Heft 2/2003

March 11, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
Share Embed


Short Description

Download Heft 2/2003...

Description

N R .

2



J U L I

2 0 0 3



A

9 1 1 3 F

„Millionen Menschen starben im Feuer des Krieges ... Aber es gibt auch Hoffnung … in Ländern wie Sierra Leone, Angola und am Horn von Afrika.“

Afrika Scheideweg

— Hochkommissar R UUD L UBBERS

am

EDITORIAL

Der Irak-Effekt …

UNHCR/S.MANN/CS/UGA•2002

W

2

ährend die Welt gebannt auf den Irak schaute, glitten die Flüchtlinge Afrikas noch tiefer in Elend und Verzweiflung ab. Als die Koalitionstruppen in den Irak einmarschierten, standen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten in Jordanien, im Iran, in Syrien und der Türkei bereit, um Massen irakischer Flüchtlinge in Empfang zu nehmen, die jedoch niemals kamen. Währenddessen flohen fast 100.000 Menschen vor dem Bürgerkrieg in Côte d’Ivoire in den Osten von Liberia, der selbst von einem Konflikt erschüttert wird. An den Rändern der liberianischen Hauptstadt Monrovia gab es jedoch keine der so genannten „eingebetteten Reporter“, die über einen Angriff der Rebellen auf ein Lager für Vertriebene hätten berichten können, bei dem mehrere hundert Zivilisten entführt oder ermordet worden sein sollen. Erinnern Sie sich noch an Guinea, das westafrikanische Land, das in die Schlagzeilen kam, als man die Stimme des Landes für eine Resolution des Sicherheitsrates brauchte? Dorthin kamen kürzlich mehr als 7.000 liberianische Sudanesische Frauen fliehen Flüchtlinge, von denen viele vor einem Rebellenangriff. Schussverletzungen hatten. Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen taten ihr Möglichstes, um sie in ein sichereres Gebiet weiter weg von der Grenze zu bringen. Im Süden des Tschad nächtigen über 30.000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik unter Bäumen und warten darauf, was nach dem jüngsten Sturz der Patassé-Regierung in ihrer Heimat geschehen wird (vom dortigen Regimewechsel hat man auch nicht viel gehört). Natürlich war es auch schon schwierig, Interesse für die Flüchtlinge Afrikas zu mobilisieren, bevor die Kämpfe im Irak begannen. Am Valentinstag warnten UNHCR und das UN-Welternährungsprogramm (WFP) davor, die Nahrungsmittellieferungen an

Flüchtlingslager in Afrika wegen fehlender Mittel möglicherweise einstellen zu müssen. Im Gegensatz dazu hatte WFP binnen einer Woche nach einem Spendenappell in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar zur Nahrungsmittelversorgung der irakischen Bevölkerung (die noch über Vorräte für die nächsten beiden Monate verfügte) finanzielle Zusagen über insgesamt 315 Millionen US-Dollar erhalten – fast dreimal so viel wie insgesamt für Afrika. Noch bevor die Nachrichten über ein weiteres schreckliches Massaker an fast 300 Zivilisten im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo durchgesickert waren, wies die Hilfsorganisation Refugees International bei einer Anhörung im US-Kongress darauf hin, dass im Kongo in nur einer Woche mehr Menschen durch Gewalt, Unterernährung und Krankheit gestorben waren als im Irakkrieg insgesamt. Leitartikel und Talkshows haben sich intensiv mit verschiedenen Szenarien für den Wiederaufbau des Irak beschäftigt. Der erste Jahrestag des Endes des 27-jährigen Bürgerkrieges in Angola wurde dagegen von kaum jemandem wahrgenommen, ebenso wenig wie die Aufrufe der Weltbank, die Reintegrationshilfe zu erweitern, um nicht nur die ehemaligen UNITARebellen, sondern auch Tausende von entführten angolanischen Frauen zu unterstützen, die man dazu gezwungen hat, als „Ehefrauen“ der Rebellen zu leben. Bei der Eröffnung einer UN-Konferenz in Ottawa dachte Stephen Lewis, der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für HIV/AIDS in Afrika, laut darüber nach, wie es wohl wäre, wenn der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose voll finanziert wäre, bevor er den 800 anwesenden Studenten mitteilte, der Fonds sei beinahe zahlungsunfähig. Auch wenn der Irak die Aufmerksamkeit der Welt beherrscht, wir müssen an die Not Afrikas und die Hoffnung eines afrikanischen Flüchtlings denken: „Wenn nur eine Koalition käme, um uns zu retten.“ Dieser Kommentar von JUDITH KUMIN, UNHCR-Vertreterin in Kanada, ist zuvor in der „Montreal Gazette“ erschienen.

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

N R .

Redaktion: Ray Wilkinson Deutsche Ausgabe: Stefan Telöken Angelika Emmelmann Andreas Kirchhof Redaktionelle Mitarbeit: Millicent Mutuli, Astrid Van Genderen Stort, Delphine Marie, Peter Kessler, Panos Moumtzis Redaktionsassistenz: Virginia Zekrya Photoredaktion: Suzy Hopper, Anne Kellner Layout: Vincent Winter Associés Produktion: Françoise Jaccoud Klischees: Aloha Scan, Genf Vertrieb John O’Connor, Frédéric Tissot Karte: UNHCR-Kartenabteilung Historische Dokumente: UNHCR-Archiv

UNHCR/M. CAVINATO/DP/BDI•2003

2

12

Afrika steht erneut an einem Scheidweg. Aus Sierra Leone, Angola, Burundi (Foto) und vom Horn von Afrika kommen gute Nachrichten über die Rückkehr mehrerer hunderttausend Menschen. In Côte d’Ivoire, Liberia und in anderen Gebieten herrscht jedoch weiter Krieg, sodass die Situation auf dem Kontinent insgesamt sehr uneinheitlich ist.

Abzüge der mit einer UNHCRReferenznummer versehenen Photographien sind von der UNHCRInformationsabteilung erhältlich.

4 12

UNHCR/P. KESSLER/DP/IRQ•2003

28

Nach dem offiziellen Ende des Irak-Kriegs richtet UNHCR seine Aufmerksamkeit auf die Unterstützung der schätzungsweise 500.000 irakischen Langzeitflüchtlinge in aller Welt, die jetzt vielleicht in das Land zurückkehren.

17

Titelbild: Afrika: eine ungewisse Zukunft. UNHCR/R. WILKINSON/ CS/CIV · 2003

TITEL

KARTE Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Militär Junge Flüchtlinge werden in Lagern rekrutiert. Burundi Ein Machtwechsel in einem unruhigen Land. Kongo Das Erbe des schrecklichsten bekannten Krieges in der Geschichte Afrikas. Grenze Ein typischer Tag an einem afrikanischen Grenzposten.

ISSN 0252-791 X

UNHCR SCHWEIZ: UBS SA 240-D7100000.0

AFRIKANISCHE EINDRÜCKE

Afrika auf einen Blick Eine kurze Übersicht über die Lage des Kontinents.

Angola Ein Neuanfang.

Bestellungen der deutschen Ausgabe bei: UNHCR, Wallstr. 9-13, 10179 Berlin Tel.: 030/202202-26, Fax: 030/202202-23 E-Mail: [email protected]

UNHCR ÖSTERREICH: Bank Austria Creditanstalt, BLZ 120 00 Konto Nr. 09583600300

EDITORIAL

In einer Zeit kurzer Kriege und begrenzter Opferzahlen scheinen die Ereignisse in Afrika beinahe unbegreiflich. Von Ray Wilkinson

Gesamtauflage: 224.000 Druck: (dt. Ausgabe) DMB, Bonn

Spendenkonten:

2 0 0 3

Bilddokumentation vom afrikanischen Kontinent.

Artikel und Photographien, die nicht mit dem Vermerk Copyright versehen sind, können ohne vorherige Anfrage unter Erwähnung UNHCRs abgedruckt werden.

Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V. Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00, Kto.-Nr. 2000 2002

-

Afrika gleitet tiefer in das Elend ab, während sich die Welt auf den Irak konzentriert.

„FLÜCHTLINGE“ wird in deutscher, englischer, französischer, spanischer, italienischer, arabischer, chinesischer und russischer Sprache von der Informationsabteilung des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen herausgegeben. Die von beitragenden Autoren ausgedrückte Meinung entspricht nicht unbedingt der Meinung UNHCRs. Die in dieser Veröffentlichung verwendeten Bezeichnungen und Darstellungen drücken in keiner Weise die Meinung UNHCRs über den rechtlichen Status eines Gebietes oder seiner Behörde aus.

2

UNHCR/E. PARSONS/DP/SOM•2003

28

30

Manche bezeichnen sie als die neue Mutter Teresa. Die Italienerin Annalena Tonelli wurde für ihre jahrzehntelange Arbeit für Not leidende Menschen in Somalia mit dem Nansen-Flüchtlingspreis ausgezeichnet.

IRAK

Wie wird es nach dem Krieg im Irak weitergehen?

30

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

MENSCHEN

Afrikas Mutter Teresa.

3

Bilder aus Afrika

HOFFNUNG: ©S. SALGADO•AGO

Nach einem jahrzehntelangen Krieg sieht Angola einer besseren Zukunft entgegen.

© S. SALGADO•ZRE

Bilder aus Afrika

KRIEG:

Der Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo wurde als der Schlimmste in der Geschichtsschreibung

Afrikas bezeichnet. Schätzungsweise drei Millionen Menschen verloren ihr Leben.

Bilder aus Afrika

UNHCR/J. AUSTIN/CS/SLE•2000

RÜCKKEHR:

Nach dem Ende eines zehn Jahre langen Krieges sind etwa 240.000 Sierraleoner zurückgekehrt, um am Wiederaufbau des Landes mitzuwirken.

Bilder aus Afrika ON THE MEND

UNHCR/S. BONESS/CS/ERI•2001

DIE ZUKUNFT:

Selbst wenn Flüchtlinge zurückkehren, kann die Zukunft sehr schwierig sein – wie hier in Eritrea.

UNHCR/M.KAMBER/DP/CIV•2003

AFRIKA am ABG Die Zahl der Opfer war erschreckend groß. Wann hellt sich das Licht am Ende des Tunnels ein wenig auf ? von Ray Wilkinson

Nach dem Ausbruch von Kämpfen im Nachbarland Côte d’Ivoire fliehen liberianische Flüchtlinge zurück in ihr Heimatland.

12

I

n einer Zeit kurzer Kriege, „kontrollierter“ Opferzahlen und bereinigter Kriegsbilder wie denen aus dem Irak, scheint der Zustand Afrikas fast unbegreiflich. Tief im Inneren des Kongobeckens starben etwa drei Millionen Menschen – wenn nicht viele mehr – in einem nicht enden wollenden Krieg, den manche als den schrecklichsten bekannten Konflikt in der Geschichte Afrikas beschreiben. Und noch während amerikanische Marineinfanteristen im Scheinwerferlicht Tausender von

Fernsehkameras die letzten Widerstandsnester in Bagdad aushoben, wurden in einer abgelegenen Gegend der Demokratischen Republik Kongo beinahe unbemerkt von der Weltöffentlichkeit mehrere hundert Menschen abgeschlachtet. Im Lauf dieses Konflikts, der 1998 begann und in den in manchen Phasen das Militär aus den sechs angrenzenden Ländern sowie zahllose Milizen und einheimische Banden verwickelt waren, wurden 2,5 Millionen Menschen entwurzelt und gezwungen, Zuflucht im

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

Bürgerkrieg forderte zwei Millionen Menschenleben. Vier Millionen Binnenvertriebene ziehen durch die nördlichen Wüsten und die südlichen Grassavannen des größten Landes Afrikas. Eine halbe Million Flüchtlinge suchen Zuflucht in den Nachbarländern. Die gerade genannten Beispiele sind nur die größten und längsten Konflikte in einer ganzen Serie von Erschütterungen, von denen große Teile Afrikas erfasst und schließlich weitgehend verwüstet wurden: Burundi, Eritrea, Äthiopien, Westsahara, Liberia, Republik Kongo und zuletzt Côte d’Ivoire und die Zentralafrikanische Republik. Und dann gab es noch Ruanda: Bis zu einer Million Menschen wurden Mitte der neunziger Jahre in diesem jüngsten Völkermord der Weltgeschichte abgeschlachtet. Auch damals gab es Bilder von endlosen Kolonnen von Flüchtlingen, die inmitten von Staubwolken die Region durchwanderten, gnadenlos vorangetrieben im neuesten Chaos. EINE NARBE

RUND tropischen Regenwald und in den benachbarten Staaten zu suchen. Angola erlitt ein ähnliches Schicksal. In einem Bürgerkrieg, der sich über fast drei Jahrzehnte hinzog, wurden schätzungsweise eine Million Menschen getötet. Zwischen drei und fünf Millionen Menschen mussten die Dörfer und Städte ihrer Vorfahren verlassen. Sie zogen durch eine zerstörte Landschaft von einem Zufluchtsort zum nächsten und ernährten sich oft von Beeren und Wurzeln, um irgendwie zu überleben. Sie waren ständig in Gefahr, getötet oder verstümmelt zu werden, nicht nur durch Soldaten und Milizen, sondern auch durch die Millionen von Minen, die eines der reichsten Länder des Kontinents in eine riesige tödliche Falle verwandelt hatten. Im Norden des afrikanischen Kontinents wurde der Sudan durch innere Konflikte destabilisiert, seitdem das Land im Jahr 1956 seine Unabhängigkeit erlangte. Der

Die Weltöffentlichkeit kennt diese Bilder. Man kennt sie so gut, dass der britische Premierminister Tony Blair in einer viel beachteten Rede hervorhob, so könne es mit der Anarchie nicht weitergehen: „Der Zustand Afrikas ist eine Narbe auf dem Gewissen der Welt. Aber wenn die Welt sich als Gemeinschaft damit befassen würde, könnten wir sie glätten.“ Wie steht es heute um Afrika, zwei Jahre nach Blairs Appell? Hilfsorganisationen und verschiedene Staaten stellen dem Kontinent in großem Umfang Hilfe zur Verfügung. Das diesjährige veranschlagte UNHCR-Jahresbudget für Afrika z. B. beläuft sich auf fast 400 Millionen US-Dollar. Es gibt auch andere gute Neuigkeiten. Im Jahre 1995 unterstützte UNHCR sieben Millionen Flüchtlinge. Heute ist ihre Zahl nicht einmal mehr halb so groß (obwohl die Organisation inzwischen auch andere Gruppen Not leidender Menschen unterstützt, so die Opfer von Krieg und Verfolgung, die in ihrem eigenen Land geblieben sind. Die Gesamtzahl der entwurzelten Menschen auf dem afrikanischen Kontinent beläuft sich immer noch auf erschütternde 15 Millionen). Der westafrikanische Staat Sierra Leone durchlebte in den neunziger Jahren ein ganzes Jahrzehnt des Bürgerkriegs. Verstümmelungen durch das Abhacken von Armen und Beinen wurden zum schrecklichen Symbol für die Brutalität dieses Konflikts. Heute hat das Land einen fragilen Zustand des Friedens erlangt. Nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens im letzten Jahr kehrten eine bis eineinhalb Millionen binnenvertriebene Angolaner und weitere 100.000 Flüchtlinge eines der längsten Kriege der Welt auf eigene Initiative in die Heimat zurück. Wenn die Waffen weiter schweigen, dürften ihrem Beispiel in diesem Jahr mehrere hunderttausend weitere Rückkehrer folgen. Im Rahmen der gewaltigen Völkerwanderung, die sich in alle Himmelsrichtungen auf dem gesamten Kontinent vollzieht, kehrten in den letzten Jahren un- Ã FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

1995 UNTERSTÜTZTE UNHCR SIEBEN MILLIONEN FLÜCHTLINGE. HEUTE IST IHRE ZAHL NICHT EINMAL MEHR HALB SO GROSS.

13

AFRIKA AM ABGRUND

Flüchtlinge (in Millionen)

18,0 16,0 14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 -

14

Afrika Global

1951-1955 ‘56-‘60

‘61-‘65

‘66-‘70

ten der Geberländer sowie in den Aufnahmeländern für Flüchtlinge macht sich Verdruss über die immer neuen Flüchtlingsströme breit. Die Hilfe, die geleistet wird, reicht einfach nicht aus, und seine strategische Bedeutung scheint der Kontinent völlig verloren zu haben. Noch vor wenigen Jahren standen Länder wie Zaire und Angola wegen ihrer Öl- und Mineralienvorkommen hoch im Kurs. Inzwischen sind die kubanischen und die weißen südafrikanischen Soldaten – einst als Stellvertreter der Supermächte ins Land gekommen – längst aus Angola abgezogen. Die Einmischung von außen wurde zum Katalysator für viele Probleme des Kontinents. Als die Fremden gingen, überließ man Afrika sich selbst, ohne die Hilfe zu leisten, die notwendig gewesen wäre, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Volkswirtschaften, die sich selbst tragen könnten, werden durch Regelungen zum Zusammenbruch gebracht, die in weit entfernten Hauptstädten aufgestellt werden. Die Bauern Afrikas könnten ihren Beitrag zur Ernährung der WeltbevölAM SCHEIDEWEG kerung leisten, doch unterlauDoch zweifellos steht das fen Agrarsubventionen für ErSchicksal Afrikas auf Messers zeuger in den Industrieländern Schneide. eine der wenigen realen MögDer UN-Flüchtlingskomlichkeiten des Kontinents, aus missar Ruud Lubbers sagte: dem Teufelskreis von ökono„Afrika steht erneut an einem mischer Verelendung und ArScheideweg.“ Während „im mut auszubrechen, der immer wahrsten Sinne des Wortes wieder aufs Neue Kriege und im Feuer des Krieges MillioFlüchtlingsströme anfacht. nen von Zivilisten starben, Reiche Geber und intergibt es in manchen Ländern nationale Institutionen haben wie Sierra Leone oder Angola Algerier: Die ersten Flüchtlinge in Afrika. Millionen US-Dollar für kurzund am Horn von Afrika fristige humanitäre Hilfe ausHoffnung“. gegeben, besonders, als TauDavid Lambo, Leiter der Afrika-Abteilung von sende von Menschen vor den Fernsehkameras starben, UNHCR, ist der Überzeugung, dass die Organisation bei wie es in Ruanda der Fall war. Sie zeigen jedoch wenig den rein humanitären Problemen „etwas weiter ist als vor Bereitschaft, die langfristige Entwicklung auf dem sechs Monaten. Das Licht am Ende des Tunnels wird ein Kontinent zu fördern. wenig heller. Es ist aber ebenso wahr, dass der Kontinent Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Sozialerneut an einem Scheideweg steht“. dienste brechen zusammen. HIV/AIDS hat in vielen afriWarum scheint Afrika so verzweifelt und so ver- kanischen Ländern epidemische Ausmaße erreicht. Algessen, wo doch eine immer kleinere Welt Ländern wie lein im Jahr 2001 sind über zwei Millionen Menschen an Afghanistan und unlängst dem Irak – zumindest kurz- dieser Krankheit gestorben. Weitere acht Millionen sind fristig – so viel Aufmerksamkeit und Hilfe spendet? an leicht behandelbaren Erkrankungen wie Malaria, MaDer Kontinent bringt nach wie vor seine eigenen sern und Durchfall gestorben. Bei dieser SterblichkeitsDespoten und fehlgelei- rate wäre die Bevölkerung eines europäischen Staates teten politischen Kon- mittlerer Größe wie Großbritannien oder Frankreich in zepte hervor. Die Ur- weniger als einem Jahrzehnt vollkommen ausgelöscht. sachen des Übels liegen Afrika ist jedoch kein „ferner“ Kontinent mehr. Zehnjedoch wesentlich tiefer. tausende Afrikaner machen sich jedes Jahr auf den Weg Afrika gilt immer noch zu den mehrere tausend Kilometer entfernten nördals „ferner“ Kontinent, lichen Ufern des Kontinents, wo sie sich auf unsicheren humanitäre Krisen spie- Booten einschiffen, um illegal nach Europa zu gelangen. len sich „da unten“ ab, David Lambo warnt: „Unter vielen Afrikanern herrscht ‘71-‘75 ‘76-‘80 ‘81-‘85 ‘86-‘90 ‘91-‘95 ‘96-‘00 2003 und in den Hauptstäd- ein Gefühl der totalen Verzweiflung, und diese Menschen à FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

UNHCR/S. WRIGHT/524

TIEF IM INNEREN DES KONGOBECKENS STARBEN ETWA DREI MILLIONEN MENSCHEN IN EINEM NICHT ENDEN WOLLENDEN KRIEG, DEN MANCHE ALS DEN SCHRECKLICHSTEN BEKANNTEN KONFLIKT IN DER GESCHICHTE AFRIKAS BESCHREIBEN.

gefähr 440.000 Langzeitflüchtlinge an ihre früheren Wohnorte am Horn von Afrika zurück. Für fast zwei Millionen Flüchtlinge aus Burundi, dem Sudan, Somalia und der Kongo-Region hängen all ihre Hoffnungen auf baldige Rückkehr in die Heimat von den verschiedenen Friedensverhandlungen ab, die derzeit geführt werden. Länder wie die Vereinigten Staaten, die traditionell besonders schutzbedürftige Flüchtlinge zur dauerhaften Ansiedlung aufnehmen, widmen Afrika verstärkt ihre Aufmerksamkeit (obwohl sich das gesamte amerikanische Weiterwanderungsprogramm noch von den negativen Auswirkungen des 11. September 2001 erholen muss). Ein Projekt mit dem Namen „Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas“ (New Partnership for Africa’s Development – NEPAD), das die nachhaltige Entwicklung fördern und so Frieden und Stabilität auf dem Kontinent unterstützen soll, ist weltweit mit großem Beifall aufgenommen worden.

UNHCR/E. PARSONS/BW/TCD•2003

Afrika auf einen Blick B Es gibt auf dem afrikanischen Kontinent schätzungsweise 15 Millionen Flüchtlinge, Binnenvertriebene und andere entwurzelte Menschen. Mit einem veranschlagten Budget von knapp 400 Millionen US-Dollar für das Jahr 2003 will UNHCR fast 4,6 Millionen Menschen unterstützen. B Die Unterstützung Afrikas durch UNHCR hatte 1994 ihren Höhepunkt erreicht, als die Organisation sieben Millionen Flüchtlingen half, von denen viele vor dem Völkermord in Ruanda geflohen waren. B Im Jahr 2002 flohen mehr als eine Million Menschen aus ihren Wohnorten, während schätzungsweise 600.000 Flüchtlinge und Binnenvertriebene mit Unterstützung von UNHCR zurückkehrten. Allein in Angola kehrten allerdings zusätzlich eine bis eineinhalb Millionen Binnenvertriebene aus eigener Initiative an ihre früheren Wohnorte zurück. B Die größten Flüchtlingsgruppen Afrikas kamen aus den folgenden Ländern: Burundi 570.000, Sudan 490.000, Angola 421.000, Demokratische Republik Kongo 395.000 und Somalia 357.000. B Zu den afrikanischen Ländern mit den meisten Flüchtlingen zählen: Tansania 690.000, Demokratische Republik Kongo 330.000, Sudan 328.000, Sambia 247.000, Kenia 234.000 und Uganda 217.000. B Seit dem Ende der Kolonialzeit war Afrika Schauplatz einiger der längsten und schlimmsten Konflikte weltweit. Der Sudan wurde durch einen Bürgerkrieg zwischen dem überwiegend muslimischen Norden und dem animistischen und christlichen Süden zugrunde gerichtet, der praktisch seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1956 andauert. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen wurden getötet, vier Millionen wurden innerhalb der Landesgrenzen vertrieben, und eine halbe Million floh in die Nachbarländer.

Provisorische Unterkunft im Tschad. B Angola litt unter einem vergleichbaren Krieg, der in den sechziger Jahren begann. Mindestens eine Million Menschen wurden getötet, vier Millionen wurden innerhalb der Landesgrenzen vertrieben, und weitere 500.000 wurden zu Flüchtlingen. B Der Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo, der 1998 seinen Anfang nahm, ist als „Afrikas erster Weltkrieg“ bezeichnet worden. In diesen Krieg waren ein halbes Dutzend Armeen verwickelt. Zwischen drei und fünf Millionen Menschen sollen gestorben sein, entweder direkt im Krieg oder durch Krankheit und Unterernährung. Zwei Millionen Menschen sind im Land selbst auf der Flucht und 300.000 Menschen wurden Flüchtlinge im Ausland. B Nach dem erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs in Liberia im Jahr 1989 wurde ganz Westafrika destabilisiert. Beinahe 70 Prozent der Bevölkerung dieses Landes, schätzungsweise 2,4 Millionen Menschen, wurden vertrieben und 150.000 getötet. Der benachbarte Staat Côte d’Ivoire, der früher zu den Stabilsten auf dem afrikanischen Kontinent gehörte, stürzte gegen Ende des Jahres 2002 ebenfalls in einen Bürgerkrieg, durch den bis zu 800.000 Menschen vertrieben wurden und weitere 400.000 zur

Flucht aus dem Land gezwungen waren. B Burundi ist eines der ärmsten und kleinsten Länder der Welt. Dennoch wurden dort in einem Konflikt, der sich über ein Jahrzehnt hinzog, über 200.000 Menschen getötet und beinahe 1 Million Menschen entwurzelt – fast 14 Prozent der Gesamtbevölkerung. B In politischer Hinsicht gab es auch ermutigende Entwicklungen. Nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zu Beginn des Jahres 2002 begann die Rückkehr nach Angola, und deren Tempo dürfte sich in den kommenden Monaten noch beschleunigen. Vorläufige Friedensabkommen wurden in Burundi und im Kongo unterzeichnet. Nach einem zehnjährigen Bürgerkrieg in Sierra Leone hat auch dieses Land sich weiter stabilisiert. B Kriege und Vertreibungen sind durch ökonomische und soziale Umwälzungen angeheizt worden. Die Zahl der Menschen, die in Afrika südlich der Sahara in absoluter Armut lebt, wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich von 315 auf 404 Millionen steigen und den Kontinent zur ärmsten Region der Welt machen. B Die Hälfte der Bevölkerung bestreitet ihren täglichen Lebensunterhalt mit weniger als einem

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

Dollar. Über 50 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und über zwei Millionen Kleinkinder sterben jährlich, noch bevor sie ihren ersten Geburtstag erreichen. B Die Verbreitung von HIV/AIDS hat in vielen Ländern epidemische Ausmaße angenommen. Allein im Jahr 2001 starben mehr als zwei Millionen Menschen an dieser Krankheit. Acht Millionen weitere Menschen starben an Malaria, Masern, Tuberkulose und Durchfallerkrankungen. B Nach Angaben des Welternährungsprogramms droht schätzungsweise 40 Millionen Afrikanern in Äthiopien, Eritrea, der Sahel-Zone und Westafrika der Hungertod. B Flüchtlinge sind Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit vor Krieg und Repressionen aus ihrem Land geflohen sind. Binnenvertriebene sind aus denselben Gründen geflohen, aber innerhalb der Grenzen ihres eigenen Landes geblieben. UNHCR unterstützt alle Flüchtlinge weltweit. Die Organisation begann in den neunziger Jahren damit, einem Teil der Binnenvertriebenen zu helfen. Aus diesem Grund sind Tabellen und Schaubilder zu Artikeln in dieser Ausgabe für manche Zeiträume gelegentlich nur für eine der beiden Gruppen verfügbar.

15

UNHCR beginnt seine Tätigkeit in Afrika im Jahr 1957.

„DAS LICHT WIRD AM ENDE DES TUNNELS EIN WENIG HELLER. ES IST ABER EBENSO WAHR, DASS DER KONTINENT ERNEUT AN EINEM SCHEIDEWEG STEHT.“ 16

werden sich den Weg nach Europa und in andere wohlhabende Regionen der Welt notfalls mit Gewalt bahnen“. Afrika könnte sich auch als die entscheidende Schwachstelle im Kampf gegen den internationalen Terrorismus erweisen. Flüchtlingslager und das Chaos in Ländern wie Somalia bieten nicht nur existierenden terroristischen Netzwerken wie El Kaida Schutz, sondern bringen auch neue Anhänger hervor. Ostafrika ist bereits Schauplatz tödlicher Angriffe auf die Botschaften der USA in Kenia und Tansania geworden, und auch israelische Touristen wurden in Kenia zur Zielscheibe. UNGLEICHBEHANDLUNG

Und dann gibt es noch den Verdacht der Ungleichbehandlung: Entwurzelte Afrikaner erhalten schlichtweg nicht gleich viel Hilfe wie Flüchtlinge in anderen Teilen der Welt – ein Problem, das durch die Irak-Krise in den Blick geraten ist. Als der Krieg im Irak näher rückte, appellierte der afghanische Präsident Hamid Karsai an Washington: „Vergesst uns nicht, wenn es zum Krieg im Irak kommt.“ Sein Land hatte die Invasion durch die Sowjetunion und den anschließenden Kampf der Supermächte ebenso erlebt wie Jahre der völligen Vernachlässigung von Seiten einer desinteressierten internationalen Gemeinschaft, eine weitere Invasion von außen und schließlich erneute Beteuerungen, dass die Vergangenheit sich nicht wiederholen und der Westen Kabul dieses Mal nicht im Stich lassen würde. Angesichts der allseits bekannten Regeln der Realpolitik war Karsai nicht davon überzeugt, dass es wirklich so kommen würde.

Auch für die Kritiker des heutigen Systems der humanitären Hilfe hat sich der Irak-Krieg als Lackmustest dargestellt. Für sie hat er endgültig die Ungleichbehandlung bewiesen, nämlich, dass man im Nahen Osten massiv militärische, wirtschaftliche und finanzielle Ressourcen für Ziele einzusetzen bereit ist, die man ebenso in Afrika verfolgen könnte: Freiheit und Demokratie zu unterstützen, humanitäre Hilfe für eine verzweifelte Bevölkerung zu leisten und den Terrorismus zu bekämpfen. Das UN-System hatte dazu aufgerufen, für die humanitäre Hilfe im Irak Mittel im Umfang von 2,2 Milliarden US-Dollar bereitzustellen, der höchste je angeforderte Betrag. Diese Summe wäre zweifellos erreicht worden, hätte der Konflikt sich in die Länge gezogen. Im gleichen Zeitraum berichteten alle, die versuchten, Mittel für Afrika zu beschaffen, dass die traditionellen Geber zu Anfang des Jahres untätig verharrten und keine anderen Verpflichtungen eingehen wollten, bis man wusste, wie sich der Krieg im Irak entwickeln würde. Eine europäische Delegation bemerkte spitz: „Angola ist reich genug, um in diesem Jahr seine Rückführungsaktion selbst zu finanzieren.“ Ein Mitarbeiter einer humanitären Organisation stellte daraufhin laut und deutlich die Frage, ob diese Regeln auch für irakische Flüchtlinge gelten würden. Afrikanische Kommentatoren wiesen auf die riesigen, aber menschenleeren Zeltstädte an den Rändern der irakischen Wüste hin, die auf Flüchtlinge warteten, die niemals kamen, und verglichen den dafür betriebenen Aufwand mit dem geringen Grad des Interesses und der Berichterstattung der internationalen Medien, als Zehntausende von Menschen aus dem westafrikanischen Staat Côte d’Ivoire flohen. Der UN-Flüchtlingskommissar Lubbers betonte: „Ich bin besorgt, dass das Interesse am Irak das Interesse an Afrika verringert hat. Wenn man Geld für Afrika braucht, werden die Mittel immer nur weniger, nie mehr.“ Prognosen lassen vermuten, dass das Afrika-Budget von UNHCR in diesem Jahr um mindestens 15 Prozent unterschritten wird, ein Betrag, der Lubbers zufolge „geringer ist als die Kosten für eine Stunde Krieg im Irak“. Er wird dennoch schmerzhafte Kürzungen bei Programmen für Bildung, Selbstversorgung und andere grundlegende Probleme erzwingen. Nach Schätzungen des Welternährungsprogramms (World Food Program – WFP) droht 40 Millionen Afrikanern der Hungertod. James Morris, Exekutivdirektor des WFP, teilte vor kurzem dem UN-Weltsicherheitsrat mit: „Auch wenn es mir nicht gefällt, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass es wirklich Ungleichbehandlung gibt. Wie kommt es, dass wir in Afrika einen Grad des Leidens und der Hoffnungslosigkeit einfach als alltäglich hinnehmen, den wir in keinem anderen Teil der Erde akzeptieren würden. Wir können es dabei nicht belassen.“ Angesichts der Tatsache, das jede Familie zu Beginn des Irak-Krieges über einen Nahrungsmittelvorrat für einen Monat verfügte, sagte Morris, dass es für Hunger leidende Afrikaner, „von denen die meisten Frauen und Ã

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

Afrikas entwurzelte Menschen Marokko Algerien

Tunesien Libyen Ägypten

WestSahara Mauretanien

Niger

Eritrea

Tschad Sudan

Guinea Nigeria Sierra Leone

Äthiopien

Zentralafrikanische Republik

Côte d’Ivoire Liberia

Uganda Republik Kongo

Somalia Kenia

Ruanda Demokratische Republik Kongo Burundi Tansania

Malawi

Angola Sambia

Mosambik

500.000

Simbabwe

2.500.000 5.000.000

Namibia

Flüchtlinge Binnenvertriebene Rückkehrer

Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen

Südafrika

Tansania Demokratische Rep. Kongo Sudan Sambia Kenia

690.000 330.000 328.000 247.000 234.000

Uganda Guinea Algerien Äthiopien Republik Kongo

217.000 182.000 169.000 133.000 109.000

Flüchtlinge werden zu Kämpfern ie kamen bei Sonnenaufgang mit Geld und Versprechungen auf Abenteuer, Macht und Frauen. In nur drei Stunden hatten sie im Flüchtlingslager Nicla im Westen von Côte d’Ivoire 150 junge liberianische Männer als staatliche Söldner für die so genannte „Lima“-Truppe rekrutiert. Jeder bekam 10.000 lokale CFA-Francs (17 US-Dollar), sie bestiegen einen der beiden Lastwagen und verließen das Lager unter der Führung eines Kämpfers mit einem roten Piratentuch, der ein auf einem Jeep montiertes Maschinengewehr hin und her schwenkte. Den anderen Flüchtlingen, die die Szene verfolgten, sagten sie: „Wir wollen Geld. Hier sind wir nichts und haben nichts.“ Nach der Ausbildung sollten die neuen Söldner auf der Seite der Regierung gegen andere Liberianer in den verschiedenen Rebellentruppen kämpfen, die in der besonders gefährdeten Grenzregion zwischen den beiden westafrikanischen Staaten operierten. Nicla war früher ein verschlafenes kleines Nest auf dem Land wie viele andere ivorische Orte auch. Es bot nur einem kleinen Teil der mehreren hunderttausend Flüchtlinge Zuflucht, die nach über einem Jahrzehnt immer neuer Unruhen aus dem benachbarten Liberia 35 Kilometer weiter westlich geflohen waren. Die große Mehrheit der Liberianer integrierte sich schnell in die ivorischen Dörfer, statt in Flüchtlingslager zu gehen. Als Côte d’Ivoire im September 2002 jedoch selbst vom Bürgerkrieg erfasst wurde, mussten viele der entwurzelten Zivilisten aufs Neue fliehen. 6.000 bis 8.000 drängten in das Lager Nicla, in die Sicherheit einer Einrichtung mit internationaler Unterstützung, statt sich der Gefahr zunehmender Fremdenfeindlichkeit im Land auszusetzen. Angesichts der Nähe zu einer extrem instabilen Grenze, eines nahen Konflikts und einer Ansammlung einsatzfähiger weiblicher und männlicher Flüchtlinge war es jedoch nicht überraschend, dass das Lager stattdessen zu einem Tummelplatz für Rekrutierer wurde.

UNHCR/R.WILKINSON/CS/CIV•2003

Macht und Abenteuer statt Armut, Langeweile und Isolation – eine schwierige Entscheidungsschlacht um Herz und Geist der jungen Generation

S

Lager Nicla – Mahnung an Rekruten. Seit vielen Jahren kommt es immer wieder zum Widerstreit zwischen humanitären Idealen und militärischen Interessen – Nicla ist nur eines der jüngsten und offensichtlichsten Beispiele. Schätzungsweise 300.000 Kindersoldaten, davon allein 3.000 in Côte d’Ivoire, dienen heute in Armeen und Milizen auf der ganzen Welt. Ein Teil von ihnen kommt direkt aus Flüchtlingslagern. Eine unbekannte Zahl älterer, aber immer noch besonders schutzbedürftiger junger Menschen ist hier ebenfalls rekrutiert worden. Vor allem Mädchen sind gefährdet, die als Trägerinnen und/oder Sexsklavinnen missbraucht werden. Die nationalen Regierungen, nicht die humanitären Organisationen sind für die Sicherheit von Flüchtlingslagern verantwortlich. Wenn

sie wirkliche Sicherheit jedoch nicht schaffen können oder wollen, stehen Organisationen wie UNHCR oder die Caritas, die ebenfalls in Nicla vor Ort ist, vor schwierigen Entscheidungen. Als Mitte der neunziger Jahre über eine Million Ruander vor dem Völkermord in ihrem Land flohen, benutzten die gefürchteten Interahamwe-Milizen die Flüchtlingslager im damaligen Ostzaire nicht nur zur Rekrutierung, sondern auch als Ausgangspunkt für ihre Gegenangriffe auf Ruanda. Angesichts des zerfallenden staatlichen Sicherheitsapparats rief UNHCR die UN-Mitgliedstaaten ohne Erfolg zu militärischer Unterstützung auf und bezahlte schließlich für eine eigene Sicherheitstruppe – mit mäßigem Erfolg. Letztlich musste die umstrittene Entscheidung getroffen werden, ob man weiter Hunderttausende echter Flüchtlinge versorgen sollte, obwohl man wusste, dass die Kämpfer aus dieser Hilfe und der internationalen humanitären Präsenz ihren Vorteil zogen. Seit Monaten hat UNHCR an „Lösungen“ für Nicla gearbeitet. Diese reichen von lokalen Bildungsprogrammen und kleinen Selbsthilfeprojekten bis zu dem Versuch, das Lager aus dem unmittelbaren Kampfgebiet zu verlegen und andere Länder zu bitten, die schutzbedürftigsten Liberianer zur dauerhaften Ansiedlung aufzunehmen.

WILDER WESTEN Obwohl die Flüchtlinge den Ort „Stadt des Friedens“ nennen, erinnert er eher an den Wilden Westen. Es ist ein erschreckender Anblick, wenn Dutzende laut johlender Jugendliche, begleitet von dem unvermeidlichen Mann mit Maschinengewehr und rotem Piratentuch, am helllichten Tag auf Lastwagen durch das Lager kurven (Rekrutierungsaktivitäten dieser Art finden in anderen Lagern oft versteckter statt, unter dem Schutz der Dunkelheit).

ES GIBT WEDER ARBEIT NOCH GELD FÜR SIE, DAFÜR ABER IMMER MEHR ARMUT, WENIG BILDUNG UND KAUM ETWAS ZU TUN – NUR LÄHMENDE LANGEWEILE, WACHSENDE RESSENTIMENTS UND ANGST. 18

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

UNHCR/A. HOLLMANN/CS/DZA•1998

Schusssalven unterbrechen immer wieder den Alltag, wenn die „Soldaten“ in das Lager zurückkehren, um ihre Familien zu besuchen. Kürzlich verließ eine Gruppe von Schulkindern ihr Klassenzimmer voller Panik durch Türen und Fenster, als Kugeln um das Schulgebäude sausten. Den Flüchtlingen zufolge steht ihr Leben unter solchen Bedingungen ständig auf Messers Schneide. „Schon die Tatsache, dass ich jetzt mit Ihnen spreche, könnte mich das Leben kosten“, sagt ein Flüchtling, der seine Identität nicht preisgeben will. „Hier ist es wie auf einem gewaltigen Viehmarkt“, beklagt sich ein anderer Flüchtling bei einem Mitarbeiter der Lagerverwaltung. „Was geschieht, wenn es zu einem Massaker kommt? Sie werden am Morgen in das Lager kommen (UNHCR-Mitarbeiter übernachten nicht im Lager), um die Toten einzusammeln. Und das werden wir sein.“ Weshalb das Militär für junge Flüchtlinge attraktiv ist, lässt sich leicht nachvollziehen. Ivorer, die einst den Liberianern freundlich begegneten, sehen diese nun als Rebellen. Bestimmte Gebiete in der Umgebung von Nicla werden gemieden. Im Lager, abgekapselt von der Außenwelt, gibt es weder Arbeit noch Geld für sie, dafür aber immer mehr Armut, wenig Bildung und kaum etwas zu tun – nur lähmende Langeweile, wachsende Ressentiments und Angst. Unter solchen Bedingungen können viele zu dem Schluss kommen, dass ihnen keine Alternative bleibt, als sich rekrutieren zu lassen. Andere suchen die Aufregung und die nackte Macht, über die jeder verfügt, der eine Waffe hat. Junge Mädchen werden auf anderen Wegen rekrutiert und sind auf andere, indirektere Art und Weise betroffen. Manche können sich durch die weit verbreitete Prostitution etwas verdienen, indem sie sich an die jungen Kämpfer verkaufen, die plötzlich zu Geld gekommen sind. Es gibt sexuellen Missbrauch (ein zwölfjähriges Mädchen wurde vor kurzem zu neuen Pflegeeltern gegeben, weil sie von Männern rituell missbraucht wurde), doch andere Mädchen, die eigentlich die Schule besuchen sollten, schließen sich aus eigenem Antrieb den Trinkgelagen in den sechs oder sieben Bars im Lager an und werden freiwillig Freundinnen der Kämpfer. Jette Isaksen hat in Ruanda, Afghanistan, im Kosovo und in Liberia gearbeitet. Ihr jetziger Einsatzort in Nicla, wo sie täglich das Lager besucht, unterscheidet sich jedoch von all ihren anderen Einsätzen in Krisengebieten. „Ich habe noch nie so viel Angst gehabt wie hier“, sagt sie bei ihrem Rundgang durch das Lager. „Mir gefällt die Atmosphäre nicht.“ B

Sahrauische Flüchtlinge in Algerien.

Kinder sind, ein unglaublicher Segen wäre, für einen ganzen Monat Nahrung zu haben“. BENACHTEILIGT

Werden die Afrikaner also ungerecht behandelt? Die Summen zu vergleichen, die in verschiedenen Teilen der Welt für jeden Flüchtling aufgebracht werden, ist eine unsichere Sache. Ein solcher Vergleich spiegelt nicht unbedingt den „effektiven“ Umfang der Hilfe wider, die ein Mensch erhält. Beispielsweise können die Kosten für den Bau von Unterkünften auf dem Balkan höher sein als in Afrika, was jede direkte Gegenüberstellung von Dollarbeträgen pro Flüchtling verzerren würde. UNHCR hat jedoch einen Mindeststandard der Unterstützung festgelegt, die jeder Flüchtling erhalten sollte. Selbst diese grundlegenden Fixpunkte im Hinblick auf Lebensnotwendigkeiten wie Nahrung, Wasser und Unterkunft werden in Afrika jedoch immer wieder unterschritten, weil es an finanziellen Mitteln und Personal fehlt. Das Welternährungsprogramm hat für manche Flüchtlingslager die Rationen, die ohnehin bereits an dieser untersten Mindestgrenze lagen, noch einmal halbieren müssen. Vertriebene am Horn von Afrika, in den heißen Sommermonaten einer der unwirtlichsten Orte der Welt, sollten jeden Tag mindestens 20 Liter Wasser erhalten. Trotzdem mussten einige in der Krise der neunziger Jahre mit weniger als drei Litern täglich überleben. Vergleichbare Knappheiten gibt es auch heute. In manchen Lagern erhalten nur etwa 30 Prozent der Kinder irgendeine Form von Schulbildung. Nach Auskunft von Jeff Crisp, dem Leiter der UNHCREvaluierungsabteilung, verschlechtern sich die ohnehin schon schrecklichen Bedingungen in manchen Lagern, je länger sie bestehen. Ursachen hierfür seien der allgemeine „Überdruss“, der bei Langzeitkrisen eintrete, und die Umleitung knapper Mittel zu anderen Projekten. UNHCR hat jetzt mit einer umfassenden Einschätzung der Finanzierungslücken zwischen den festgelegten Mindestzielvorgaben und der Realität vor Ort begonnen. Mit Blick auf den gesamten Kontinent ist dabei nicht zu vergessen, dass die Bedingungen sich je nach Region stark unterscheiden. Die Erhebung erfasst zudem nur à FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

DER SCHLIMMSTE ALBTRAUM, DEN SICH EIN FLÜCHTLING VORSTELLEN KANN, IST FÜR DIE 26-JÄHRIGE ABIGAIL REALITÄT. SEIT DEM DREIZEHNTEN LEBENSJAHR WAR SIE STÄNDIG AUF DER FLUCHT UND AUF DER SUCHE NACH EINEM SICHEREN ZUFLUCHTSORT. … STATTDESSEN GERIET SIE IMMER WIEDER IN EINEN NEUEN KRIEG.

19

AFRIKA AM ABGRUND Flüchtlinge in festen Lagern oder Durchgangslagern, nicht jedoch diejenigen, die zusammen mit der einheimischen Bevölkerung leben. Die Lager Kakuma und Dadaab in Kenia gehören zu den größten Lagern in Afrika mit insgesamt 180.000 Menschen. Die Erhebung zeigte, dass selbst so einfache Dinge wie Decken, Kanister und Kochutensilien in größerer Menge zum letzten Mal vor sieben Jahren verteilt wurden und die damals ausgegebenen Gegenstände vermutlich längst nicht mehr zu gebrauchen sind. Der Bericht warnte: „Die ausbleibende Erneuerung (solcher

Gebrauchsgegenstände) wird die ohnehin heikle Lage in den Lagern weiter verschlimmern. Das kann zum Ausbruch von verschiedenen Krankheiten führen, die durch Kälte, fehlende hygienische Einrichtungen usw. verursacht werden.“ In Dadaab, wo die Temperaturen im Sommer auf über 40 Grad steigen, erhalten die Flüchtlinge momentan 17 Liter Wasser pro Tag, mit dem sie jedoch auch ihr Vieh versorgen müssen. Es gibt nur eine Toilette für jeweils 275 Schüler an der Schule, obwohl eigentlich eine Toilette pro 20 Schüler verfügbar sein sollte. 144 Kinder teilen sich ein

Gewalt und Unruhen seit der Unabhängigkeit UNHCR/L.TAYLOR/CS/TZA•2002

Burundi steht erneut an einem Scheideweg

Auf der Flucht in das Nachbarland Tansania.

eit 30 Jahren wird das Land von gewaltsamen Konflikten erschüttert. Obwohl Burundi eines der kleinsten Länder Afrikas ist, sind in dem innerafrikanischen Staat allein im letzten Jahrzehnt 150.000 Menschen getötet und weitere 1,5 Millionen entwurzelt worden. Die Welt hat sich kaum dafür interessiert. Wie der gesamte Kontinent, so steht auch Burundi heute erneut an einem Scheideweg. Nach Jahren geduldiger Diplomatie, erst von Seiten des verstorbenen Staatspräsidenten Tansanias Julius Nyerere und später des ehemaligen südafrikanischen Staatspräsidenten Nelson Mandela, konnte eine nationale Übergangsregierung eingerichtet werden. Deren dreijährige Regierungszeit ist Anfang Mai zur Hälfte abgelaufen.

S

20

Angesichts dieses Ereignisses übergab Staatspräsident Pierre Buyoya, ein Angehöriger der Volksgruppe der Tutsi, sein Amt – das er 1996 durch einen Coup erlangt hatte – an seinen Vizepräsidenten Domitien Ndayizeye von der Volksgruppe der Hutu. Die beiden Bevölkerungsgruppen kämpfen um die Macht, seitdem das Land 1962 die Unabhängigkeit erlangte. Eine friedliche Machtübergabe war seitdem ein seltenes Ereignis. Die Zukunft des Landes und seiner sechs Millionen Einwohner hängt nun vom Erfolg des neuesten Versuchs ab, einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Selbst in der Übergangsphase gab es unterschiedliche Signale. In manchen Teilen des Landes kam es weiterhin zu Zusammenstößen zwischen der von den Tutsi dominierten

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

Armee und den beiden wichtigsten Rebellengruppen der Hutu, den Kräften für die Verteidigung der Demokratie (Forces for the Defense of Democracy – FDD) und den Nationalen Befreiungskräften (National Liberation Forces – NLF).

DIE GRÖSSTE FLÜCHTLINGS BEVÖLKERUNG Die Burundier bilden die größte geschlossene Flüchtlingsbevölkerung in Afrika. Etwa 570.000 Zivilisten sind offiziell als Flüchtlinge anerkannt worden. Die meisten von diesen leben im benachbarten Tansania. Mehrere hunderttausend Menschen haben zudem seit Jahrzehnten im Ausland gelebt und werden offiziell gar nicht statistisch erfasst. In dem seltsamen politischen Klima Zentralafrikas, in dem nichts unmöglich scheint, sind noch während der Verhandlungen und Kämpfe, die gleichzeitig stattfanden, schätzungsweise 40.000 Burundier in friedliche Landesteile zurückgekehrt. Gleichzeitig floh parallel dazu an anderen Orten eine vergleichbar hohe Zahl von Menschen vor den andauernden Kämpfen, um Zuflucht in einem Nachbarstaat zu suchen. UNHCR hat die langfristigen Chancen auf eine friedliche Lösung auch durch den Bau von Gesundheitszentren und Schulen für Flüchtlinge und einheimische Gemeinschaften zu verbessern versucht. Sie unterstützt die besonders Hilfsbedürftigen ebenso wie ältere Menschen und bemüht sich sogar um die Einrichtung eines „mobilen Gerichts“, das durch den Norden Burundis reisen soll, um Streitigkeiten zwischen Einheimischen und heimkehrenden Flüchtlingen beizulegen. B

©PANOS/S. TORFINN

Unterwegs im Sudan.

Klassenzimmer, und auf einen Lehrer kommen beinahe 60 Schüler. Wegen der Mittelknappheit wird diese Lücke in nächster Zukunft auch nicht gefüllt werden können. Dem Bericht zufolge wird UNHCR „seine Pflicht verletzt haben, sich um die Grundrechte des Kindes auf Grundschulbildung zu kümmern“. 75 Prozent aller schwangeren Frauen leiden unter Anämie. Der jedem Flüchtling zur Verfügung stehende Platz beträgt weniger als drei Quadratmeter, während der Mindeststandard bei 3,5 Quadratmetern liegt, „und die Unterkünfte sind in einem erschreckenden Zustand“. Im Bericht wurde hinzugefügt, dass „das Versäumnis, die Lebensbedingungen der Flüchtlinge zu verbessern … ihren Schutz vor Atemwegserkrankungen und anderen Krankheiten behindern würde sowie ihre Privatsphäre verletzen und ihre seelische Stabilität gefährden könnte“. KAMPF UM MITTEL

Abgesehen von spektakulären Krisen wie der im Irak wird es immer schwieriger, von den traditionellen Gebern in den Industrieländern Mittel zur Unterstützung der fast 20 Millionen Menschen zu erhalten, denen UNHCR auf der ganzen Welt hilft. Manche Kritiker haben den Vorwurf erhoben, dass die humanitären Organisationen selbst zu den Finanzproblemen Afrikas beigetragen hätten, indem sie nur das angeben, was ihrer Meinung nach die Geber zu geben bereit sind, statt den tatsächlichen Bedarf vor Ort realistisch zu schätzen – was letztlich hieße, dass sie selbst den Bedarf herunterreden. Vor drei Jahren sagte Julia Taft, damals stellvertretende amerikanische Außenministerin in der Abteilung für Bevölkerung, Flüchtlinge und Migration und damit ranghöchste amerikanische Beamtin für Flüchtlingsfragen, gegenüber dieser Zeitschrift: „Die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen im Kosovo und beispielsweise in Guinea war für uns alle vollkommen inakzeptabel. Man kann nicht 20 Millionen Dollar für 500.000 Flüchtlinge aus Sierra Leone aufwenden und dann 240 Millionen für die gleiche Zahl im Kosovo fordern. Das ist weder fair noch richtig.“ Taft skizzierte im Anschluss daran einen Ansatz, auf den Washington seither in allen Diskussionen über Mittel für Afrika gedrängt hat: „Nötigenfalls sollten die Geber angeprangert werden. UNHCR sollte sagen, wie viel Geld das Amt braucht, und die Geber zwingen zu

sagen: „Das können wir uns nicht leisten.“ Man darf aber nicht die Messlatte bei dem anlegen, was die Geber nach Einschätzung der Organisationen zu zahlen bereit sind.“ Dennoch hat sich kaum etwas geändert, und die Mittel sind insgesamt weiter geschrumpft. Jedes Jahr müssen die regionalen Büros in einem schmerzhaften Prozess um jeden knappen Dollar kämpfen und feilschen. Einer der jüngst in Westafrika eingetroffenen Mitarbeiter, der an diese Auseinandersetzungen noch nicht gewohnt war, kam regelrecht traumatisiert aus seiner ersten Sitzung über die Mittelverteilung: „Das Büro vor Ort hatte in seinen Berechnungen ursprünglich 185 US-Dollar für jeden Vertriebenen zu Grunde gelegt, dem geholfen werden sollte“, erinnert er sich. „Dieser Betrag wurde auf 70 US-Dollar reduziert. Schließlich haben wir uns irgendwo in der Mitte getroffen. Ich habe mich wie in einem Basar gefühlt, in dem man um einen Teppich feilscht, und nicht wie jemand, der Menschenleben zu retten versucht.“

HOFFNUNG UND VERZWEIFLUNG Westafrika ist ein Mikrokosmos – der Hoffnung wie der Verzweiflung, die den gesamten Kontinent beherrschen. Die Region ist eine Mahnung dafür, wie schnell die Lage selbst in den stabilsten Gesellschaften außer Kontrolle geraten kann. Umgekehrt zeigt sie aber auch, dass ein Land mit angemessener Hilfe wieder auf den richtigen Weg gebracht werden kann. Im Jahre 1998 wurde ein Dorfschneider und Vater von sieben Kindern, Alie K., von Rebellen in Sierra Leone gefangen genommen. In einem schrecklichen Ritual, das in dem ein Jahrzehnt währenden Bürgerkrieg alltäglich werden sollte, schlugen ihm die Guerillas seine linke Hand ab. „Drei von ihnen waren es, einer hielt mich mit dem Gewehr in Schach, die anderen schlugen sie mir ab“, erinnert sich Alie später. „Ich riss den Rest der Hand selbst ab und warf ihn weg, weil ich sie nicht festhalten konnte, während ich rannte“, sagte er. Solche Gräueltaten wurden Alltag. Dennoch ist heute, in einem bemerkenswerten Umschwung nach zehn Jahren des Bürgerkrieges, der 2002 endete, ein fragiler Erholungsprozess erreicht worden. Eine zivile Regierung wurde gewählt, die Polizei und das Militär werden neu aufgebaut, und etwa 14.000 UN-Soldaten tragen dazu bei, den Frieden zu sichern. UNHCR und andere humanitäre Organisationen halfen in den letzten zwei Jahren über Ã

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

ZWEI MILLIONEN MENSCHEN STARBEN 2001 AN HIV/AIDS. WEITERE ACHT MILLIONEN SIND AN LEICHT BEHANDELBAREN ERKRANKUNGEN WIE MALARIA, MASERN UND DURCHFALL GESTORBEN. BEI DIESER STERBLICHKEITSRATE WÄRE DIE BEVÖLKERUNG EINES EUROPÄISCHEN STAATES MITTLERER GRÖSSE IN WENIGER ALS EINEM JAHRZEHNT VOLLKOMMEN AUSGELÖSCHT.

21

©S. SALGADO•ZRE

UNHCR HAT EINEN MINDESTSTANDARD DER UNTERSTÜTZUNG FESTGELEGT, DIE JEDER FLÜCHTLING ERHALTEN SOLLTE. SELBST DIESE GRUNDLEGENDEN FIXPUNKTE IM HINBLICK AUF LEBENSNOTWENDIGE DINGE WIE NAHRUNG, WASSER UND UNTERKUNFT WERDEN IN AFRIKA JEDOCH IMMER WIEDER UNTERSCHRITTEN. 22

220.000 Flüchtlingen und mehreren hunderttausend Binnenvertriebenen bei der Rückkehr nach Sierra Leone. Dazu zählten auch etwa 26.000 Flüchtlinge, die bis jetzt in diesem Jahr zurückgekehrt sind. Außerdem wurde das Projekt der so genannten „4R“ eingeleitet. Der UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers nennt diese Initiative den Versuch, in den vier Hauptphasen der Rückkehr von Flüchtlingen – Rückführung, Reintegration, Wiederherstellung der Infrastruktur und Wiederaufbau – die Hilfe von Regierungen, humanitären Organisationen und Entwicklungshilfeorganisationen nahtlos zu gewährleisten. Mancher frühere Flüchtlingseinsatz litt unter Unterbrechungen in der Kette der Hilfeleistungen. Diese berüchtigte „Lücke“ drohte in vielen Fällen, einen gesamten Friedensprozess zu untergraben oder neue Flüchtlingswellen auszulösen. Wenn UNHCR seine eigene Beteiligung in Sierra Leone im Jahr 2005 ausklingen lässt, nachdem die Organisation dort zwischen 80 und 100 MillionenUS-Dollar aufgewendet hat, werden Entwicklungshilfeorganisationen wie die Weltbank übernehmen, um den langfristig angelegten Wiederaufbau weiterer Schulen, Ambulanzen und von Teilen der Infrastruktur zu beschleunigen. Sierra Leone hat vor kurzem eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, ähnlich dem Gremium, das in Südafrika zur Überwindung des Traumas und zur Ahndung der Verbrechen aus der Zeit der Apartheid beigetragen hat. Staatspräsident Ahmed Tejan Kabbah zufolge werde die Kommission „einen therapeutischen Beitrag zum Friedensprozess leisten, um das Trauma und die emotionalen Wunden des bewaffneten Konflikts heilen zu lassen“. Der erste Zeuge vor dieser Kommission, Tamba Finnog, beschrieb, wie er entführt und ihm sein rechter Arm abgeschlagen wurde. Dann aber fügte er hinzu: „Ich habe all das hinter mir gelassen und bin bereit, zu vergeben.“

DER SCHLIMMSTE ALBTRAUM

Im Vergleich dazu ist für die 26-jährige Abigail der schlimmste Albtraum, den sich ein Flüchtling vorstellen kann, immer noch Realität. Ihr Fall zeigt, wie schnell die Dinge in Afrika eine fatale Entwicklung nehmen können. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr war sie ständig auf der Flucht und auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort. Diesen Ort hat sie nie gefunden; immer wieder geriet sie in einen neuen Krieg. Als Jugendliche floh sie 1990 aus Liberia, als das Land in die neueste Phase seines Bürgerkriegs eintrat. Zu Fuß zog sie die Küste am Golf von Guinea entlang, wo überall Krankheiten herrschten, und gelangte schließlich in die Hauptstadt des Nachbarstaats Côte d’Ivoire. Ein Jahrzehnt zuvor war Abidjan der Inbegriff des postkolonialen afrikanischen Traums, eine Stadt mit glitzernden Bürohochhäusern, eleganten französischen Restaurants, gepflegten Diplomaten, blühender Wirtschaft und der einzigen Eislaufbahn von ganz Schwarzafrika, die am Rande von alten Mangrovensümpfen lag. Liberianische Flüchtlinge und Hunderte von Gastarbeitern aus den Nachbarstaaten trugen zum wirtschaftlichen Aufschwung des Landes bei, lebten aber unter weit weniger angenehmen Bedingungen in einer Reihe von Slums um Abidjan. Abigail konnte ihre Ausbildung abschließen und wurde Lehrerin in der Stadt Tabou, die in der Nähe der Grenze zwischen den beiden Ländern liegt. Im letzten Jahr jedoch löste sich der ivorische Traum, der seit Jahren immer fadenscheiniger wurde, in Nichts auf, und es kam zum Bürgerkrieg zwischen der Regierung und den Militärrebellen. Das Unvorstellbare geschah: Liberianische Flüchtlinge, ivorische Staatsbürger und Gastarbeiter flohen voller Panik aus dem Land. Beinahe 100.000 gingen nach Liberia, obwohl dort immer noch der Bürgerkrieg wütete.

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

UNHCR/R. CHALASANI/CS/YUG•2001

Die Bedingungen für Flüchtlinge in Afrika sind sehr viel schlechter als in Europa.

NEUE ERWARTUNGEN

Panos Moumtzis, ein Veteran aus früheren Flüchtlingskrisen wie denen nach dem ersten Golfkrieg, in Somalia und im ostafrikanischen Seenhochland Mitte der neunziger Jahre, hatte sich auf seinen neuen Job in Abidjan gefreut. „Ich hatte ein gutes Gefühl. Einmal in dem ganzen Elend würde das ein positiver Einsatz sein.“ An der Küste in Tabou hegte die neue Leiterin des Flüchtlingsbüros, Anne Dolan, die ebenfalls in vielen Flüchtlingskrisen Erfahrung gesammelt hatte, die gleiche Hoffnung wie er. „Es sollte ganz anders kommen“, sagte Anne Dolan später.

Côte d’Ivoire hatte zeitweise etwa 200.000 liberianische Flüchtlinge aufgenommen. Viele waren vom Gründungsvater der Nation, Staatspräsident Felix Houphouet-Boigny, als „Brüder und Schwestern in Not“ willkommen geheißen worden und hatten sich in die lokalen Gemeinschaften integriert. Es gab nur ein kleines Flüchtlingslager, Nicla, mit Platz für etwa 3.000 Menschen. In dieser scheinbar so positiven Umgebung gingen Moumtzis und Dolan davon aus, dass sie sich auf Projekte zur Förderung von Integration, Bildung und Selbsthilfe würden konzentrieren können, „auf etwas, das im Unterschied zu all dem Leid und dem Sterben in den anderen Krisen wirklich einmal positiv und befriedigend sein würde“. In der Nacht vom 18. zum 19. September erwachte Moumtzis in der Hauptstadt durch das Geräusch von Schüssen – der Beginn eines Konflikts, der das einst stabile Land in den Abgrund stürzen und nicht nur das Leben der Flüchtlinge verändern sollte, die dort Zuflucht gefunden hatten, sondern auch das Leben von vielen Zehntausenden Einheimischen und Gastarbeitern aus den Nachbarländern. „Die UNHCR-Hilfseinsätze wurden gewissermaßen über Nacht vollständig umgestellt“, sagt Moumtzis. „Der Bau von Schulen, Ambulanzen, Infrastruktur, Integrationshilfe für Flüchtlinge, all das war plötzlich vorbei. Wir

Der schlimmste Krieg Afrikas

Was die humanitäre Seite anging, so schuf UNHCR in der Demokratischen Republik Kongo ein Netz von insgesamt zehn Büros. Die dort tätigen Mitarbeiter und ihre Kollegen in den Nachbarstaaten hatten die Aufgabe, den unglücklichen Menschen zu helfen, deren Wege sich wiederholt ebenso untereinander wie mit den Staatsgrenzen kreuzten und die schließlich in der Mehrheit in ihre Heimatdörfer zurückkehrten. Gruppen von Flüchtlingen sind über Zehntausende von Quadratmeilen eines oft undurchdringlichen Regenwaldes und der Grassavanne zerstreut. Es gibt praktisch keine Straßen, selbst an einfachsten Sicherheitsvorkehrungen fehlt es meist, und immer wieder kommt es zu Massakern. Jede Woche tauchen aus dem geheimnisvollen Herzen des Kontinents neue Reste einer Armee ruandischer Flüchtlinge auf, die vor fast neun Jahren vor dem Völkermord in Ruanda in diese Wälder geflohen waren. Ein großer Einsatz zur Rückführung von Tausenden von Angolanern wird in diesem Jahr beginnen, aber angesichts so gewaltiger Schwierigkeiten könnte es sein, dass der humanitäre Gesamtauftrag nicht erfüllt werden kann und viele Flüchtlinge nicht gerettet werden können. B

Allen entwurzelten Menschen im Herzen des afrikanischen Kontinents zu helfen, könnte sich als unmöglich erweisen ine bunte Karte der Vereinten Nationen erzählt die Geschichte des Kongo. Sie ist ein Flickenteppich aus Gelb-, Grün-, Blau-, Rosa- und sogar Zartrosatönen und stellt die Wirklichkeit anschaulich dar – lauter Gebiete, die von der Regierung und den verschiedensten Splittergruppen kontrolliert werden. Ein Querstreifen – eine so genannte entmilitarisierte Zone – teilt das Gebiet, das offiziell als Demokratische Republik Kongo bekannt ist und das seit fast fünf Jahren vom Krieg erschüttert wird. Das International Rescue Committee mit Sitz in Washington hat jüngst die Zahl der Opfer des Konflikts beziffert: Schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen gingen in einem Krieg zugrunde, in den zeitweise Militärs aus den sechs umliegenden Ländern verwickelt waren. Die Organisation nannte diesen Krieg „den tödlichsten bekannten Konflikt in der Geschichte Afrikas“. Aber wie viele der Langzeitkriege Afrikas wurde auch er von der Welt weitgehend ignoriert, während das Blutvergießen unvermindert weiterging.

E

Die Kombattanten haben jetzt eine Reihe von Friedenspakten unterzeichnet, die meisten Truppen ausländischer Staaten haben sich zurückgezogen, und die Vereinten Nationen haben eine winzig kleine Streitmacht von 4.300 Soldaten entsandt, die den fragilen Frieden stabilisieren soll.

DIE HUMANITÄRE TRAGÖDIE Etwa zwei Millionen Zivilisten aus dem Kongo wurden während der jüngsten Verwerfungen innerhalb des Landes vertrieben. Weitere 400.000 haben den Kongo ganz verlassen und in den Nachbarländern Zuflucht gesucht. Einige dieser Aufnahmeländer befanden sich jedoch ebenfalls im Kriegszustand. In einem tragischen Austausch des Elends flohen 330.000 Menschen aus Angola, Uganda, der benachbarten Republik Kongo, Burundi, Ruanda und der Zentralafrikanischen Republik in die Demokratische Republik Kongo – auf der Suche nach Hilfe in einem Land, das viele andere gleichzeitig zu verlassen suchten.

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

23

Der Weg über die Grenze s ist das letzte und größte Hindernis, das zwischen Angst, Chaos und der möglichen Rettung liegt. Jeder der über 50 Millionen Flüchtlinge, denen UNHCR seit 1951 geholfen hat, hat diese Hürde überwunden. Viele andere haben es versucht und sind gescheitert. Die „normalen“ Reisenden und Touristen, die jeden Tag ohne nennenswerte Beeinträchtigungen Grenzen überqueren, haben kaum eine Vorstellung davon, welch ungeheure Barriere der Angst der Schlagbaum für einen potenziellen Flüchtling bedeutet. Die Abweisung könnte erneute Verfolgung bedeuten, Hunger oder sogar den Tod in dem Land, aus dem sie zu fliehen versuchen, ein „Ja“ dagegen die Chance auf Zuflucht und darauf, ein neues Leben beginnen zu können. Menschen auf der Flucht überqueren Grenzen heutzutage in glitzernden Flugzeugen, schnittigen Zügen, mit dem Auto oder in Lastwagen. Menschenschmuggler haben das Geschäft mit dem Transport von Menschen auf der Flucht in ein den gesamten Globus umspannendes Milliardengeschäft verwandelt. Afrikaner nehmen oft den altmodischen Weg. Sie gehen zu Fuß oder werden von altersschwachen Bussen mitgenommen, die oft Tage brauchen, bis sie an einen Grenzübergang gelangen – häufig eine kleine Bude mit einer einsamen Schranke quer über dem Weg oder eine unzugängliche natürliche Grenze wie ein Fluss. Dort kann ihnen größte Freundlichkeit ebenso begegnen wie der offizielle Spießrutenlauf in Form von endlosen Verzögerungen und finanziellen oder sexuellen Schikanen. Sie gehen in kleinen Gruppen fort oder in Massen, wie dies beispielsweise 1994 während des Exodus aus Ruanda der Fall war, als täglich mehrere hunderttausend Menschen in Ostzaire eintrafen.

E

ABSEITS DER GROSSEN WEGE Nero ist ein gesichtsloser Grenzübergang am Fluss Cavally zwischen Liberia und Côte d’Ivoire, mehrere Stunden entfernt von der großen asphaltierten Straße, getrennt durch ein Labyrinth von Palmölplantagen und Regenwald. Er ist schwer zu finden, selbst wenn man gezielt nach ihm sucht. Eine Bambusschranke, ein offener Unterstand und ein Empfangsbereich mit Lehmboden sind alles, was es dort gibt. Hundert Meter weiter jenseits

24

UNHCR/R. WILKINSON/CS/CIV•2003

Am Schlagbaum entscheidet sich das Schicksal von Millionen von Menschen übrig bleiben, als mitten in den Konflikt zurückzukehren. Edward Moore, der liberianische Zollbeamte, erläutert in perfektem Englisch: „Wir haben Anweisungen, an die sich jeder halten muss.“ Aber dann fügt er hinzu: „Wir werden sie trotzdem gehen lassen. Wir müssen uns an die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 halten.“

ABGESCHNITTEN Das Leben hier kann hart sein, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für die Einheimischen. Moore hat von seiner Familie in Monrovia, der abgeschnittenen und fernen Hauptstadt Liberias, seit zwei Jahren nichts mehr gesehen oder gehört. Seinen Lohn bekommt er nur sporadisch. Er ist begierig, sich mit Fremden zu unterhalten. „Warum bringen wir Afrikaner uns die ganze Zeit gegenseitig um?“, fragt er. „Hier sollte Frieden herrschen. Wir kommen aus demselben Stamm. Aber im Irak bringen sie sich auch gegenseitig um“, Gepäckdurchsuchung an der ivorischen Grenze. fügt er dann noch hinzu. Die Flüchtlinge beginnen die Grenze zu überqueren, immer acht in einem Kanu, ihre des träge dahinfließenden Flusses hängt die wenige verbleibende Habe hoch um sich liberianische Flagge schlaff in der Hitze. aufgetürmt. Sie verteilen Schmiergeld hier und Vor einigen Monaten flohen mehrere zehnda und zahlen einen enormen Betrag für das tausend Liberianer, Ivorer und Gastarbeiter vor Kanu – das ist üblich, um den Prozess zu bedem Chaos, das in Côte d’Ivoire ausbrach, um schleunigen. auf das nicht minder gefährliche Territorium Dann folgt das Ritual der Demütigung. von Liberia zu gelangen. Zwischen zwei Kriegen Die Patrioten, die sich an ihrer ungewohnten gefangen, beginnen nun manche wieder Macht berauschen, werfen die Habe der zurückzukehren. Flüchtlinge einfach auf den Boden. Der Knabe Die Lage ist verwirrend. Ein Ivorer sagt, die in dem schwarzen Abendkleid ist besonders Grenze sei geschlossen, ein anderer, sie sei begeistert bei der Sache. „Verdächtige“ offen. Die „offizielle Seite“ wird durch ein paar Gegenstände wie Radios und Taschenlampen abschreckende „Junge Patrioten“ repräsentiert, werden genauestens untersucht. Ein paar Dinge Angehörige einer zusammengesammelten Regierungsmiliz, die als Wachpersonal an Kontroll- werden konfisziert und auf einen Haufen geworfen. Zivilisten werden befragt. punkten auf Straßen und an Flüssen eingesetzt Sie haben praktisch kein Geld mehr, wenig wird. Sie sind mit uralten Gewehren, Macheten zu Essen, kaum noch andere Besitztümer, und und Messern bewaffnet, und einer von ihnen wenn sie sich auf den Weg ins Inland machen, trägt das schwarze Abendkleid einer Frau. werden sie aufs Neue der Feindseligkeit der Vertreter der liberianischen Seite kommen zu einer Lagebesprechung mit einem Kanu über Ivorer begegnen, die erleben mussten, wie ihr eigenes Land zerstört wurde. den 100 Meter breiten Fluss. Auch die Trotzdem war dieser Grenzübertritt noch liberianische Grenze ist geschlossen worden, verhältnismäßig leicht; nur einen Tag hat er geobwohl sich 50 bis 60 Zivilisten angesammelt dauert, und jeder durfte einreisen. haben, die vor einem Krieg geflohen sind, der Jetzt müssen sie irgendwo hier im Busch eider Grenze jeden Tag ein Stück näher rückt. nen Bus finden … oder weiter zu Fuß gehen. B Unter Umständen wird ihnen nichts anderes

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

UNHCR/R. WILKINSON/CS/CIV•2003

gingen zu den üblichen Aufgaben in einer Krise über – für Menschen eine sichere Unterkunft finden, sie aus gefährlichen Situationen herausbringen. Fremdenangst und Nationalismus haben Brüderlichkeit und Nachbarschaftshilfe zerstört.“ Während Dolan einer traurigen Prozession von Menschen dabei half, nach Liberia zu gelangen, wusste sie: „Jeder stand vor einem schrecklichen Dilemma. ‚Soll ich hier bleiben, wo ich vielleicht getötet werde, oder soll ich nach Liberia gehen, wo ich auch getötet werden könnte, aber vielleicht nicht so schnell?‘ Es war furchtbar, das mit anzusehen.“ Im April wagte ein Teil der Tausenden von Zivilisten, die nach Liberia geflohen waren, die Rückkehr. Im Osten von Liberia waren praktisch keine Mitarbeiter von Hilfsorganisationen mehr vor Ort. UNHCR überwachte die gemeinsame Grenze, leistete Hilfe, wo dies möglich war, und versuchte mehreren Tausenden von Flüchtlingen zu ihrer eigenen Sicherheit den Weg in die in aller Eile errichteten Transitzentren zu erleichtern, während in benachbarten Ländern angefragt wurde, ob sie einen Teil der bedrohten Liberianer aufnehmen könnten. Es gab jedoch kaum Angebote. „Es ist eine traurige Tatsache, dass etwas, dessen Aufbau vielleicht Jahrzehnte gedauert hat, quasi über Nacht zerstört werden kann“, sagt Moumtzis.

EIN GEFÄHRLICHER RIESE Die Liberianer mit ihrer langen Leidensgeschichte sind in den Nachbarstaaten zu Parias geworden, die als Unruhestifter oder Schlimmeres gebrandmarkt werden – als Rebellen, Waffenschmuggler und Drogenhändler. Die Bedingungen in dem Land zwischen der aufblühenden Hoffnung in Sierra Leone und der Verzweiflung in Côte d’Ivoire haben sich weiter verschlechtert. Flüchtlingskrisen entstehen aus einer Kombination von Faktoren – politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Problemen in einem Land, die in der Folge durch Ereignisse in den Nachbarländern und von außen kommende Einflüsse verschlimmert werden können. Ein erfahrener Mitarbeiter einer Hilfsorganisation nannte Liberia den „gefährlichen Riesen“ Westafrikas, ein Land, das seit 1989 mit sich selbst im Krieg liegt, das Chaos und Anarchie aber wie eine Krebskrankheit in die benachbarten Länder weiterträgt. Ein großer Teil des Landes ist heute nicht mehr zugänglich. Die ausländischen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen wurden Anfang Juni aus Liberia evakuiert, nachdem der Bürgerkrieg erneut eskalierte. Zu Beginn dieses Jahres waren bereits drei Mitarbeiter der US-Hilfsorganisation ADRA brutal ermordet worden. In einem allgemeinen Zustand der Anarchie, der einige Wochen später jenseits der Grenze in Côte d’Ivoire herrschte, wurden vier Mitarbeiter des Roten Kreuzes ebenfalls gezielt ermordet. Das Welternährungsprogramm hat für die Monate April und Mai die Nahrungsmittelrationen für die

UNHCR-Mitarbeiterin befragt liberianische Flüchtlinge.

Hilfeempfänger reduziert. Bis zum Frühjahr hatten die vorsichtig gewordenen Geber nur zwei Prozent der 42,6 Millionen US-Dollar bereitgestellt, die die UN für dieses Jahr für humanitäre Aufgaben in einem Appell angefordert hatten. Anfang Juni war die internationale Hilfe praktisch zum Erliegen gekommen. Bei einer strategischen Konferenz in Genua debattierten vor einigen Wochen hochrangige Vertreter humanitärer Organisationen über Optionen für die Unterstützung der verzweifelten Zivilbevölkerung von Liberia: Einrichtung sicherer Korridore für Hilfskonvois, Versorgung aus der Luft, Schutzzonen, eine internationale Friedenstruppe, grenzübergreifende Einsätze. Jede dieser Möglichkeiten wurde geprüft und ohne die gleichzeitige Umsetzung einer politischen Lösung als undurchführbar verworfen. DER ERSTE KONTAKT

UNHCR nahm seine Tätigkeit 1951 auf – damals in erster Linie, um den Flüchtlingen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu helfen. Schon wenige Jahre später begann die lange Verbindung zu Afrika. Am 31. Mai 1957 ersuchte der tunesische Ministerpräsident Habib Bourguiba UNHCR darum, „zu prüfen, auf welche Weise der Hohe Flüchtlingskommissar meiner Regierung Hilfe dabei leisten kann, das Problem der algerischen Flüchtlinge zu lösen“, die vor dem Unabhängigkeitskrieg ihres Landes gegen Frankreich in die umliegenden Staaten flohen. Die Organisation reagierte und wurde im Rahmen dieser Krise zum ersten Mal in eine Nachkriegssituation verwickelt – Hilfe für ehemalige Flüchtlinge, nachdem diese in die Heimat zurückgekehrt waren. „Das Schicksal der zurückgeführten früheren Flüchtlinge kann nicht länger von dem der algerischen Bevölkerung in ihrer Gesamtheit getrennt werden, ohne dass die soziale Stabilität des Landes ernsthaft gefährdet wird“, schrieb der UN-Flüchtlingskommissar Felix Schnyder damals. Dies wurde ein wichtiger Maßstab für den zukünftigen Einsatz von UNHCR in Sachen Flüchtlingsschutz. Im Jahr 1969 leistete Afrika ebenfalls einen bedeutenden Beitrag zum generellen Schutz von Flüchtlingen, als die Organisation für Afrikanische Einheit (Organization Ã

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

WESTAFRIKA IST EIN MIKROKOSMOS – DER HOFFNUNG WIE DER VERZWEIFLUNG, DIE DEN GESAMTEN KONTINENT BEHERRSCHEN. DIE REGION IST EINE MAHNUNG DARAN, WIE SCHNELL SELBST IN DEN STABILSTEN GESELLSCHAFTEN DIE LAGE AUßER KONTROLLE GERATEN KANN. UMGEKEHRT ZEIGT SIE ABER AUCH, DASS EIN LAND MIT ANGEMESSENER HILFE WIEDER AUF DEN RICHTIGEN WEG GEBRACHT WERDEN KANN.

25

AFRIKA AM ABGRUND UNHCR/A. HOLLMANN/CS/ZRE/•1994

for African Unity – OAU) eine eigene Konvention verabschiedete. Diese erweiterte die Anerkennung von Flüchtlingen zum ersten Mal auf Menschen, die in großen Gruppen flohen, und auf Menschen, die auf der Flucht vor Angriffen von außen, Besatzung oder Fremdherrschaft waren. Zu dieser Konvention gehörte auch das heute allgemein anerkannte Prinzip der „freiwilligen“ Rückführung. In diesen frühen postkolonialen Ein riesiges Flüchtlingslager für Ruander Tagen ließen sich viele Menschen, in Tansania. die in afrikanischen Ländern Sicherheit suchten, einfach in Dörfern und Städten der Aufnahmeländer nieder – in der Amtssprache hieß das, sie wurden vor Ort integriert. In späteren Jahrzehnten hat sich das allerdings geändert. Immer öfter wurden Flüchtlinge in großen Lagern untergebracht. Dies löste bei Regierungen und humanitären Organisationen eine lebhafte und häufig in großer Schärfe geführte Debatte darüber aus, wer für die Ausbreitung dieser „Lagerkultur“ verantwortlich war und welche Vor- oder Nachteile das System hatte. Jeff Crisp von der UNHCR-Evaluierungsabteilung verfolgte die Anfänge der sich verschlechternden Stimmung gegenüber Flüchtlingen und die wachsende Tendenz, sie in Lagern zu isolieren, zurück auf die Mitte der achtziger Jahre. Die westlichen Länder hatten begonnen, ihre Gesetze im Hinblick auf Asylsuchende zu verschärfen, was die afrikanischen Staaten ermutigte, ihrem Beispiel zu folgen. Die Flüchtlingszahlen stiegen genau zu der Zeit in dem Maße drastisch an, als die wirtschaftliche Lage der afrikanischen Staaten sich verschlechterte. Paradoxerweise konnten immer mehr Politiker die Flüchtlingsfrage im Zuge der allgemeinen Demokratisierung als politisches Instrument missbrauchen.

„ES IST EINE TRAURIGE TATSACHE, DASS ETWAS, DESSEN AUFBAU VIELLEICHT JAHRZEHNTE GEDAUERT HAT, QUASI ÜBER NACHT ZERSTÖRT WERDEN KANN.“

Heute leben weltweit schätzungsweise 2,4 Millionen Menschen in 267 Lagern, von denen sich 170 in Afrika befinden. Bilder von Zelten und Hütten, die sich scheinbar endlos über die afrikanische Landschaft erstrecken, sind zum Synonym für die Notlage von Flüchtlingen geworden. Die Lebensbedingungen von Zehn- oder Hunderttausenden von Menschen, die dort oft unter schrecklichen Bedingungen auf engstem Raum zusammenleben, sind oftmals in dramatischen Bildern festgehalten worden. Dort entstehen Krankheit und Verbrechen, hier wird die Umwelt zerstört und der Nachwuchs für bewaffnete Milizen rekrutiert, die dort ebenfalls Unterschlupf finden. Immer mehr afrikanische Regierungen, die letztlich dafür verantwortlich sind, wo Flüchtlinge untergebracht werden, entschieden jedoch, dass solche Lager trotz ihrer offensichtlichen Nachteile die beste Lösung darstellten: aus Sicherheitsgründen, zum Schutz der einheimischen Bevölkerung – und um in der Hoffnung auf mehr internationale Mittel Journalisten und Politikern bei deren Besuchen die großen Ansammlungen von Flüchtlingen besser „vorführen“ zu können. Jeff Crisp zufolge können die Lager aber auch andere Vorteile haben. Manche Flüchtlinge ziehen es vielleicht vor, sich in eine einheimische Gemeinschaft zu integrieren, wenn die neuen Nachbarn denselben ethnischen Hintergrund haben. Aus Sicherheitsgründen bleiben sie jedoch möglicherweise lieber im Lager, wenn sie sich in einer fremden ethnischen Umgebung wieder finden. Die Lager können auch in einer breit angelegten Überlebensstrategie ein wichtiges Sicherheitselement darstellen. Jüngere und stärkere Flüchtlinge wagen sich zur Arbeitsuche weiter von ihnen weg, während Frauen und Kinder im Lager bleiben, in dem ihnen ein gewisses Maß an Sicherheit und ein Minimum an humanitärer Versorgung gewiss sind.

Hoffnung statt „Elend und Verzweiflung“ Angola sieht einer besseren Zukunft entgegen, doch wird das Land noch sehr lange Unterstützung brauchen.

D

as ist ein Albtraum. Die Zahl der Toten geht schon in die Hunderttausende, die der Vertriebenen in die Millionen, und die der Verstümmelten beträgt ebenfalls mehr als 100.000. Wegen der Morde, Entführungen, Bodenminen und Krankheiten ist dies der schrecklichste Ort der Welt für Kinder, um aufzuwachsen, und wenn sie überleben sollten, werden sie später, so weit das Auge reicht, nur verbrannte Erde vorfinden.“



26

So schätzte vor vier Jahren Catherine Bertini, die damalige Leiterin des Welternährungsprogramms (WFP), die Lage Angolas ein. Zu Beginn dieses Jahres kam der UN-Generalsekretär, Kofi Annan, in einem Bericht zu dem Schluss, „dass die Angolaner ohne Furcht vor einem wiederaufflackernden und verheerenden Krieg leben können“. Drei Jahrzehnte eines tödlichen Bürgerkrieges gingen im April letzten Jahres nach dem Tod von Jonas Savimbi, dem Anführer

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

der Rebellenbewegung UNITA, faktisch zu Ende, und Angola erlebt seitdem einen bemerkenswerten Wandlungsprozess. Die Schusswechsel verstummten, die Kämpfer wurden im Zuge der Demobilisierung entlassen, und immerhin 1,5 von 4 Millionen Binnenvertriebenen kehrten aus eigener Initiative in ihre Heimat zurück, ebenso wie etwa 100.000 von schätzungsweise 470.600 Flüchtlingen, die in den Nachbarländern Zuflucht gefunden hatten.

©S. SALGADO•AGO

Bei ihrem Versuch, zwischen den konträren Interessen auszugleichen, haben humanitäre Organisationen wie UNHCR eine Reihe flexibler Programme entwickelt. Zunehmend werden beim Bau von Schulen, Ambulanzen oder Straßen nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die einheimische Bevölkerung einbezogen. Auch wenn man unter bestimmten Umständen auf Lager nie wird verzichten können, hat UNHCR die Ausweitung der Integration vor Ort unterstützt, wo immer sie möglich ist. In Sambia wird ein jüngst eingeleitetes Projekt beispielsweise einem Teil der 247.000 Flüchtlinge in diesem Land dabei helfen, sich in nahe gelegenen Dörfern und Städten niederzulassen, Arbeitsplätze zu finden und zu möglichst produktiven Mitgliedern der Gesellschaft Sambias zu werden.

In diesem Sommer beginnt UNHCR eine organisierte Rückführung weiterer Flüchtlinge. Die Organisation hat in den Grenzregionen bereits mehrere Büros eröffnet, während Partnerorganisationen damit beschäftigt sind, Schulen, Ambulanzen und Trinkwasserzapfstellen zur Vorbereitung der Rückkehr instand zu setzen.

SCHWIERIGE ZUKUNFT Auch wenn diese Entwicklungen sehr ermutigend sind, steht Angola eine ausgesprochen schwierige Zukunft bevor. Während des Konflikts war ein großer Teil des Landes von der Außenwelt abgeschlossen. Als die Hilfsorganisationen die Lage zu erkunden begannen, fanden sie eine Welt „des Elends und der Verzweiflung“ vor, wie es Lucia

Der Irak und zuvor Afghanistan haben die Vermutung genährt, die internationale Gemeinschaft würde sich zu einem gewissen Zeitpunkt immer nur auf eine einzige Krise konzentrieren. Afrika verharrt jedoch in einem ständigen Krisenzustand. David Lambo äußert deshalb die Befürchtung: „Wir kämpfen auf der Weltbühne um unseren Platz. Trotzdem dürfen wir Afrika nicht aufgeben.“ Der UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers will, wie er sagte, die Industrienationen weiterhin immer wieder darauf hinweisen, dass sie sich ungeachtet der Ereignisse in anderen Teilen der Welt „stärker auf afrikanische Flüchtlinge konzentrieren müssen“. B

Teoli von UNHCR formuliert. „Ein großer Teil der Bevölkerung war nahe daran, zu verhungern“, sagt sie. Oft überlebten die Menschen nur durch Beeren und Wurzeln. „Viele fand man im Busch, wo sie geboren worden waren und aufgewachsen sind. Sie wussten zum Teil nicht einmal, dass der Krieg zu Ende war.“ Die gesamte Infrastruktur des Landes – Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser – und die Umwelt waren zerstört. Dadurch war es nicht nur für die Menschen schwierig, manchmal gar unmöglich, in ihre alten Dörfer zurückzukehren und ein neues Leben zu beginnen, auch den Hilfsorganisationen war der Zugang und die Möglichkeit zu helfen entsprechend erschwert. Zurück bleibt eines der am stärksten verminten Länder der Welt mit einer unvorstellbaren Zahl von Sprengkörpern, die in

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

Bildung ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Reintegration von Flüchtlingen.

der fruchtbaren Erde verborgen liegen. Den Menschen steht eine schwierige Heimkehr bevor. Viele sind seit Jahren von Nahrungsmittelzuweisungen abhängig gewesen. Für sie wird es nicht leicht sein, sich auf Landwirtschaft oder eigene Arbeit umzustellen, wenn ihnen diese Möglichkeit überhaupt gegeben wird. Lebensmittel werden auf dem freien Markt möglicherweise bald erhältlich sein, aber die meisten Menschen sind viel zu arm, um etwas zu kaufen. Schulen könnten bald wieder öffnen, doch sprechen viele Kinder nicht einmal Portugiesisch, die offizielle Landessprache. Familien sind auseinander gerissen worden und haben den Kontakt zueinander verloren, oft schon seit Jahrzehnten. Unterernährung und früher Tod durch an sich leicht behandelbare Krankheiten sind häufig. B

27

IRAK: Was geschah?

Der jüngste Krieg hat keinen Flüchtlingsstrom ausgelöst.

D

as Szenario: Mehrere Millionen Flüchtlinge würden über die durchlässigen Grenzen strömen, um dem bevorstehenden militärischen Angriff zu entgehen. Globale Spendenappelle wurden veröffentlicht, Nahrungsmittel, Zelte und Decken angesichts der befürchteten Katastrophe für den Krisenfall auf Vorrat bereitgestellt und Hilfsteams vorsorglich in die Berge und in die Wüste geschickt. Die Medien, die heute zu einem integralen Bestandteil aller großen Krisen geworden sind, entsandten ihre eigenen Kräfte in großer Zahl – Hunderte von Reportern, Fotografen und Kameraleuten, die über das angekündigte Drama berichten sollten. Doch der Flüchtlingsstrom blieb aus. So war es vor zwei Jahren an den Grenzen Afghanistans, und so war es zu Beginn dieses Jahres an den Grenzen zum Irak. Die befürchteten Flutwellen fliehender Menschen waren wenig mehr als ein Rinnsaal. Mitarbeiter humanitärer Organisationen warteten. Journalisten waren zunehmend frustriert, weil die Ereignisse an anderen Orten ihren Lauf nahmen. Was war geschehen? Prognosen im Hinblick auf Flüchtlingsströme sind bestenfalls eine unsichere Angelegenheit. Planer analysieren eine Situation, vor allem, wenn ein Krieg wahrscheinlich ist, die Geschichte der Region, frühere Flüchtlingsströme, Berichte aus ihren Büros vor Ort sowie alle staatlichen und militärischen Informationen, die sie bekommen können, um auf dieser Grundlage zu einer

28

Einschätzung der möglichen Entwicklungen und der eventuell erforderlichen Schutzmaßnahmen zu gelangen. EINE ÜBERRASCHUNG

Es ist eine Binsenweisheit, dass auch die besten militärischen Pläne kaum je die ersten Kriegstage überstehen. Das Gleiche gilt für den Versuch, die Entwicklung humanitärer Krisen zu antizipieren und für sie vorauszuplanen. Überraschungen sind das Einzige, was in einer Krise nicht überraschen kann. Zu Beginn des Konflikts im Kosovo im Jahr 1999 prophezeiten nicht einmal die Geheimdienste, dass die serbischen Truppen mehrere hunderttausend Angehörige der albanischen Volksgruppe gezielt mit Waffengewalt aus der Region vertreiben würden. Selbst wenn die humanitären Organisationen die ethnischen Säuberungen vorhergesehen hätten – was nicht der Fall war –, hätten sie unter den damaligen Umständen keine Mittel in großem Umfang mobilisieren können, weil die Geberstaaten ihnen nicht geglaubt hätten. Im aktuellen Fall kam man zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen. Es gab viele gute Gründe, für einen Massenexodus von Zivilisten aus dem Irak zu planen, nachdem die von den Amerikanern geführten Truppen mit dem Angriff begonnen hatten. In den Jahrzehnten zuvor hatten mehrere Millionen Iraker das Land verlassen. Nach dem ersten Golfkrieg 1991 flohen schätzungsweise zwei Millionen Menschen aus ihren Wohnorten. Als Vorbereitung auf dieses Szenario einer „mittelschweren“ Krise

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

schmiedete UNHCR Pläne zur Unterstützung von bis zu 600.000 Flüchtlingen. Gleichzeitig warnte UNHCR-Sprecher Ron Redmond öffentlich, dass es je nach Entwicklung des Krieges möglicherweise wenige, vielleicht auch gar keine Flüchtlinge geben könnte. Letzten Endes sind dann bekanntlich auch tatsächlich nur wenige Menschen geflohen. Dem Internationalen Institut für Strategische Studien in London zufolge war das Ausbleiben von Flüchtlingsbewegungen unmittelbar mit der Taktik der Koalitionstruppen verbunden: „Die militärische Anfangsstrategie der Alliierten, große Städte zu umgehen, militärische Angriffsziele gezielt zu bombardieren und Zivilisten davor zu warnen, ihre Wohnorte zu verlassen und die großen Verkehrsstraßen zu benutzen, hat die Zahl der Menschen reduziert, die sich auf den Weg machten.“ Sten Bronee, UNHCR-Vertreter in Jordanien, sagt: „Die Menschen hatten Besitz und wollten nicht gehen. Kriegsmüdigkeit kam auf. Dieser Konflikt war für die Iraker nicht der Erste.“ Dem fügt der britische Journalist Jonathan Steele hinzu: „Die Menschen entwickelten angesichts der Bombardements einen gewissen Gleichmut. Als sie schließlich von der Wasser- und Elektrizitätsversorgung abgeschnitten waren, wurde dies durch die Tatsache ausgeglichen, dass Saddam bereits gestürzt war.“ DIE ZUKUNFT

Und wie geht es jetzt weiter? In einem Rückblick auf die Ereignisse im

UNHCR/L. BOLDRINI/DP/JOR•2003

Wie geht es weiter? Werden nun viele Exil-Iraker in ihre Heimat zurückkehren können? Nahen Osten sagt Ron Redmond: „Es war zwingend, die erforderlichen Programme für den Krisenfall auf der Grundlage der aktuellen Ereignisse vorzubereiten. Wir haben dieser Notwendigkeit entsprochen und sind mit unserer Planung zufrieden. Wir waren sicherlich nicht unglücklich darüber, dass es nicht mehrere hunderttausend neue Flüchtlinge gab, die die Zahl der beinahe 20 Millionen Menschen vergrößert hätten, denen wir auf der ganzen Welt bereits zu helfen versuchen.“ Nach dem kurzen, von den Amerikanern geführten Krieg in Afghanistan stellte UNHCR seine Pläne von einem potenziellen Exodus auf die Unterstützung für diejenigen Flüchtlinge um, die lange im Exil gelebt hatten und in der Folge in das Land zurückkehrten. Über zwei Millionen Menschen kamen innerhalb des ersten Jahres zurück, und die Rückführung wird stetig fortgesetzt. Auch wenn die internationale Aufmerksamkeit für den Irak bereits abnimmt, setzt die Flüchtlingsorganisation nun einen Teil ihrer Mitarbeiter sowie ihrer finanziellen und materiellen Ressourcen, die sich bereits vor Ort befinden, in diesem Land für ähnliche Zwecke ein. Die Lage im Irak bleibt ungewiss. Die religiösen und ethnischen Spannungen könnten in der Zukunft immer noch Flüchtlingsbewegungen auslösen, vor allem, da die Straßen nun relativ sicher geworden sind. Gelagerte Hilfsgüter wie Zelte, Herde, Kochtöpfe, Decken und Plastikplanen werden vorläufig dort bleiben, wo sie sind, und

schließlich entweder innerhalb oder außerhalb des Irak eingesetzt werden. Zusätzlich wurde nun ein ambitioniertes neues Programm begonnen, mit dem nicht den prognostizierten Flüchtlingen aus dem letzten Krieg, sondern immerhin 500.000 Irakern geholfen werden soll, die in früheren Jahren aus ihrem Land geflohen sind und möglicherweise zurückkehren, um dort ein neues Leben zu beginnen. Das Budget für einen vorläufigen Plan zu ihrer Rückführung und Wiedereingliederung beläuft sich für einen Zeitraum von acht Monaten auf 118 Millionen US-Dollar. Damit würde die Organisation sich innerhalb des Rahmens des vorhergehenden Irak-Krisenbudgets von 154 Millionen US-Dollar bewegen. In der Zeit der Herrschaft Saddam Husseins haben wahrscheinlich mehrere Millionen Iraker das Land verlassen. Nach Schätzung von UNHCR waren etwa 900.000 von ihnen Asylsuchende, Flüchtlinge oder andere Personen in flüchtlingsähnlichen Situationen. Vorläufige Schätzungen ließen vermuten, dass etwa die Hälfte von ihnen Unterstützung bei der Heimkehr benötigen könnte. Von der oben genannten Gruppe beherbergt allein der Iran die Hälfte der schätzungsweise 400.000 irakischen Flüchtlinge. Etwa 165.000 Menschen dieser Gruppe könnten möglicherweise zurückkehren. Weitere 183.000 Flüchtlinge leben in den Industrieländern. Nur eine relativ kleine Zahl von ihnen, vielleicht 35.000, wird sich unter Umständen für die Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren entscheiden. Von den 84.000 Irakern, die derzeit – vor allem in den Industrieländern – Asyl beantragt haben, dürften etwa drei Viertel beziehungsweise 60.000 zurückkehren. Von den 450.000 Irakern, die insbesondere in Jordanien und Syrien unter „flüchtlingsähnlichen“ Bedingungen leben und dort illegal arbeiten, könnten bis zu 240.000 in den Irak zurückgehen. ERWEITERUNG

Um für diese Massenrückkehr gerüstet zu sein, will UNHCR sein derzeitiges Netzwerk im Nahen Osten erweitern und 250 überwiegend irakische Mitarbeiter einsetzen, die 15 Büros im gesamten Land eröffnen und

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

sechs mobile Überwachungsteams bilden sollen. Alle Rückführungen werden überwacht, um sicherzustellen, dass es sich um eine „freiwillige“ Rückkehr handelt und die Iraker aus ihren Gastländern nicht herausgedrängt oder abgeschoben werden. Eine Reihe von Kriterien wird festgelegt, „die die körperliche, materielle und rechtliche Sicherheit der Rückkehrer sowie ihr Wohlergehen sicherstellen sollen“, sagt Redmond. „Dazu zählt, dass der Gewalt und der Unsicherheit ein Ende gesetzt und handlungsfähige Rechtsinstitutionen geschaffen werden“, fügt der Sprecher hinzu. „Zur materiellen Sicherheit gehört auch der Zugang zu grundlegenden Dingen wie Trinkwasser, Lebensmitteln und Gesundheitsversorgung. Längerfristig müssen Maßnahmen ergriffen werden, die eine dauerhafte Reintegration ermöglichen. Rechtssicherheit umfasst die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, Nichtdiskriminierung und ungehinderten Zugang zum Justizsystem.“ Die Rückkehrer werden wie die Bevölkerung insgesamt mit gewaltigen praktischen Schwierigkeiten konfrontiert sein – von den ungefähr acht Millionen Landminen, die im Norden des Landes liegen, über eine kaum funktionierende Infrastruktur bis hin zu der groß angelegten Vernichtung von Grundbesitzeintragungen, Staatsbürgerschaftsnachweisen und anderen wichtigen Urkunden. Zwei Drittel der heimkehrenden Iraker dürften in die städtischen Zentren in der Mitte und im Süden des Irak zurückgehen, das letzte Drittel, überwiegend ethnische Kurden, dagegen in die ländlichen Gebiete in den drei nördlichen Provinzen des Irak. Zu weiteren ungelösten Fragen im humanitären Bereich gehört die Zukunft von Tausenden von binnenvertriebenen Zivilisten innerhalb des Landes. Das UNHCR-Mandat erstreckt sich nicht direkt auf Binnenvertriebene. Da ihre Lage der von Flüchtlingen jedoch häufig gleicht, hat die Organisation in der Vergangenheit schon oft beide Gruppen unterstützt. Dies war etwa auf dem Balkan der Fall. Auch im Irak könnte das so sein, wenn die Vereinten Nationen eine entsprechende Entscheidung treffen. B

29

EINE NEUE MUTTER TERESA Eine italienische Ärztin ist für ihren jahrzehntelangen einsamen Einsatz zur Bekämpfung von Krankheiten und Vorurteilen in einem vergessenen Winkel der Erde ausgezeichnet worden von Kitty McKinsey

E

in fünfjähriger Junge, dessen Buckel Zeichen seines Kampfes gegen die Tuberkulose ist, nimmt seine Gehhilfe aus Aluminium und bahnt sich entschlossen einen Weg zwischen den Krankhausbetten, nur um zu zeigen, dass er das schafft. Eine 39 Jahre alte Frau, deren Arme und Beine sich vor einem Jahr in eine fötale Stellung gekrümmt haben, entfernt sich ein paar Schritte von ihrem Krankenhausbett; auch sie demonstriert, dass sie auf dem Weg der Gesundung ist. Das Gesicht von Marian Hassan Duale, einer 60-jährigen Frau, die vor kurzem im Koma liegend ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hellt sich sichtlich auf, als sie vom „Wunder“ ihrer Genesung berichtet. Ihre „Retterin“ ist eine 60-jährige italienische Ärztin, Annalena Tonelli, die Gewalt, Entführung, Raub und Tod nicht davon abhalten konnten, ganz allein am Horn von Afrika, gewissermaßen am Ende der Welt, einen 33-jährigen Kampf gegen Tuberkulose, AIDS, Analphabetentum, Blindheit, Unterernährung und die Verstümmelung weiblicher Genitalien zu führen. Dr. Tonelli wurde vor kurzem in Würdigung ihres lebenslangen und einsamen Einsatzes der Nansen-Flüchtlingspreis verliehen. Diese Auszeichnung wurde 1954 geschaffen, um Einzelpersonen oder Organisationen zu ehren, die sich um die Sache der Flüchtlinge besonders verdient gemacht haben. Der Preis trägt den Namen Fridtjof Nansens, des norwegischen Polarforschers und erste Hohen Flüchtlingskommissars, und ist mit 100.000 US-Dollar für ein Flüchtlingsprojekt dotiert, das der Preisträger beziehungsweise die Preisträgerin frei wählen kann. Dr. Tonelli, die von ihren Patienten Annalena genannt wird und manchen Besuchern wie eine neue Mutter Teresa vorkommt, arbeitet vollkommen allein. Jeden Monat gelingt es ihr durch ihren ganz persönlichen Einsatz, die 20.000 US-Dollar an Mitteln aufzutreiben, die sie für die Finanzierung medizinischer Projekte und die Bezahlung der insgesamt 75 Mitarbeiter in ihrem Krankenhaus benötigt. In der Hoffnung, die internationale Aufmerksamkeit auf die chronischen Probleme Somalias zurücklenken zu können, die von anderen Krisenherden der Welt seit langem überschattet werden, brach sie ihr Gelöbnis, „im Verborgenen zu arbeiten“ und die Öffentlichkeit zu meiden. So entschied sie, den Nansen-Flüchtlingspreis anzunehmen. SCHWERE TAGE

Die schlanke Frau, die ihr graues Haar in einem Knoten trägt und sich wie die einheimischen Frauen sittsam in ein Tuch hüllt, hat sich daran gewöhnt, jede Nacht nur vier Stunden zu schlafen. Dr. Tonelli beginnt ihren Arbeitstag um 7 Uhr morgens mit einem Gespräch mit ihren somalischen Ärzten, die ihre Ausbildung im Ausland absolviert haben. Wenn sie anschließend

30

ihre Runde im Krankenhaus macht, unterhält sie sich in fließendem Somali mit ihren Patienten. Die Kinder nennen sie „Großmutter“ und kuscheln sich zutraulich an sie, während sie berichtet, dass die heute so munter wirkenden Kleinkinder als Säuglinge mit schwerer Unterernährung zu ihr gekommen sind und im Alter von sechs Monaten weniger wogen als ein Neugeborenes. Ihr strikter Arbeitstag endet erst in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, wenn sie ihre Dankesbriefe an private Spender schreibt. Vor fast sieben Jahren hat sie sich in Borama niedergelassen, einer trockenen Stadt, in der starke Winde den Wüstensand in tornadoähnliche Formationen wirbeln und in der es mehr Ziegen und Kamele als Autos gibt. In ihrem Krankenhaus werden etwa 200 Patienten stationär und weitere 200 ambulant behandelt. Acht Stationen wurden für sie von UNHCR gebaut, darunter auch das einzige zweistöckige Gebäude der ganzen Stadt, das sich noch im Bau befindet. Ein bequemes Leben ist für Dr. Tonelli völlig unwichtig. Wiederholt berichtete sie von ihrer lebenslangen Leidenschaft: „Ich bin den Tuberkulose-Patienten vollkommen verfallen“, sagt sie und fügt später hinzu: „Ich möchte bis zum letzten Tag meines Lebens arm sein.“ Sie lebt einfach und ernährt sich von denselben Nahrungsmitteln wie ihre Patienten – Fleisch gibt es nur zweimal die Woche, öfter Mais oder Reis und Bohnen. In ihrem Haus hat sie ein Fernsehgerät, damit taube Kinder Videos in Zeichensprache sehen können, doch selbst sieht sie nie fern. Vom Krieg im Irak hat sie nur über die somalischen Ärzte gehört, die in ihrem Krankenhaus arbeiten. Die Ärztin besitzt lediglich zwei bescheidene Kaftane. Ihre Sandalen hat ihr eine Patientin geschenkt, und ihr Kopftuch war ein Geschenk ihrer Mitarbeiter. Sie ist davon überzeugt, dass Armut notwendig ist, um die Kluft zwischen ihr und den Menschen, denen sie hilft, zu überbrücken. „Ich könnte niemals diesen Dienst tun, wenn ich Kleider, Möbel und all die Dinge hätte, die für unsere Gesellschaft normal sind“, sagt sie.

UNAUSWEICHLICHER ZUSAMMENPRALL Allerdings sollte man ihr nicht mit dem Begriff des Opfers kommen, da muss sie lachen. Als gläubige Katholikin sagt sie: „Das Wort ‚Opfer‘ hat für mein Leben keine Bedeutung. Ich kann nicht verhehlen, dass es in vielen Beziehungen ein sehr schweres Leben war, aber es war ein Leben der Freude, ein Leben des Glücks und der Belohnung, ein privilegiertes Leben.“ Ein solches Leben zu führen, hat sie sich seit ihrem fünften Lebensjahr gewünscht. „Meine Sehnsucht, mein ganzes Streben

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

und Wollen war seit diesen jungen Jahren darauf gerichtet, leidenden Menschen zu helfen.“ Von diesen hat sie in ihren langen Jahren in Afrika viele gefunden. Nach dem Jurastudium, das sie mit 26 Jahren abgeschlossen hatte, ging sie direkt in den Nordosten von Kenia, um somalische Nomaden zu unterrichten. Dort wurde sie 1970 zum ersten Mal mit der Notlage von Menschen konfrontiert, die an Tuberkulose erkrankt waren. Nicht nur ihr körperliches Leiden hat sie berührt, sondern auch die seelischen Schmerzen, die diese wegen ihrer Krankheit aus der Gesellschaft Ausgestoßenen erlebten, einer Krankheit, die in Verbindung mit Armut, beengten Wohnbedingungen und Unterernährung besonders häufig auftritt.

Sadruddin Aga Khan D er frühere UN-Flüchtlingskommissar Prinz Sadruddin Aga Khan starb Anfang Mai nach langer Krankheit in Boston im Alter von 70 Jahren. Prinz Sadruddin, der Onkel von Karim Aga Khan, dem geistigen Oberhaupt von zwölf Millionen ismailitischen Muslimen, hat sein ganzes Leben der humanitären Arbeit gewidmet. Nach drei Jahren als Stellvertretender UN-Flüchtlingskommissar wurde er 1966 im Alter von 33 Jahren zum Leiter von UNHCR ernannt. Er war der jüngste Hochkommissar, den die Organisation je hatte, und führte sie zwölf

Jahre durch eine ihrer turbulentesten Phasen. In seine Amtszeit fielen die Bangladesch-Krise von 1971, in deren Verlauf zehn Millionen Menschen entwurzelt wurden, der Exodus mehrerer hunderttausend Hutu aus Burundi 1972 und die Flucht der indochinesischen Boatpeople Mitte der siebziger Jahre. Nach dem Ende seiner Tätigkeit für UNHCR im Jahr 1977 setzte er seine humanitäre Arbeit für die Vereinten Nationen in verschiedenen Teilen der Welt fort, unter anderem in Afghanistan und

FLÜCHTLINGE NR. 2/2003

UNHCR/J. LOWE

UNHCR/E. PARSONS/DP/SOM•2003

„Mutter Teresa“ mit einem kranken Kind.

Zusätzlich zu ihrem Juraexamen bildete sie sich weiter und erwarb Diplome in Tropenmedizin, Gemeinschaftsmedizin sowie Tuberkulose- und Leprabekämpfung, obgleich sie keine voll ausgebildete Ärztin wurde. In den siebziger Jahren konnte die Tuberkulosebehandlung durch ein neues Medikament von 12 bis 18 auf sechs Monate verkürzt werden. Dr. Tonelli setzte sich für die TB-Schnellbehandlung in Afrika ein, ein Ansatz, der in der Folge von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übernommen wurde. Was ihre Behandlung so wirksam macht – ihre Genesungsrate liegt ihren Angaben zufolge bei 96 Prozent – ist die Tatsache, dass sie viele der somalischen Nomaden zwingt, bis zur endgültigen Genesung das Krankenhaus nicht zu verlassen. Ambulante Patienten behält sie genauestens im Blick. Seit 1986 lebt sie in Somalia. Zuerst wohnte sie in der Hauptstadt Mogadischu, wo sie Tausende von verhungernden Einwohnern mit Nahrung versorgte, später in Merca im Süden des Landes, wo sie ebenfalls Tuberkulosepatienten behandelte. Nachdem sie wiederholt Opfer tätlicher Angriffe geworden war und einmal sogar entführt wurde, ergriff sie die Flucht. Die Ärztin, die sie geschult hatte, damit diese ihre Stelle einnehmen konnte, wurde nur ein Jahr später getötet. Auf Bitte der WHO setzte Dr. Tonelli in der Folge ihren Kampf gegen die Tuberkulose fort, dieses Mal im relativ friedlichen Somaliland. Sie erweiterte ihr Arbeitsfeld und begann, HIV/AIDS-Infektionen zu behandeln und sich für die AIDS-Prävention einzusetzen, denn AIDS ist eine Krankheit, die gerade geschwächte Tuberkulosekranke befällt. Sie gründete eine Schule für taube und behinderte Kinder und finanziert den Besuch von Ärzten einer deutschen Wohltätigkeitsorganisation, die zweimal im Jahr kommen und 3.700 Patienten, die an grauem Star litten, das Augenlicht wiedergegeben haben. Sie setzt sich ebenso rückhaltlos im Kampf gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien ein und konnte nach ihren eigenen Angaben inzwischen beinahe alle traditionellen Beschneiderinnen in Borama davon überzeugen, diese Praxis aufzugeben und sich ihrer Kampagne anzuschließen. Selbst im Alter von sechzig Jahren lässt Dr. Tonelli keine Anzeichen erkennen, kürzer treten zu wollen. Wenn sie jemals gezwungen sein sollte, Somalia zu verlassen, sagte sie leise, „dann werde ich Menschen helfen, die an anderen Orten der Welt leiden. Die Welt ist voll davon.“ B

Sadruddin Aga Khan im Jahr 1974.

im Irak. Er veröffentlichte mehrere Bücher und erhielt internationale Auszeichnungen wie den Titel eines Kommandeurs der französischen Ehrenlegion und den UN-Menschenrechtspreis.

31

Über drei Millionen Menschen sind in dem Bürgerkrieg im Kongo gestorben. Schätzungsweise zwei Millionen wurden in dem andauernden Konflikt im Sudan getötet. In Angola wurden in den letzten drei Jahrzehnten mindestens eine Million Menschen getötet. Die Konflikte in Liberia, Côte d’Ivoire und anderen Staaten dauern an. Wegen dieser Kriege leben etwa 15 Millionen Menschen weiterhin als Vertriebene. Mehrere hunderttausend Menschen kehren

nach Angola, Sierra Leone und in andere Länder zurück. Zwei Millionen Flüchtlinge warten auf den

Ausgang derzeit laufender Friedensgespräche.

View more...

Comments

Copyright © 2020 DOCSPIKE Inc.