertation für Professor Heinrich von Stein in Rostock im Jahre 1891. “Innerlich erlebt war die Aufgabe, die ich mir in meiner Doktorarbeit stellte: “Eine Verständigung des menschlichen Bewusstseins mit sich selbst“ herbei zuführen. denn ich sah, wie der Mensch erst dann verstehen konnte, was wahre Wirklichkeit in der äußeren Welt ist, wenn er diese wahre Wirklichkeit in sich selbst geschaut hat“. “Meine “Philosophie der Freiheit“ ist in einem Erleben begründet, dass in der Verständigung des menschlichen Bewusstseins mit sich selbst besteht. Im Wollen wird die Freiheit geübt; im Fühlen wird sie erlebt; im Denken wird sie erkannt. Nur darf, um das zu erreichen im Denken nicht das Leben verloren werden“. “Während ich an meiner “Philosophie der Freiheit“ arbeitete, war meine stete Sorge in der Darstellung meiner Gedanken das innere Erleben bis in diese Gedanken hinein voll wach zu halten“.

LEBENSGANG – KAP XII

Die Promotion als Dr. der Philosophie hatte zum Thema: “Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre“. Sie erschien im Jahre 1892 unter dem Titel: “Wahrheit und Wissenschaft“. Aber diesem neuen Titel folgt noch ein wesentlicher Hinweis: “Vorspiel einer Philosophie der Freiheit“. Aus der Vorrede zu “Wahrheit und Wissenschaft“ sei darum angeführt: “Eine “Philosophie der Freiheit“ ist es, wozu wir mit dem Gegenwärtigen ein Vorspiel geschaffen haben. Diese selbst in ausführlicher Gestalt soll bald nachfolgen“. “Meine Gedanken, wie sie hier vorliegen und weiter als “Philosophie der Freiheit“

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nachfolgen werden, sind im Laufe vieler Jahre entstanden“. Die Sinnenwelt hatte etwas Schattenhaftes für Rudolf Steiner und sie zog an seiner Seele in Bildern vorbei. – Den echten Charakter des Wirklichen aber trug der Zusammenhalt mit dem Geistigen. – Aus der Zeit, im Anfang der neunziger Jahre schrieb er: “Ich legte damals die letzte Hand an meine “Philosophie der Freiheit“. Ich schrieb so fühlte ich, die Gedanken nieder, die mir die geistige Welt bis zu der Zeit meines dreißigsten Lebensjahres gegeben hatte“. “Ganz alleine musste ich mit mir abmachen, was mit meinen Anschauungen vom Geistigen zusammenhing“. „Ich lebte in der geistigen Welt“.

LEBENSGANG – KAP. XVI

So bekennt er! Niemand folgte ihn dahin, niemand machte einen Anlauf, zu verstehen, was er selbst in seiner Seele trug. Obwohl er in einem ausgebreiteten geselligen Verkehr lebte, umgab ihn tiefste Einsamkeit in Weimar, trotzdem sah er in vielen Menschen unbewusst den Drang walten nach einer bis in die Wurzeln des Daseins dringenden Weltanschauung. Es war die Zeit, in der seine “Philosophie der Freiheit“ ihre letzte Form erhielt, da er deren wesentlichen Inhalt ja schon lange in sich trug. “Ich hatte die Empfindung, der erste Teil dieser “Philosophie der Freiheit“ und der zweite stehen wie ein Geistorganismus, als eine echte Einheit da“. LEBENSGANG – KAP. XVII Vollendet ist also die Aufgabe, die Rudolf Steiner sich in den neunziger Jahren gestellt hatte und im dreißigsten Lebensjahr konnte er sagen, dass er niedergeschrieben habe die Gedanken, die ihm bis zu dem genannten Jahre die geistige Welt gegeben hatte. Dieses fühlte er. Aber immer wieder betont er, das Erleben der geistigen Welt auch mit dem folgenden Hinweis: “Im Geisterleben lag die Quelle für die Gestaltung, die ich den Ideen meines Buches gab“.

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“Für mich war mit der “Philosophie der Freiheit“ gewissermaßen das von mir abgesondert und in die Außenwelt hinein gestellt, was der erste Lebensabschnitt durch das schicksalsgemäße Erleben der naturwissenschaftlichen Daseinsrätsel an Ideengestaltung von mir verlangt hat. Der weitere Weg konnte nunmehr nur ein Ringen nach einer Ideengestaltung für die geistige Welt selbst sein“. -----“Ein innerliches Ringen nach einer solchen Ideenbildung ist der Inhalt der Episode meines Lebens, die ich von meinem dreißigsten bis zum vierzigsten Jahre durchgemacht habe“.

LEBENSGANG – KAP. XVII

Es spielte sich etwas ab, das sich wie Bild eines merkwürdigen Schicksals – Zusammenhanges vor seine Seele hinstellte und zwar zum ersten Mal in Wien und zum zweiten Male in Weimar. Als Rudolf Steiner an den Ideen der “Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“ schrie um das Jahr 1886 führte ihn das Schicksal in eine Familie,der er viele glückliche Stunden verdankte. Ein Freund führte ihn mit anderen Freunden in sein Elternhaus. “Im Hintergrunde dieser Familie schwebte etwas unbekanntes, das wir nie zu sehen bekamen. Es war der Vater... Er war da und auch nicht da“. LEBENSGANG – KAP. VII Der Vater musste im nächsten Zimmer sein. Er musste ein bedeutender Mensch sein, von dem nur in echter Ehrfurcht gesprochen wurde. Des öfteren wurde ein Buch aus der Bibliothek des Vaters geholt und man wurde dadurch bekannt mit dem, was der Mann im nächsten Zimmer las. Aber zu sehen bekam ihn Rudolf Steiner nicht und bekam kaum etwas über den “Unbekannten“ zu hören, doch liebte er ihn, den Mann, den schwere Lebenserfahrungen dazu veranlassten, den Umgang mit Mitmenschen zu meiden und sich mit der Welt in seinem In-

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nern zu beschäftigen, so dass Rudolf Steiner ihm geistig – seelisch sehr nahe kommen konnte. Eines Tages berichtete man Rudolf Steiner von seinem Tode. Die Geschwister übertrugen ihm die Grabrede und sagten ihm später, dass er ein treues Bild ihres Vaters gegeben hatte, obwohl Rudolf Steiner ihn doch gar nicht persönlich kannte. Aber er durfte in seinem Arbeitszimmer und in seiner Bibliothek arbeiten. Dies war der erste “unbekannte Bekannte“ in Wien. Aber solch ein merkwürdiges Abbild eines Schicksals Zusammenhanges stellte sich noch einmal dar in Weimar. Rudolf Steiner lebte dort in einer Familie wie in Wien. Das Haupt der Familie, ein Kapitän im Ruhestand, Eugen Friedrich Eunike, war schon verstorben, als er in diese Wohnung einzog. Dieser Kapitän war ihm also immer unsichtbar und doch war ihm die Persönlichkeit geistig – seelisch nahe gekommen. Die Witwe des Kapitäns, Anna Eunike hatte vier Mädchen und einen Jungen zu betreuen, die sie nun aber ihrem neuen Untermieter zur Erziehung anvertraute. Im Hause der Frau Eunike lebte und arbeitete er auch wieder in der Bibliothek des Verstorbenen. Dieser ehemalige Kapitän war: “Ein nach vielen Richtungen geistig interessierter Mensch, ganz aber wie jener in Wien lebende, abgeneigt der Berührung mit Menschen; in seiner eigenen “Geistwelt“ wie jener lebend, von der Welt so wie jener für einen“ Sonderling“ genommen“. LEBENSGANG – KAP. XX Den Vater in Wien und den Kapitän in Weimar empfand Rudolf Steiner durch sein Schicksal schreiten wie “hinter den Kulissen des Daseins“ “In Wien entstand ein so schönes Band zwischen der Familie des so bekannten “Unbekannten“ und mir; und in Weimar entstand zwischen dem zweiten, also “Bekannten“ und seiner Familie zu mir ein noch bedeutungsvolleres“. LEBENSGANG – KAP. XX

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Den zwei “unbekannten Bekannten“, diesen beiden Menschenseelen, durfte Rudolf Steiner nahetreten in dem Weltgebiet, “in dem sie waren, nach dem sie durch die Pforte des Todes gegangen waren“. “Die geistigen Anschauungskräfte, die ich damals in der Seele trug, machten mir möglich, mit den beiden Seelen eine engere Verbindung nach ihrem Erdentode zu haben“. “Die “unbekannten Bekannten“ waren nun mit den Gedanken des materialistischen Zeitalters ziemlich gründlich bekannt geworden. Sie haben begrifflich die naturwissenschaftliche Denkungsart in sich verarbeitet“. LEBENSGANG – KAP. XX Diese “Sonderlinge vor der Welt“ trugen in die geistige Welt nur dasjenige hinüber, was “die materialistischen Denkwerte in diese Individualitäten verpflanzt hatten“, wenn auch “zum größten Teil nur im Unterbewusstsein“. “Sowohl die Seele, die mir in Wien geistig nahe getreten war, sowie auch diejenige, die ich in Weimar geistig kennen lernte, waren nach dem Tode herrlich – leuchtende Geistgestalten, in denen der Seelen – Inhalt erfüllt war von den Bildern der geistigen Wesenheiten, die der Welt zugrunde liegen“. “In diesen zwei Seelen hatten sich Wesen in meinen Schicksalsweg hereinversetzt, durch die sich mir unmittelbar aus der geistigen Welt heraus die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Denkart enthüllte. Ich konnte sehen, dass diese Denkart an sich nicht von einer geistgemäßen Anschauung hinwegführen muss“. LEBENSGANG – KAP. XX Das Wesen der “Sonderlinge vor der Welt“ begründet Rudolf Steiner mit dem Hinweis, dass sie die naturwissenschaftliche Denkungsart in sich aufgenommen hatten, die Menschheits –

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Etappe zu erreichen, die notwendig war, aber dass sie im Erdenleben ihr Menschentum nicht verlieren wollten. Zu der Bedeutung der Schicksalsbegegnung gerade in der Art wie sie Rudolf Steiner erleben konnte und musste, sagt er: “Ich hätte wohl nicht diese Anschauungen an den beiden Seelen gewinnen können, wenn sie mir innerhalb des Erdendaseins als physische Persönlichkeiten entgegengetreten wären. Ich brauchte für das Anschauen der beiden Individualitäten in der Geistwelt, in der sich mir ihr Wesen und durch sie vieles andere enthüllen sollte, jene Zartheit des Seelenblickes in Bezug auf sie, die leicht verloren geht, wenn das in der physischen Welt Erlebte das rein geistig zu Erlebende verdeckt oder wenigstens beeinträchtigt“. “Ich musste daher schon damals in der Eigenart des Auftretens der beiden Seelen innerhalb meines Erdendaseins etwas sehen, dass schicksalsgemäß für meinen Erkenntnispfad bestimmt war“.

LEBENSGANG – KAP. XX

Eine Erkräftigung für das Werden des Werkes Rudolf Steiners, seiner “Philosophie der Freiheit“ kam aus dem Verkehr mit den beiden Seelen aus Wien und Herrn Eunike aus Weimar. Was wurde angestrebt in der “Philosophie der Freiheit“: “ . . es ist zum ersten ein Ergebnis meiner philosophischen Denkwege in den achtziger Jahren; es ist zum zweiten auch ein Ergebnis meines konkreten allgemeinen Hineinschauens in die geistige Welt. Zum dritten fand es aber eine Erkräftigung durch das Mit– Er – Leben der Geist – Erlebnisse jener beiden Seelen. In ihnen hatte ich den Aufstieg vor mir, den der Mensch der naturwissenschaftlichen Weltanschauung verdankt“.

LEBENSGANG – KAP. XX

Dieser Erlebensweg Rudolf Steiners zu seiner “Philosophie der Freiheit“ ist im Untertitel seines Werkes in dem Hinweis zu finden: “Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“.

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Abschrift betrifft - -

Johannes Herrmann Mathwich Bremen - Oslebshausen, Garlsteter Str.32 -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Presse - Notizen aus meiner früheren Wirksamkeit als Oberspielleiter und Dramaturg -------------------------------------Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland, W e i m a r Dr. Heinrich Alexander Winkler: Vom Werden des neuen Dramas " Man bedenke, dass die Bühne eine Kultstätte von gleichem Rang und gleicher Wirkungsmöglichkeit sein könnte, wie die Kanzel der Kirche oder die Tribüne des großen Volksführers." . . . Die Zukunft gehört allein der Tat. . . . Handeln heißt nicht einreißen, sondern es heißt scharf Front machen gegen das ganze Heer der um berufenen von den virtuos den Ländern bis zur seichten Masse der Originalitätssüchtler. Es heißt Lauscher werden auf das raunen des von oben begotteten Neuen. Und es heißt schließlich mutig suchen nach dem dramatisch quellenden Seelen und tapfer bekennen vor dem boykottierenden Hohn der Engstirnigkeit, des Traditionalismus, des Parteiegoismus, des Neides, wenn einmal Gold gefunden ist! . . . . . Wir haben Ursache von solch einer Ganglienzelle der Kultur zu sprechen. Sie wird abseits vom großen Wege, vorläufig auch nur erst wenigen bekannt, in Eisenach, der Wartburg Stadt. Hier arbeitet unter Direktor Richard Corter am Stadttheater der Oberspielleiter und Dramatiker Johannes H e y m a n n M a t h w i c h theoretisch und praktisch an einem Werk über das "GEHEIMNIS DES THEATERS ", in dem er das viel erörterte Problem vom schaffenden Dichter her zu lösen versucht und auf diesem Wege den natürlichen Zugang findet zum Vom Reichtum des griechischen Theaters. Es gelingt ihm in Theorie und Praxis . . . . . intuitiv zurück zu tasten über die ekstatische Lyrik zum dionysischen Ursprung theatralischemn Geschehens und die Grundlinien zu ziehen für den N e u b a u des D r a m a s des T h e a t e r s . Eisenacher ZEITUNG . . . das Johannes Heymann Mathwich, der kluge und feinsinnige Dramaturg unserer Bühne, in einer klaren, auf die Probleme unserer Gegenwart zugeschnitten Einführung einen Teil der Ideen angedeutet hat, die Schiller in seiner Dichtung entwickelt. . . . Tribüne - Erfurt . . Aber ein Regisseur haben sie dort, dem es an Wagemut nicht fehlt. Er spielt die Usurpatorentragödie eines noch auf den Brettern unbekannten, und er spielt sie mit resoluten Ansätzen zur Originalität. Wer wagt gewinnt - . . Die Sympathie der Vorwärtsstrebenden. . . Heymann Mathwich, der Regisseur ist ein tüchtiger Kerl . . . sei ihm die Hand gedrückt.

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Eisenacher Tagespost . . Heymann Mathwich gab in seinen einleitenden Worten zum ersten literarischen Abend ein ungefähres Bild dieser Form und legte am Beispiel des "Robert Guiskard“"dar, welchen Umwandlungen sich das Theater und das Theaterspielen unterziehen müssten, um die wahre Theatergemeinschaft, die durch inneres Mitschwingen das dichterische Erlebnis erfüllen soll, zu gebären . . . Dieser Abend war ein Erlebnis . . Für eine Aufführung des "Robert Guiskard" sollten sich die großen Bühnen des Reichs erwärmen, um die Möglichkeiten, die in dem Einakter stecken bis auf den Grund auszuschöpfen . . denn das konnte im Stadttheater rein äußerlich nicht geschehen. Wenn trotzdem die Aufführung zu einem eigens wurde, so hat man das Heymann Mathwich als Regisseur zu danken. War er angesteckt von dem Glühen Kleist’s? Er stand vielleicht unter dem selben Zwang, das ganz Große, das ganz Neue, Unerhörte zu schaffen. . . An großen Theatern, dort wo die Mittel nicht so beschränkt sind, hätte der "Robert Guiskard "in dieser Inszenierung vielleicht ein Revolution bedeutet. . . So haben wir die Pflicht, das heilige Wollen anzuerkennen. . . wir wollen der Zeit und weiteren Offenbarungen harren. Heymann Mathwich wird nicht müde sein, sie klarer erstehen zu lassen. Dieser Regisseur, der treibende Geist, hat es vermocht, im "Guiskard" jeden der Darsteller in eine seltene Begeisterung am Spiel hineinzulohen. Solcher Männer sind am Deutschen Theater wenige; Heymann Mathwich trägt die Fackel der Idee so hoch, dass er nicht mehr im Dunkeln bleiben kann. Weiß Gott, es ist keine Verhimmelung, aber: er wird eines Tages aus der Stille gerissen werden. Ich sagte es schon jetzt, weil ich Eisenach liebe und weil ich will, dass ihr euch, Eisenacher, beschenken laßt, so lange ein so Gebefreudiger unter euch ist. H. Unger: Der verliebte Beifu . . . Der Bühnenstil passte sich dem der chinesischen Bühne an. An dieser Stelle hat die künstlerische Regie Entfaltungsmöglichkeiten besonderer Art. Man wird also die geradezu hervorragende Ausgestaltung der Bühne zur chinesischen Bühne, wie man es gestern Abend bewundern konnte, als eine große schöne Leistung für sich anerkennen müssen. Alles, was zur Stimmung des chinesischen Theaters gehört, vom primitiven Szenenwechseln bis zur atomaren Musik, war aufs Trefflichste imitiert. . . . Ein ganz besonderes Lob verdient die Regie Heymann Mathwichs, auf deren Konto die szenische Ausgestaltung nach chinesischem Muster zu setzen ist. Das Publikum, das aus dem Staunen nicht heraus kam, hatte einen seltenen Genuss erlebt und zeigte sich durch stürmischen Beifall erkenntlich. W. v. Scholz: Der Wettlauf mit dem Schatten . . . . Regisseur Heymann Mathwich hatte mit der Inszenierung einen starken Beweis seines Könnens gebracht. Der Gang des Spiels, die Stimmung, die über jedem Akt lag und sich auf die Zuhörer erlebnishaft übertrug, verriet, dass bis ins Kleinste sorgfältig für die Bühnenwirkung ausgefeilt wurde, was im Zusammenhang künstlerisch intuitiv als Sinn des Schauspiels gesehen ward. Besonders gut herausgearbeitet waren die Lichteffekte

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Laurids Brunn: Pan, eine seltsame Nacht – Uraufführung . . . Ein Theater der unzulänglichen Stücke und der guten Aufführungen zu besitzen. Heymann Mathwich ist der wohlwollende Dramaturg der geistig oder dramatisch Bescheidenen geworden und er gibt ihnen durch glänzende Inszenierung den Lorbeerkranz der Genies (das ist eine höchst sympathische Kunst Heymann Mathwichs, teils dieserhalb, teils außerdem). Mit dieser Uraufführung hat der Regisseur von neuem bewiesen, was ein Begabter aus Wenigem zu machen weiß. Das Stück ist mittelmäßig - die A u f f ü h r u n g i s t g l ä n z e n d. . . . Karl Nennstiel: Napoleon – Uraufführung . . . . Die Darsteller spielten eine Uraufführung. Damit hatten sie eine Verantwortung, der jeder Künstler sich bis zum allerletzten Opfer. Im Gesamt: über Durchschnitt, gehoben, vom Willen eines begeisterten Regisseurs geführt. . . . Viel ist der Regie Heymann Mathwichs zu danken. . . . Man muss die Szenerie sehen, die sich in der Treppenform aufbaut, von weiten weihevollen Flächen flankiert, die sich treffen in einem gotischen Bogen, hinter dem flammendes Rot liegt. Die Worte standen in diesem Raum! . . . unterstützt das löbliche Bestreben des Regisseurs durch alle Raffinements einer guten Beleuchtung, die mit halb verdunkelter und frühdunkler Szene arbeitete, mit Lichtschatten, überfließen und Licht Brennpunkten, - eine reiche Ideenskala Heymann Mathwichs. . . . Kasseler Tagblatt . . . Der eigene dramatische Stil des Dichters wurde von dem Oberspielleiter Heymann Mathwich mit Verständnis erfasst und in einer Form gebracht, die an sich ein Novum der Regie war, denn es gab neues zu interpretieren. . . Eisenacher Tagespost Heymann Mathwich, . . . in jeder Feinheit tritt hervor, wie der Künstler das Theoretische der Schauspielkunst beherrscht; er ist ein so vollkommener vom Verstand geleiteter Darsteller, dass er mit jeder Rolle beweist, wie gut er als Regisseur ist. (Schade, schade. . . . . Wenn wir ihn verlieren ! ) Stettiner Generalsanzeiger . . . G o e t h e s W e r k ( E g m o n t ) kam unter der szenischenLeitung von Oberspielleiter Heymann Mathwich in einer für die Zukunft des Theaters verheißungsvollen Aufführung heraus.

(Anmerkung durch Rudolf Heymann: diese Abschrift wurde verfasst von Johannes Hermann Mathwich als wir in der Garlstedter Straße 32 in Bremen - Oslebshausen wohnten, das muss um 1950 gewesen sein. Die Kritiken beziehen sich auf die Zeit um 1927 als Johannes Heymann Mathwich Oberspielleiter und Regisseur am Eisenacher Theater war).

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