Fruchtsäfte: Typisch Novel Food

March 2, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Fruchtsäfte: Typisch Novel Food von Brigitte Neumann Der Fruchtsaftverband preist Deutschland als Saftland Nr.1. Heute trinkt hier jeder 40 I Fruchtsaft im Jahr, vor 50 Jahren nippte man übers Jahr an zwei Fla­ schen und vor 100 Jahren war Fruchtsaft praktisch unbekannt. Aus heutiger Sicht ein Fall für die Novel-Food-Verordnung. Früher wurde Obst entweder zu Kompott verarbeitet oder zu Schnaps gebrannt - und kaum jemand wäre auf die merkwürdige Idee verfallen, rohen, unvergorenen Saft zu probieren. Natürlich war Saft nicht völlig unbekannt. Aber nicht als Getränk, sondern als Medizin bei allerlei Schwächezuständen. Mehr als ein kleines Gläschen brauchte und sollte man am Tag von diesem Fruchtauszug gar nicht trinken. Um 1900 rieten viele Ärzte sogar noch davon ab, solches Schwerkranken anzubieten.

Wert des Fallobstes Das Essen von Obst galt lange Zeit generell als zweifelhaftes Vergnügen. Bekannte Mediziner warnten in populären Gesundheitsbüchern davor. Schon Galenus, der bedeutende Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel, war vor 2000 Jahren überzeugt, dass Menschen, die gesund alt werden wollten, niemals die schädlichen Früchte essen dürften. Die Ansicht, Obst mache „schlechte Säfte“ und erzeuge „fauliges“ Fieber, hielt sich als ernährungsmedizinisches All­ gemeingut bis in die Neuzeit. Lediglich die Adeligen hatten das Privileg, von den teuren Früchten der hohen Bäume zu naschen, vor allem getrocknete Feigen und Mandeln; keineswegs aber sollten sie von den auf dem Boden wachsenden Obstsorten wie Erd- oder Heidelbeeren kosten. Über die Ursache für dieses Verdikt kann man heute nur spekulieren. Den­ noch spricht einiges für die Möglichkeit, dass Lebensmittelinfektionen keine Sel­ tenheit gewesen sein dürften, nachdem Obst und Gemüse mit den eigenen Fä­ kalien gedüngt wurde. Noch heute scheint ein Brauch in Ländern des ehemali­ gen Ostblocks daran zu erinnern: In ländlichen Gebieten klauben die Männer im Herbst mühevoll die überreifen und halb vergammelten Birnen, Äpfel und Zwetschgen auf und bringen sie zur Obstverwertung - allerdings in die Schnaps­ brennerei, damit daraus ein bekömmlicher Slivovitz wird. Denn Obst, das auf dem Boden gelegen hat, isst dort niemand. Schließlich könnte man davon krank werden.

Fruchtsäfte • Herstellung ! 3-6 • Kommentar: Getäuschte •! Kunden ! 7 • Gesundheit: Missionarisches •! Treiben ! 8-11

Facts and !Artefacts

12-14

• Lektine: getarnter Angriff • Lebensmittel­ Erpresser • Seuche des guten Willens • Lebendiges Wasser • Ursachen des Artensterbens • Schimpansenbraten • Walsuppe

In aller Kürze

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Der besondere Saft • Trinken statt ! Entsorgen

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Im Mittelalter galt Obstessen als ebenso riskant wie Wassertrinken. Um ge­ sund zu bleiben, tranken die Menschen in Frankreich und Italien statt dessen be­ trächtliche Mengen an Wein oder nahrhaftes Bier in Nordeuropa. Die Obst­ bäume lieferten weniger Tafelfrüchte, sondern vor allem Mostobst für die Bren­ nerei. Alkoholische Getränke zählten zu den billigen Grundnahrungsmitteln. Trotz des erheblichen Alkoholkonsums konnten die Menschen ihrem Tagwerk nachgehen. Denn ob jemand bei der Feldarbeit angesäuselt war oder nicht, spielte für die Qualität der Arbeit keine wesentliche Rolle.

Saft als Surrogat Das änderte sich im Zuge der Industrialisierung. In der Fabrik sank die Renta­ bilität, wenn die Arbeiter betrunken waren. Auch waren Bier und Schnaps in Deutschland plötzlich keine billigen Getränke mehr, denn geschäftstüchtige Wirte wussten es zu ihrem Vorteil zu nutzen, dass die Arbeiter ihren Lohn sowieso versoffen. So war am Zahltag oft schon das ganze Geld verflüssigt und die Familien mussten hungern. Jetzt gewann die Antialkoholbewegung an Macht. Mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit predigten ihre Anhänger von der zer­ störenden Wirkung des Alkohols auf den Körper, warnten vor „Gefährdung der Rasse“ durch Erbschäden und vor ökonomischen Verlusten durch Trunkenheit am Arbeitsplatz. Die Abstinenzler konnten aber auch nicht auf dem Trockenen sitzen. Zur Mo­ tivation ihrer Anhänger musste ein Surrogat für die alkoholischen Getränke her: gesund, kräftigend, belebend - eine Alternative zum Alkohol. Die Geburtsstunde der Obstsäfte hatte geschlagen. Ehemalige Weinbauern, überzeugt von der An­ tialkoholbewegung, stellten nun „alkoholfreien Wein“ her, heute als „Trauben­ saft“ bekannt. Andere Obstbauern kamen hinzu - nur, der Einzelhandel sperrte sich. Er tat sowohl die Säfte als auch die ganze Bewegung zunächst als „Spinne­ rei“ ab. Zwangsläufig mussten eigene Vermarktungswege geschaffen werden. Das geschah über „Gesundheitszentralen“ - die Vorläufer der heutigen Reform­ häuser. Heute haben sich die Säfte auf dem Markt emanzipiert. Sie sind eine eigen­ ständige Produktgruppe, bei der niemand mehr an ihre wechselvolle Geschichte denkt. Lediglich das Image als gesunde Getränke hat sich bis heute gehalten. Und die Säfte haben sich sogar mit dem Alkohol versöhnt. Denn ohne sie gäbe es weder Long Drinks oder Cocktails, noch den beliebten Sekt mit Orangensaft.

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Apfelsaft: „Flüssiges Obst“ Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Konsum von etwa 12 Litern ist er der Deutschen liebster Saft. Aber längst nicht jeder Apfelsaft stammt aus einheimi­ scher Produktion. 1997 wurden 300 000 t Konzentrat vornehmlich aus Polen, Argentinien, Österreich, Ita­ lien, GUS, Ungarn, Chile, Südafrika und neuerdings auch China importiert. Deshalb ist es schwierig, ver­ bindliche Aussagen über die Art der Herstellung zu treffen. Trotzdem erfolgt die Gewinnung von Kon­ zentrat meistens nach folgendem Schema: Das gewaschene Obst wird in Rätzmühlen oder Schleuderfräsen „gemahlen“. Dabei schleudert ein Ro­ tor die Früchte gegen die Wand des Mahlraumes. Dort befinden sich gezähnte Messer, die die Äpfel vollständig zerkleinern. Bei Schleuderfräsen befinden sich im Mahl­ raummantel messerartige Sieblöcher, durch die der Ap­ felbrei ausgetragen wird. Die Maische wird zumeist mit Enzymen versetzt, um die Saftausbeute zu erhöhen. Hierzulande ist nur ein Zusatz von pektolytischen, amylolytischen und proteoly­ tischen Enzymen erlaubt, nicht jedoch von Cellulasen. Durch einen Trick können diese auch in Deutschland verrwendet werden: Da Enzyme gewöhnlich nicht rein gewonnen werden und deshalb Nebenaktivitäten unver­ meidlich sind, enthalten handelsübliche Präparate in­ zwischen die passenden Enzyme als „Verunreinigun­ gen“. Spezielle Kombipräparaten aus Pektinasen, Cel­ lulasen und Hemicellulasen greifen auch Teile der Zell­ wand an. Durch einen weitergehenden Abbau ist eine Totalverflüssigung des Obstes möglich. Dabei erfolgt noch eine Verzuckerung der Cellulose. Aus ihr entsteht Traubenzucker, der erheblich zur Süße beitragen kann. Nach dem Enzymieren wird der Saft abgepresst. Eine andere Methode der Saftgewinnung ist die Ex­ traktion. Dafür werden die Äpfel in Scheiben geschnitten und mit heißem Wasser (65 bis 70°C) ausgelaugt. Die extrahierten Schnitzel werden zum Schluß ebenfalls ab­ gepreßt und das Preßwasser in den Extraktor zurückge­ leitet. Die Extraktion ist zwar aufwendiger, ergibt aber deutliche höhere Ausbeuten. Zur Schönung, also um klare, stabile Säfte zu erhal­ ten, erfolgt eine erneute enzymatische Behandlung. Der verbleibende Trub wird anschließend mit Schönungs­ mitteln wie Gelatine, PVPP oder Kieselsol gebunden und mit Filtern abgetrennt oder ultrafiltriert. Nach der Abtrennung des Aromas kann nun bis zum Konzentrat eingedampft werden. In der Saftfabrik wird der Saft aus Konzentrat, Aroma und Wasser rekonstituiert.

Fließschema: Apfelsaft-Herstellung

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