Gesteuerte Peersozialisation statt Therapie? - jhz

March 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Interna Ausgabe 2006

Die besonderen erzieherischen Chancen der Betreuung in einer Wohngruppe

Ihnen liegt eine neue Ausgabe unserer Zeitschrift INTERNA vor. Seit der letzten Ausgabe, die wir im Dezember 2003 verschickt haben, ist einiges geschehen. Manfred Huth, der 32 Jahre lang das Jugendhilfezentrum Schnaittach geleitet hat, wechselte zum 01. Februar 2004 in die Freizeitphase der Alterszeit. Seither hat Willibald Neumeyer die Gesamtleitung des Jugendhilfezentrums Schnaittach inne. Der Leitungswechsel fand statt zu einer Zeit, in der die finanziell angespannte Lage der Kommunen mehr und mehr in den Vordergrund rückte und die Arbeit in den Erziehungshilfen stark beeinflusste. Der von verschiedenen Seiten prognostizierte „Turning Point“ (KOMDAT 1/2004) war eingetreten und hatte ein Ende der Expansion bei den sozialen Dienstleistungen für junge Menschen und deren Familien markiert.

Willibald Neumeyer Leitung des Jugendhilfezentrums Schnaittach

Franz Ochs Leitung des Kinder- und Jugendhauses Stapf

In diesen Zeiten überprüft man langjährige Gewohnheiten und Handlungsabläufe. Ein Ergebnis dieser Überprüfung betraf in unserer Einrichtung unsere Zeitschrift INTERNA, die wir seit 1997 einmal im Jahr herausgegeben und an Jugendämter und andere Kooperationspartner verschickt hatten. Ganz verzichten wollten wir nicht auf dieses Medium, da es parallel zu Informationsbroschüren und Konzeptionen ein Forum war, um über ausgewählte pädagogische und therapeutische Methoden, Arbeitsweisen und Handlungsansätze, über besondere Aktivitäten und über Erfahrungen aus der alltäglichen Praxis einer Jugendhilfeeinrichtung detaillierter berichten zu können. Zukünftig wird unsere Zeitschrift INTERNA aber nur noch in größeren Abständen erscheinen.

Ein weiteres Ergebnis war der Beginn einer engeren Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendhaus Stapf, der zweiten großen Jugendhilfeeinrichtung unseres Trägers, des Caritasverbands Nürnberg e.V. Mit der stärkeren Vernetzung der beiden Jugendhilfeeinrichtungen ergeben sich auch Synergie-Effekte. Ein Ergebnis der Kooperation ist die gemeinsame Herausgabe unserer Zeitschrift INTERNA. Zukünftig werden Sie hier also sowohl Beiträge des Jugendhilfezentrums Schnaittach als auch des Kinder- und Jugendhauses Stapf finden. Da beide Einrichtungen in ihrer bisherigen Organisationsstruktur weiterhin unverändert bestehen bleiben und um die Übersichtlichkeit für die LeserInnen zu wahren, finden Sie im ersten Teil der INTERNA die Beiträge des Jugendhilfezentrums Schnaittach, im zweiten Teil die Beiträge des Kinder- und Jugendhauses Stapf, in der Mitte der Zeitschrift die Darstellung der Leistungsangebote im Bereich der Erziehungshilfen der beiden Einrichtungen. Mit einem neuen Layout unserer INTERNA wollen wir dieser Neukonzeption unserer Zeitschrift Rechnung tragen. Die neue Herausgabe unserer Zeitschrift INTERNA wollen wir aber auch als Anlass nehmen, uns für die gute Zusammenarbeit und das Vertrauen bei den MitarbeiterInnen der einzelnen Jugendämter und den weiteren Kooperationspartner, den MitarbeiterInnen unserer Einrichtungen und bei den Eltern und Familienangehörigen zu bedanken. Zu den einzelnen Beiträgen …aus dem Jugendhilfezentrum Schnaittach: Der Artikel von Martin Herzog: Gesteuerte Peersozialisation statt Therapie? fokussiert auf den spezifischen Aspekt der Gruppendynamik und Peergruppensozialisation bei der Unterbringung von Jugendlichen in einer Wohngruppe und stellt dazu innovative Methoden vor. Der Artikel von Renate Schubert und Manfred Pechtl: „Nach dem Schulabschluss geht’s weiter!“ stellt unseren ausbildungsbegleitenden Fachdienst näher vor und erläutert dessen Aufgaben, nicht zuletzt in Zeiten des Lehrstellenmangels. Der Artikel von Dagmar Held, Jutta Braun und Gernot Reiche: „Eine Schule auf dem Weg“ stellt zwei neue Angebote an unserer Schule zur Erziehungshilfe vor, das Schülercafe und die Streitschlichterausbildung. Zwischendrin finden Sie – optisch hervorgehoben – Zitate von Betreuten aus Einträgen in das Gästebuch unserer Homepage www.jhz-schnaittach.de. …aus dem Kinder- und Jugendhaus Stapf: „Ich erzähl dir mein Leben – Biografiearbeit in der stationären Jugendhilfe“ Elisabeth Rettelbach und Margareta Schiller-Kleemann berichten darüber, warum Biografiearbeit in der Jugendhilfe wichtig ist und wie sie im Stapf u.a. in der Form eines Lebensbuches umgesetzt wird. „Let´s talk with music“ Margareta Schiller-Kleemann schildert anhand von Fallbeispielen Ansätze, Vorgehensweisen und Effekte dieser bei uns angewandten Therapieform. „Bewegtes und bewegendes Psychodrama: ein Konzept zur Förderung der Sozialkompetenz“ von Hiltrud Schmeußer und Marion Müller stellt eine praxiserprobte Verbindung von Psychomotorik und Psychodrama vor. Wir hoffen, Ihr Interesse auch für diese neue Ausgabe unserer Zeitschrift INTERNA geweckt zu haben und wünschen, dass Sie die einzelnen Beiträge mit Gewinn lesen.

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Gesteuerte Peersozialisation statt Therapie? A: Die Jugendhilfe hat sich in den letzten Jahrzehnten fachlich enorm differenziert und weiterentwickelt. Dennoch scheint mir die Praxis der Wohngruppenbetreuung noch nicht an ihrem fachlichen Ende angekommen zu sein. Sie beziehen in diesem Zusammenhang deutlich Stellung für eine intensivere Nutzung des Gruppenaspektes. Können Sie konkretisieren, was Sie darunter verstehen? B: Lassen Sie mich etwas ausholen und den Bogen zu ihrer Frage über den Familienbegriff schlagen. Familie kommt als Keimzelle aller Vergesellschaftung und primäre Sozialisationsinstanz zu Recht ein allerhöchster Wert zu. Das aber verstellt den Blick für die gravierenden Veränderungen ihrer gelebten Wirklichkeit. Heute dominiert die mit sich selbst beschäftigte zweigenerationale Kleinfamilie, die zur Nachbarschaft bzw. zum Viertel hin eher eingeinselt lebt. EinElternschaft und Patchworkfamilie variieren diesen Typus. Zumindest begegnet sie uns so dominant in der Jugendhilfe. Früher dagegen beherrschte viel stärker der Typ der mehrgenerationalen Großfamilie mit vielen Kindern das Bild. Zudem war diese im sozialräumlichen Umfeld wesentlich dichter mit Verwandtschaft und anderen Familien verflochten. Man konnte sich anderen Personen zuwenden, wenn man sich von den eigenen Eltern vernachlässigt fühlte. Unterstützung und soziale Kontrolle existierten in hohem Maße nicht nur innerhalb, sondern vor allem auch zwischen Familien. Das bedeutete in der Konsequenz zweierlei. Erstens standen Kindern andere Kinder als Geschwister und Nachbarkinder zur Verfügung. Schon allein dadurch war die Exklusivität der Eltern-Kind-Beziehung relativiert und angereichert mit den sich dadurch ergebenden vielfältigen Sozialerfahrungen auf Peerebene. Zweitens war der Sozialraum, innerhalb dessen Kinder und Jugendliche Peergruppenzusammenhänge bildeten, weit stärker im Aufmerksamkeitsfokus von Erwachsenen und durch diese gewissermaßen beaufsichtigt. Wer kennt nicht die Geschichte von Nachbarn, die Jugendlichen

Zigaretten weg nahmen, in Rangeleien eingriffen oder Eltern Mitteilungen über ihre Sprösslinge machten. Wo finden Sie das heute noch? A: Ich stimme Ihnen zu. Demgegenüber organisieren Jugendliche heutzutage ihre Peergruppensozialisation in der Massengesellschaft zum Leidwesen vieler Eltern häufig weitgehend außerhalb ihrer Wahrnehmungs- und Zugriffsmöglichkeit. Was bedeutet das für Ihren Arbeitskontext? B: Nun, jugendliche Subkulturen erschrecken oft durch ihre deviante bis delinquente Normorientierung, die sie ohne großes Risiko der Auseinandersetzung mit und Sanktionierung durch die Erwachsenenwelt ausleben können. Diese gravierende Veränderung wird in Diskussionen oft zu wenig berücksichtigt. Die Mehrheit unserer Eltern gibt z.B. problematischen Cliquenkontakten ihrer Tochter eine entscheidende Mitverantwortung für deren Fehlentwicklung. Was früher neben der verlässlichen Elternschaft die sozialisierende Kraft von Familien ausgemacht hat, die wir heute so hoch halten, waren – genau besehen – zu einem nicht unerheblichen Teil deren tragende Beziehungsstrukturen, die durch ihre sozialräumliche Vernetzung im Wohnumfeld gebildet wurden. Auch das vormals aktivere Vereinsleben darf hierzu gezählt werden. Wie es ein altes afrikanisches Sprichwort sagt: „Zur Kindererziehung braucht man ein ganzes Dorf“. Heute dagegen leben Familien weitgehend auf sich beschränkt. Das soziale Klima zwischen ihnen ist eher frostig. Aber Wohngruppen bieten nun in kleineren und überschaubaren Dimensionen gerade dieses Terrain, das Familien in der modernen Gesellschaft weitgehend verloren gegangen ist. Sie ermöglichen nämlich Peerprozesse als sozialisierendes Wirkungsfeld und das auch noch in einem Rahmen, der es

erlaubt, dass Erwachsene auf die Beziehungsregulation der Gruppenmitglieder pädagogisch Einfluss nehmen können. A: Wie wird denn in Ihren Wohngruppen in diesem Sinne innovativ gearbeitet? B: Um zu Ihrer Frage nach Konkretisierung zurückzukehren, möchte ich Ihnen einige prägnante Beispiele für diese Auffassung schildern. So erarbeiten wir beispielsweise gezielt die Einschätzung der Gruppenmitglieder als Teil der Hilfeplanvorbereitung in gemeinsamen Gesprächen mit ihnen. Wir haben hierzu einen Leitfaden zur Durchführung entwickelt, aber gehen dabei nicht standardisiert vor, sondern nutzen auch günstige

Gruppenalltagskonstellationen. MitarbeiterInnen von Jugendämtern und Eltern schätzen diesen Blickwinkel außerordentlich und manches Mädchen würde eher auf unsere Stellungnahme als auf die ihrer Gruppenkameradinnen verzichten, wenn sie sich für eine Beschreibungsperspektive entscheiden müsste. Dabei spart diese keineswegs mit Kritik. In ähnlicher Weise werden unsere Mädchen schon bei Vorstellungsgesprächen eingebunden. Sie können beispielsweise durch die Wohngruppe führen oder mit einer Familie in Austausch über Fragen des Wohngruppenlebens > Martin Herzog Dipl.-Pädagoge, Familientherapeut Erziehungsleiter

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gehen und auch ihre Wahrnehmung zur familiären Problemlage mitteilen, wenn ihnen diese geschildert wird. Daraus entwickeln sich meist ganz aufschlussreiche Gespräche. Unsere Erfahrung ist, dass viele Eltern diese Offenheit überzeugend und beeindruckend erleben und nicht selten positiv verblüfft auf die Qualität der Nachfragen und Antworten der Mädchen reagieren. So beteiligungsorientiert mit „Gruppe“ zu arbeiten, ist in der stationären Jugendhilfe wohl deshalb weniger üblich, weil es Erfahrung und Sicherheit im Umgang mit Gruppendynamiken erfordert. Ein bloßes Konzept hilft da wenig. Dies muss den Gesamtstil einer Einrichtung ausmachen, eine gelebte pädagogische Praxis, in die neue MitarbeiterInnen hineinreifen und sich darin weiterentwickeln. Sie können viele Situationen durch Einbindung der Gruppe erzieherisch wirkungsvoller bewältigen. So haben wir beispielsweise letztes Jahr für ein Mädchen, die wegen Körperverletzung angeklagt war, in Vorabsprache mit einem Richter ein Konzept für ein gruppeninternes Anti-Aggressions-Training entwickelt, das diese statt Sozialstunden zur Auflage bekam. Die anderen Mädchen kannten ihre Gruppenkameradin ganz genau und wussten, wo sie ihre Hebel bei den Rollenspielen und Übungseinheiten ansetzen mussten. Aber das ist schon ein exklusives Beispiel. So etwas macht man nicht alle Tage. Gewöhnlicher ist dagegen z. B, dass Wohngruppen ihre selbst durchgeführten Freizeiten mit ihren Mädchen wie Fortbildungen gestalten, wenn der Gruppenprozess es erfordert. Man könnte das Einkehrtage nennen. Eine Tageshälfte wird mit Übungen und moderierten Gesprächen strukturiert an Themen der Gruppe gearbeitet, die andere wird sich erholt und Freizeit gestaltet. Vorbild sind eigene Fortbildungserfahrungen, die Mitarbeiterinnen auf den Gedanken brachten, so müsste sich doch auch mit ihren Jugendlichen arbeiten lassen. Ein weiteres Beispiel war mir ein aufwändiges Identitätsprojekt einer Wohngruppe. Jedes Mädchen wurde mit der Gesamtgruppe nach intensiver, vorbereitender Biographiearbeit zu Hause besucht. Die Eltern waren in diesen Prozess eingebunden und luden nach Vorabsprache ein. Die Gruppe übernachtete wenn möglich bei ihnen und lernte das Herkunftsmilieu mit Lebensumfeld einer jeden Gruppenkameradin kennen. Man suchte gemeinsam wichtige Personen und Orte der

Mädchen auf und stellte damit eine neben dem Gruppenalltag völlig anders geartete Ebene des wechselseitigen Kennenlernens her. Das bewirkte ein ganz anderes Verständnis füreinander,

… Meine Eltern waren nicht in der Lage, mich zu einem lebensfähigen Menschen zu erziehen. Ich habe in Schnaittach sehr viel gelernt, unter anderem auch: Haushalten zu können, nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, wenn es mal eng wird, ich lernte zu diskutieren und auch andere Meinungen zu respektieren… Regina L., Gästebucheintrag 09.08.05

von dem die Wohngruppe lange zehren konnte. Kürzlich luden wir einige Mütter zu einem gemeinsamen Gruppengespräch ein, um uns darüber auszutauschen, wie z. B. Heimfahrten verlaufen, welche Probleme zur Unterbringung führten, wie andere Mutter-Tochter-Beziehungen sich entwickeln und Konflikte lösen, wie die Heimunterbringung erlebt und begleitet wird. In der Vorbereitung nannten die Mädchen diese Themen. Letztendlich ging es uns darum, bei den Müttern wieder den Blick für die Betreuungsziele zu schärfen. Und so könnte ich Ihnen noch einiges nennen, was Mitarbeiterinnen situationsbezogen und punktuell oder fest ritualisiert und im Gruppenalltag verankert an Ideen entwickeln, um gruppendynamisch wirkungsvoll zu arbeiten. A: Das klingt durchaus nach sinnvoller Erweiterung Ihrer Handlungsoptionen. In welchem Verhältnis steht denn eine sol-

che Praxis zu der Erkenntnis, dass die Wichtigkeit der Eltern bzw. Erwachsenen-Kind-Beziehung nicht zu ersetzen ist? B: Ich würde mich gern von dieser Konkurrenzformel „Familie kontra Wohngruppe“ lösen. Sie ist griffig, aber schärft den Blick für die besonderen erzieherischen Bedürfnisse unserer Zielgruppe nicht. Ich umschreibe sie mal mit weiblich, zwischen 10 -18 Jahre alt, hauptschulerfahren, schulproblembehaftet, soziale Herkunft überwiegend „bildungsfern“ angesiedelt und mit besonderen familiären und sozialräumlichen Problemlagen belastet. Unsere Mädchen sind fast alle ihr erstes Lebensjahrzehnt in ihrer Familie aufgewachsen – zumindest überwiegend. Sie kommen nicht als Waisen zu uns. D. h., wir fangen nicht bei Null an. Sie bringen viel an wie auch immer gearteter Familienerfahrung mit. Die emotionale Bindung bzw. Erwartung an ihre Eltern, vorzugsweise zur Mutter, ist i. d. R. stark, auch wenn sie problematisch erlebt wird und konfliktgeladen ist. Diese Beziehung wollen wir nicht ersetzen, sondern würdigen, wieder stabilisieren und für unsere Arbeit nutzbar machen. Deshalb auch der systemische Ansatz in unserer Arbeit. Wir müssen ihnen nicht Elternersatz sein, aber verlässliche erwachsene Bezugspersonen, die für sie da sind, zu denen sie Vertrauen haben können und die es auch aushalten, von ihnen ausprobiert zu werden. Die Beziehung zu uns Erwachsenen erleben defizitbelastete Jugendliche jedoch häufig zu asymmetrisch, um allein daraus langfristig gestärkt hervorgehen zu können. Sie ist mit Projektionen zu stark aufgeladen. Erzieherische Konflikte sind unvermeidbar und

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erhöhen die bestehende Asymmetrie oft riskant. Ihren Selbstwert empfinden sie durch unsere für uns scheinbar normalen Erwartungen und Grenzsetzungen häufig bedroht bzw. in Frage gestellt. Daher tendieren sie zur Abwehr mit Verdrängung, Verleugnung und Tabuisierung, um ihr positiv bzw. negativ idealisiertes Bild von sich zu verteidigen. Sie hören z. B. nicht zu, zeigen sich uneinsichtig, entwickeln innere Unruhe, ziehen sich zurück oder werden aggressiv und bringen dies in Verhaltensweisen zum Ausdruck, die gemeinhin als Regelverstöße und Auffälligkeiten gewertet werden. A: Aber ist das nicht auch pubertätstypisch, also als „normal“ anzusehen? B: Bis zu einem gewissen Grade ja. Bei Jugendlichen erkennt man diese als zu einer normalen Entwicklung gehörenden notwendigen Phasen des Trotzes und der Rebellion an, wenn sie im Kontext von Wachstumskrisen vorübergehend bleiben. Lebensbedingungen können jedoch ihre Möglichkeiten dauerhaft überfordern, mit berechtigter Kritik und Verstörungen von außen angemessen umzugehen bzw. die dafür erforderlichen Kompetenzen überhaupt ausreichend zu erwerben. Auf die bei uns zur Aufnahme angefragten Mädchen trifft dies in der Regel zu. Sie erlebten einen Kreislauf wechselseitiger negativer Bestätigung zwischen sich und ihrer sozialen Umgebung. Am Ende kam es zur Selbststigmatisierung, Symptombildung und fehlgeleiteter Normorientierung. A: Und deshalb reicht ihrer Meinung nach ein alternatives Beziehungsangebot durch geschulte Pädagogen als Ausgangsbasis zur erzieherischen Aufarbeitung ihrer Defizite nicht aus?

… Die Zeit war für mich wichtig, weil sie mir ein Überleben garantierte. Auch wenn ein Heim keine Familie ersetzen kann, war die Zeit dort trotz allem nicht übel... Sabine R., Gästebuchentrag 01.08.05

B: Nein, es braucht ein Korrektiv. Das stellen die anderen Mädchen der Gruppe dar, die sich alle mit familiären Problemlagen auskennen. Da entfalten sich mit unserer gruppenpädagogischen Unterstützung Effekte, die wir von Selbsthilfegruppen kennen. Vieles wollen Mädchen nicht in Therapie tragen, aber sie besprechen es untereinander.

Kritik und Bestätigung durch Peers wird anders ernst genommen als durch uns Erwachsene, selbst bei identischer Stoßrichtung. Sie erleben, wie andere Gruppenmitglieder gegen Regeln verstoßen, Krisen bewältigen und Probleme lösen oder wie sie überhaupt Lösungen finden, entwickeln Zusammenhalt trotz oder gerade wegen aller Konflikte im Alltag. Und das in einem jungenfreien Raum, der es erlaubt, all ihre mädchenspezifischen Themen relativ offen in der Gruppe auszutauschen, wenn wir dies aufgreifen und fördern. Im Vergleich zu Jungs verhalten sich Mädchen ohnehin deutlich beziehungs- und weniger dominanzorientiert. Sie suchen in sozialen Kontakten mehr auf emotionaler Ebene Verknüpfungen herzustellen. Dieses Spezifikum begünstigt die Nutzung des Gruppenkontextes oder anders gesagt, es sollte gendersensible Mädchenarbeit auszeichnen. „Jungs machen mehr Scheiß als Mädchen“, sagte mir kürzlich eine unserer 14Jährigen. „Und dann mache ich auch mehr Scheiß mit. Hier verhalte ich mich ruhiger, weil keine Jungs da sind.“ Solche und ähnliche Aussagen kommen häufig. Insgesamt würde ich die pädagogische Arbeit in den Wohngruppen überwiegend als notwendige Sozialerziehung charakterisieren, die die entwicklungspsychologischen Herausforderungen des Jugendalters zu bewältigen hilft. Für unsere Mädchen sind durch ihre biografischen Belastungen diesbezüglich die Hürden höher gesetzt. Sie weisen eine große Übereinstimmung im Hinblick auf ein geringes Selbstwertgefühl und ein negatives bzw. unrealistisches Selbstkonzept auf. Gerade da setzen unsere gruppenpädagogischen Bemühungen an. Diese zielen darauf ab, Selbst- und Fremdwahrnehmung wieder in ein angemessenes Verhältnis zueinander bringen zu können, sich zutreffend in seiner sozialen Identität für andere einzuschätzen, sich aber auch gegenüber Zuschreibungen anderer abgrenzen und authentisches von manipulativem Verhalten unterscheiden zu können. Dies sind Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von Ich-Autonomie und Eigenverantwortung. Die famliären und außerfamiliären sozialen Beziehungen unserer Mädchen

gerieten ja aus der Balance, weil gerade dieser Austauschprozess zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung nicht mehr angemessen funktionierte und zwischen den eigenen und den Erwartungen anderer kein konsensfähiger wechselseitiger Vermittlungsprozess mehr zustande kam. In ihrer Wohngruppe finden sie nun die Möglichkeit, Normen des Zusammenlebens gewissermaßen von unten her zu verstehen und auf gleicher Augenhöhe auszuhandeln, sich daran abzuarbeiten, was Zusammenhalt hemmt und fördert und damit die eigene Persönlichkeit zu schulen. Immer wieder fällt mir gerade an Mädchen aus kommunikationsarmen Milieus auf, wie sehr sie auch ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit dabei weiter entwickeln. Jugendliche beziehen sich bei uns,

nach der Einschätzung ihres persönlichen Gewinns durch die WGBetreuung gefragt, übrigens oft zunächst auf diesen Aspekt einer konstruktiveren Auseinandersetzung mit den Sichtweisen anderer zu ihrer Person und beschreiben dies, in dem sie sich am Ende einer Maßnahme z. B. für konfliktfähiger, offener, mutiger und weniger empfindlich halten. Sie verknüpfen dies damit, sich und anderen gegenüber Schwächen und Fehler eher eingestehen zu können, einsichtiger zu sein oder einen anderen Standpunkt besser gelten lassen zu können. Fast durchgehend bringen sie diese Lernfortschritte in direkten Zusammenhang mit dem Zusammenleben mit anderen gleichaltrigen Mädchen. Sie beschreiben damit nebenbei bemerkt den entwicklungspsychologisch wichtigen Reifungsschritt, ihre Perspektive eines jugendtypischen Egozentrismus in der Lebenshaltung relativiert bzw. überwunden zu haben. A: Mich würde da interessieren, wie ihre beruflichen Peers zu Ihren Ansichten stehen… •

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