DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 45

April 23, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 8. November 1999

Betr.: Havel, Speer, Wehrmacht, Limbach

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er tschechische Staatspräsident Václav Havel bat um Entschuldigung: „Ich komme zu spät, ich weiß“, sagte er den zum Gespräch angereisten SPIEGELRedakteuren Olaf Ihlau, 57, und Walter Mayr, 39. Grund für die Verspätung: Das Staatsoberhaupt hatte gerade seine Fahrer und Sicherheitsbeamten angewiesen, ihn künftig wie einen normalen Menschen durch die Gegend zu kutschieren – nicht mehr mit Hupe, Blaulicht und in rasender Geschwindigkeit. „Unheimliche Qualen“ habe er in den vergangenen Jahren bei dem rabiaten Fahrstil in den Dienstkarossen ertragen, erzählte Havel den SPIEGEL-Leuten, „es ist so unangenehm, wenn mir die Leute auf der Straße die Zunge rausstrecken oder drohend winken“. Damit solle jetzt Schluss sein (Seite 218).

ahrelang hatte sich der Frankfurter Architekt Albert Speer, 65, einem Gespräch mit dem SPIEGEL verweigert. Speer ist einer der erfolgreichsten deutschen Stadtplaner, scheute aber, als Sohn des Hitler-Architekten, die Öffentlichkeit. Nun – auf dem Höhepunkt seiner Karriere – überwand er sich doch. Sieben Stunden sprach Speer mit den SPIEGEL-Redakteuren Susanne Beyer, 30, und Dietmar Pieper, 36, erklärte ihnen stolz seine Pläne Beyer, Speer, Pieper für den Bau des Europaviertels in Frankfurt am Main und berichtete von Kindheitserinnerungen an Adolf Hitler: „Aus meiner Perspektive war er ein Onkel wie jeder andere auch“ (Seite 239).

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F. SCHUMANN / DER SPIEGEL

m die Aufklärung von Verbrechen der Wehrmacht bemüht sich seit 1995 das Hamburger Institut für Sozialforschung mit einer viel beachteten Ausstellung. Schon vor einem Jahr hatte sich allerdings der Historiker Bogdan Musial beim SPIEGEL gemeldet und von Fehlern berichtet: Einige Bilder zeigten nicht Opfer deutscher Soldaten, sondern des sowjetischen Geheimdienstes. Redakteur Klaus Wiegrefe, 34, ging den Hinweisen nach und fand zusätzliche Belege (SPIEGEL 4/1999). Nun zogen die Initiatoren ihre Ausstellung für mindestens drei Monate aus dem Verkehr – alles soll überprüft werden. Einige Kritiker erklären bereits den größten Teil der Bilder für falsch. „Das ist blanker Unsinn“, sagt Historiker Wiegrefe, „wer so etwas behauptet, hat noch nachlässiWiegrefe ger recherchiert als die Ausstellungsmacher“ (Seite 107).

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or acht Jahren war die heutige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, Justizsenatorin in Berlin. SPIEGEL-Autor Thomas Darnstädt, 50, sprach damals mit ihr über die juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Die Diskussion verlief eher hitzig, ein paar Mal fuhr Limbach den SPIEGEL-Mann energisch an. „Fragen wird man ja dürfen“, wehrte der sich. Als Darnstädt und Kollege Dietmar Hipp, 30, vergangene Woche die oberste Richterin in Karlsruhe trafen, begrüßte sie Darnstädt: „Wir reden oft über Sie, Ihre damalige Bemerkung ist zum geflügelten Wort in unserer Familie geworden.“ Auch das aktuelle Gespräch mit Limbach über den Einfluss des Verfassungsgerichts auf die Politik hatte Klippen – „darauf will ich nicht antworten“, versuchte sie wiederholt heikle Themen zu umschiffen. Darnstädt: „Fragen wird man ja dürfen“ (Seite 72). Im Internet: www.spiegel.de

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G. GERSTER

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In diesem Heft

Deutschland Panorama: Wirtschaftsminister Müller gegen SPD-Fraktion / Kosovo-Albaner werden abgeschoben ......................................... 17 Korruption: Ließ sich die CDU beim Panzergeschäft schmieren? ............................... 22 Wie Staatssekretär Holger Pfahls Widerstände gegen das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien aus dem Weg räumte................. 24 CDU: Bedingt regierungsbereit ......................... 26 Prozesse: Gartenschlägers Tod vor Gericht ..... 64 Internet: Boom der virtuellen Auktionshäuser ... 68 Justiz: SPIEGEL-Gespräch mit der Verfassungsgerichts-Präsidentin Jutta Limbach über den Einfluss auf die Politik ....................... 72 Jahrtausendwende: Polizei wappnet sich gegen Chaos und Katastrophen ........................ 80 Zeitgeschichte: Reemtsmas Rückzug ........... 107 Kriminalität: Amoklauf von Bad Reichenhall lässt Experten und Polizei ratlos ..................... 110

Schmiergeld für die CDU?

Seite 22

Mit seiner Aussage vor dem Haftrichter hat der ehemalige CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep sein jahrelanges Schweigen in der Affäre um die Lieferung von „Fuchs“Panzern an Saudi-Arabien gebrochen: Eine Million Mark in bar habe der Waffenhändler Karlheinz Schreiber übergeben – angeblich für die CDU-Parteikasse. Die Union verspricht Aufklärung, die Grünen verlangen einen Untersuchungsausschuss. „Fuchs“-Spürpanzer, Kiep, Kohl (1982) MELDEPRESS (li.); F. DARCHINGER (r.)

Titel Weltmacht wider Willen ................................... 30 Einheit – nur langsam wächst im Osten die Zuversicht................................................... 40 Wie der Mauerfall die Globalisierung beschleunigt...................................................... 44 Westöstliche Mischungen in der Kunstund Literaturszene............................................ 50 Arnulf Baring über die deutsche Apathie angesichts der osteuropäischen Herausforderung .................... 56

Europa der Verschwender

Seite 116

Der Europäische Rechnungshof schlägt zu: In ihrem neuen Jahresbericht legen die Kontrolleure Verschwendung gigantischen Ausmaßes offen. Allein für die Vernichtung von überschüssigem Obst und Gemüse gab die EU knapp eine halbe Milliarde Euro aus. Fazit: Brüssel bedient vor allem Lobbyisten und macht es Betrügern leicht.

100 Tage im Herbst

Wirtschaft Trends: Neues zur Hypobank-Affäre / Modefirmen drängen ins Internet / Subventionsskandal in Sachsen-Anhalt ........... 113 Geld: Dubiose Fonds-Werbung / Gute Chancen mit japanischen Internet-Aktien ....... 115 Europa: EU-Rechnungshof enthüllt Schlamperei und Milliardenverschwendung .... 116 Staatsfinanzen: Kanzler Schröder drängt auf höhere Erbschaftsteuer ............................. 120 Kartelle: So kungelt die Betonindustrie ......... 124 Affären: Raffgierige Ohrenärzte ..................... 126 Geldanlage: Klage gegen BHF-Bank .............. 128 Stromkonzerne: Der Aufstieg des Jurastudenten Michael Zerr zum Mr. Yello...... 130

Medien Trends: „Big Brother“ demnächst bei RTL 2 / Überraschungserfolg für „Praline-Interaktiv“ ... 133 Fernsehen: Historien-TV boomt .................... 134 Vorschau ......................................................... 135 Boulevard-Presse: Zotig und angepasst – die neue Generation der Klatschreporter........ 136 Der Star-Macher von „Bild“ ........................... 138 Journalisten: Interview mit dem „Frontal“-Duo Hauser/Kienzle über ihren TV-Abschied ................................... 142 Reality-TV: Eifersucht als Quotenknaller ........ 148 Fernsehspiel: Der TV-Film „Hin und weg“ und die neue Nüchternheit ............................. 154

Hass auf schwarze Dealer

Seite 168

Sie sind die Letzten beim Geschäft mit illegalen Drogen: junge Afrikaner, die in deutschen Großstädten kleinste Rauschgiftmengen verdealen. Die meist illegal eingereisten Asylbewerber, die nicht arbeiten dürfen und keine Perspektive haben, lösen Ängste und Fremdenhass aus. Afrikanischer Rauschgiftdealer (in Hamburg)

Promi-Jagd in Deutschland

Seite 136

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E. HERBST

Gesellschaft Szene: US-Psychologin Nancy Etcoff über biologische Gründe von Schönheitsidealen..... 167 Drogen: Die schwarzen Dealer vom Hamburger Schanzenviertel............................ 168 Showbusiness: Interview mit dem Sänger Patrick Lindner über Rex Gildo und Homosexualität in der Schlagerbranche ... 176 Kredite: Autos als Leihhaus-Pfand................ 180

„Bild“-Klatschreporterin Keßler bei der Arbeit

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R. JANKE / ARGUS

Wende und Ende des SED-Staates (7) „Die Mauer muss weg“ – Grenzöffnung aus Versehen .......................... 85 Porträt: Günter Schabowski – unbequem zwischen allen Stühlen .............. 104

Früher zählten die Klatschreporter zu den heimlichen Stars der Society, die das Volk mit Anekdoten aus dem Sündenbabel der Reichen und Schönen fütterten. Heute rangeln sich Horden von ihnen auf drögen PR-Veranstaltungen um jeden Prominenten. Unter dem Konkurrenzdruck der Medien verflacht das Genre zunehmend. Und weil die Berühmtheiten von heute mit Gegendarstellungen nicht lange fackeln, ist der Glamourberuf zum harten Job geworden.

M. WIENHÖFER / PRINT

Ausland

Fürstenschloss im liechtensteinischen Vaduz

Lauschangriff auf Geldwäscher

Seite 202

Kultur

Der Bundesnachrichtendienst hat den Datentransfer der Geldhäuser nach Liechtenstein angezapft. Das Ergebnis ist fatal für das Image des Finanzplatzes: Ein Geflecht aus Beamten, Politikern und Treuhändern lädt laut BND-Bericht die Gangster aller Länder geradezu zur Wäsche ihres schmutzigen Geldes ein.

Der Kaukasus brennt

Panorama: Montenegros Premier Vujanoviƒ über den Bruch mit Belgrad / Spekulationen um Papstnachfolger ............... 183 Kaukasus: Im Visier der Großmächte........... 186 Georgien: Präsident Eduard Schewardnadse über einen Beitritt zur Nato .......................... 190 Frankreich: Rückschlag für Jospin ................ 192 Ostasien: Schröders Reisespaß..................... 194 Klima: Front gegen den Verschmutzer USA... 196 Jugoslawien: Milo∆eviƒ rechnet ab............... 198 Liechtenstein: Wie der Zwergstaat das Geld von Mafia, Drogenkonzernen und russischen Großkriminellen wäscht ........ 202 Schweden: Angriff der Neonazis ................. 208 Europa: Neue Ängste vor britischem Beef .... 212 Tschechien: SPIEGEL-Gespräch mit dem tschechischen Präsidenten Václav Havel über die Osterweiterung der EU ................... 218 Russland: Schwarzgeld in der Südsee .......... 226 Japan: Star-Ruhm für Frauen in Männerkleidern......................................... 228 Szene: Hundertwasser verhübscht den Bahnhof von Uelzen / Regisseur Eyal Sivan über seine Eichmann-Dokumentation ........... 233 Kino: David Finchers neuer Film „Fight Club“ bricht mit der Hollywood-Ästhetik ............... 236 Städtebau: SPIEGEL-Gespräch mit Albert Speer über sein Frankfurter „Europaviertel“ und sein Leben als Sohn des Hitler-Architekten................................... 239 Stars: Stimmwunder und Pop-Schönheit – Mariah Carey auf neuen Wegen .................... 248 Autoren: Gerold Späth über den urschweizerischen Sprachkünstler Peter Weber .......................... 252 Bestseller..................................................... 254 Film: „Helden wie wir“, ein Kino-Ereignis mit Ost-Charme ............................................ 258 Schönheit: Interview mit Kunst-Theoretiker Bazon Brock über die Graffiti-Attacke auf den Hamburger Findling ............................... 264

Seiten 186, 190

Mit Russlands Krieg gegen die Tschetschenen sollen die Hoffnungen auf Souveränität im Kaukasus eingeschüchtert werden. Während Moskau vom Streit zwischen den verfeindeten Völkern zu profitieren sucht, ruft Georgiens Staatschef Eduard Schewardnadse nach der Nato. Und alle wollen den Zugriff auf das Öl im Kaspischen Meer.

Eine amerikanische Show-Karriere Seite 248

Wissenschaft • Technik

FAIRLIGHT

Gesangsakrobatik und Süßstoff-Soul: Mariah Carey, 29, ist die erfolgreichste Popsängerin der neunziger Jahre. Ihre Lebensgeschichte wirkt wie das Märchen vom Aschenputtel: eine traurige Kindheit, miese Jobs und dann die Entdeckung durch den Traumprinzen – den Sony-Music-Manager Tommy Mottola. Doch statt glücklich bis ans Ende ihrer Tage zu leben, ließen sie sich scheiden. Mit ihrem Album „Rainbow“ will Carey nun ein neues Leben beginnen. Sängerin Carey

Prisma: Chirurgen verpflanzen Eierstöcke in den Arm / Esoterik-Autor Sheldrake über telepathische Fähigkeiten von Haustieren ..... 267 Medizin: US-Ingenieure erproben Kunstherz aus Titan ...................................... 270 Hochschulen: Der Einfluss der Konzerne auf die amerikanische Uni-Forschung ........... 276 Tiere: Berliner Biologen sind Meister im Quallenzüchten ........................................ 282 Archäologie: Neue Funde in der französischen Chauvet-Höhle ....................... 286 Der Hund als Gefährte des Eiszeit-Menschen .......................................... 288 Flugzeugkatastrophe: Nach dem EgyptAirAbsturz – wie sicher ist die Boeing 767? ....... 294

Sport

T. EVERKE

Herz aus Titan

Seite 270

Amerikanische Ärzte planen eine Medizin-Revolution. Im nächsten Frühjahr wollen sie einem Patienten ein komplettes Herz aus Titan und Kunststoff einsetzen. Die Vorbereitungen laufen mit größter Umsicht. Denn im letzten Jahrzehnt endeten ähnliche Versuche im Debakel: Die Patienten vegetierten unter elenden Qualen ihrem Tod entgegen. Kunstherz d e r

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Fußball: Der norwegische Weg zum Erfolg .................................................... 300 Schach: Interview mit Weltmeister Alexander Khalifman über den Wert seines Titels ........................... 306 Briefe ............................................................... 8 Impressum ................................................... 312 Leserservice ................................................ 312 Chronik ......................................................... 313 Register........................................................ 314 Personalien .................................................. 316 Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 318

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Briefe

„Einzigartig wurde das Phänomen Hitler durch die Bereitwilligkeit, mit der die große deutsche Kulturnation einem derartig zwielichtigen politischen Heilsbringer glaubte – und offensichtlich auch liebend gern glauben wollte.“ Dr. Rolf Cornelius Müller aus Kreuzlingen (Schweiz) zum Titel „Das Monster des 20. Jahrhunderts“

Antiaufklärerischer geht’s nimmer Nr. 43/1999, Titel: Das Monster des 20. Jahrhunderts – Joachim C. Fest: Hitler – Die reale Macht des Bösen

Wie beruhigend zu erfahren, dass Hitler das „Monster des 20. Jahrhunderts“ war. Kein Mensch war er also, nein, ein Monster. Nicht so richtig real. Von einer anderen Welt. Wir Menschen brauchen uns da zukünftig keine Sorgen zu machen. Diese ewigen Mahner, die darauf bestehen, dass wir wissen müssen, was warum geschah, dass wir uns unserer demokratischen Tugenden nicht so sicher sein sollten, wir sie pflegen müssen, alles Quatsch. Hauptsache, wir haben genug Ghostbusters und halten das Tor zur Unterwelt verschlossen. Dann bleibt alles gut. Dresden

Sabine Friedel

Wenn man sich auf die Einmaligkeit und Universalität des Bösen in Hitlers Denken und Handeln festlegt wie Fest und andere fortschrittliche Denker, landet man pfeilgerade in der intellektuellen Sackgasse. Einzig möglicher Schluss: Dieses ultimative Monster kann nur einem Monstervolk entsprungen und von einem solchen permanent gestützt, wenn nicht getrieben worden sein. Für Monstervölker gibt es keine Absolution, lediglich die Pflicht zu ewiger Demut. Wer diese Goldhagensche Sicht nicht akzeptieren will, dem bleibt wie Fest letztlich nur mehr die Ratlosigkeit. Ein halbes Jahrhundert danach würde man sich von deutschen Denkern etwas mehr erwarten. Wien

Hans Egger

Die Bewunderung für einen Mann mit agitatorischen Fähigkeiten und die Relativierung des extrem antisemitischen deutschen Gedankenguts, dem sechs Millionen Juden in Vernichtungslagern und Konzentrationslagern zum Opfer fielen, ist in diesem Artikel durch den Vergleich mit anderen Diktaturen deutlich geworden. Joachim Fest rechtfertigt die deutschen Verbrechen nicht, aber er verharmlost sie, indem er auf Stalin und Mao verweist. Er verrechnet sie mit anderen. Dorsten (Nrdrh.-Westf.) Marcel Trocoli-Castro

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Sehr interessant, die Ausführungen von Joachim Fest: Hitler als jemand, der im Grunde genommen Politik lediglich als Handlungsrahmen des eigenen „Aggressionswillens“ benutzt hat. Leider gelingt in meinen Augen die Argumentation gegen den Idealismus des Humanismus jedoch auch hier – wie schon bei Sloterdijk – nicht: Die Existenz des „Bösen als reale Macht“ widerlegt den Humanismus nicht, als dieser „das“ Böse nicht leugnet oder er zumindest nicht auf eine solche Leugnung angewiesen ist, um als ein ernst zu nehmendes Konzept bestehen zu können. Trier

Berlin

Anna Teut

Hitler stellte einen Homo novus und keine Konsequenz deutscher Geschichte dar. Die nachhaltigen Irritationen, die diese in sich so seltsam farblose Persönlichkeit auslöst, ergeben sich aus der Fähigkeit, ein normales Volk Schritt für Schritt zum Komplizen zu machen. Gerade dies weist auf den Kernpunkt des Schreckens hin: Er kann sich jederzeit wiederholen. Es braucht nur den richtigen Mann zur richtigen Zeit. Die richtige Zeit allein reicht niemals aus. Unna

Volker Böning

Ach, hätten sie doch bei Fest in die Schule gehen können: Goldhagen, Horkheimer,

Dominik Maletz

Ich bitte Sie inständig: Entmythologisieren Sie Hitler! Entschlüsseln Sie diese Erklärungsversuche alter Herren, die immer wieder mit neuen Thesen ihre erlebte und noch immer innewohnende Begeisterung für Adolf Hitler zu erklären versuchen. So wie das Christentum den Satan, so brauchen offensichtlich alle Ethiker Hitler. Ulm

M. EHLERT / DER SPIEGEL

SPIEGEL-Titel 43/1999

denen die mit den Kriegszerstörungen und der „Schuld“ am Ersten Weltkrieg belasteten deutschen Sportler wie vier Jahre zuvor in Antwerpen nicht geladen waren.

Markus Junginger

Müssen Sie die anfängliche Anziehungskraft des „faschistischen Experiments“ auf ausländische Besucher ausgerechnet mit einer Aufnahme aus dem Riefenstahl-Film illustrieren, die dem flüchtigen Betrachter zeigt, zeigen sollte, dass die französische Olympiamannschaft bei ihrem Einmarsch in das Berliner Olympiastadion den „Führer“ mit dem Hitlergruß ehrte? Faktum ist, der seitlich ausgestreckte rechte Arm der Spieler gehorchte einem Ritual, das die französische Mannschaft bereits während der Olympischen Spiele 1924 in Paris praktizierte, zu

Hitler auf dem Nürnberger Parteitag (1935)

Einem Monstervolk entsprungen?

Mommsen, Broszat. Dabei ist die Widerlegung der Aufklärung so einfach: Hitler hat deren Grundannahmen ein für alle Mal exekutiert. Und Fest weiß noch mehr: Hitler wollte seinen „doppelten Vernichtungsvorsatz vollstrecken: den gegen die Juden und gegen das eigene Volk“. Alle sind eben Opfer Hitlers, dieser Inkarnation des Bösen, Juden wie Deutsche. Noch Fragen? Filderstadt

Wigbert Benz

Vor 50 Jahren der spiegel vom 10. November 1949 Adenauer zeigt außenpolitischen Machtwillen Nach bewährtem Altreichs-Rezept wie bei Bismarck. Die neuen Landespressegesetze liegen vor Trauen die Alliierten den Deutschen und der Bonner Grundordnung nicht? Wettrennen der Großmächte um die Freundschaft der einstigen Feinde Neue Deutschlandkonzeption der USA. Der Jemen will seine strenge Isolation aufgeben Bau- und Exportfirmen aus England, Italien und den USA entwickeln Pläne. „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams hat in London Premiere Inszenierung von Sir Laurence Olivier. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Deutsche Eislaufmeisterin Irene Braun

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Briefe Je kapitaler und wilder eine Charakterisierung gerät, desto nichtssagender wird sie auch! In Wirklichkeit war Hitler ein Kleinbürger mit einem besonderen Talent für Demagogie, schauspielerische Gestik und Rhetorik, der erst durch die erstaunlich große Resonanz und den frenetischen Applaus seines Publikums, der damaligen Deutschen, zur vollen Form und Wirksamkeit auflaufen konnte. Sindelfingen

Günther Häffner

Man könnte Fests Festhalten an der „Spitzenstellung“ Hitlers unter den Massenmördern des Jahrhunderts auch so bezeichnen: übersteigerter, pedantischer Nationalismus des deutschen Historikers, der den Russen einfach deren „Spitzenstellung“ mit den Mördern Lenin und Stalin „neidet“. Tamm (Bad.-Württ.)

Karl-P. Schlor

Hitler kam nicht, wie es Fest sehen will, als Monster auf die Welt. Hitler spielte seine „deutsche Schicksalssinfonie“ auf einem von Militär und Kapital und vom „deutschen Hausmeister“ gestimmten Klavier. Berlin

Lieber gleich auf den Kopf hauen Nr. 43/1999, Rente: Wie Rot-Grün den Generationenkrieg anheizt; So reich sind die Alten

Das verkrampfte Bemühen um „Generationengerechtigkeit“ lenkt in erster Linie von der dramatisch wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb aller Generationen ab. Statt darüber nachzudenken, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur resultierende Schwierigkeiten solidarisch zu bewältigen sind, spielt man einzelne Gruppen und ganze Generationen gegeneinander aus und funktioniert die Demografie zu einem Mittel politischer Demagogie um. Köln

Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Es ist doch leicht abzusehen, was passiert, wenn die gesetzliche Rente zur Grundversorgung wird und man für einen wohlversorgten Lebensabend selbst Geld beiseite legen muß: Es wird mehr „reiche Alte“ geben, aber auch viele „arme Alte“, die eben nicht vorgesorgt und das Geld lieber anderweitig ausgegeben haben. Dann diagnos-

Gert C. Möbius

Fests Hitler-Psychogramm ist eine präzise, differenzierte Analyse der Person des Diktators. Treffend das Titelbild mit der Überschrift „Das Monster des 20. Jahrhunderts“. Das könnte man angesichts der absolut beispiellosen Barbarei der Judenvernichtung ins Universalhistorische ausweiten: „Das Monster der Menschheitsgeschichte“. Würzburg

Prof. Dr. Theo Meyer

Laut Nietzsche ist der Verbrecher seiner Tat häufig nicht gewachsen: Er verkleinert und verleumdet sie. Ganz anders Hitler: Er hat seine Mordabsichten niemals verleugnet, sondern sogar vor aller Welt angekündigt und es dennoch geschafft, sein Verbrechen so lautlos und präzise durchzuführen, dass keiner etwas gewusst haben will, am wenigsten die Mittäter. Das macht ihn „einzigartig“. Köln

Johannes Habig

Antiaufklärerischer geht’s nicht. Wie sollen wir je das NS-System begreifen, wenn weiterhin die Schuld dem einen, dem angeblichen „Monster“ Hitler, zugeschoben wird? Um den Nationalsozialismus zu verstehen, müssen wir erforschen, aus welchen Motiven sich die Millionen deutscher Männer und Frauen dafür engagierten.

frankfurter allgemeine

tiziert irgend jemand eine „soziale Schieflage“, der Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ wird laut und lauter, und ein Weg wird gefunden, den „ungerechten“ Vorteil derer, die für ihre Altersversorgung gespart haben, „umzuverteilen“. Da haue ich das Geld lieber gleich auf den Kopf, dann kann es mir wenigstens keiner mehr abknöpfen. Mainz

Thomas Roessing

Die Faszination Hitler ist nicht das von ihm ausgehende „Böse“, andere haben ihn im 20. Jahrhundert darin meilenweit übertroffen und sprechen von einem „schülermäßigen Hitlerregime, das dem Westen den Blick getrübt hat“ (Solschenizyn). Die Faszination war seine unbestrittene Ausstrahlung.

Wer ist eigentlich auf die putzige Idee gekommen, eine Rente auf Kapitaldeckungsbasis stelle eine geringere Belastung jüngerer Generationen dar als eine durch Umlagen finanzierte? Die nicht produzierenden Einkommensbezieher einer Volkswirtschaft werden in jedem Fall von den wirtschaftlich Aktiven mitgetragen, denn nur sie stellen her, was alle „konsumieren“. Arbeitsplatzbesitzer werden also immer den entsprechenden Anteil der von ihnen erwirtschafteten Werte mit Alten teilen – oder ihnen irgendwie den Hahn abdrehen müssen.

Haan (Nrdrh.-Westf.)

Rechtmehring (Bayern)

Stegen (Bad.-Württ.)

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Dr. Stephan Marks

Dr. Heinrich Kraus d e r

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Helmut Reuter

W. SCHUERING

Exportgut „Leopard 2“-Panzer

Aus der Geschichte nichts gelernt?

Schlechte Karten für Exportblockierer Nr. 43/1999, Regierung: Die Grünen und der Leo 2; Interview mit Umweltminister Trittin

Nunmehr soll die Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei zum Maßstab des kommenden möglichen „Leopard“-Exports werden. Doch Menschenrechte erfüllen sich nicht per Appell, sie bedürfen aktiver Politik. Die bleibt die Bundesregierung uns und den Menschen in der Türkei bislang schuldig. Berlin Dr. Angelika Claußen Intern. Ärzte f. d. Verhütung des Atomkriegs

Sie schreiben mit Recht, dass das türkische Militär traditionell auf deutsche Hilfe baute. Nicht nur, dass die Geschütze am Bosporus im Wesentlichen aus dem Hause Krupp stammten, auch die Truppen des osmanischen Heeres sind seit 1880 mit deutschen Mausergewehren ausgerüstet worden. Bis zum Ersten Weltkrieg sind von der Mauserschen Waffenfabrik über eine Million Gewehre an die Türkei geliefert worden. Ab 1914 sahen sich dann die Bewohner Armeniens osmanischen Truppen gegenüber, deren Gewehre eine deutsche Herkunftsbezeichnung trugen. Hat unsere Regierung denn aus der Geschichte nichts gelernt? Bonn

Erwin Hartmann

Warum regt man sich eigentlich so auf? Immerhin exportiert Deutschland seit Jahrzehnten Umweltvernichtungsmittel in alle Welt, sogar die alte DDR-Flotte ging nach Indonesien, und „Exportblockierer“ hatten auch vor Scharping immer schon schlechte Karten. Also warum nicht 1000 Panzer an die Türkei, damit sie Kurden und Griechen im Zaum halten können? Natürlich bieten 1000 „Leopard“ eine strategische Erweiterung geradezu an: Irak, Iran, Syrien und natürlich den Kaukasus. Zwingt eigentlich jemand die Deutschen, Panzer zu bauen? Vila Nova de Gaia (Portugal)

J. Kappert

Herr Fischer weiß durchaus zu differenzieren, wo man der Türkei Zugeständnisse machen sollte und wo nicht. Die Türkei sollte ihre Bemühungen auf gesetzlicher und wirtschaftlicher Ebene, den EU-Standards zu entsprechen, honoriert bekommen. Istanbul d e r

Eva Röben s p i e g e l

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Briefe mer. Warum wird in diesem Fall den Eltern alles geglaubt? Wer fragt, was das Mädchen an Schäden davontragen kann? Was sind das für Eltern, die ihren Sohn allein zurücklassen? Untermeitingen (Bayern)

Peter Tögel

Was erwartet man von einer Gesellschaft, in der sogar „Händchenhalten“ unter den Kindern in Camps verboten ist und wo jeder Betreuer sich ständig durch Zeugen absichern muss, damit er nicht verklagt wird?

Narkoseüberwachung im OP: Genaue Erinnerung an die Operation

Es war die Hölle Nr. 43/1999, Medizin: Das schreckliche Erwachen während der Operation

Nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik lassen sich flache Narkosestadien, in denen die Gefahr von Wachheitserlebnissen des Patienten besonders groß ist, sicher vermeiden. Die Überwachung der Hirnfunktion während der Narkose anhand der Hirnströme (EEG) ist als Routinemaßnahme durchführbar. Der in Hannover entwickelte EEG-Monitor „Narcotrend“ bewertet die Schlaftiefe des Patienten während der Narkose sogar automatisch. Das System ist sehr einfach handhabbar, dem Patienten werden lediglich drei Elektroden auf die Stirn geklebt. Mit dem EEG-Monitoring wird der Patient auch vor Überdosierungen geschützt. Es trägt zu einer verbesserten Befindlichkeit im postoperativen Zeitraum bei. Hannover

Dr. Barbara Schultz Klinikum Hannover-Oststadt

Dazu ein eigenes Horrorerlebnis, es liegt zwar schon 40 Jahre zurück, ist aber (leider) noch total frisch in der Erinnerung. Im Berliner Wenckebach-Krankenhaus wurden mir die Mandeln entfernt. Ich bekam drei Spritzen in den Hals und dadurch das Gefühl zu ersticken, denn ein Schnupfen hatte sich fürchterlich weiterentwickelt. Dann gab es Lachgas, und die Operation begann. Ich erlebte alles wie auf einem kleinen Monitor über mir mit. Das hätte ja eigentlich ganz interessant sein können, nur – ich erlebte auch die Schmerzen des Schneidens, und es kam für einen kurzen Moment das Allerschlimmste: Als die Lachgasmaske abgenommen wurde, war das so, als würde an jedem Nerv meines Körpers gerissen werden. Das werde ich nie vergessen, es war die Hölle. Spranz (Nieders.)

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Ich wurde im Alter von sieben Jahren vor einer ambulanten, operativen Entfernung von Nasenpolypen mit Äther betäubt. Ich erinnere mich leider zu genau an die Operation, bei der der Arzt mit einem Instrument in meinem Rachen hantierte und ich schreckliche Angst vor ihm hatte und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Als ich „erwachte“, war die Angst immer noch so groß, dass ich den Raum fluchtartig verließ. Man sagte mir, ich hätte einen Alptraum gehabt. Ich selbst dagegen hatte immer das Gefühl, es wirklich erlebt zu haben. Ihr Artikel bestärkt mich in meinem Gefühl, dass ich eben nicht vollständig bewusstlos war. Bonn

Astrid Sondermann

Grausige Aussichten Nr. 43/1999, Justiz: Kinder im US-Strafvollzug

Als wir in Denver wohnten, konnten wir erleben, wie minderjährige Kinder ihre Geschwister umbrachten. Soll all das mit „kindlicher Neugier“ abgetan werden? Kinder in den USA benehmen sich im Vergleich zu Deutschland viel früher wie Erwachsene. Und wenn die elterliche Führung fehlt, sind die Folgen leider um ein Vielfaches schlim-

VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Korruption,Titelgeschichte (S. 40), Prozesse, Jahrtausendwende, Kriminalität, Kredite, Liechtenstein: Ulrich Schwarz; für CDU, Titelgeschichte (S. 30), Justiz, Zeitgeschichte, Ostasien, Klima: Michael Schmidt-Klingenberg; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Titelgeschichte (S. 44), Internet, Trends, Geld, Europa (S. 116), Staatsfinanzen, Kartelle, Affären, Geldanlage, Stromkonzerne, Boulevard-Presse, Journalisten, Reality-TV: Gabor Steingart; für Panorama Ausland, Kaukasus, Georgien, Frankreich, Jugoslawien, Schweden, Europa (S. 212), Tschechien, Russland, Japan, Chronik: Hans Hoyng; für Titelgeschichte (S. 50, 56), Fernsehen, Fernsehspiel, Szene, Showbusiness, Kino, Städtebau, Stars, Autoren, Bestseller, Film, Schönheit: Dr. Mathias Schreiber; für Prisma, Medizin, Hochschulen, Tiere, Archäologie, Flugzeugkatastrophe: Johann Grolle; für Fußball, Schach: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel, Personalien, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: Herbert Schlemmer

Gisela Zittwitz d e r

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Jan Vieth Camp-Betreuer und Student

Ein Land, in dem man 21 sein muss, um ein Glas Bier zu trinken, aber schon viel früher in den Krieg ziehen oder zumindest eine Waffe besitzen darf. Und nicht zuletzt ein Land, das seine verklemmte Geilheit an den widerwärtigen Sexspielen seines Präsidenten auslebt, um sich danach mit der fast schon perversen Bestrafung angeblicher elfjähriger „Triebtäter“ die kollektive Absolution zu erteilen. Und mit diesem Land an der Spitze soll die Welt ins 21. Jahrhundert schreiten? Grausige Aussichten! Gödöllö (Ungarn)

Alexander Tatrai

Mal wieder ist alles schlecht in den USA. Wenn die Eltern des Kindes die US-Staatsbürgerschaft innehaben, bedeutet dies einen mehrjährigen Aufenthalt und somit die Kenntnis der Dinge, wie solche Strafsachen ablaufen können. Jeder, der sich in den USA auskennt, nimmt sich einen Anwalt und geht dann den Weg, den die Gesetze aufzeigen. Ist die Handhabung in Beschuldigter Raoul Deutschland oder in der EU besser? Wo zum Beispiel Kindergärtner, erst nachdem sie über 100 Kinder geschändet haben, vor Gericht gestellt werden. Seminole (Florida)

Wolfgang Boldt

Menschenverfolgung wegen gewaltfreier sexueller Beziehungen hat ihre Ursache in absurden christlichen Sexualanschauungen. Die Schande der US-Brachialjustiz gegen Kinder hat ebenso ihre religiöse Wurzel. Klagenfurt (Österreich)

Rolf Fuchs

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. In der Heftmitte dieser Ausgabe befindet sich in einer Teilauflage ein 12-seitiger Beihefter der Firma C&A, Düsseldorf. Einer Teilauflage ist eine Postkarte der Firma Handelsblatt/WiWo, Düsseldorf, und eine Postkarte des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Apple, Feldkirchen, Schöffel Sportkleidung, Schwabmünchen, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, und Teppich Kibek, Elmshorn, bei.

DPA

ACTION PRESS

Hamburg

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Deutschland

D. HOPPE / NETZHAUT

Panorama

STROMMARKT

Müller gegen „Penner-Prämie“ E

in neuer Streit steht der Bundesregierung bevor. Wirtschaftsminister Werner Müller und die SPD-Bundestagsfraktion können sich nicht über die Wettbewerbsregulierung auf dem Strommarkt einigen. Beim Energiegipfel mit ÖTV-Chef Herbert Mai und dem IG-Chemie-Vorsitzenden Hubertus Schmoldt, der diesen Montag im Kanzleramt stattfinden soll, droht jetzt ein Eklat. Minister Müller weigert sich bislang, ein langfristiges Förderkonzept für die umweltfreundliche KraftWärme-Koppelung (KWK) vorzulegen – die Energiepolitiker der SPD wollen nun den parteilosen Minister unter Druck setzen und einen eigenen Antrag ins Parlament einbringen.

Abschiebung im Frühjahr

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ie Innenminister von Bund und Ländern haben sich auf die massenhafte Abschiebung von Kosovo-Albanern geeinigt, wenn diese nicht freiwillig zurückkehren. Vom kommenden Frühjahr an soll mit der Rückführung begonnen werden. In einigen Bundesländern werden die anerkannten Kriegsflüchtlinge und die illegal eingereisten Kosovaren bereits zur Ausreise aufgefordert. Wer dann nicht innerhalb von vier Wochen freiwillig geht, dem wird die Abschiebung angedroht. Die soll allerdings nicht in den Wintermonaten geschehen. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat in einem Brief an seine Länder-Kollegen bereits festgestellt, „dass die Rückkehr von Kosovo-Albanern“ möglich sei. Mit „hoher Priorität“ suche sein Mi-

Die Abgeordneten möchten die vornehmlich von Stadtwerken betriebenen Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen vor den Auswirkungen des liberalisierten Strommarktes schützen.Wegen des Preis- Müller sturzes von über 30 Prozent seit 1997 droht den meisten der bundesweit über 4000 KWK-Anlagen das Aus. Die ÖTV rechnet mit dem Verlust von bis zu 40000 Arbeitsplätzen. KWK-Anlagen gelten als umweltfreundlich, derzeit liefern sie zehn Prozent des deutschen Stroms und vermeiden so jährlich die Emission von rund 34 Millionen Tonnen Kohlendioxid. „Im Wirtschaftsministerium wird die eigentliche Dimension des Problems nicht erkannt“, klagt SPD-Fraktionsvize Michael Müller. Bei einem Krisentreffen mit Gewerkschaftern und Parlamentariern im September war der Minister beauftragt worden, bis Ende Oktober drei Konzepte zum Erhalt der KWK durchrechnen zu lassen. Die Stadtwerker hofften auf Abnahmegarantien oder Bonuszulagen für den klimaschonend erzeugten Strom. Doch Müller nennt das Bonus-Modell eine „Penner-Prämie“ für Stadtwerke, die auf den Wettbewerb nicht vorbereitet seien.

nisterium nach Wegen, die „Möglichkeiten der zwangsweisen Rückkehr“ zu verbessern. Im April will der Bund seine Zahlungen von 500 Mark pro Monat und Flüchtling einstellen. Die so genannte Arbeitsgruppe Rückführung von Bund und Ländern hat jetzt den Auftrag, die Details der Abschiebungen zu klären.

B U N D E S TAG

Freie Rede

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DPA

FLÜCHTLINGE

Rückführung von Kosovo-Albanern d e r

J. H. DARCHINGER

Demonstration von Stadtwerke-Mitarbeitern (in Rheinhausen)

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it einer ungewöhnlichen Initiative will der FDP-Bundestagsabgeordnete Dirk Niebel, 36, für mehr Leben im Parlament sorgen: Er stellte den Antrag, dass in der letzten Sitzungswoche des Jahres alle Abgeordneten am Rednerpult auf Notizen, Stichwortzettel oder ausgearbeitete Vorlagen verzichten sollten. „Monotones Ablesen langweilt die Zuhörer“, begründet Niebel seinen Vorschlag, „eine frei gehaltene Rede ermöglicht Spontaneität und Flexibilität.“ Der von Niebel angeregte Gruppenantrag zur „Stärkung der Freien Rede im Deutschen Bundestag“ hat durchaus Chancen auf Verwirklichung: 40 Abgeordnete aus allen Parteien haben ihn unterzeichnet, darunter Angela Marquardt (PDS) und Wolfgang Zeitlmann (CSU). 17

Panorama U M W E LT

Falscher Müll? as Duale System Deutschland (DSD) – ausschließlich zur Verwertung des Verpackungsmülls eingerichtet – soll angeblich auch Gewerbemüll einsammeln und so seine Kosten künstlich hoch rechnen. Diesen Vorwurf erhebt der Ex-DSD-Sprecher und Bonner Umweltpublizist Gunnar Sohn. So würden Kunststoffabfälle von Baustellen oder Verwertung von Plastikabfall aus Handel und Gewerbe bei den Recyclingunternehmen illegal den Grüner-Punkt-Verpackungen gebenen Sammelmengen von 76 Kilogramm pro Jahr und Kopf „untergeschoben“. „Große Abfallmengen“ stammten somit der Bevölkerung zu erreichen, so rechnet DSD-Insider Sohn, nicht aus den Sammlungen mit dem gelben Sack, sondern aus müsse jeder Bundesbürger täglich „30 bis 40 Verpackungen“ in gesetzlich nicht vorgesehenen Quellen in der Industrie. Für jede die Grüne-Punkt-Sammlung geben, „eine utopische Zahl“. Tonne verarbeitetes Material beziehen die Kunststoffverwerter „Diese Vorwürfe treffen nicht zu“, sagt dagegen DSD-Sprechevom DSD durchschnittlich 2400 Mark, die als Kosten über die rin Petra Rob, „bei uns wird sauber abgerechnet, die StoffströLizenzabgabe den Verbraucher belasten. Um die offiziell ange- me werden von den Aufsichtsbehörden kontrolliert.“

Werbung in Dubai

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AP

ach dem Eklat um „Leopard“-Panzer für die Türkei droht der rot-grünen Koalition ein neuer Streit um Rüstungsexporte: Verteidigungsminister Ru-

dolf Scharping will nächste Woche die Türkei, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate besuchen. Denen hat die Berliner Regierung soeben 32 gebrauchte „Alpha Jet“-Kampf- und Schulflugzeuge bewilligt. Aber während Scharpings Visite wird bei der „Dubai Air-Show“, einer Luftfahrt- und Rüstungsmesse, auch der „Eurofighter“ vorgeführt. Das europäische Konsortium, an dem auch Deutschland beteiligt ist, möchte mindestens 24 der Kampfjets an die Emirate verkaufen. Saudi-Arabien ist weiter an „Leopard 2“Panzern interessiert und will „ErdErkundungssatelliten“ in Deutschland bestellen. Israel hat schon in Berlin protestiert, weil die zivilen Himmelsspäher auch israelisches Gebiet beobachten könnten und militärisch nutzbar seien.

„Eurofighter“

JUGENDLICHE

Neue Härte

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aden-Württemberg will konsequenter gegen jugendliche Serientäter vorgehen. Dazu treffen sich in den 37 Polizeidirektionen des Landes neuerdings regelmäßig Arbeitsgruppen mit Ermittlern, Jugendarbeitern und Vertretern der Ausländerämter. Sie sollen schnell entscheiden, was mit den rund 500 Serientäter im Land passieren soll. Den auffälligsten droht die Unterbringung in geschlossenen Heimen, bei Aus-

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ländern, die 45 Prozent der Problemfälle stellen, die Abschiebung. Schon bevor im Dezember erste Ergebnisse folgen sollen, hat Innenminister Thomas Schäuble (CDU) in der vergangenen Woche die neue harte Linie nach bayerischem Vorbild demonstriert. Münchner Behörden hatten im vergangenen Jahr den 14-jährigen „Mehmet“ ausgewiesen. Am Mittwoch wurde der in Deutschland geborene 14 Jahre alte Türke Mustafa D. aus Baden-Württemberg nach Ankara abgeschoben. Er saß wegen Diebstahls, räuberischer Erpressung und schwerer Körperverletzung ein. d e r

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ENTSCHÄDIGUNGEN

Zwei Milliarden drauf

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anzler Gerhard Schröder hat sich massiv in die stockenden Verhandlungen über die Entschädigung von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern eingeschaltet. Industrievertreter berichten, der Kanzler habe Hans-Olaf Henkel, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, vorgeschlagen, das derzeitige Angebot an die Opfer von sechs Milliarden auf acht Milliarden Mark zu erhöhen. Vor der deutsch-amerikanischen Verhandlungsrunde, die für den 16. November in Bonn vorgesehen ist und von Experten als letzte Chance angesehen wird, könnte laut Schröder die Regierung ihren Anteil von zwei auf drei Milliarden, die deutsche Industrie ihren von vier auf fünf Milliarden Mark aufstocken. Die Unternehmen haben allerdings die bislang zugesagten vier Milliarden noch längst nicht gesammelt.

S. SPIEGL

RÜSTUNGSEXPORT

A. BASTIAN

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Henkel, Schröder

Deutschland

„Transporte kommen“ Umweltminister Jürgen Trittin, 45, zum Streit um Atomtransporte und überfüllte interne Zwischenlager

registrieren die Fahnder zwischen 1996 und 1998 einen Anstieg von 410 auf 1072 Ermittlungsverfahren – immerhin eine Zunahme um 161 Prozent. An der Spitze liegt Hamburg mit 198 Verfahren, gefolgt von Berlin (193) und Nordrhein-Westfalen (176). Den letzten Platz teilen sich Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern mit jeweils 7 Verfahren. Schwerpunkt der Bestechung ist wie bereits in der Vergangenheit der Bereich der allgemeinen öffentlichen Verwaltung, vor allem im Zusammenhang mit Bauprojekten, aber auch Polizei und Justiz sind betroffen. Nach Feststellungen der Expertise wächst die Gefahr der Bestechlichkeit mit der „Dauer der Aufgabenwahrnehmung“. Mehr als 70 Prozent der Geschmierten waren länger als fünf Jahre auf ihrem Posten. Angesichts dieser Zahlen urteilt das BKA, „dass die Korruption in unseren Verwaltungen und Wirtschaftsbereichen einen festen Platz innehat“. DPA

SPIEGEL: Die Stromwirtschaft wirft Ihnen vor, dass Sie sechs Kernkraftwerke entgegen früheren Absprachen kalt abschalten wollen, indem Sie Genehmigungen für den Abtransport von Brennelementen verweigern. Scheitern die Konsensgespräche? Trittin: Das will ich nicht hoffen. Die Industrie hat uns selbst ein korrektes Verfahren bescheinigt. Wir haben den Unternehmen für jedes einzelne Kraftwerk Lösungen zum Weiterbetrieb ohne Transporte angeboten. Wenn beim Schaffen von Zwischenlösungen vor Ort Verzögerungen eintreten, dann liegt das auch daran, dass die Anträge zu spät gestellt wurden. SPIEGEL: Und nun? Trittin: Im September haben wir zusätzlich angeregt, an den Standorten Lagermöglichkeiten zur Überbrückung der Frist bis Trittin zur Fertigstellung der neuen Zwischenlager zu schaffen. Auch damit wäre der Weiterbetrieb ungeachtet fehlender Abtransportmöglichkeiten gesichert. SPIEGEL: Gibt es auf dieses Angebot eine definitive Reaktion der Betreiber? Trittin: Nein. Sie klagen weiter die Transporte ein. Dabei war immer klar: Wenn es

für einen Transport erstens ein berechtigtes Interesse gibt und er zweitens sicher durchgeführt werden kann, dann muss er genehmigt werden. Da gibt es keinen Ermessensspielraum. SPIEGEL: Ist die Sicherheit nicht gewährleistet? Trittin: Die Bundesanstalt für Materialprüfung prüft noch technische Probleme der Castorbehälter, die wir für lösbar halten. Zeitlich mehr Schwierigkeiten macht die Untersuchung der Transportbedingungen für die „Stachelbehälter“, die in die Wiederaufarbeitungsanlagen im Ausland fahren sollen. Wir rechnen damit, dass man in wenigen Wochen sagen kann, ob und wie es geht. So ist das vorgeschriebene Verfahren. SPIEGEL: Was passiert mit den deutschen Abfällen aus der Wiederaufarbeitung im Ausland, gegen deren Rücktransport die Anti-Atomkraft-Initiativen in Gorleben seit Monaten mobilisieren? Trittin: Es gibt keinen sachlichen, keinen politischen und keinen moralischen Grund, der dagegen spräche, das Material zurückzunehmen. Wir dürfen die von der vorherigen Regierung organisierte illegale Zwischenlagerung von deutschem Atommüll im Ausland nicht weiter tolerieren. Das sind wir als Grüne auch jenen Grünen in Frankreich schuldig, die dort dagegen klagen. Es wird in überschaubaren Zeiträumen zu Rücktransporten aus La Hague kommen. K.-B. KARWASZ

AT O M E N E R G I E

Bauarbeiten (am Frankfurter Flughafen) KORRUPTION

Fester Platz im Amt

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as Bundeskriminalamt (BKA) warnt vor einem alarmierenden Anstieg der Korruption in Deutschland. In dem jetzt vorgelegten Bericht d e r

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Panorama

Stolpes ganzer Stolz Der „kleine Trompeter“ war einst Erich Honeckers Lieblingslied. Das „lustige Rotgardistenblut“ gab sein Leben für die Revolution und wurde dafür von allen verehrt. Das Lied ist immer noch sehr beliebt, auf Ostalgiepartys im ganzen wilden Osten, vor allem aber im Land Brandenburg, das den Kosenamen „die kleine DDR“ trägt. Nicht zu Unrecht, denn rund um die Hauptstadt Potsdam hat man schon früher als woanders damit aufgehört, Abgeordnete auf mögliche Stasi-Verwicklungen zu überprüfen, es wurden ehemalige DDR-Kader in den Öffentlichen Dienst übernommen und der „IM Sekretär“ dreimal zum Ministerpräsidenten gewählt. Und Manfred Stolpe hat neulich, in klarer Einschätzung der politischen Wetterlage, erklärt, er habe „immer die Auffassung vertreten“, das Etikett „kleine DDR“ solle „stolz“ getragen werden. Darauf gab es einen kurzen Aufschrei der Entrüstung bei der CDU, der von Landeschef Jörg Schönbohm mit dem Diktum abgewürgt wurde, Stolpes Worte seien erstens „missverständlich“ und zweitens „mit Sicherheit nicht an die Christdemokraten, sondern an zwischen SPD und PDS wandernde Wähler“ gerichtet. Damit war der kleine Skandal in der kleinen DDR beendet. Ganz so wie früher, als das „Neue Deutschland“ seinen Lesern erklärte, wie die Worte des Vorsitzenden zu verstehen seien, je nachdem, in welche Richtung sie gesprochen wurden. Der kleine Trompeter ist lange tot, doch sein Ton macht immer noch die Musik in Brandenburg.

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BUNDESWEHR

Gesponserte Soldaten

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gesetzgeber“ die Aktion im Wehretat „nicht veranschlagt“. Gegen „massiven Widerstand“ (Scharping) der Beamten ließ der Minister die Anlage Ende September installieren – und die Soldaten ermuntern, bei jedem Gespräch für mildtätige Zwecke zu spenden. Seither kamen dank der Telefoniersucht der Truppe gut 50 000 Mark zusammen. Das Geld soll Angehörigen der bei Unfällen im Kosovo getöteten Kameraden zugute kommen sowie jenen Soldaten, die bei Minenexplosionen verwundet wurden.

it einer Betreuungsmaßnahme für Soldaten im Kosovo hat Verteidigungsminister Rudolf Scharping Freude in der Truppe ausgelöst – und Unmut im Bürokraten-Apparat seines Ressorts. Die Kfor-Soldaten in Prizren können neuerdings über eine Satellitenanlage gratis in die Heimat telefonieren – gesponsert von der Deutschen Telekom. Sie stellte die Anlage für ein Jahr kostenlos zur Verfügung. Die Bundeswehr musste nur für Transport und Bedienungspersonal sorgen. Die Aktion hatte Radsport-Fan Scharping schon im Juli bei der Tour de France mit Telekom-Chef Ron Sommer verabredet. Die Ministerialbürokratie versuchte zunächst, die neue Idee und das förmliche Angebot der Telekom abzublocken: „Sponsoring“ sei beim Militär „nicht üblich“, zudem habe der „Haushalts- Deutsche Soldaten in Prizren

B E R AT E R

Sprachkurs für Grüne

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er Frankfurter PR-Berater Walther Kraft soll den Politikern von Bündnis 90/Die Grünen dabei helfen, sich künftig verständlicher auszudrücken. Für die Bundestagsfraktion hat der ehemalige Sat-1-Marketingleiter das grüne Parteivokabular auf Klarheit und Überzeugungskraft überprüft – das Ergebnis

M. MALETZ / BMVG

Am Rande

Deutschland

war niederschmetternd: Wenn die Ökologiebewegten etwa „Nachhaltigkeit“ fordern, dann habe das schon deshalb keinen Nachhall, weil die Leute den Begriff nicht verstünden. Auch vor inflationärem Gebrauch des Wortes „Zukunft“ sollten sich die Grünen hüten. Nach jahrelanger Debatte über Ozonlöcher, Klimakollaps und Grenzen des Wachstums blicke das Wahlvolk beim Thema Zukunft nicht immer frohgemut, sondern eher sorgenvoll nach vorn.

Nachgefragt

Jünger in Rente Gewerkschaften verlangen die „Rente mit 60“. Um diese Forderung zu realisieren, müssten alle Arbeitnehmer einen Teil ihrer Lohnerhöhungen in einen Tariffonds einzahlen. Was halten Sie davon? Gesamt

18–24 Jahre

25–29 Jahre

30–44 Jahre

45–59 Jahre

60+ Jahre

bin dafür

62%

65%

61%

62%

73%

52 %

bin dagegen

26%

17%

30%

30%

19%

30 %

keine Meinung

12%

18%

9%

8%

8%

18 %

Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 2. und 3. November; rund 1000 Befragte;

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L. KUCHARZ

Parteifreunde Kiep, Kohl auf dem CDU-Parteitag 1985: Ein Typ, mit dem man „Pferde stehlen kann“

A F FÄ R E N

„Krummes Ding abgezogen“ Aus der Schmiergeldaffäre um einen Panzer-Deal mit Saudi-Arabien wird womöglich ein Parteispenden-Skandal. Der einstige CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep behauptet, nicht er, sondern seine Partei habe von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Million Mark kassiert.

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ie Gerichtsstraße im idyllischen Königstein im Taunus lag noch verlassen da. Nur ein eilig herbeigerufener Wachtmeister, eine Protokollführerin und die Haftrichterin Christine Rademacher waren am vergangenen Freitagmorgen schon vor sieben Uhr erschienen. Immerhin hatte ein Prominenter aus der Nachbarschaft angekündigt, sich stellen zu wollen. Tags zuvor, als der Haftbefehl gegen ihn vollstreckt werden sollte, aß der Beschuldigte gerade mit Siemens-Chef Heinrich von Pierer im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten zu Mittag. Anschließend reiste er zu einer Lesung aus seinem neuen Buch „Was bleibt, ist große Zuversicht“ zum Automobilclub nach Stuttgart – und war schon wieder weg, als dort am Donnerstag die Polizei erschien. Walther Leisler Kiep, 73, ist schwer zu fassen. 22

Als der einstige niedersächsische Finanzminister, der auch 21 Jahre die Kasse der Union hütete, gegen 12.15 Uhr durch den Hinterausgang des Königsteiner Gerichtsgebäudes verschwand, war die Justiz beruhigt. Dafür jagt ihn jetzt die CDU. Denn Kiep – wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung von der Staatsanwaltschaft Augsburg gesucht, weil er Schmiergelder aus einem Panzer-Deal mit Saudi-Arabien nicht angegeben haben soll – hatte in der fünfstündigen Vernehmung sein bisheriges Schweigen gebrochen. Die drohende Untersuchungshaft vor Augen, gab er dem Fall eine Wende, die womöglich den Beginn einer neuen ParteispendenAffäre bedeutet und die ins Herz der Christdemokraten zielt. Das Geld, eine Million Mark, erklärte der konservative Grandseigneur mit der Vorliebe für schwere Motorräder, sei nie für ihn, sondern für die CDU bestimmt ged e r

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wesen. Und sein Anwalt, der Kölner Steuerstrafrechtler Günter Kohlmann, assistiert: „Das war eine Spende für die CDU. Herr Kiep hat von dieser Million keinen Pfennig bekommen und musste deshalb auch nichts versteuern.“

Beschuldigte Pfahls, Schreiber: Millionen als

Deutschland

CP

AFP / DPA

F. STOCKMEIER / ARGUM

In der Essener Konzernzentrale von Die Verteidigungsstrategie Thyssen wurden Unterlagen beschlagihres ehemaligen Schatzmeisnahmt, wonach bei dem Geschäft mit eiters löste in der Union, die sich nem Auftragsvolumen von 446,4 Millionen gerade daran gewöhnt hatte, Mark „als Provisionen und nützliche Aufdie Pannen der rot-grünen Rewendungen“ – vulgo: Schmiergeld – insgegierung genüsslich auszukossamt 219,7 Millionen Mark geflossen sind; ten, helle Panik aus. CDU-Geallein Schreiber soll davon 24,4 Millionen neralsekretärin Angela Merkel Mark erhalten haben. Nach Überzeugung sprach von einem „bemerkensder Staatsanwaltschaft ist er einer der Mänwerten Vorgang“ und ganer, die für die Verteilung zuständig waren. rantierte „rückhaltlose Auf3,8 Millionen soll Pfahls von Schreiber klärung“. dafür bekommen haben, dass er den Deal Gleichzeitig räumte sie aber auf der Hardthöhe durchsetzte, 12,5 Milein, dass dies derzeit leider lionen sollen an die beiden Thyssen-Obenicht möglich sei. Das Geld sei ren zurückgeflossen sein. auf einem Treuhandkonto geUnd noch gegen drei weitere angebliche landet, da komme man nur Helfer wird ermittelt: gegen den Straußschwer an die Unterlagen ran. Auch der von Kiep benannte Vernommener Kiep: „Ich muss erst mal nach Amerika“ Sohn Max Josef, den früheren CSU-Wirtschaftstaatssekretär Erich Riedl und eben Zeuge, immer noch ein Geschäftspartner der Union, sei unerklärli- genen Fraktion den Kanzler eindringlich Kiep. Alle dementieren, als wirklich heiß galt keine dieser Spuren. cherweise nicht zu erreichen. Parteichef vor der Ernennung gewarnt. Mühelos schaffte der Ex-Politiker die Erst in der vorvergangenen Woche inWolfgang Schäuble habe schon seinen Vorgänger Helmut Kohl gefragt, aber auch der von der Haftrichterin festgelegte Kaution formierten die Augsburger Fahnder das von 500 000 Mark in bar herbei, um sich bayerische Justizministerium von dem geAltbundeskanzler wisse von nichts. Fehlende Unterlagen, Erinnerungslü- vorerst einen Gefängnisaufenthalt zu er- planten Haftbefehl gegen Kiep. Die Auscken, Schmiergeldübergabe im Koffer – die sparen. Alle drei Wochen hat Kiep sich jetzt wertung von Geldbewegungen auf einem Umstände der Panzer-Affäre erinnern fatal bei der Polizei zu melden, an den Flick-Skandal der achtziger Jahre. solange der Haftbefehl nur Damals hatte der Konzern flächendeckend außer Vollzug gesetzt ist. Politiker und Beamte großzügig mit Ba- Nach der Vernehmung fiel rem versorgt, um umstrittene Steuer- der rastlose Geldeinsammentscheidungen zu beeinflussen. Es scheint, ler in alte Verhaltensmuster als wiederhole sich ein düsteres Kapitel zurück: „Ich kann jetzt der Geschichte – das Ermittlungsverfah- nichts sagen, ich muss erst ren 502 Js 127135/95, das schon so gut wie mal nach Amerika.“ Die Zurückgebliebenen erledigt schien, hat plötzlich das Potenzial machen sich derweil auf die für eine Staatsaffäre. Die seit über vier Jahren laufenden Er- Suche nach der Wahrheit. mittlungen der Augsburger Staatsanwalt- Ein CDU-Vorständler war schaft hatten Kiep und seine zahlreichen im Urteil über den alten Freunde bisher einfach ignoriert. Der Pen- Parteikameraden schnell sionär ist immer noch viel beschäftigt. Er bei der Hand. Kiep habe sitzt im Beirat der Deutschen Bank und „ein krummes Ding abgesteht nicht nur der European Business zogen. Er lügt, dass sich die School, sondern auch dem deutsch-ameri- Balken biegen“. Ganz so einfach aber kanischen Eliteclub Atlantik-Brücke vor. Kanzler Gerhard Schröder zählt er zu wird die Union den lästiseinen Duzfreunden. Der Regierungschef gen Nestbeschmutzer wohl Panzer im Golfkrieg (1990): Hilferuf der Saudis hatte ihn gerade erst im Juli gebeten, sich nicht los. Im Mittelpunkt der Affäre steht der Schweizer Rubrik-Konto Schreibers, das in seinem Namen um die fragilen deutschtürkischen Beziehungen zu kümmern. Da- Kauferinger Geschäftsmann Karlheinz die Ermittler Kiep zuordnen, hat nach ihbei hatten führende Mitglieder seiner ei- Schreiber, 65, ein alter Kumpan des ver- rer Ansicht aus dem „seit längerem bestestorbenen Franz Josef Strauß. Schreiber henden Tatverdacht“ einen „dringenden soll 1991 im Zusammenhang mit dem Golf- Tatverdacht“ gemacht. Mit der Begrünkrieg die umstrittene Lieferung von 36 dung, Kiep habe ein Haus in Lenzerheide „Fuchs“-Panzern an Saudi-Arabien mit im schweizerischen Kanton Graubünden, Bargeld befördert haben, derzeit kämpft er wurde eine Fluchtgefahr bejaht. in Kanada gegen seine Auslieferung nach Bis dahin hatten die Indizien gegen ihn Deutschland. Zwei damals verantwortli- als ziemlich dünn gegolten: In einem bei che Manager des Fuchs-Herstellers Thys- Schreiber beschlagnahmten Kalender aus sen sind nur gegen Millionenkaution auf dem Jahr 1991 – das war das Jahr des Panfreiem Fuß. Der ehemalige Verteidigungs- zer-Deals – fanden sich zwölf Hinweise auf staatssekretär und Verfassungsschutzprä- Kiep: „Max wg. LK wie gehts weiter“, hieß sident Ludwig-Holger Pfahls wird von es etwa. Oder „LK 1 = 1 000 000 DM“. EiZielfahndern des Bundeskriminalamts nen weiteren von Schreiber offenbar für (BKA) gejagt, seit er im Juli in Hongkong die Tarnung von Geschäftspartnern gewie ein gewöhnlicher Krimineller unter- brauchten Codeschlüssel glauben die Fahntauchte. der geknackt zu haben: Statt des Kürzels „Provisionen und nützliche Ausgaben“ d e r

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Füchse für die Wüste Wie Staatssekretär Ludwig-Holger Pfahls Widerstände gegen das Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien aus dem Weg räumte.

„LK“ stand dann für den einstigen CDUFunktionär und Hobbyjäger der Name „Waldherr“. Aus allen Hinweisen folgert die Staatsanwaltschaft, Kiep habe 1991 eine Million von Schreiber erhalten und die bei seiner Steuererklärung nicht angegeben und so 529 000 Mark Steuern hinterzogen. Kiep, der die Vorwürfe „Unsinn“ nennt,

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ann ist ein Geschäft perfekt? Als Thyssen-Manager Jürgen Maßmann am 5. Januar 1991 nach Saudi-Arabien flog, um den Liefervertrag über 36 „Fuchs“-Panzer zu unterzeichnen, fingen seine Probleme erst richtig an. Der Fuchs-Panzer galt als Kriegswaffe und durfte deshalb nicht in Krisengebiete verkauft werden. Gegen die Lieferung nach Saudi-Arabien gab es denn auch ressortübergreifende Ablehnung in der Bundesregierung. Hinzu kam: Selbst bei Erteilung einer Exportgenehmigung war Thyssen gar nicht in der Lage, auf die Schnelle die bestellten 36 Panzer zu liefern. Bereits parallel zu den Verhandlungen in Riad hatte das Unternehmen versucht, die Widerstände im Wirtschafts- und Außenministerium aus dem Weg zu räumen – ohne Erfolg. Am 11. Januar 1991 beschrieb Maßmann in einer vertraulichen Notiz an den Kaufmann Karlheinz Schreiber präzise sein Problem. Um möglichst schnell liefern zu können, sei „im Wesentlichen Folgendes erforderlich“: Man benötige die „Genehmigung der Ausfuhr dieser Fahrzeuge“ und die „Zurverfügungstellung von Transportpanzern aus Bundeswehrbeständen“. In den folgenden Wochen lösten sich die Widerstände gegen das Geschäft in den Bonner Ministerien auf. Am 27. Februar genehmigte schließlich der Bundessicherheitsrat die Lieferung. Doch Thyssen mangelte es nach wie vor an Ware. Deshalb wandte sich Maßmann am 12. März 1991 schriftlich an Rüstungsstaatssekretär Ludwig-Holger Pfahls mit der Bitte, „uns aus Bundeswehrbeständen Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen“. Pfahls reagierte prompt. Noch am selben Tag genehmigte er den ThyssenWunsch und bat die Chefs der Rüstungsabteilung und des Heeresstabes im Verteidigungsministerium, „unverzüglichen Bericht über die eingeleiteten Maßnahmen“ zu erstatten. Die Militärs sperrten sich. Zwei Tage, nachdem er die Thyssen-Bitte durchgestellt hatte, gab die Heeresleitung in einem internen Vermerk ihre Linie vor: „Dieser Vorgehensweise bzgl. Spürpanzer nicht zustimmen.“ Für die Ablehnung gab es gute Gründe: Während

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Spürpanzer „Fuchs“: Die Bedenken der Heeresleitung einfach ignoriert

des Golfkriegs hatte die Bundeswehr 79 Spürpanzer an andere Nato-Staaten sowie drei weitere an Thyssen abgetreten, der Bestand war von 140 auf 58 Fahrzeuge geschrumpft. Damit sah die Armeeführung die „ABC-Abwehrfähigkeit des Heeres“ und die „Ausbildungsfähigkeit der ABC-Abwehrtruppe erheblich beeinträchtigt“. Bei den staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen erklärten ranghohe Militärs später, dass „die Heeresleitung darüber sehr verwundert war“, wie Pfahls diese Bedenken einfach ignorierte. In einer Sitzung der beteiligten Abteilungen am 20. März 1991, an der auch Thyssen-Vertreter teilnahmen, vermerkt das Protokoll: „Dr. Pfahls hat entschieden.“ Binnen 14 Tagen seien 36 Panzer Thyssen als Sachdarlehen zur Verfügung zu stellen. Zudem sollten saudische Soldaten an der ABC-Schule Sonthofen ausgebildet werden. Damit war das Geschäft perfekt. Pfahls’ Einlassung, dass dieses Vorgehen der „Wunsch des Kanzleramtes und maßgeblicher Kräfte im deutschen Bundestag“ sei, wurde nachträglich aus dem Ergebnisprotokoll gestrichen.

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beteuerte vor der Haftrichterin: „Ich bin unschuldig.“ Zur Untermauerung seiner Angaben hatte Kiep seinen früheren Vertrauten Horst Weyrauch und einen Vermerk seines Anwalts Kohlmann mitgebracht. Der Frankfurter Wirtschaftsprüfer Weyrauch galt in der CDU als Helmut Kohls Mann für größere und kleinere Krisen. Mit zweifelhaften Methoden und undurchsichtigen Geschäften sanierte er in den neunziger Jahren die klamme Union. Nicht er, verwies Ex-Schatzmeister Kiep auf die von Kohlmann verfasste Erklärung, sondern Finanzexperte Weyrauch habe damals das Geld von Schreiber in Empfang genommen. In dem Schriftstück heißt es: „Am 26. August 1991 begab sich Herr Horst Weyrauch auf Ersuchen des Bundesschatzmeisters (damals Kiep –Red.) zu einem Termin nach St. Margrethen.“ In dem Schweizer Bodensee-Ort habe Kiep seinen Mitarbeiter Weyrauch mit Schreiber bekannt gemacht: „Nach einigen erklärenden Worten wurde Herrn W. ein Behältnis übergeben, in dem angabegemäß DM 1 Mio. enthalten sein sollten.“ Geöffnet habe der Kohl-Vertraute Weyrauch den Koffer erst zu Hause in Frankfurt „und den Betrag in Geldscheinen vorgefunden“. Die Million floss fast ein halbes Jahr, nachdem Schreiber versucht hatte, Kiep und

Deutschland mann zum SPIEGEL, sei die Nachfolgerin Wiesheu oder CSU-Generalsekretär ThoKieps, Brigitte Baumeister, mit eingebun- mas Goppel als Spende zukommen ließ. Die Union wehrt sich verzweifelt, mit in den gewesen und habe ihm zugestimmt. Die Zahlungen seien „unter Einbehal- den Schmiergeldsumpf gezogen zu wertung der Lohn- und Kirchensteuer und ent- den. Die inzwischen ebenfalls ausgeschiesprechender Abführung an das zuständi- dene Schatzmeisterin Baumeister widerge Finanzamt“ erfolgt. Danach sei „das sprach der Darstellung von Kieps Anwalt. Treuhänder-Anderkonto restabgewickelt Sie sagte dem SPIEGEL, ihr sei „weder zu Beginn meiner Amtszeit und geschlossen“ worden. Weynoch danach bekannt geworden, rauch und Lüthje waren bis Freitag vergangener Woche nicht für Den Geldkoffer dass leitende Mitarbeiter des zu Hause Konrad-Adenauer-Hauses Geleine Stellungnahme erreichbar. geöffnet und der irgendwelcher Art außerVor der Haftrichterin bezeugte Weyrauch jedoch Kieps Dar- den Betrag von halb ihrer vertraglich vereinstellung, man versprach zudem, einer Million in barten Gehaltszahlung erhalhätten. Belege für diese Version beizuGeldscheinen ten“ Der Haftbefehl gegen Kiep bringen. Gegen Kiep habe sich vorgefunden ließ Ende der vergangenen Wo„der Verdacht fast verflüchtigt“, che in Berlin die politische Deresümierte daraufhin der Königsteiner Amtsgerichtsdirektor Axel Rohr- batte, ob nicht ein Untersuchungsausbeck nach der Vernehmung. Der Betrag sei schuss die Vorgänge aufklären müsse, wiewohl nie „ins Vermögen oder auch nur in der aufleben. Die Grünen sind bereits den Besitz von Herrn Kiep gelangt“. Der entschlossen, das parlamentarische KonHaftbefehl sei nur deshalb noch nicht auf- trollgremium einzusetzen – nur der Kogehoben worden, weil die Angaben der alitionspartner zögert noch. An diesem Montag will der von der SPD mit einer beiden noch überprüft werden müssten. Mit dieser Wendung ist Kiep womöglich Prüfung beauftragte Bundestagsabgeordaus dem Schneider, für seine Partei aber nete Frank Hofmann den Fraktionsspitzen beginnen die Probleme. Bisher galt als aus- die Ergebnisse seiner bisherigen Ermittgemacht, dass Schreiber allein ein Problem lungen vorlegen. Es geht nämlich nicht nur um Schreiber. der bayerischen CSU sei. Die Bayern-Ikone Franz Josef Strauß steht im Verdacht, Auch beim Verkauf des ostdeutschen Mimit ihm dunkle Geschäfte gemacht zu ha- nol-Tankstellennetzes und der Raffinerie ben. Immer mal wieder tauchten fünfstel- Leuna an den französischen Mineralöllige Beträge auf, die Schreiber CSU-Politi- konzern Elf Aquitaine sollen politische kern wie dem Wirtschaftsminister Otto Entscheidungen durch Geldzahlungen beeinflusst worden sein. Nach Überzeugung von Schweizer Ermittlern flossen rund 100 Millionen Mark Schmiergeld und Provisionen. Auch hier sollen Kiep und der flüchtige Pfahls eine undurchsichtige Vermittlerrolle gespielt haben. So viel ist sicher: Kiep wandte sich mehrfach an das damals noch CDU-geführte Kanzleramt. Die Vorgänge der vergangenen Woche bringen aber auch den SPD-Kanzler Schröder in die Bredouille. Von einem Sonderauftrag für Kiep in Sachen Türkei will die Regierung schon nichts mehr wissen. Der CDU-Mann habe lediglich den Status eines „Experten“, auf dessen „Know-how man von Fall zu Fall zurückgreife“. So viel Distanz ist neu: Noch im September adelte Schröder seinen Kiep, den er aus gemeinsamen Tagen im VW-Aufsichtsrat kennt. Der Kanzler hielt bei dessen Buchvorstellung eine überschwängliche Laudatio auf Werk und Autor: Der „liebe Walther“ sei ein „deutscher Patriot im besten Sinne“, ein Typ, mit dem man „Pferde stehlen kann“. H. HAGEMEYER / TRANSPARENT

S. SCHULZ / RETRO

seine exzellenten Verbindungen zu Kohl für das Panzer-Geschäft einzuspannen. Das belegt ein Brief Schreibers („Via Telefax Vertraulich“) vom 20. Februar 1991 an Kiep. Zu diesem Zeitpunkt drohte der Panzer-Deal Richtung Nahost im Bundessicherheitsrat zu scheitern. Nur die Hälfte der Fahrzeuge, diejenigen, die als Ambulanzen oder zum Aufspüren von ABC-Kampfmitteln ausgerüstet waren, sollten nach dem Willen des Auswärtigen Amts freigegeben werden. Vorgeblich „in großer Sorge um die Auswirkungen jüngster deutscher Außenpolitik“ wandte sich Schreiber deshalb per Fax an Kiep. Bei einem „Zusammentreffen mit einem Mitglied des saudi-arabischen Königshauses“ habe er erfahren, wie sehr die Monarchen „durch die Verhaltensweise der Bundesregierung verletzt sind“. Die Genehmigung zur Ausfuhr der Panzer müsse im Bundessicherheitsrat dringend erteilt werden: Daher „bitte ich Sie eindringlich, im Interesse unseres Landes den Herrn Bundeskanzler über diese Vorgänge zu informieren“. Schreiber bat noch, Helmut Kohl eine „freundliche Empfehlung“ auszurichten, den Parteipatriarchen habe er kürzlich in Kanada gesehen. Tatsächlich wurde eine Woche später, am 27. Februar, doch die Genehmigung zur Ausfuhr aller 36 Panzer erteilt. Wie es zu dem Wandel kam, ist bis heute unklar (siehe Kasten). In den Rechenschaftsberichten der Union taucht die Schreiber-Million nicht auf – und das liegt an einer ziemlich zwielichtigen Konstruktion. Nach der Darstellung in dem Vermerk zahlte Weyrauch das Geld „umgehend auf ein Treuhänder-Anderkonto zu Gunsten der CDU“ ein. Dort sei es als Festgeld anlegt geblieben, bis die Union Anfang 1992 über eine Trennung von ihrem Schatzmeister diskutierte. Kiep war nach jahrelangen Gerichtsverfahren im Mai 1991 wegen „fortgesetzter Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ im Zusammenhang mit der Flick-Affäre zu 675000 Mark Geldstrafe verurteilt und deshalb nach Ansicht vieler Parteifreunde untragbar geworden. Als der Bundesgerichtshof im Oktober 1992 die Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf aufhob, war ein Wechsel auf dem Sessel des CDUKassenwarts schon beschlossene Sache. Kiep, heißt es in dem Vermerk weiter, hatte sich da schon entschieden, das Schreiber-Geld als „Gratifikation/Sondervergütung“ an zwei alte Weggefährten zu verteilen.Weyrauch und auch Kieps langjähriger Generalbevollmächtigter Uwe Lüthje, der mit ihm im Flick-Prozess auf der Anklagebank gesessen hatte, hätten etwas abbekommen. In dieses Vorgehen, so Kohl-

Zeuge Weyrauch: Gratifikation für Weggefährten d e r

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Markus Dettmer, Wolfgang Krach, Georg Mascolo, Dietmar Pieper

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Deutschland

CDU

Angst vor der Macht Die Krise der Regierung wird auch für die Opposition zum Problem. Muss die Union früher als geplant mitregieren?

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M. AUGUST

B

CDU-Politiker Rühe, CDU-Chef Schäuble, Kollegen*: Was tun, wenn Schröder der Union ein

Kanzler. Das ist das Einzige, worauf sich „Das wäre besser, als drei mühsame JahGerhard Schröder bei uns verlassen kann.“ re Papiere für die Schublade zu schreiben Was also, wenn Schröder den ungelieb- und zu hoffen, dass die Regierung weiter ten kleinen Partner vor die Tür setzt und murkst“, sagt ein CDU-Landeschef. Auch stattdessen der Union ein Angebot zum in der Großen Koalition von 1966 habe der Mitregieren macht? Schon antichambrieren kleinere Partner, damals die SPD, bei der Sozialdemokraten der zweiten und dritten folgenden Wahl profitiert, erinnert er sich. Reihe bei ihren Unionskollegen: „Wir haSo könnte 2002 auch die CDU wieder ben die Schnauze von den Grünen voll. den Kanzler stellen, geht diese Rechnung Eigentlich würden wir ja lieber mit euch.“ – auch wenn noch nicht klar ist, wer dann Die Unionsspitze weist solche Planspie- der Kandidat sein soll. Derzeit gilt in der le zwar offiziell weit von sich. „Es wird Parteispitze Schäuble als Favorit, Volker keine Große Koalition mit der CDU ge- Rühes Anhängerschaft in Berlin ist gering, ben“, erklärt der Parteivorstand unisono. seit er sich völlig auf den schleswig-holLieber wäre es Schäuble, die Koalition ver- steinischen Wahlkampf konzentriert. schlisse sich weiter in der Regierung. Doch Die Wirtschaftsprognosen legen Eile intern gilt als fraglich, ob sich die Konser- nahe, bald in einer SPD-geführten Regievativen dem Druck der Öffentlichkeit und rung mitzumachen. Sinkende Arbeitsloder eigenen konsensversessenen Klientel senzahlen und ein steigendes Wirtschaftsentziehen könnten, wenn Schröder ihnen wachstum im nächsten Jahr könnten Rotdie Hand reicht. Grün wieder Auftrieb geben, während der Hinzu kommt, dass sich viele CDU-Ab- CDU nach der Landtagswahl in NRW im geordnete ohnehin zu einer Art Großer Ko- Mai eine mehr als zweijährige Durstalition über den Bundesrat gedrängt sehen. strecke bevorsteht. „In Zukunft wird es Dann schon lieber richtig. Denn anders als für die Union schwieriger“, räumt selbst in einer informellen Großen Koalition könn- Schäuble ein. te sich die Union in einem formalen Zweckbündnis CSU-Chef Stoiber*: Mit dem Vizekanzler-Posten locken auf Zeit als Retter in der Not präsentieren, über Minister- und Staatssekretärsposten Nachwuchspersonal aufbauen und bei der Wahl 2002 selbst vom Amtsbonus profitieren. * Oben: Parlamentarischer Geschäftsführer Hans-Peter Repnik, Helmut Kohl; unten: im BMWWerk Spartanburg (South Carolina) im Oktober.

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N. PIERCE

eim CSU-Sozialexperten Horst Seehofer reichte es nicht einmal mehr zur Schadenfreude. „So etwas habe ich in 19 Jahren noch nicht erlebt“, meinte der ehemalige Gesundheitsminister kopfschüttelnd. Zwar hatte die rot-grüne Regierung ihre Gesundheitsreform durch den Bundestag gebracht, doch die Abstimmung geriet zu einem neuen Debakel für die Koalition. Sie musste verschoben werden, weil der Gesundheitsausschuss verschlampt hatte, die Gesetzesvorlage auf den aktuellen Stand zu bringen. Dass sich am Ende die Regierung mit 325 gegen 241 Stimmen durchsetzte, konnte den wieder einmal bestätigten Eindruck nicht mehr entkräften: Die können es einfach nicht. Doch die Opposition trumpft keineswegs siegesgewiss auf. Ihr wird das Versagen der Regierenden langsam unheimlich. Zwar sagt Fraktionschef Wolfgang Schäuble mannhaft: „Wenn die Regierung ihren Auftrag nicht erfüllen kann, dann muss sie das sagen und ihr Mandat an den Auftraggeber zurückgeben.“ Aber was, wenn die das wirklich täte? Mindestens vier, wahrscheinlich aber eher acht Jahre, so das Kalkül der Unionsstrategen nach der verlorenen Bundestagswahl, hätten sie Zeit für eine Erneuerung ihrer verschlissenen Regierungspartei. Doch nun häufen sich die Anzeichen des Koalitionszerfalls, und weitere Konflikte sind voraussehbar. Neue Entscheidungen über Waffenlieferungen stehen an, die Türkei möchte ein deutsches Atomkraftwerk kaufen, und Innenminister Otto Schily rührt am Recht auf Asyl. Und nach stabilisierenden Wahlerfolgen für Rot-Grün in Schleswig-Holstein (Februar 2000) und Nordrhein-Westfalen (Mai 2000) sieht es derzeit nicht aus. Schneller, als ihr lieb ist, droht der Union also die Frage: Was tun, wenn die Koalition platzt? Dass es dann Neuwahlen geben könnte, wie die CDU-Spitze fordert, glaubt die im Ernst selbst nicht. Grüne und SPD würden das, als voraussagbare Verlierer, auf keinen Fall mitmachen. Für ein konstruktives Misstrauensvotum, die einzige Möglichkeit der Opposition, den Kanzler zu stürzen, fehlt der CDU/ CSU-Fraktion die Mehrheit. Sie müsste sich erst mal mit FDP und PDS auf einen Kanzlerkandidaten einigen. PDS-Fraktionschef Gregor Gysi schließt das aus: „Wir wählen Herrn Schäuble nicht zum

M. URBAN

Angebot zum Mitregieren macht?

Schon werden trotz Ermahnungen der Parteispitze denkbare Varianten durchgespielt und Posten verteilt, natürlich „rein hypothetisch“. Nur wenn Schröder das Feld für einen anderen Kanzler räume, sei der Einstieg als Juniorpartner in eine Große Koalition möglich, meinen viele. Am liebsten wäre der Union der bedächtige Rheinland-Pfälzer Rudolf Scharping. Mit dem können viele CDU-Abgeordnete verlässlich zusammenarbeiten, gleichzeitig wäre der an Charisma arme Langsamsprecher ein ungefährlicherer Gegner bei der nächsten Bundestagswahl. Ein Vorstandsmitglied ist da weniger wählerisch: Selbst bei einem Kanzler Schröder sei ein Nein zum Mitregieren kaum vermittelbar. „Wenn Schröder morgen anruft, sind wir übermorgen dabei.“ Als unwahrscheinlich gilt aber, dass Schäuble sich in die Kabinettsdisziplin eines SPD-Kanzlers einbinden lässt. Lieber würde er nach Einschätzung von Parteifreunden als CDU- und Fraktionschef die Fäden in der Hand behalten. Das größte Hindernis für eine Große Koalition ist die CSU, die fürchten müsste, zwischen den großen Volksparteien zum bedeutungslosen Fortsatz zu verkommen. Letztlich ist aber auch das eine Frage des Preises. Die CDU könnte Stoiber zum Beispiel mit dem Posten des Vizekanzlers zum Mitmachen bringen. Dabei sollte nach den Plänen von Schäuble und CDU-Generalsekretärin Angela Merkel die Oppositionsarbeit gerade erst richtig beginnen. Denn die Wahlerfolge, darüber macht sich in der Union kaum jemand Illusionen, beruhen nicht etwa auf der eigenen Stärke, sondern sind der d e r

Schwäche des Gegners zu verdanken. Gesiegt hat die Union mit einer Vermeidungsstrategie: Alternativen zur Regierungspolitik legte sie nicht vor. Das sollte jetzt anders werden. In einem „geordneten Verfahren“, so die Vorstellung Merkels, müsse die CDU überholte Positionen räumen und zeitgemäße Konzepte erarbeiten. Familie, Bildung, Soziales – die Reihenfolge wurde auf dem Erfurter Parteitag im April festgelegt. Doch die Dauerkrise der Regierung bringt sie gründlich durcheinander. Schon mehren sich intern die Stimmen, bereits im nächsten Jahr und nicht erst Ende 2001 ein neues Sozialstaatskonzept vorzulegen. Was in den vergangenen Monaten durch die Siegesserie der Union und den Dauerzwist in der Regierungskoalition verdeckt wurde, rückt nun wieder in den Blick: Auch in der Union stehen Modernisierer gegen Traditionalisten. Ob über den richtigen Umgang mit der PDS oder die Definition des Begriffs Familie, ob über die beste Strategie für den Bundesrat oder die Rentenreform: Sobald es konkret wird, streiten die Konservativen nicht weniger heftig als die Sozialdemokraten. Weit entfernt ist die Union von einem schlüssigen, parteiweit akzeptierten Konzept auch in zentralen Fragen wie Rente und Soziales. Vom Karenzmonat beim Arbeitslosengeld über die Einführung einer Selbstbeteiligung bei Arztbesuchen bis zum einkommensunabhängigen Familiengeld reicht die Palette der Reformvorschläge, mit denen sich die Union in einem Moment ins neoliberale Lager schlägt, sich im nächsten Augenblick aber sozialdemokratischer als die SPD präsentiert. Fast einen ganzen Tag lang ließen sich vergangene Woche deshalb die Mitglieder der CDU-Kommission „Sozialstaat 21“ von Experten über Konzepte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Sanierung des Sozialstaats aufklären. Sie bekamen wenig Erfreuliches zu hören. In Sachen Rente, kritisierte der Wirtschaftsprofessor Ulrich van Suntum, sei die Union auf einem „verhängnisvollen Weg“. Merkels Vorschlag, einen Rentenbonus für kinderreiche Familien einzuführen, ziele genau in die falsche Richtung: Noch mehr Menschen hätten Ansprüche an die Rentenkasse, ohne Beiträge zu zahlen, was das System für alle anderen immer teurer mache. Was von der Behauptung Schäubles, die Union habe die besseren Konzepte, zu halten ist, stellte Wolfgang Peiner, Schatzmeister der Konrad-Adenauer-Stiftung, klar. Das letzte schlüssige CDU-Konzept zur sozialen Marktwirtschaft sei von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard erarbeitet worden. Und das war bekanntlich vor mehr als 50 Jahren. Susanne Fischer,

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Tina Hildebrandt 4 5 / 1 9 9 9

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Titel

Planetarische Visionen Zehn Jahre nach dem Mauerfall verbreitet sich wieder die Furcht vor deutscher Macht in ganz Europa. Bundeskanzler Schröder pocht auf die Größe des vereinten Landes. Doch Weltmacht will und kann Deutschland nicht sein.

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lötzlich ist die niedrige, rot-weiß lackierte Schranke weg. Es ist 23.20 Uhr. Wie erstarrt steht die Frau im lila Mantel am 9. November 1989 auf dem Asphalt am Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin. Zwei Schritte hat sie sich vorgewagt – nun ist sie fast schon in einer anderen Welt, im Westen. Verwirrt tastet sie nach ihrer Handtasche. Vor ihr liegt die offene Grenze. Hinter ihr drängen ihre Ost-Berliner Mitbürger. Und dann ist kein Halten mehr. Die Frau rennt los, ein Mann im dunklen Mantel reißt sie mit, 30

zwei junge Leute in Jeans und Turnschuhen stürmen an ihr vorbei. Hunderte folgen, tausende. Das Ende der DDR hat begonnen. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen sind diese Bilder fest verankert: Menschen, die sich am Grenzübergang umarmen, auf Trabis trommeln, auf der Mauer tanzen und „Wahnsinn“ rufen, immer wieder: „Wahnsinn“; der Bürgermeister mit dem roten Schal, der verkündet, dass „die Deutschen das glücklichste Volk“ sind; die Nationalhymne im Bonner Parlament. Eine Stadt, ein Land, ein Kontinent im Taumel der d e r

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Veränderung. 44 Jahre nach dem Ende des von Adolf Hitler entfesselten Weltkriegs, 28 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer ist die eingefrorene Weltordnung des Kalten Kriegs in einer einzigen Nacht aufgebrochen. So viel Bewegung war lange nicht in dem Land, das den Status quo der Teilung für ewig als Strafe der Geschichte verinnerlicht zu haben schien. Jetzt tanzten die Verhältnisse. Doch deutsche Bewegung macht Angst. Die europäischen Nachbarn waren alarmiert. Machten sich die Teutonen wieder einmal auf den Marsch zur Vorherrschaft in Europa?

gehört, konzentrierten sich die West-Politiker von Anbeginn darauf, den irrationalen Aufbruch im Osten unter Kontrolle zu bringen. Sie folgten damit den Wünschen des Volkes – im Osten wie im Westen. Denn wie an ein Rettungsfloß klammerten sich die Menschen, über die das größte Experiment in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands hereinbrach, an die Parole, mit der schon Konrad Adenauer in den fünfziger Jahren Mehrheiten hinter sich versammelt hatte: „Keine Experimente“, wenigstens keine zusätzlichen.

FOTOS: C. BACH / BACH & PARTNER ( li.); SPIEGEL TV ( re.)

Aber die satten Deutschen hatten selbst viel zu viel zu verlieren. Und so taten sie alles – angeführt vom beharrlich konventionellen Kanzler Helmut Kohl –, um die radikale Wende ohne ernsthafte Erschütterungen in bewährte Bahnen zu lenken. Gemessen an den Ungewissheiten von damals, verglichen mit den Befürchtungen und Hoffnungen der stürmischen Tage des Übergangs nennt der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash die vergangene Dekade „eine große Erfolgsstory“. Zehn Jahre ist es erst her. Und schon wirken die Szenen, die das Fernsehen zum

AFP / DPA

Blick vom künftigen Kanzleramt auf den Reichstag, Grenzöffnung an der Bornholmer Straße (1989): So viel Bewegung war lange nicht

Deutsche Panzer auf dem Balkan (1999)

Ein Rest von Misstrauen bleibt

Jubiläum des Mauerfalls zeigt, wie eine Fiktion. Zu schön, um wahr gewesen zu sein. Gefilmte Erinnerung an eine ferne, glückliche Nacht, längst TV-Konserve. Waren wir das wirklich? Wollen wir das überhaupt gewesen sein? Der innere Widerspruch des historischen Augenblicks war schon damals zu spüren. So echt wie die Freude war auch die Furcht der Menschen vor drohender Veränderung. Kalkweiß wurde Johannes Rau, als er am Abend des 9. November im Foyer des Leipziger Hotels Merkur vom damaligen WDRIntendanten Friedrich Nowottny erfuhr: „Die Mauer ist auf!“ Angespannt und verwirrt stand Helmut Kohl neben Willy Brandt am Tag darauf vor dem Schöneberger Rathaus. Ihn traf die historische Chance seines Lebens genauso unvorbereitet wie den Rest der Republik. Dass sich im Osten bedeutsame, womöglich chaotische Entwicklungen anzubahnen begannen, erfüllte ihn eher mit Besorgnis als mit Genugtuung. „Wahnsinn“ wurde zum Wort des Jahres. Und weil der bekanntlich gefährlich ist und in die geschlossene Abteilung d e r

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Zehn Jahre später ist nichts mehr, wie es war. In Berlin treffen sich die einstigen politischen Erzfeinde Peter Gauweiler (CSU) und Klaus Bölling (SPD), um gemeinsam Ex-Bundeskanzler Kohl im früheren Arbeitszimmer von Margot Honecker zu interviewen, in dem „der Alte“ jetzt residiert. In Erich Honeckers ehemaligem Amtssitz, dem DDR-Staatsratsgebäude, führt Kohls Nachfolger Gerhard Schröder die Regierungsgeschäfte. Gewissheiten gelten nicht mehr. Mit der Deutschen Demokratischen Republik ist auch die alte Bundesrepublik verschwunden. Der Staat, der aus seiner neuen alten Hauptstadt regiert wird, heißt bei seinen Bürgern schlicht „Deutschland“. Und doch wollen die Deutschen das Neue noch immer nicht so recht beginnen lassen. Das vereinte Land verharrt im Übergang. „Von politischer Aufbruchstimmung“, konstatiert der Molekularmediziner und ehemalige Bürgerrechtler Jens Reich, „fehlt heute jede Spur.“ Stattdessen habe sich ein stagnierender Konservativismus 31

Titel breit gemacht. Die Gesellschaft ist erstarrt in der Furcht vor dem Verlust ihrer Geborgenheit. Normalität, hatte der jüngst gestorbene Publizist Johannes Gross 1995 in seinem Buch „Begründung der Berliner Republik“ prophezeit, werde künftig vor allem „Normalität der Instabilität“ bedeuten. Eine bittere Erkenntnis besonders für die Westdeutschen, die seit dem rasant gelungenen Wiederaufbau der fünfziger und sechziger Jahre auf einer Insel der Stabilität lebten.

Die Avantgarde in Ost und West verweigerte sich der Realität Eine Heimat, so Gross, „aus der vertrieben zu werden überaus schmerzlich ist“. Nur zu gern hatten deshalb die Deutschen in Ost und West an die „blühenden Landschaften“ geglaubt, die ihnen Kohl in Aussicht stellte. Es würde auch nichts kosten, behauptete er – und gewann Wahlen und den Titel „Kanzler der Einheit“. Die geistigen Beweger der beiden deutschen Teilstaaten, die Bürgerrechtler im Osten ebenso wie die Intellektuellen im Westen, von der Gruppe 47 bis hin zu den 68ern, verweigerten sich im November 1989 der Realität. Das vorwärts drängende Volk war der Avantgarde unheimlich. Viele gingen auf Distanz, einige, wie Günter Grass, verschanzten sich hinter dem Argument, „nach Auschwitz“ dürfe es keine deutsche Einheit geben. In einem Punkt aber waren sich die Wähler-Mehrheiten in Ost und West von Anfang an einig: Die Westdeutschen wollten, dass bei allem Umbruch möglichst viel so bleibt, wie es ist, die Ostdeutschen wünschten, dass es endlich so werde, wie es 40 Jahre lang im Westen war. Als Garant dafür galt Helmut Kohl, der noch zweimal – 1990 und 1994 – wiedergewählt wurde. Und auch Gerhard Schröder gewann 1998, weil er „nicht alles anders, aber vieles besser“ zu machen

Im Aufbruch

versprach. Die Deutschen wollten ein neues Gesicht, aber keine andere Politik. Wie unter einem Brennglas lässt sich dieses Beharrungsvermögen in Berlin betrachten. Ausgerechnet in der Hauptstadt, die weltweit als Symbol des Aufbruchs gilt, wird der zäheste Verteidigungskampf gegen die neue Zeit geführt. „In Berlin müsste eine Koalition aus CDU und PDS regieren“, meint Jens Reich mit Blick auf die jüngste Landtagswahl, bei der die CDU im Westen und die PDS im Osten der Stadt stärkste Parteien wurden. Doch wie im kältesten Kalten Krieg stehen sich die Zehlendorfer CDU und die Hellersdorfer PDS unversöhnlich gegenüber. Sie würden eher ein neues Passierscheinabkommen vereinbaren als eine Koalition. Berlin, klagt die Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing, leide an „der Krankheit Wirklichkeitsverweigerung“. Das ist ein unheilvolles deutsches Schlüsselwort. Zweihundert Jahre lang haben die Deutschen, als verspätete Nation, Europa und die Welt beunruhigt, bedroht und verheert. Immer wähnten sie sich entweder zu groß oder zu klein. Die Nachbarn, klagte Winston Churchill, hätten die Germans entweder an der Kehle oder zu Füßen. Nach 1945 waren sie doppelt klein. Ein Symbol der deutschen Zweisamkeit konnten Staatsbesucher vor dem Bonner Kanzleramt besichtigen: eine in die Höhe strebende große Bronze-Skulptur aus zwei Teilen, selbstgenügsam und wie von innen erleuchtet – „Two large Forms“ von Henry Moore. Das Kunstwerk konnte fast mit dem rostfarbenen Stelzenbau aus dem architektonischen Geist der siebziger Jahre versöhnen, in dem der Kanzler arbeitete und empfing. Brandt ließ ihn so errichten, Helmut Schmidt, der Erstbezieher, sprach ihm den Reiz einer rheinischen Sparkasse zu. Für die Staats- und Regierungschefs aus London, Paris oder Washington, die imperiale Größe und Schönheit gewöhnt waren, mochte die Arbeitsstätte des deutschen Bundeskanzlers ein ästhetischer Graus sein – politisch gesehen war so viel Kargheit immer auch eine Genugtuung. Das neue Kanzleramt am Spreebogen in Berlin besitzt acht Stockwerke und ist

36 Meter hoch. Massige Säulen umrahmen im Innern das gläserne Portal, viel Glas soll dem Würfel aus hellem Sandstein mit einem ganz leichten Rosaschimmer die Wucht nehmen, als hätte da jemand ein schlechtes Gewissen wegen so viel Größe. Aus seinem Büro hat der Kanzler freien Blick auf die Skyline der hochschießenden Hauptstadt; der Reichstag, der nur unwesentlich höher aufragt, wirkt im Fenster wie eingerahmt. Die Architektur ist groß, teuer und zeugt von ziemlich viel Mut. Den anreisenden Staatsgästen aber wird gar nichts anderes übrig bleiben, als darin einen ungemütlichen Hang zum Monumentalen zu entdecken, ein beredtes Zeichen vom Ende der Bescheidenheit.

Deutschland und Europa seit dem Mauerfall

9. November Die Mauer fällt:

Die DDR-Führung öffnet die Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin.

12. April Lothar de Maizière wird

DDR-Ministerpräsident.

13. November Hans Modrow wird

DDR-Ministerpräsident.

AP

28. November Bundeskanzler Helmut

Kohl legt ein Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vor.

1990 18. März Aus den ersten freien Volkskammerwahlen der DDR geht die CDU-geführte „Allianz für Deutschland“ als Siegerin hervor.

1989

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Deutsche Soldaten beim Nato-Einsatz im Kosovo:

Öffnung der Berliner Mauer

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21. Juni Bundestag und Volkskammer verabschieden den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR.

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1. Juli Der Vertrag, der den

Ostdeutschen die D-Mark bringt, tritt in Kraft. 23. August Die Volkskammer

beschließt den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. 12. September Mit der Unter-

zeichnung des Zwei-plusVier-Vertrages in Moskau erhält das vereinigte Deutschland die volle Souveränität.

M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV

Eine bestimmende Weltkraft in durchaus positivem Sinn?

gewicht zur amerikanischen Hegemonie zu schaffen“, worauf man im Stab des russischen Duma-Vorstehers Gennadij Selesnjow zu hoffen scheint? Bauen die wieder vereinigten Deutschen womöglich ein „Viertes Reich“, was 1989 gerade bei westlichen Nachbarn eine weit verbreitete Befürchtung war? Die „deutsche Bedrohung“ erneut zu entdecken, wie das die Pariser Germanistin Yvonne Bollmann getan hat, belebt derzeit die Umsätze französischer Buchhändler und britischer Zeitungshäuser. Da spekuliert Philippe Delmas,Vorstandsmitglied bei Airbus und Intimus des einstigen Außenministers Roland Dumas, auf 205 Seiten über den „nächsten Krieg mit Deutschland“.

Also doch: Großmachtgelüste. Wollen sich nun, zehn Jahre nach dem Mauerfall, die Deutschen nicht länger zurückhalten? Drängt es sie endlich zu zeigen, dass sie wieder wer sind? Zum Beispiel, wie der ehemalige tschechische Ministerpräsident Václav Klaus glaubt, „eine bestimmende Weltkraft in durchaus positivem Sinn“? Oder vielleicht das „Zentrum des sich herausbildenden Europäischen Systems“, was der britische Politologe William E. Paterson behauptet? Und das mit einer Hauptstadt, die „unbezweifelbar das künftige Herz Europas sein wird“, wie die amerikanische StarFotografin Annie Leibovitz schmeichelt? Ist Deutschland gar schon auf dem Wege, „ein Gegen-

Alain Griotteray, Kommentator des konservativen Pariser „Figaro“, der eine Art spirituellen Führer durch das neue Deutschland herausgebracht hat, entdeckt beim Nachbarn einen „neuen Pangermanismus“ und hält Deutschlands Hauptstadt für das neue Rom eines „Heiligen Germanischen Reiches“. Jenseits des Ärmelkanals wird noch gröber geholzt. „Wir dürfen uns nicht von den Deutschen herumstoßen lassen“, predigt etwa die „Daily Mail“ ihren Lesern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Der „Sunday Times“-Korrespondent AA Gill, in seinen modischen Lifestyle-Kolumnen stets um möglichst innige Verschmelzung mit dem Zeitgeist bemüht, appellierte in einer Reportage über das neue Berlin an seine Leser: „Geben wir es doch zu, wir alle hassen die Deutschen.“ Wie zu Beginn des Jahrhunderts ist das wieder vereinte Deutschland mit 82 Millionen Menschen das mächtigste Land auf dem europäischen Kontinent. „Die Größe“, sagt Kanzler Schröder, „macht den Unterschied“ zwischen der alten Bundesrepublik und dem vereinten Deutschland. Und sein Außenminister Joschka Fischer weiß: „Ein Staat kann von seinem strategischen Potenzial, das sich aus seiner Bevölkerungsgröße, seiner Wirtschaft, seiner Rüstung und seinen Interessen ergibt, nicht einfach zurücktreten, kann seine geopolitische Lage nicht ignorieren und bleibt demnach ein objektiver Machtfaktor, ob er das politisch will oder nicht.“ In der EU ist die Berliner Republik die stärkste Wirtschaftskraft, sie besitzt die größten Währungsreserven und ist weltweit die zweitgrößte Handelsnation. Deutschland schickt Soldaten mit der Nato in das Kosovo, Beobachter in die Uno-Mission nach Abchasien und Sanitäter nach Osttimor. Für Ost- und Südosteuropäer ist Berlin Lotse in den Sicherheit und Marktwirtschaft spendenden Westen. „Deutschland ist groß, ist präsent im übrigen Europa, und zwar viel mehr als andere Staaten“, sagt der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf. Es ist der wichtigste Handelspartner Russlands im Westen und auch so etwas wie dessen An-

1991 20. Juni Der Bundestag beschließt,

den Parlaments- und Regierungssitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. 25. Juni Jugoslawien zerfällt. Kroatien und Slowenien erklären ihre Unabhängigkeit.

9. Oktober Vertrag zwischen

15. Oktober Friedensnobelpreis für Michail Gorbatschow.

P. R O N D H O L Z

Bonn und Moskau über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland. Abschied eines russischen Soldaten

20. September Mit dem Angriff auf

ein Ausländerwohnheim im sächsischen Hoyerswerda beginnt eine Serie von Überfällen und Brandanschlägen auf Ausländer im vereinten Deutschland.

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9. bis 10. Dezember Der Europäische Rat beschließt die Weiterentwicklung der EG zur Wirtschafts- und Währungsunion EU. 20. Dezember In Berlin wird für Archivierung und Sichtung der Stasi-Unterlagen die so genannte Gauck-Behörde errichtet. 25. Dezember Rücktritt Gorbatschows. Sechs Tage später löst sich die Sowjetunion offiziell auf.

Michail Gorbatschow bei seiner Rücktrittserklärung

S YG M A

3. Oktober Ende der DDR. Mit einem Staatsakt in der Berliner Philharmonie wird die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gefeiert.

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S I PA P R E S S

Moskau in die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert.

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Und ausgerechnet dieser erste Nachkriegs-Regierungschef, dem von Herkunft und Attitüde alle Voraussetzungen für klirrende staatliche Großmachtsauftritte abgehen, führte sein Land wieder in einen Krieg. Aber nur mit 14 Flugzeugen – und auch nicht allein. In der Nato, das ist die schlichte Lehre, gibt es die Vormacht USA und ansonsten Länder minderen Ranges, * Beim EU-Gipfel in Köln am 3. Juni.

1995

1993

29. Juli Erich Honecker wird aus

Krieg in Bosnien-Herzegowina

Kanzler Schröder, Außenminister Fischer*: Was muten sie den Verbündeten zu?

12. Januar Das Strafverfahren gegen Honecker wird eingestellt. 2. April Erster Kampfeinsatz von deutschen Soldaten: Hilfe bei der Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina.

1994 16. Oktober CDU/CSU und FDP gewinnen die Bundestagswahlen.

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1. Januar Finnland, Schweden und Österreich treten der EU bei.

darunter – keineswegs in der ersten Reihe – die Bundesrepublik Deutschland. In Wahrheit zeigte der Kosovo-Einsatz vor allem, wie angestrengt die Deutschen versuchten, neue „Sonderwege“ zu meiden. Der Zuzug aus dem Osten und der Umzug nach Berlin änderten nichts an ihrer kulturellen und politischen West-Orientierung. Immer gewahr, dass die deutsche Politik

1996 4. März Der Bundesgerichtshof

verurteilt erstmals einen Offizier der DDR-Grenztruppen wegen Totschlags.

26. März Mit dem In-Kraft-Treten des Schengener Abkommens fallen die Grenzkontrollen 1997 zwischen Deutschland, 12. bis 13. Dezember Frankreich, den BeneluxStaaten, Spanien und Portugal. In Luxemburg beschließt die EU, mit Zypern und fünf osteuropäischen Staaten Ver21. November Das Abkommen handlungen über einen von Dayton bringt Frieden Beitritt aufzunehmen. für Bosnien-Herzegowina.

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M. DARCHINGER

1992

DPA

walt. Schon 1996 nannte Moskaus damaliger Außenminister Jewgenij Primakow die vereinigte Republik eine „Weltmacht“. Keine Frage – Deutschland ist eine Macht in der Welt, womöglich sogar eine Großmacht. Eine Weltmacht aber will und darf es nicht sein. „Bei aller Freude über die Einheit sollten wir bescheiden bleiben“, mahnte Helmut Kohl schon 1990. Das ist nicht nur sachlich berechtigt. Ein Staat ohne atomare Waffen, ohne nennenswerte Rohstoffe, in schlechter strategischer Lage, abhängig von Exporten, auf Jahrzehnte durch die Milliarden teure Renovierung der ehemaligen DDR belastet – was für eine Weltmacht sollte das sein? Entscheidender aber ist die historische Hypothek, die sich das Reich der Deutschen im zu Ende gehenden Jahrhundert durch sein Hegemoniebestreben aufgelastet hat. Seit Kaiser Wilhelm II. zur Jahrhundertwende einen Platz an der Sonne forderte – ein Anspruch, für den seine Untertanen und deren Kinder in zwei Weltkriegen bluteten und Europa zerstörten –, ist Weltmacht ein Wort, das deutschen Politikern nicht leicht über die Lippen geht. Tatsächlich sind es in Deutschland nur die Kritiker der Vereinigung, die den Regierenden in Bonn und Berlin „WeltmachtIllusionen“ („taz“) oder eine „Neue Weltmachtrolle“ („Neues Deutschland“) unterstellen. Der Argwohn entzündet sich vor allem daran, dass aus zwei deutschen Nachkriegsgeschichten wieder eine deutsche Nationalgeschichte geworden ist. Plötzlich stand „das Volk“ wieder auf der politischen Bühne, nicht als „die Leute“, sondern als Nation. Das gab der Berliner Republik, die zumindest als symbolisches Staatsgebilde die Nachfolge des Deutschen Reiches angetreten hat, eine ungemütlich vertraute Färbung. Nun war jene angebliche „Normalität“ ins nationale Leben der Deutschen zurückgekehrt, an die im Ernst niemand geglaubt hatte. Als Kanzler im Spreebogen wird Schröder nicht nur Nachfolger sein von Konrad Adenauer und Willy Brandt. Er wird auch in einer Reihe stehen mit Bismarck und Adolf Hitler.

Bundeskanzler Gerhard Schröder

1998 27. September Rot-Grün ge-

winnt die Wahl. Gerhard Schröder wird Kanzler.

Titel in Europa weiter unter Generalverdacht steht, mühten sich Kohl wie Schröder um den Nachweis, dass sie ihre wiedergewonnene nationale Souveränität sofort wieder aufzugeben und in die multinationalen Bündnisse einzubringen bereit waren. Die Nachbarn vermerkten es mit misstrauischer Erleichterung. Im Westen mag geholfen haben, dass die wirtschaftliche Dominanz eher nachzulassen schien. Die plötzliche Öffnung der Grenzen riss die Deutschen wirtschaftlich brutal in den Strudel der Globalisierung. Sie hatten das Preis-Dumping nun direkt vor der Haustür. Im Osten aber wich anfängliches Misstrauen schnell vertrauensvoller Zuversicht. Warschau blieb auf Distanz, solange Kanzler Kohl zögerte, die polnische Westgrenze an Oder und Neiße endgültig anzuerkennen. Und bis zum Versöhnungsabkommen mit den Tschechen 1997 hatte es über die Ansprüche der Sudetendeutschen in Prag deutliche Verärgerung gegeben. Tatsächlich hatte das wieder vereinigte Deutschland ja zunächst in den mitteleuropäischen Staaten auch nicht viel mehr als einen Cordon sanitaire gesehen, eine Pufferzone zum Schutz nicht nur gegen etwaige Überraschungsangriffe, sondern auch gegen ein Millionenheer von Wirtschaftsflüchtlingen aus dem Osten. Doch schon bald florierte der Handel. Heute ist Polens Außenminister Bronislaw Geremek „fest überzeugt, dass das Deutschland der Berliner Republik die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen schafft“, die für Europas Zukunft von entscheidender Bedeutung sei. „Der Fall der Mauer gilt den Polen als Symbol für das Ende der Nachkriegsordnung von Jalta und für die Rückkehr unseres Landes nach Europa.“ Sein ehemaliger tschechischer Kollege Ji≤í Dienstbier, heute Uno-Beauftragter für Jugoslawien, wundert sich, in „welch starkem Ausmaß es gelang, die Schatten der Vergangenheit zu überwinden“. Dennoch – ein Rest von Misstrauen bleibt. Vergangenheit und Größe Deutschlands sind für die Nachbarn Risikofaktoren. Ob sie also ihre Hauptstadt neu bauen, am Kosovo-Krieg teilnehmen oder Anspruch auf einen ständigen Sitz im Si-

1999 1. Januar Der Euro

ist da – vorerst nur im bargeldlosen Zahlungsverkehr. 12. März Mit einem

Festakt im amerikanischen Independence werden die drei ehemaligen Ostblockländer Polen, Tschechien und Ungarn in die Nato aufgenommen.

cherheitsrat der Vereinten Nationen erheben, immer werden im Ausland letzte Fragen an sie gerichtet: Was wollen sie? Was muten sie den Verbündeten zu? Was nehmen sie auf sich? Keiner ist sich dessen so bewusst gewesen wie Helmut Kohl. Nach dem Fall der Mauer hatte er nur allzu deutlich erfahren, wie tief auch bei den befreundeten Nachbarn im Westen die Ängste vor einem vereinten Deutschland saßen. Die sahen einen deutschen „Koloss“: 78 Millionen Bürger stark und mit einem Bruttosozialprodukt von 2,75 Billionen Mark.

„Das heutige Deutschland ist ein europäischer Staat, frei von imperialen Ambitionen“ Der französische Präsident François Mitterrand hielt es plötzlich nicht für ausgeschlossen, „dass man in die Vorstellungswelt von 1913“ zurückfalle – eine britisch-französisch-russische Allianz als Gegengewicht. Auch Margaret Thatcher, entdeckte der Bundeskanzler, habe nicht hinnehmen wollen, dass Deutschland – nach zwei verlorenen Weltkriegen – am Ende dieses Jahrhunderts „als der große Gewinner“ dastehe. Dass bei den Jubiläumsfeiern im Berliner Reichstag in dieser Woche neben Helmut Kohl auch Ex-Präsident George Bush und der frühere Generalsekretär Michail Gorbatschow reden werden, ist mehr als eine Geste. Es war wohl tatsächlich das Vertrauensverhältnis zwischen diesen drei Männern, das die gewaltfreie und zügige Vereinigung ermöglichte und die ewige „deutsche Frage“ entschärfte. Mittel- und Osteuropa 1989

Die einzig verbliebene Supermacht, Gewinnerin des Kalten Kriegs, hatte Deutschlands Wiedervereinigung von Anfang an unterstützt, weil Kohl garantierte, dass auch das ganze Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses bleiben werde, fest eingebunden in multinationale Strukturen wie etwa die Europäische Union. Auch die Russen waren erstaunlich umgänglich. Obwohl sie die eigentlichen Verlierer im Machtpoker des Kalten Kriegs waren, verschmerzten sie das Wegbrechen ihres westlichsten Vorpostens überraschend leicht. Im wieder vereinigten Deutschland gewannen sie einen Partner, der – zumindest unter Kohl – besonderes Verständnis für die Nöte des Kreml entwickelt hatte. Seit dem Fall der Mauer hat die deutsche Regierung die Hälfte aller westlichen Hilfsleistungen an das marode Riesenreich übernommen. Weltpolitisch bereitet die Bundesrepublik den Russen keinen Grund zur Sorge. „Die Befürchtungen, mit der Vereinigung könne ein Superstaat entstehen, der Europa dominiert, haben sich als unbegründet erwiesen“, glaubt der Politologe Wjatscheslaw Daschitschew, einst Berater von Michail Gorbatschow. „Das heutige Deutschland ist ein europäischer Staat frei von imperialen Ambitionen.“ Am deutschen Kurs hat sich in den vergangenen zehn Jahren nichts Grundsätzliches verändert. Der grüne Außenminister Joschka Fischer sagt zwar nicht, wie Kohl, dass die europäische Einigung eine Frage von Krieg und Frieden sei, aber auch aus seiner Sicht ist die Erweiterung und Vertiefung der EU eine Sache der Friedens- und Sicherheitspolitik. Wie sein Kanzler Schröder denkt er dabei freilich weniger an die Vergangenheit, wie die Flakhelfer-Generation, sondern eher an Bis 1999 veränderte Staatsgrenzen

Finnland

Estland

Norwegen Schweden

Russland

Lettland

Dänemark

Litauen zu Russland

Sowjetunion

Niederlande

Belorussland DDR

Belgien

Polen

Bundesrepublik Tschechoslowakei FrankDeutschland bombardiert die Nato reich Serbien. Deutsche Soldaten Schweiz Österreich Ungarn sind zum ersten Mal im

Deutschland

Kriegseinsatz. 23. August Kanzler Schröder beginnt seine Arbeit in Berlin. September/ Oktober Bei den Wahlen in Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Berlin etabliert sich die PDS weiter als ostdeutsche Volkspartei.

Slowakei Rumänien

Italien

Bulgarien

Albanien

Moldawien

Slowenien Kroatien

Jugoslawien

Ukraine

Tschechien

24. März Im Kosovo-Konflikt

BosnienHerzegowina

Jugoslawien Kosovo

Mazedonien

Griechenland d e r

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A. VÖLKEL / MELDEPRESS

Titel

Großbaustelle Potsdamer Platz in Berlin (1999): Auferstanden aus Ruinen

gangenheit endlich“. Mit der Einheit und der Diskussion um die „Berliner Republik“ ist er zurückgekommen, und Schröder, der Enkel, verwendet ihn ohne Zaudern: „Das Deutschland, das wir repräsentieren, wird unbefangen sein, in einem guten Sinne vielleicht deutscher sein.“ Das lässt der Kohl-Nachfolger ungeniert seine Partner spüren, besonders die Franzosen. Wegen dringender Geschäfte lehnte er im November vorigen Jahres eine Einladung zu den Feierlichkeiten ab, mit denen Paris das Ende des Ersten Weltkriegs begeht, der in Frankreich der Große heißt. Seither haftet der Regierung Schröder/Fischer der Ruf an, sie lasse dem deutsch-französischen Verhältnis nicht die gebührende Pflege angedeihen. Freilich gibt es auch in Paris Stimmen, die Versöhnung für getane Arbeit halten, ein abgeschlossenes Kapitel. Die begrüßen es, dass der Kanzler und seine Minister sich endlich trauen, im Europäischen Rat die nationalen Interessen der Deutschen zuweilen auch mal schroff zu vertreten. Für sie ist das eine willkommene „Banalisierung“ des symbolisch überhöhten Verhältnisses. Der französische Außenminister Hubert Védrine sagt: „Es ist ein großes, normales Land und ein großer, nor-

maler Partner, der für Europa arbeitet, aber auch seine nationalen Interessen verteidigt. Das ist weder schockierend noch beunruhigend.“ Empfindsamer reagieren hingegen die kleinen Staaten in der Europäischen Union auf die rabiaten Umgangsformen der neuen deutschen Regierung. Das grobe Gebaren des deutschen Kanzlers mag unklug sein, takt- und stillos gewiss auch, doch Großmachtansprüche verbergen sich nicht dahinter. Mit der Balance zwischen Anbiederung und Auftrumpfen haben die Dass man in Berlin Deutschen offenbar noch immer SchwieAuschwitz vergessen könnte, rigkeiten. Aber ein „Viertes Reich“ ist nirerscheint absurd gendwo zu sehen. Im Gegenteil. Das neue Deutschland, lobte der israelische Ministerpräsident scheint aus deutschem Blickwinkel nur folEhud Barak unlängst anlässlich seines ersgerichtig und wünschenswert. ten Besuchs in der Regierungshauptstadt Das alles ist für die neuen Regierenden Berlin, sei eine „stabile, sensible und dyso selbstverständlich, dass sie sich auch namische Demokratie“. Es gebe niemandann nicht als Nationalisten fühlen, wenn den, „der sich ernsthaft vor deutschen masie so klingen. Soll sich der Regierungschef nipulativen Machtspielen fürchtet“. unter dem Verdacht sehen, WeltmachtAuch erscheint die Vorstellung, dass die gelüste zu haben, nur weil er auf DeutschDeutschen in Berlin Auschwitz vergessen lands neue Größe verweist? könnten, in der Tat absurd. Die Diskussion Gerhard Schröder ist weder Willy Brandt um das Holocaust-Denkmal hält an. Wehrnoch Wilhelm Zwo. Er hat kein geschlosmachtsausstellung, Walser-Rede, Bubis, senes Weltbild und keine reflektierte Sicht Goldhagen – an Stichworten, die von der auf die Geschichte. Sein postmoderner Ponachhallenden Präsenz der litikstil benutzt SprachbilGeschichte künden, ist kein der und Beispiele aus der Maueröffnung am Potsdamer Platz (1989): Gefilmte Erinnerung Mangel. Historie unbekümmert um Schwer vorstellbar, dass ihre emotionale Aufladung. ein deutscher Kanzler, auch Die Konkurrenz-Generawenn er aus seinem neuen tion der Enkel findet dieAmtszimmer hoch über sen robusten Redestil einden Tiergarten hinausblickt, fach modern. in Sichtweite des Reichstags In den achtziger Jahren und des Denkmals für die hat Friedrich Dürrenmatt siegreiche Rote Armee die „Deutschland“ einen BeVergangenheit aus den griff genannt, „den es nur Augen verlieren könnte, noch in der Erinnerung um wieder Weltmachtpläne gibt, in der Nostalgie, im zu schmieden. Undenkbar, Sentimentalen, in der VerSPIEGEL TV

die Zukunft, an die Bändigung von Nationalismus und ethnischer Konflikte auf dem Balkan oder im Kaukasus. Wie für Kohl führt auch für Fischer ein gerader Weg von der gefallenen Mauer nach Maastricht: Der Euro ist der Preis für die Einheit. Die Transformation der Wirtschafts- und Währungsunion in einen europäischen Staatenverbund mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik er-

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Die kommt nicht ungelegen. Bisher ist Auch die immer noch ungeklärte Frage der Entschädigung für Zwangsarbeiter ge- Frankreich in der EU der einzige voll intewinnt in der alten Reichs- und neuen Bun- grierte Staat gewesen, der weltweit aktiv ist deshauptstadt eine andere Gewichtung. In und einen globalen Status beansprucht. Berlin, wo die Verbrechen geplant, admi- Aber zur Weltmacht reichte es nicht. Von nistriert und befohlen wurden, sieht sich Charles de Gaulle bis zu Chirac projizierdie Regierung unter verschärfter Beob- te Frankreich diesen Anspruch deshalb auf die EU: Europa müsse über Freihandelsachtung. Und doch – wenn heute der Berliner zone und Binnenmarkt hinaus eine autoRepublik von Londoner Tageszeitungen nome Großmacht neben den USA werden. ein Hang zum wilhelminischen Auftrumpfen unterstellt wird, horcht man im Bundeskanzleramt auf. Sind wirklich die Deutschen gemeint? Oder soll mit der grobschlächtigen Karikatur Berliner Buhmänner – sogar Außenminister Fischer wird dann schon mal zum „Gauleiter“ dämonisiert – das vereinigte Europa eine möglichst hässliche Fratze kriegen? Während viele Briten ihre Abneigung gegen eine sich formierende Großmacht Europa gern in Kraut-Klischees Außenminister Fischer* verbergen, preisen die Fran- Ein gerader Weg von der Mauer nach Maastricht zosen die neue Bereitschaft Der Bonner Republik – die ebenso atder Deutschen, in allen Feldern der Politik mitzumischen – auch bei militärischen lantisch wie europäisch orientiert war – Einsätzen. Den Willen, ein „globaler waren solche Gedankenspiele befremdlich. Spieler“ zu werden, verkörpere nie- Jetzt aber, so frohlocken die Franzosen, mand besser als Fischer, dem Paris nicht seien die „neuen Deutschen endlich in der nur Seiltänzerqualitäten unterstellt, son- Lage, psychologisch, politisch und histodern auch den Hang zu einer „planetari- risch nicht mehr zurückzubleiben, sondern sich uns anzuschließen“. schen Vision“. Der Grundstein dazu wurde aus Pariser Sicht am 14. Oktober dieses Jahres gelegt * Oben: mit seiner amerikanischen Amtskollegin Made– als der Zusammenschluss der französileine Albright am vorigen Mittwoch in Washington; schen Aerospatiale Matra mit der deutunten: im Flugzeug des US-Präsidenten im Mai 1998. schen Dasa zum drittgrößten Luft- und Raumfahrtkonzern der Welt unter der Schirmherrschaft beider Regierungschefs besiegelt wurde. Der französische Verteidigungsminister Alain Richard jubelte: „Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist möglich geworden.“ Auch der gaullistische Staatschef Chirac stellte fest: „Für die Europäische Union ist der Augenblick gekommen, sich die institutionellen Mittel und die militärischen Fähigkeiten zu geben, die es ihr erlauben, jedes Mal zu handeln, wenn es nötig ist – ob mit der Nato oder selbständig.“ Dass die Deutschen dabei mitmachen werden, gilt in Paris als ausgemacht. „Die Logik der deutsch-französischen Partnerschaft hat sich durchgesetzt“, freut sich Europaminister Pierre Moscovici. Tatsächlich ist Schröder der Deal willkommen. Gute Geschäfte gefallen ihm immer. Und wie alle Nachkriegsdeutschen, inzwischen auch viele aus den neuen Ländern, hat der Kanzler gelernt, dass es gefälliger wirkt, die Welt zu kaufen, als sie zu erobern. Susanne Fischer, Romain Leick, REUTERS

dass Schröder auf solche Ideen verfällt, solange er noch am Schlossplatz Nr. 1 regiert. Denn aus seinem Büro im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude blickt er mitten in die deutsche Geschichte. Vor ihm liegen die freigelegten Fundamente des 1950 gesprengten Hohenzollernschlosses. Daneben steht die größte Ruine der untergegangenen DDR, der braun getönte Glas„Palast der Republik“. Gleich nebenan findet sich ein weiteres Wahrzeichen deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die Reichsbank. Das Riesenbauwerk aus der Nazi-Zeit, ab 1959 Sitz des Zentralkomitees der SED, wird für Joschka Fischers Außenamt hergerichtet. Auferstanden aus Ruinen – Zeugnisse dreier katastrophaler Phasen deutscher Vergangenheit stoßen hier im Umkreis von wenigen hundert Metern aufeinander. Solche Schnittstellen gibt es nur in Berlin. Wohin Schröder und seine aus Bonn zugereisten Minister auch kommen, gehen oder blicken: Überall drängen sich die steinernen Hinterlassenschaften aus Wilhelms, Adolfs und Erichs Zeiten ins Bild. Das gab es im rheinischen Regierungsbetrieb nie. Bonn lag abseits deutscher Erinnerungen, und das war durchaus gewollt. In Berlin aber gibt es kein Entrinnen. Als Helmut Kohl noch im Westen regierte, kam niemand auf die Idee, die OstErweiterung der EU mit deutschen Großmacht-Träumen in Verbindung zu bringen. In Berlin aber will ein spanischer Journalist vom Regierungssprecher wissen, ob es ein Zufall sei, dass mit der von den Deutschen vorangetriebenen Expansion der Einfluss auf jenen Bereich östlich von Oder und Neiße ausgedehnt werden solle, der einst zum Reich gehörte.

Regierungschefs Clinton, Kohl*: Unterstützung von der Supermacht

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Jürgen Leinemann, Hartmut Palmer, Gerhard Spörl, Klaus Wiegrefe

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Jugendliche in Ost-Berlin

Schwere Last des DDR-Erbes

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ

EINHEIT

Ein Experiment für die Zukunft Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR sind die Lebensbedingungen der Deutschen noch immer höchst unterschiedlich. Nur langsam wächst im Osten die Zuversicht.

A

ls die DDR ihm den Krieg erklärte, war Jochen Läßig 27 Jahre jung und ein gescheiterter Mann. Der Theologiestudent saß im Januar 1989 eine Woche im Gefängnis, weil er eine Demonstration mitorganisiert hatte. Für den Staat war er ein Asozialer; er verdiente sein Geld als Straßenmusiker. Neun Monate später, im Herbst 1989, begann für Läßig der „Aufbruch zu einem neuen Leben“. Er wurde Mitbegründer des Neuen Forums und Fraktionschef von Bündnis 90 in der Leipziger Stadtverordnetenversammlung. Die HansBöckler-Stiftung finanzierte sein Jurastudium, im Sommer 1999 eröffnete er mit einem Kollegen eine Anwaltssozietät. „Es war, als hätte ich eine zweite Chance bekommen.“

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Hans-Jürgen Lüder, 49, war bis zum Ende der DDR ein erfolgreicher Mann. Er hatte Mechaniker gelernt, Maschinenbau studiert und stieg im Ost-Berliner Kabelwerk Köpenick zum Gruppenleiter auf. Für den Staat war er ein ordentlicher Bürger – obwohl er weder Parteimitglied noch Stasi-Zuträger war. Als die DDR zusammenbrach, begann Lüder mit dem Abbau Ost. Maschine um Maschine half er mit, ein Ost-Berliner Hüttenwerk zu demontieren. Dann war Schluss. 1992 ließ er sich zum technischen Sachbearbeiter umschulen, 1997 bestand er eine Weiterbildung für Ingenieure mit Bestnote. Seither ist er arbeitslos und lebt von 950 Mark Sozialhilfe. „Ein fester Job wäre für mich ein Traum.“ Bis heute leiden viele Menschen in den neuen Ländern daran, dass die Überführung der maroden DDR-Wirtschaft mit d e r

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ihren überalterten Maschinenparks und ihren immensen Schulden im westlichen Ausland in lebensfähige Strukturen „kaum gelungen“ ist, wie die thüringische Wissenschaftsministerin Dagmar Schipanski bilanziert. Von der wirtschaftlichen Einheit, räumt auch der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Rolf Schwanitz, ein, sei der gesamtdeutsche Staat „noch weit entfernt“. Die Last des DDR-Erbes war wohl zu schwer. Die Politik der Vollbeschäftigung, die der SED-Staat ohne Rücksicht auf Produktivität lange Zeit durchhielt, war unter den Wettbewerbsbedingungen der Marktwirtschaft zum Scheitern verurteilt. Zu DDR-Zeiten wollten und sollten alle arbeiten – auch, anders als im Westen, die Frauen. Die „Erwerbsneigung“, wie Arbeitsmarktexperten den Wunsch nach Berufsausübung nennen, ist in den neuen Ländern bis heute weitaus größer als in den alten. So kommt es, dass die so genannte Beschäftigtenquote, der Anteil aller Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung, im Osten sogar höher als im Westen ist. Weil in den neuen Ländern aber mehr Menschen, vor allem Frauen, arbeitswillig sind als im Westen, ist die Arbeitslosenquote mit offiziell 17,2 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in den alten Ländern (8,3 Pro-

Titel

Denk-Mauern „Vor gut zehn Jahren ist st die Berliner Mauer gefallen. Haben Sie sich im Nachhinein mal gesagt, es wäre besser, wenn die Mauer noch stehen würde?“ Gesamt

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Nie

Gelegentlich

Häufig

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27 25

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Emnid-Umfrage für den SPIEGEL im August; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht

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schwund: Die Einwohnerzahl sank seit dem Einheitsjahr 1990 um etwa 800000 von 16 auf rund 15,2 Millionen. Die Zahl der Ost-West-Wanderer steigt, die der WestOst-Wanderer fällt. Bis 2010 wird der Osten nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes eine weitere Viertelmillion Menschen verlieren (siehe Grafik Seite 43). Es sind nach Beobachtung der Rostocker Statistikerin Ursula Kück vor allem „extrem viele junge Frauen“, die sich auf nach Westen machen. Experten fürchten, dass die Bevölkerungsstruktur noch weiter aus dem Lot gerät. Seit der Wende fehlt es den neuen Ländern an Nachwuchs. Wegen der unsicheren Lage wollten viele Frauen keine Kinder mehr bekommen. Zudem wurden aus finanziellen Gründen viele Kinderkrippen und Horte geschlossen, die zu SED-Zeiten die Rundumbetreuung der Kids garantierten – der Typus der arbeitenden Mutti war ein Leitbild des Ostens, nicht des Westens. Viele gehen, obwohl ihre Heimat viel wohnlicher und komfortabler geworden ist. Landauf, landab sind die Fassaden der Häuser gestrichen, die Dächer neu gedeckt und die Straßen geteert. Die Zeiten seien vorbei, sagt der Leipziger Kameramann Lutz Knauth, 39, in denen eine Fahrt von West nach Ost „wie von einem Farbfilm in einen Schwarzweißfilm“ war. Doch das entscheidende Handicap ist geblieben: Noch immer erreicht die Wirtschaftskraft Ost gerade mal 60 Prozent der Wirtschaftskraft West. Das Pro-Kopf-Steueraufkommen hat nicht einmal die Hälfte des Westniveaus erreicht – der Osten wird noch lange am Tropf hängen. Ein Grund: Von den Transferleistungen in Höhe von zuletzt 189 Milliarden Mark für 1998 fließt nur ein Sechstel in Investitionen: Der größte Teil geht für soziale Absicherung drauf. Nur die Agrarwirtschaft des einstigen Arbeiter-und-Bauern-Staates brachte es zu den von Kohl versprochenen blühenden Landschaften. Die wenigen verbliebenen Landwirte haben von der Wende profitiert, sie können mit ihren durchschnittlich 126 Hektar großen Vollerwerbsbetrieben höchst rationell und zu Weltmarktbedingungen wirtschaften, der Zwangskollektivierung in den fünfziger Jahren sei Dank. Von so viel Betriebsfläche können die meisten West-Bauern mit ihren durchschnittlich 41 Hektar nur träumen. „Die Landwirtschaft“, sagt Dietmar Ehrenholz, 41, Vorsitzender der Agrargenossenschaft Minzow nahe der Müritz stolz, „ist der einzige Wirtschaftszweig im Osten, der besser funktioniert als im Westen.“ Ehrenholz war vor der Wende Chef der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) „Rosa Luxemburg“, gründete mit Kollegen die Genossenschaft und übernahm große Teile der LPG. Mit Millionen-Krediten wurde der Maschinenpark d e r

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komplett ausgetauscht; 20 Mitarbeiter bewirtschaften heute rund 1000 Hektar Land, lassen 300 Stück Vieh grasen und mästen etwa 4000 Schweine. Der Preis: Ehrenholz musste etwa 180 der rund 200 Mitarbeiter entlassen. Die Landwirtschaft läuft.Wer aber große Industriebetriebe sucht, fahndet in den neuen Ländern meist vergebens. Es gibt Westableger wie Volkswagen in Mosel bei Zwickau (4500 Beschäftigte) oder Vorzeigefirmen wie Jenoptik (8500). Der Optikproduzent jedoch hat, in Jena beheimatet, drei Viertel seiner Arbeitsplätze im Westen eingerichtet. Unter den 100 größ-

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zent); hinzu kommen 300 000 Menschen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen untergebracht sind. Tatsächlich ist jeder Fünfte arbeitslos. Und: Wer in Lohn und Brot steht, verdient durchschnittlich ein Viertel weniger als Berufskollegen in Westdeutschland. Das subjektive Gefühl von Unzufriedenheit steht dennoch häufig genug im Gegensatz zur Realität: So erhalten etwa viele Ostrentner aufgrund ihrer im OstWest-Vergleich längeren Erwerbsbiografien mehr Ruhegeld als Pensionäre. Beinahe jeder zweite Ostdeutsche lebt heute auch nach eigenem Bekunden „besser als zu DDR-Zeiten“. Statistisch gerechnet, geht es den Ostdeutschen so gut wie nie. Binnen sieben Jahren verdreifachte sich das Vermögen der Haushalte beinahe. Wie im Westen hat fast jeder Zweite ein Auto. Trotzdem hat sich in den vergangenen zehn Jahren jeder dritte Ostdeutsche „häufig“ oder „gelegentlich“ die Mauer zurückgewünscht (siehe Grafik). „Es gibt eine Angst vor der Zukunft, die wir als DDRBürger nicht kannten“, sagt der Leipziger Jens Eßbach. Der 34-Jährige gehört zu den Einheitsgewinnern: Er arbeitete einst im VEB Gebäudewirtschaft, der kommunalen Wohnungsverwaltung, und studierte nach der Wende Sozialpädagogik. Sein früherer Betrieb stellte ihn wieder ein, als Sozialarbeiter. Wie zu DDR-Zeiten ergreifen Ostdeutsche auch heute die Flucht – aber sie suchen im Westen Arbeit, nicht Freiheit. Die neuen Länder leiden an Bevölkerungs-

Ost-Bürger Läßig*

„Aufbruch zu einem neuen Leben“

ten Konzernen der Republik findet sich denn auch kein echter Ostbetrieb. Entstanden ist eine ökonomische Landschaft voller Widersprüche: Der Osten ist ein großindustrielles Brachland, durchsetzt mit kleinen Hightech-Oasen und den Keimen einer neuen Unternehmergeneration. Die Fördermilliarden aus dem Westen, aber auch der schnelle Anstieg der Löhne * Oben: 1989; unten: 1999.

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R. ZÖLLNER

G. SCHLÄGER

halten muss, macht sich politisch auf zweifache Weise Luft. Rechtsextremisten sind auf dem Vormarsch. In den brandenburgischen Landtag zogen bei der Wahl im September fünf DVU-Abgeordnete, im sachsenanhaltinischen Parlament saßen nach der Wahl im April vorigen Jahres 16 Vertreter der DVU; inzwischen gehören drei nicht mehr der Fraktion an. Auf 100 000 Einwohner kamen statistisch 2,4 rechtsextremistische Gewalttaten, in Westdeutschland waren es nur 0,7. Die Politik empört sich und bleibt hilflos. Konzepte wie „Tolerantes Brandenburg“, für das die Landesregierung in diesem Jahr 3,5 Millionen Mark zur Verfügung stellte, greifen kaum. Im ersten Halbjahr 1999 wurden dort 33 fremdenfeindliche Gewalttaten registriert, 50 Prozent mehr als in den ersten sechs Monaten 1998. Die andere Form des Protestes spiegeln die enormen Erfolge der PDS. Die Postkommunisten sind seit Jahren konOstdeutsche Landwirtschaft: „Der einzige Wirtschaftszweig, der besser funktioniert als im Westen“ tinuierlich im Aufwind. Seit die führten dazu, dass viele Ostunternehmer Im vergangenen Jahr ging er an die Börse; PDS im Osten zur neuen Volkspartei auflieber in Maschinen als in Menschen in- der Kurs der Aktie hat sich mehr als ver- stieg und die SPD auf den dritten Platz vestierten. Herausgebildet hat sich im doppelt, und sein Unternehmen ist nun ein verwies, funktioniert die alte Bonner Koalitionsarithmetik nicht mehr. Das ParteiLaufe der Jahre eine hocheffiziente, aber paar hundert Millionen Mark wert. Doch die meisten Ostbetriebe wursteln ensystem der Republik ist aus den Fugen menschenleere Struktur. Und es scheint, als nähme der Osten damit eine Entwick- sich mehr schlecht als recht durch. Hasso geraten, aber immer noch tun sich dessen lung vorweg, die dem Westen noch be- Düvel, IG-Metall-Bezirkschef für Branden- Protagonisten schwer mit der neuen burg, Berlin und Sachsen, muss mit anse- Realität. vorsteht. Die SPD hat bis heute kein strategisches In manchen Landstrichen von Mecklen- hen, wie sich immer mehr Unternehmen burg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt den Zwängen des Flächentarifvertrags ent- Konzept für den Umgang mit der neuen hat jeder Dritte keinen Job, während im ziehen, sich aus den Arbeitgeberverbänden Konkurrenz zu ihrer Linken. Die CDU Großraum Dresden, um die Chipwerke von verabschieden und Löhne zahlen, die oft- streitet im Jahre 10 der Einheit, ob die AMD und Siemens, das „Silicon Saxony“ mals deutlich unter dem üblichen Tarif- SED-Nachfolgerin jetzt auch anders als mit entsteht – eine Wachstumsregion, die ein niveau liegen. Der Osten sei „ein Experi- dem ewigen Hinweis auf ihre Vergangenpaar hundert innovative Computer- und mentierfeld für die Zukunft Deutschlands“, heit bekämpft werden darf. Die Grünen haben auf der Regierungsbank ihre Rolle Softwarefirmen, Handy-Zulieferer und PC- sorgt sich Düvel. Die gekränkte Seele vieler Ostdeutscher, als Protestpartei eingebüßt und sind, wie Hersteller angezogen hat. Der partielle Aufschwung machte einige die Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst aus- die FDP, im Osten auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit.Weder grüne sogar reich, rund 260 Ossis versteuern ein noch wirtschaftsliberale Ideen Einkommen von einer Million oder mehr, haben dort je wirklich Fuß im Westen sind es nahezu 25 000. gefasst. Zu den Erfolgreichsten gehört Hans-DieDie aus dem Osten stamter Lindemeyer, 45, aus Taucha, einer Stadt mende grüne Bürgerrechts-Abam Rande von Leipzig. In den Wirren der teilung hatte in den Augen der Wende, noch vor der Währungsunion, lieh Wähler mit dem Fall der Mausich der Diplommathematiker bei Freuner ihre wichtigste Aufgabe erden und Verwandten 50 000 Ost-Mark und füllt. Wer reisen darf, seine gründete ein Ein-Mann-HandelsunternehMeinung sagen und sich jedermen für Computer. Bei einem Taiwaner in zeit versammeln kann, braucht Hamburg holte er mit seinem Trabi im keine Bürgerrechtler mehr. März 1990 seinen ersten Rechner ab und Wo sich die Ostdeutschen verkaufte ihn daheim. enttäuscht von den WestparHeute ist aus der Garagenfirma ein kleiteien abwenden, kann die PDS ner Technologiekonzern geworden. Lindeals Protestpartei reüssieren. Im meyer gebietet über rund 300 Mitarbeiter Osten zeichnet sich ein Dreiund steuert die am schnellsten wachsende PDS-Wahlkampf (in Ost-Berlin) parteiensystem aus CDU, PDS Firma im deutschen Osten, die Lintec AG. Aufstieg zur neuen Volkspartei 42

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Titel Im Glanz der Einheit gefiel die alte Republik sich plötzlich wieder sehr. Die Einheit hat, so paradox das klingt, die politischen Verhältnisse in Deutschland zunächst auf dem Status quo (West) festgeschrieben. Der Zusammenbruch des Ostblocks bestärkte die Westdeutschen in dem Glauben, dass bei ihnen alles in Ordnung sei. Die reformbedürftigen Sozialversicherungen wurden nicht nur ohne jeden Ansatz einer Änderung auf den Osten übertragen, sondern auch noch mit zusätzlichen Kosten belastet. Weil Kohl versprach, die Einheit lasse sich ohne Steuererhöhungen finanzieren, wurden vereinigungsbedingte Ausgaben wie etwa die Auffüllung der Rentenbeträge für Rentner aus den neuen Ländern in die Sozialkassen verlagert. Mit drastischen Folgen: Von 1991 bis 1998 stiegen die Beitragssätze zur SozialversiBevölkerungswanderung cherung von 35 auf mehr als 42 Prozent. zwischen den neuen und den alten Bundesländern Vielleicht waren die Fehler unvermeidlich. Denn der vom OstVolk geforderte schnelle Beitritt Von Ost- nach Von West- nach nach Artikel 23 des Grundgesetzes Westdeutschland Ostdeutschland ließ lange Verhandlungen gar nicht zu. Im Westen waren sie oh395343 36217 1990 nehin nicht erwünscht. 80267 249743 1991 Zwar jammern viele Ostdeutsche immer noch, sie seien vom 111345 199170 1992 Westen kolonialisiert worden. Tatsächlich aber gab es noch nie 119100 172386 1993 ein Volk, das seine „Kolonialherren“ sogar unter Androhung von 135774 163034 1994 Sanktionen („Kommt die DM nicht zu uns, kommen wir zur 143063 168336 1995 DM“) ins Land gezwungen hat. Die Debatte, ob sich die Repu151973 166007 1996 blik mit der Vereinigung auch eine neue Verfassung geben solle, wur157348 167789 1997 de schnell beendet, auch weil die 182478 151750 Ostdeutschen „nach Jahrzehnten 1998 des realsozialistischen Abenteuers keine weiteren Experimente Quelle: Statistisches Bundesamt über sich ergehen lassen“ wollten, wie die Politikwissenschafttraditionelle Milieus der Parteien weg- ler Kurt Sontheimer und Wilhelm Bleek brechen. Roth: „Der moderne Wähler feststellten. Der Umzug nach Berlin war lebt im Osten.“ Er ist in seinem Wahl- für das vereinte Deutschland die einzig verhalten höchst flexibel, Parteitreue ist sichtbare Zäsur im institutionalisierten politischen System. Jetzt agiert die Politik in ihm fremd. Doch die Politiker reagieren weit weni- einem völlig neuen Umfeld. Viele Abgeger flexibel auf die Veränderungen – kein ordnete haben in Berlin-Mitte Quartier beWunder, bis auf wenige Alibi-Figuren ist zogen, auf dem Territorium der ehemaligen die westdeutsche politische Elite unter sich DDR, und begegnen dort den ostdeutschen geblieben. Angela Merkel, die CDU-Ge- Mitbürgern nun täglich auf Hausfluren und neralsekretärin, und Bundestagspräsident Straßen. Die unmittelbare Begegnung von OstWolfgang Thierse sind die einzigen Ostdeutschen, die an der Spitze mitmischen. und Westbürgern führt nicht immer zu Im Kabinett dürfen Ossis sich um Frauen höherem Verständnis füreinander. Als zum und Familie kümmern (Christine Berg- Beispiel die von der Wupper an die Oder mann) und als Staatsminister im Kanzler- geratene Chefarzt-Gattin Gabriela Mendamt um den Aufbau Ost (Rolf Schwanitz). ling jüngst in ihrem Buch „NeuLand“ nach Sowenig das westdeutsche Volk wegen der Kolonialherren-Art über ihre Erfahrungen Einheit auf den gewohnten Wohlstand ver- mit spießigen Ossis berichtete, entfaltete zichten wollte, sowenig waren westdeut- sich vor Ort kollektive Wut. Besonders aber dringt des Westvolkes Stimme durch, wenn sche Politiker zu Abstrichen bereit. und SPD ab, es könnte sich auch bundesweit etablieren. Zwei Volksparteien, CDU und SPD, mit je einem regionalen Radikal-Satelliten an ihren Flanken, der CSU in Bayern und der PDS im Osten – das könnte das System der Zukunft sein. Daneben haben die Wahlanalytiker noch einen weiteren Trend ausgemacht: Die Orientierung an Personen ersetzt, zumindest bei den Gewinnern der Einheit, die Bindung an Parteien – eine plausible Erklärung für die Wahlerfolge der CDUMinisterpräsidenten Bernhard Vogel in Thüringen und Kurt Biedenkopf in Sachsen. Beide haben sich mit Erfolg als Landesväter profiliert. Dieter Roth von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen glaubt, dass diese Entwicklung auch im Westen in dem Maße greifen wird, wie

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Titel Sie verdienen gut, sie können sich eine große Wohnung und zwei Autos leisten und wollen, nachdem sie Italien, die Schweiz, Kanada, Kenia und die Karibik kennen gelernt haben, nach Australien und Neuseeland. Verlierer der Einheit wie der OstBerliner Ingenieur Lüder indes suchen auch zehn Jahre nach der Wende nach ihrer Zukunft. Lüder hat in Berlin-Köpenick einen Arbeitslosen-Selbsthilfeverein gegründet. Die Mitglieder, allesamt arbeitslos, bieten Hauseigentümern Hilfe bei Renovierungen und Kleinbetrieben Unterstützung bei Büroarbeiten an. Sie hoffen, durch diese Kontakte Arbeit zu finden. Wer die Hoffnung aufgebe, bis zum Rentenalter doch noch einen Job zu finden, sei „vom Absturz bedroht“, sagt Lüder. Er wird im nächsten Jahr 50.

den Ostdeutschen pauschal das Ende des westdeutschen Wohlfahrtsstaates angelastet wird. Der Ossi sei „eine ästhetische Zumutung“, der absahne, „was an Milliarden abzusahnen geht“, provozierte der WestBerliner Klaus Bittermann in seiner Schmähschrift „It’s a Zoni“. Sahnt der Osten wirklich ab? Politiker aller Couleur verteidigen die Last, die sie die Bürger in West und Ost schleppen lassen – vom Solidaritätsbeitrag, der das Netto-Einkommen aller Arbeitnehmer spürbar belastet, bis zum Sparpaket, das zum Teil eine Folge der enormen Staatsverschuldung für den Aufbau Ost ist. Ihr Argument: Die Lasten des verlorenen Krieges trug die Bevölkerung des Ostens weit mehr als die des Westens – nun sollen alle ein Volk sein, solidarisch bis in jedes Portemonnaie. Der Leipziger Kameramann Knauth und seine Ehefrau können damit bestens leben.

Carolin Emcke, Susanne Fischer, Florian Gless, Carsten Holm, Hartmut Palmer, Ulrich Schäfer

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Der Markt ohne Mauern Mit dem Ende der DDR begann ein ungeahnter Siegeszug der Marktwirtschaft. Neue Absatzmärkte, Billigarbeiter und der schnelle Start des Euro haben die Globalisierung beschleunigt.

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über die Entwicklung der Zinsen – nicht die Bundesbank in Frankfurt. Der Europäische Gerichtshof hat das letzte Wort in strittigen Fragen der Wirtschaftspolitik – nicht der Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Europa hat ein neues Gesicht und neues Gewicht bekommen. Der Fall der Mauer und das anschließende Ende des Sowjetreiches haben aber noch weit mehr ausgelöst: Mehr als 400 Millionen Menschen, rechnet man China dazu, sogar fast ein

A. SCHOELZEL / ZENIT

ie Menschen nannten es „Wahnsinn“, als die Mauer fiel. Welcher Prozess damals, im Spätherbst 1989, in diesem Moment des nationalen Taumels, in Gang gesetzt wurde, ahnte niemand. Von da an, Ironie der Geschichte, verlor der Nationalstaat seine Bedeutung. Denn zugleich begann der Aufstieg des neuen Europa. Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, opferte die D-Mark für den Euro, damit die Nachbarn, allen voran die Franzosen, der Wiedervereinigung zustimmten. Nicht ein deutsches Europa sollte das Ziel sein, versicherte er, sondern ein europäisches Deutschland. Heute ist der Kontinent auf dem besten Weg zu Kohls Vision. Die gemeinsame Währung ist für Unternehmen und Investoren bereits Realität. In gut zwei Jahren halten die Bürger die neuen Scheine und Münzen in der Hand. Weitere Staaten in Osteuropa werden sich der EU anschließen. Das Zentrum Europas verschiebt sich nach Osten, der Kontinent wächst allmählich zu einem fast grenzenlosen Markt zusammen. Die Nationalstaaten geben immer mehr Kompetenzen ab. Die Europäische Kommission entscheidet über Finanzhilfen und Fusionen – nicht die Regierung in Berlin. Die Europäische Zentralbank bestimmt

Drittel der Weltbevölkerung, sind dabei, in die Marktwirtschaft einzutreten. In 29 Staaten entstehen neue Standorte und Absatzmärkte. Wie ein Katalysator hat die Beseitigung des Eisernen Vorhangs der Globalisierung Schubkraft gegeben. Im Osten sahen sich zigtausende Staatsbetriebe plötzlich dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Und im Westen überließ der Staat ehemals staatliche Domänen wie Energieversorgung oder Telekommunikation dem Spiel der Kräfte. Überall auf der Welt wird heute privatisiert und dereguliert, Unternehmen werden vereinigt oder zerschlagen. Mit dem Untergang des Kommunismus hat auch das Modell des fürsorgenden Wohlfahrtsstaates im Westen rapide Anhänger verloren – der Markt triumphiert, der Staat ist auf dem Rückzug. Nirgendwo sonst erleben die Menschen den epochalen Wandel so unmittelbar wie am Potsdamer Platz in Berlin. Auf wenigen Hektar Fläche dokumentieren Konsum und Lebensstil, wie sich die Welt verändert hat. Vor zehn Jahren wucherte noch Unkraut über dem öden Areal. Ein paar Schutthaufen erinnerten an den Krieg, der Deutschland und die Welt teilte – ein Niemandsland zwischen Ost und West. Heute zieht es jeden Tag 70 000 Menschen, meist Touristen, in die neue Mitte Berlins. Die Besucher spazieren durch die zugigen Straßen einer Retortenstadt und bestaunen die bunte Warenwelt der globalen Wirtschaft. Nur einen Blick entfernt von der Stelle, wo einst der Todesstreifen verlief, streckt sich heute der Bürokomplex von DaimlerChrysler in den Himmel. Wie ein Denkmal der Globalisierung kündet er weithin sichtbar davon, dass die Idee von der Marktwirtschaft sich durchgesetzt hat gegen die Ideologie vom alles planenden Übervater Staat.

Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg (1989): Aufbruchstimmung verflogen d e r

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Braunkohlekraftwerk „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg (1998): Konservierung alter Industrien – in moderner Form

Dumping-Konkurrenz ist nur noch einige Lkw-Stunden entfernt von Deutschland. Plötzlich konkurrieren niedersächsische Gießereien mit tschechischen Metallbetrieben, ungarische Dentisten mit deutschen Zahnärzten. In der grenzenlosen Wirtschaft entstehen Unternehmen, die keine Heimat und keine Traditionen mehr kennen. Ihre Produkte und ihr Marketing sind nicht auf einen Staat zugeschnitten – ihr Markt ist die Welt, ihre Sprache englisch, ihr Stil global. So weit ist der Prozess der Globalisierung gediehen, dass manche fürchten, der Staat habe bereits kapituliert. Die supranationale Wirtschaft dirigiere mit ihrer Kapitalmacht die nationale Politik nach Belieben. Der Staat aber 9 19 Am Tropf geschätzt verliere allmählich die SouveZahlungen für den ränität über das wirtschaftliche 189 Aufbau Ost 7 18 Geschehen im eigenen Land. 5 183 18 in Milliarden Mark „Es ist das Ende der Volkswirtschaften“, sagt der ehemaQuelle: DIW, Deutsche lige US-Arbeitsminister Robert 169 Bundesbank 167 Reich. Selbst Spekulant George Subventionen Soros warnt, dass die „uneinInves- 16 Milliarden Mark geschränkte Intensivierung 151 titionen des Laisser-faire-KapitalisSozial33 mus über alle Bereiche des 139 leistungen Milliarden Mark Lebens die Zukunft unserer 84 Allgemeine offenen und demokratischen Milliarden Mark FinanzGesellschaft gefährdet“. zuweisungen In der Tat scheinen die Pro56 Milliarden Mark portionen zwischen Wirtschaft und Politik merkwürdig verrückt, wenn zum Beispiel Mannesmann rund 60 Milliarden 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Mark für die britische Mobilda

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Bis in die letzten Regionen ist das Prinzip des Marktes inzwischen vorgedrungen. Der Kreis der Teilnehmer im weltweiten Wettbewerb hat sich nach dem Mauerfall so sprunghaft erhöht, dass es eigentlich erst seitdem gerechtfertigt ist, von Globalisierung zu sprechen. Gewiss wären die Tigerstaaten Asiens auch ohne das Ende des Sozialismus zu Wirtschaftsmächten gereift. Und mehr noch vielleicht hat die Revolution in der Informationstechnik die Weltwirtschaft auf Trab gebracht: Nachrichten und Kapital können heute so schnell und billig transportiert werden wie nie. Doch erst die Öffnung des Ostens hat die globale Arbeitsteilung neu sortiert. Die

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funkfirma Orange bietet – während Finanzminister Hans Eichel und seine Kabinettskollegen sich krumm legen müssen, um nur die Hälfte dieses Betrages im Staatshaushalt einzusparen. Ist das Pendel nach dem Mauerfall also zu weit ausgeschlagen – zu viel Markt, zu wenig Staat? Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten hatten in den achtziger Jahren den radikalen Umschwung in Richtung Markt in Gang gesetzt. Was unter staatlicher Kontrolle stand, wurde nun liberalisiert, dereguliert und privatisiert. Genau in dieser Situation fiel der Gegenentwurf zur Marktwirtschaft, der Sozialismus, in sich zusammen. Mit dem Fall der Mauer öffnete sich eine Schleuse, um die gerade wiederbelebte liberale Idee des Marktes auch dort zu verbreiten, wo bislang der Plan regierte. China hat sich seitdem in eine „sozialistische Marktwirtschaft“ gewandelt mit Sonderwirtschaftszonen im Süden, die das Wachstum des Landes tragen. Indien wandte sich mit dem Ende der Sowjetunion dem Westen zu und entwickelt sich in einen Hightech-Standort; dort sind heute sechs der zwölf weltweit führenden SoftwareEntwicklungszentren beheimatet. Auch Lateinamerika hat sich verabschiedet von der Idee, das Wohlergehen der Länder hänge vor allem vom Staat ab, der die Wirtschaft dirigiert und abschottet. Nun hat es sich dem Welthandel geöffnet, die Zollbarrieren werden abgebaut, der einst verhasste Feind im Norden, die 45

FOTOS: AP

Börse in New York, russischer Veteran bei McDonald’s (in St. Petersburg): Der Markt triumphiert, der Staat zieht sich zurück

Vereinigten Staaten, ist heute der wichtigste Wirtschaftspartner. „Es ist unglaublich, was seit 1990 passierte“, sagt der US-Finanzminister Lawrence Summers, „wirtschaftlich gesehen ist es beinahe eine neue Welt.“ Der erstaunlichste Wandel vom Staat zum Markt aber geschah in den ehemaligen Ostblockländern. Vor zehn Jahren, im so genannten Konsens von Washington, glaubten die meisten Politiker noch, man müsse einfach eine Schocktherapie anwenden, also auf einen Schlag die Preise freigeben, Märkte öffnen, Staatsbetriebe privatisieren, den Handel liberalisieren – und schon würde die Marktwirtschaft von allein ihre segensreiche Wirkung entfalten. Zu Beginn sah es tatsächlich so aus, als werde die Transformation ein Kinderspiel. Vor allem in Deutschland war man optimistisch, dass die neuen Bundesländer schnell Anschluss an den Westen fänden. Die Menschen in der DDR würden eine wirtschaftliche Entwicklung in Gang setzen, glaubte der damalige Wirtschaftsminister Helmut Haussmann, „von deren Schubkraft sich viele keine Vorstellung machen“. Schließlich ähnelten die Umstände dem Vorbild, das die Westdeutschen noch in bester Erinnerung hatten: dem Wirtschaftswunder, das ihnen nach dem Krieg den Wohlstand gebracht hatte. Doch das Wunschszenario erfüllte sich nicht. Die Produkte der Ostbetriebe waren nach der schnellen Einführung der D-Mark um ein Vielfaches teurer geworden, der Außenhandel der DDR kollabierte, die Zahl der Erwerbstätigen schrumpfte um 3 Millionen auf 5,5 Millionen, alle Aufbruchstimmung war verflogen. Immer wieder schoss der Westen Geld nach, um den Abwärtstrend aufzuhalten. Bis heute sind 1,569 Billionen Mark in den Aufbau Ost geflossen, der größte Teil der 46

Transfers wurde für den Konsum ausgegeben, nicht für den Aufbau von Firmen. Wenn die Wirtschaft investierte, wurden häufig alte Strukturen konserviert. Im brandenburgischen Spremberg etwa entstand das modernste Braunkohlekraftwerk der Welt, wo früher das Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ stand. 111,8

Es sei das „allzu undifferenzierte Vertrauen auf die Marktkräfte“ gewesen, meint heute der ehemalige Hamburger Bürgermeister und Ostberater Klaus von Dohnanyi, das einen erfolgreichen Aufbau Ost behindert habe: „Die ‚Markt‘-Wirtschaftler unterschätzten erstaunlicherweise die Kräfte des Marktes.“ Ähnliche Schwierigkeiten erfuhren auch die Staaten in Osteuropa.Viele waren überMotor Ost fordert, sich mit den neuen Prinzipien – Der Handel Deutschlands Eigentum,Wettbewerb, Gewinnstreben – zu EXPORT mit Osteuropa und Ländern arrangieren. Oft fehlten schlicht die Spielder ehemaligen Sowjetunion 82,8 regeln für die neue Marktwirtschaft. in Milliarden Mark Russland leidet bis heute daran, dass es 64,7 an erfahrenen und wirksamen Institutionen Zum Vergleich Exporte nach Frankreich 1998: beispielsweise in der Justiz mangelt. 105,8 Mrd. Mark Doch es ging auch anders, wie die EntIMPORT 48,1 wicklung in Polen beweist. Der Aufbruch in die Marktwirtschaft scheint geglückt, weil 37,3 56,7 Polen einen entscheidenden Vorteil etwa 23,5 gegenüber Russland besaß: Der Prozess 44,9 der Transformation hatte im Grunde schon 35,0 18,7 1980 mit der Gewerkschaftsbewegung So21,8 Gesamtdeutschland lidarno´sƒ begonnen. Ohnehin bedeutete der Sozialismus für Polen, aber auch für Ungarn, Tschechien oder die Slowakei nur Weltweite Direktinvestitionen eine Episode in ihrer Geschichte. Die Train Osteuropa und Ländern dition privater Initiative war noch lebendig 11,6 der ehemaligen in der Erinnerung vieler Bürger. Sowjetunion Von diesen Ländern im Osten geht der in Milliarden US-Dollar Impuls aus, der jetzt das neue Europa entstehen lässt. Der Kontinent davon 1998 besitzt heute mit rund 14 Billio5,8 aus: nen Mark eine gewaltige WirtDeutschland 20,2 % schaftskraft, 370 Millionen Men3,0 USA 14,6 % schen leben in diesem größten Binnenmarkt der Welt. Wenn die Niederlande 10,4 % 0,4* ersten Staaten des ehemaligen OstFrankreich 7,7 % blocks dazustoßen, werden es 430 Mil*ohne ehem. Sowjetunion; lionen sein. Österreich 7,5 % Quelle: Statistisches Bundesamt, Wifo Ein ganz neues Geflecht an Wirtschaftsbeziehungen entwickelt sich, und Deutsch1990 91 92 93 94 95 96 97 98 land gehört zu seinen größten Profiteuren. d e r

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Titel Es ist der wichtigste Handelspartner für die östlichen Nachbarn; der Handel mit den Reformländern entspricht dem Volumen, das mit Frankreich erwirtschaftet wird. Mit dem Euro wird der Kontinent zum führenden Finanzplatz neben den USA aufsteigen. Die gemeinsame Währung zieht Kapital aus der ganzen Welt an. Die Chancen des neuen Europa sind gewaltig. Doch manche empfinden den Wandel auch als Bedrohung. Sie fürchten, dass die jungen Marktwirtschaften soziale Standards gefährden, die das alte Europa so mühsam errungen hat. Sie warnen davor, dass die neue Konkurrenz aus dem Osten in eine Abwärtsspirale führe. Kein Zweifel, der Wettbewerb zwischen Atlantik und Ural wird sich weiter verschärfen. Wenn Europa sich nach Osten hin erweitert, werden Unternehmen aus dem Westen stärker noch als bisher neue Standorte direkt vor ihrer Haustür aufbauen – gelockt von niedrigen Löhnen und der Nähe zu neuen Absatzmärkten. Früher hat Volkswagen Autos in Deutschland gefertigt und ins Ausland exportiert. Dann wurden Werke vor Ort aufgebaut, Komponenten geliefert und die Fahrzeuge montiert. Nun aber werden immer mehr Autos in Tschechien oder der Slowakei produziert, von dort wird sogar der einstige Heimatmarkt Deutschland beliefert – es ist ein stufenweiser Prozess, der den Arbeitnehmern in den Werken in Wolfsburg, Braunschweig oder Emden schwer zu schaffen macht. Sie müssen heute um jedes Stück Arbeit kämpfen. Wenn es um die Vergabe der Produktion neuer Modelle geht, stehen sie in Konkurrenz zu den neuen Standorten im Osten. Sie haben den Beweis zu erbringen, dass sie mindestens ebenso billig Fahrzeuge oder Motoren herstellen können wie ihre Kollegen in Györ oder Bratislava. Auch umgekehrt wird der Druck aus dem Osten spürbar. Schon heute drängen Niedriglöhner auf den Arbeitsmarkt im Westen. Kaum eine Baustelle in Berlin, auf der nicht Polen oder Tschechen arbeiten. Vielleicht schon 2003 werden diese Länder der EU angehören, ihre Bürger haben damit das Recht, überall in Europa zu leben und zu arbeiten. Die einheitliche Währung aber wird Unternehmern den Kostenvergleich noch erleichtern. Die fast schon vergessene Standortdebatte dürfte damit in eine neue Runde gehen. Wie sind in diesem neuen Europa soziale Sicherheit und wirtschaftliche Freiheit in Einklang zu bringen, so lautet die zentrale Frage. Der notwendige Wandel nach der Wende hat erst begonnen. Die größten Veränderungen stehen noch bevor, glaubt Romano Prodi. „Der Fall der Berliner Mauer“, sagt der EU-Kommissionspräsident, „hat die erste Seite eines völlig neuen Kapitels der europäischen Geschichte aufgeschlagen.“ Alexander Jung d e r

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Titel Codes sind westdeutsch geprägt. Andererseits fällt es immer schwerer, die deutsche Kulturlandschaft ideologisch oder gar stammeskundlich aufzuteilen. KU LT U R Der Boom des deutschen HipHop etwa begann tatsächlich nach dem Ende des SED-Staates – etwa zur gleichen Zeit, als die Techno-Bewegung samt Love-Parade ihren Siegeszug antrat. Seitdem finden sich Der Westen hat, kein Zweifel, auch kulturell „gesiegt“. Zugleich nicht zufällig die besten Clubs im ehemaligen Osten Berlins, und das neue deutsche fällt es immer schwerer, die deutsche Kunstszene nach Ost Nachtleben hat einen einzigen Namen: und West aufzuteilen. Die Blicke richten sich auf die Zukunft. Berlin-Mitte, bis November 1989 noch das lysol-, schwefel- und Stasi-verseuchte Doin samstäglicher Gang durch dert hat. Zwar ist nicht einfach „zusam- rado der allertreuesten Parteikader. Immer neu überraschend: All jene prodas herbstliche Berlin, da, wo mengewachsen“, was „zusammengehört“, die Stadt 28 Jahre lang durch wie Willy Brandt prophezeite, doch hat minenten Schauspieler, Regisseure und Mauer und Stacheldraht geteilt sich eine gesellschaftliche, auch geistige Künstler, die das Publikum in Bann ziehen, war, offenbart die einschnei- Dynamik entwickelt, die Anlass zu Opti- ob Corinna Harfouch oder Katharina Thaldendste Veränderung: Zwi- mismus bietet. Dass es dabei nicht ohne bach, Nina Hagen oder Armin Muellerschen Lustgarten und Pergamon-Museum, Streit und Konflikte abgeht, ist selbstver- Stahl, Kurt Masur oder Ulrich Mühe – sie Oranienburger Straße und Brandenburger ständlich. Die ungebrochene Popularität waren Honnis mal geplagte, mal privileTor herrscht die Kakophonie der Welt- des Ossi-Witzes wetteifert mit dem Sie- gierte Untertanen. Heute sind sie Stars der sprachen. Englisch, Französisch, Italienisch, geszug der PDS, der Jammerton Ost kon- deutschen und internationalen Kulturszene. Aber auch Wolf Biermann gehört in dieJapanisch, Spanisch, Russisch, Polnisch, kurriert mit der Gleichgültigkeit West. Kein Zweifel: Der Westen hat auch kul- se gesamtdeutsche Kulturbilanz – wie sein Schwyzerdütsch und andere globale Dialekte haben die alte Amtssprache im Re- turell „gesiegt“, doch es ist zugleich ein verstorbener Freund, der mutige DDRvier, das sozialistische Tremolo des Polit- Triumph der weltweiten, angloamerikani- Aufklärer Jürgen Fuchs, die Regisseure schen Popkultur. Vom Westen kommt, zum Andreas Dresen („Nachtgestalten“) und büro-Sächsisch, für immer verdrängt. Leander Haußmann („Sonnenallee“) ebenEine neue Internationalität hat sich breit Westen drängt fast alles. Nicht zu vergessen freilich: die hunder- so wie die Theaterleute Thomas und Matgemacht, die beileibe nicht nur von den freilich gewaltigen Touristenströmen her- te von Millionen Mark teuren Sanierun- thias Langhoff. „Westdeutschland war nie nur westlich“ rührt. In der Lebensmittelabteilung der gen ganzer historischer Stadtkerne wie in „Galeries Lafayettes“ an der Friedrich- Weimar, Schwerin, Potsdam, Leipzig oder – an diese schlichte Tatsache erinnert Chrisstraße etwa versichert die französische Dresden, wo derzeit, neben der Frauen- toph Stölzl, scheidender Generaldirektor Verkäuferin einer hilflosen Kundin aus kirche, auch noch das alte Schloss für 300 des „Deutschen Historischen Museums“ in Berlin. Schon lange vor dem Pankow mit Nachholbedarf Fall der Mauer sind DDRin Trinkkultur im verfühBürger wie Uwe Johnson, rerischsten Akzent: „Diese Günter Kunert, Jurek Becker Wein Sie können trinken imund Manfred Krug in den mer, egal, was kommt auf die Westen übergesiedelt. Tisch.“ Doch wenn ein Stück Berlin, Zentrum des deutDDR-Kultur in Reinform erschen Ost-West-Dramas, enthalten geblieben ist, dann in wickelt sich fast beiläufig zu der einst realsozialistischen einer wirklichen Metropole, Volksmusik, die bruchlos an und wie jede Metropole der die bayerische „JodelidumWelt wird sie multikulturell dödeldi“-Seligkeit andocken sein, voller fremder Menkonnte. Ob Dagmar Fredeschen, die die innerdeutsche ric, Achim Mentzel, Ingo DuBeziehungskiste mit ihrem binski oder Stefanie Hertel – riesigen Arsenal gegenseitinirgendwo sonst ging die so ger Kränkungen eher wenig genannte innere Einheit reiinteressiert. bungsloser vonstatten als im „Was bleibt?“ lautete der „Hackesche Höfe“ in Berlin-Mitte: Biografisches Hintergrundrauschen Schlager- und VolksmusikTitel jener etwas verquälten autobiografischen Erzählung der DDR-Pa- Millionen Mark wieder aufgebaut wird. Business. Ingo Dubinski, Moderator der radeautorin Christa Wolf, die 1990 für ei- Von einer „wunderbaren Gesundung“ der „Goldenen-1-Hitparade“ (ARD), über das nen wahren deutsch-deutschen Literatur- Museen im Osten gar spricht Werner segensreiche Wirken seines volkstümelnstreit sorgte. Wieder einmal ging es um Schmidt, pensionierter Generaldirektor der den Haussenders, den Mitteldeutschen Rundfunk: „Der gibt den Menschen in Ermachtgeschützte Innerlichkeit inmitten Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Doch all das mag diejenigen nicht inter- furt und Dresden noch einen Haltepunkt.“ einer Diktatur, um die Verantwortung Welten entfernt kreist die große Leipzider Intellektuellen und die Fähigkeit zur essieren, die darin stets den Geist der „KoSelbstkritik, um deutsche Vergangenheit lonisierung“ erblicken. Denn auch die in ger „Faust“-Inszenierung des Ost-Regisund künstlerische Identität. Heute, zehn regelmäßigen Abständen ausbrechenden seurs Wolfgang Engel (Dauer: rund neun Jahre nach dem Fall der Mauer, heißt die Feuilletondebatten, der ganze Diskurs-, Stunden) um das intellektuelle Selbstbild entscheidende Frage: Was wird denn nun? Preisverleihungs- und Veranstaltungszir- des ewigen Suchers und Zweiflers an MeDieser Perspektivenwechsel zeigt, wie kus, nicht zuletzt die geballte Medien- phistos Seite. „Dass sich das größte Werk viel sich binnen eines Jahrzehnts verän- macht, kurz: Die maßgeblichen kulturellen vollende, / Genügt Ein Geist für tausend

Im Osten was Neues

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CINETEXT A. SCHOELZEL

H. J. ANDERS / STERN

Ost-Star Harfouch: Ein Haltepunkt für die Menschen zwischen Erfurt und Dresden

Ost-Stars Masur, Hagen: Von Honnis Untertanen zu Promis der Kulturszene d e r

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Hände“, so phantasiert Faust, doch Engels Version des berühmtesten deutschen Dramas bricht unübersehbar mit dem notorischen Anspruch vor allem der ehemaligen DDR-Künstler, durch ein Gemälde die ganze Gesellschaft erschüttern, die Welt verändern zu wollen. Gerade die Repression in der DDR hatte diese fatale Illusion genährt, die sich zuweilen heute noch artikuliert, etwa im ostdeutschen Lamento über die akute Bedeutungslosigkeit der Kunst unter dem programmatischen Banner des Werbemottos „Die Freiheit nehm ich mir“ – aber was verändert sie außer dem Kontostand? Auch gestandene Ost-Politiker kommen mit den Ambivalenzen der Freiheit immer noch nicht zurecht. Nach neun Jahren im Dienst der parlamentarischen Demokratie äußerte sich die abgetretene Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD), die Jeanne d’Arc des Ostens, jüngst im „Stern“ mit tief empfundener Verachtung über die Pressefreiheit: „Die ist für mich pervertiert. Was alles so geschrieben werden darf, ist unverantwortlich. Wir sind aus der Einfalt in die Vielfalt geraten.“ Vielfalt als kulturelles Feindbild. Gleichzeitig beklagen viele das „Plattmachen“ von DDR-Kultur. Dabei wurden große Theaterhäuser zunächst vor allem in WestBerlin geschlossen: 1992 die Freie Volksbühne, ein Jahr später das Schiller-Theater. Viel Geld fließt dagegen derzeit ins Berliner Ensemble (BE) am Bertolt-BrechtPlatz Nummer 1, wo ab 8. Januar 2000 der neue Intendant Claus Peymann allen korrupten Glattgesichtern der Berliner Republik zeigen will, was eine linke Schnürbodenharke ist. Derweil sammeln sich jeden Sonntagnachmittag, einen Steinwurf vom BE entfernt, hunderte vorwiegend ältere Menschen vor dem Friedrichstadtpalast. Die Welt dreht sich hier, wie zu Honnis Zeiten, immer noch und unverdrossen um phantastisch lange Frauenbeine. Doch derart Seichtes beeindruckt den gelernten Ost-Protestler schon gar nicht. Gegen das Ende vieler Jugendclubs kämpft er bis heute so, als ob sich in den zumeist winzigen Neubauwürfeln der Trabantenstädte die Arbeiterjugend zum Lesen expressionistischer Lyrik getroffen hätte – und als ob aus orientierungsschwachen Burschen rechtsradikale Schläger werden mussten, nachdem es diese Treffpunkte aus Beton und Platte nicht mehr gab. Dass es tatsächlich – ökonomisch wie politisch motiviert – auch an die kulturelle Substanz geht, ist unbestritten. Obwohl unter anderem in Frankfurt (Oder) erst Ballett und Chor, schließlich die gesamte Musiktheatersparte abgebaut, die Potsdamer Oper praktisch abgeschafft und das Theater der Stadt Brandenburg fast auf Null gefahren wurden, geht es jetzt noch mal richtig zur Sache: Die Brandenburgische Philharmonie Potsdam wird aufgelöst 51

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Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre die Zeit stehen geblieben.“ Vielerorts hat man sich in einer überschaubaren Nischenkultur eingerichtet, feiert Ost-Partys, liest die „Junge Welt“ und hört Ost-Rock, dessen Code dem Nichteingeweihten nur schwer verständlich ist. Die populärste Rockband der DDR, die Puhdys („Alt wie ein Baum /

A. SCHOELZEL

scher Weltbetrachtung unvergessliche Stunden vor dem Fernsehgerät, wenn er im raunend-gehusteten Nachtgespräch mit Alexander Kluge über Stalingrad, Aldi, Hölderlin und Sophokles redete, als schöpfe er aus einem nie versiegenden Reservoir von Geschichten und Gedanken – immer mit Whisky und Zigarre. Aus dieser Haltung heraus hat auch Frank Castorf die Ost-Berliner „Volksbühne“ am Rosa-Luxemburg-Platz als stolzen „Panzerkreuzer“ vor dem Prenzlauer Berg in Stellung gebracht. Mit diesem Gerät ballert der 48-jährige Theaterintendant und Stückezerfetzer nun schon seit sieben Jahren wüst in die vertraute Gegend – mit einem Programm, das die spezifische Aggressivität und Asozialität des Ostens konserviert, dabei sein junges Publikum findet und von der gesamtdeutschen Theaterkritik geliebt wird, noch im Verriss. Indes, der Prenzlauer Berg, den er gegen die Obszönität der kapitalistischen Warengesellschaft verteidigen will, ist auch nicht mehr, was er war. Seit die Leidenschaft für subversiv-poststrukturalistische Dichtung nur noch halb so groß ist, seit sich die demonstrativ amoralische Literaten-Szene nach der Entlarvung ihres Führungsoffiziers Sascha „Arschloch“ Anderson als „Inoffizieller Mitarbeiter“ der Stasi plötzlich doch in einem moralischen Diskurs wiederfand, ist die Luft raus. Der Mythos von den anarchistischen Hinterhausdichtern ist dahin. Dafür gibt es jetzt bessere Kneipen. Jenseits des entschwundenen Untergrunds und seiner alten Helden ist derweil eine neue Generation am Werk. Für sie sind, spiegelbildlich zu ihren Altersgenossen im Westen, die ideologischen Klassen- und Grabenkämpfe, Prag ’68 oder die Biermann-Ausbürgerung 1976 keine bestimmenden Grunderfahrungen mehr. Die DDR ist ihnen allenfalls biografisches Hintergrundrauschen, tauglich weder als Quelle für Verbissenheit noch für nostalgisches Sehnen. An der Tatsache, dass der Osten in der Kultur des vereinten Deutschland unterrepräsentiert ist, scheint er selbst nicht schuldlos zu sein. OstAutor Thomas Brussig, dessen Roman „Helden wie wir“ in dieser Woche als Film in die Kinos kommt, sagte jüngst: „Es gibt das Internet, die digitale Revolution, es gibt Kleinanleger, Einschaltquoten, deutsche Soldaten im Krieg BE-Intendant Peymann und die neue Mitte. Aber im Linker Schnürbodenhaken gegen das Establishment D. BALTZER / ZENIT

und durch ein Kammerorchester ersetzt. Das Theater- und Musikangebot soll durch „Fremd- und Verbundproduktionen“ ersetzt werden – ein Hauch VEB Spaß und Entertainment. Nach dem Ende der DDR verschwanden aber nicht nur Bühnen und Ensembles, sondern vor allem die Autorität des Künstlers. Kurz: Dem Osten ist die alte intellektuelle Mitte abhanden gekommen. Zwar ist Christoph Hein gesamtdeutscher PEN-Präsident geworden, sein aktuelles Drama „In Acht und Bann“ aber, eine Art Fortschreibung seiner erfolgreichen Politbüro-Travestie „Die Ritter der Tafelrunde“ von 1989, fand nur mäßiges Interesse. Über Christa Wolf redet man zehn Jahre nach der Wende nur noch, weil sie 70 wurde, und Heiner Müller ist tot. Vor allem der Verlust dieses intellektuellen Übervaters stürzte den geistigen Osten in einige Depressionen: War Müller es doch, der nicht nur gewaltige Menschen- und Menschheitsdramen aufs Papier warf, sondern mit seiner eschatologischen Sehnsucht nach dem ganz Anderen und seiner pointierten Polemik gegen die kapitalistische Warenwelt dem weit verbreiteten Ost-Unbehagen zur Sprache verhalf. Doch auch dem interessierten Minderheiten-Wessi bereitete der Meister zyni-

Ost-Dichter Müller (1994)

Einst intellektueller Übervater

Möchte ich werden“), ist weder auf MTV noch bei Viva präsent, füllt im Osten aber noch spielend die Säle. Gleichzeitig bekennt eine Mehrheit in der alten Bundesrepublik, noch nie „drüben“ gewesen zu sein und schon gar nichts von den Puhdys gehört zu haben. Wie östlich oder westlich ist also die Kultur des „neuen Deutschland“ zehn Jahre danach? Ist sie ernster und protestantischer geworden, wie manche fürchteten, oder ist sie gar noch beliebiger, konsumistischer und orientierungsloser als zum Ende der achtziger Jahre? Es mag sein, dass das kulturelle und politische Klima zugleich südlicher, also heller, und nihilistischer, also dunkler, geworden ist, desillusioniert-ironisch und geradezu atheistisch-neuheidnisch im Sinne der Harald-Schmidt-Show. Gleichzeitig zischen immer wieder ideologische, quasireligiöse Erlösungswünsche durch die Ventile der Spaßgesellschaft, rudimentäre Proteste gegen jene utopielose Ex-und-hopp-Gegenwart, an der man selber teilhat. So ist die gesamtdeutsche Enttäuschung über das rot-grüne Gemurkse von Schröder & Co. auch ein Reflex auf die Erfahrung, dass offenbar nicht einmal das eigentlich Mögliche politisch Wirklichkeit wird, vom Visionären ganz zu schweigen. Zeithistoriker Stölzl entdeckt denn auch in dem „absoluten Nihilismus“ einer jungen Generation von Ost-Autoren und -Regisseuren einen neuen „GrimmelshausenTon“ – als Protest gegen diese Tabula-rasaEpoche, gegen den „lemmingartigen Zug zur Mitte, ohne jede Theorie“, gegen den hohl klingenden Konsens einer Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr zu verstehen scheint. Vielleicht wird gerade diese Erklärungsnot zur kulturellen Herausforderung des neuen Deutschland. Andreas Lehmann, Reinhard Mohr

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„Unsere Schläfrigkeit ist unbegreiflich“ Arnulf Baring über den Wohlfahrtsstaat, die Berliner Republik, den Euro und Ost-Europa

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ie 50-Jahr-Feiern der Bundesrepublik sind er- wert, wäre er nicht so symptomatisch für die Stimstaunlich matt ausgefallen, lustlos, fast beiläufig. Ist mung und Tonlage, in denen Deutsche über das ein gutes Zeichen – ein Beweis der Selbstver- sich und ihr Land sprechen. Von den NS-Verständlichkeit des Erreichten? Oder ist es ein brechen ist überall und täglich die Rede. Kein schlechtes Zeichen, ein Beweis geringen Stolzes Fernsehabend, der ohne diese Chiffre auf die große Leistung dieses halben Jahrhun- des Schreckens auskäme. Weil unsere ganze, viele Jahrhunderte derts, ein Beleg müder Gleichgültigkeit, emotionaler Distanz gegenüber der Bundesrepublik – während das zehnjährige Jubiläum lange Geschichte das Verhängnis 1933 nicht verhindert habe, heißt es weithin, sei sie insgesamt zu verwerfen. des Mauerfalls spektakulär gefeiert wird? Ich habe eine seltsame, irritierende Erfahrung in diesem Som- In der frühen Nachkriegszeit haben sich die Deutschen noch gemer gemacht. Ich veröffentlichte im Frühjahr ein Buch mit dem gen die Behauptung verwahrt, dass eine gerade historische Linie Titel „Es lebe die Republik, es lebe Deutschland“. Politiker aus von Luther zu Hitler führe. Heute ist dies die Auffassung breiter allen ernst zu nehmenden Parteien, aber auch Verlagsleute, Jour- Kreise, wenn nicht die herrschende Meinung. Im Unterricht spielt demgemäß unsere Geschichte keine wichnalisten, viele Freunde und Bekannte haben mir von diesem „provokativen“ Titel abgeraten. Er werde mich in den Verdacht des tige Rolle, vom Stolz auf große Zeiten, vorbildhafte Deutsche der Vergangenheit kann im öffentlichen Bewusstsein keine Rede sein. Rechtsradikalismus bringen. Ich konnte das nicht glauben, insistierte, was denn an diesem Die 68er haben weit mehr in Misskredit gebracht als die eigene Ruf radikal oder extrem sei – den ich doch aus Frankreich über- Elterngeneration. Sie haben alles Vergangene entwertet und ins nommen hätte, wo selbstverständlich der Präsident der Repu- Vergessen gerissen. Aus der selbstherrlichen Geschichtsbesessenblik, aber auch einfache Bürgermeister in feierlichen Momenten heit eines übertriebenen, fatalen preußisch-deutschen ReichspaAnsprachen mit dem Ruf schlössen: „Vive la République, vive la triotismus sind wir ins andere Extrem, in die fast völlige Geschichtsvergessenheit geFrance!“ Es sei für einen raten, die NS-Zeit ausgeDemokraten doch eine nommen. Selbstverständlichkeit, Aber was soll man von die Republik hochleben der emotionalen Stabizu lassen, ihr Glück zu lität von Menschen halwünschen. ten, die ihre Vorfahren, Das wurde mir zöihre eigenen Eltern und gernd zugegeben. Und Großeltern nicht kennen, wie die Republik leben nicht verstehen wollen könne, wenn Deutschund in keiner Hinsicht land nicht lebe, nicht anerkennen können? Ein blühe, es Deutschland Mensch, der seine Vornicht gut gehe? Auch das fahren nicht kennt, bleibt wurde eingeräumt. Imwurzellos, orientierungsmer wieder erlebte ich los. Ähnlich geht es einer ein entspanntes Lächeln, Nation, die ihre Verganstilles Leuchten, ja ein genheit verleugnet. Es tiefes Aufatmen, wenn fehlt uns an der rechten das Missverständnis ausMischung von Nähe, geräumt war. Neugier und Distanz geMich hat diese Erfahgenüber früheren Deutrung aufgestört und beJubelnde Deutsche (1989): „Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!“ schen, es fehlt uns an inunruhigt. Unser emotionales Verhältnis zum eigenen Land scheint mir tiefer gestört, als nerer Balance, Abgewogenheit des Urteils. Aber wen nicht interman vermuten sollte. Wir ruhen überhaupt nicht in uns selbst, be- essiert, was vor ihm war, der wird im Zeitalter der Selbstverwirkjahen uns, Deutschland, auch die Republik nicht wirklich, weil wir lichung auch wenig Verständnis für Generationen aufbringen, die seit Jahrzehnten wesentlich negativ über die eigene Nation haben nach ihm kommen. Wir alle haben aber eine Verantwortung für die Kinder, die Enreden hören, denken lernen. Immer wieder heißt es in deutschen Reden, in Reden über Deutschland, die Franzosen hätten ihr 1789, kel. Meine Kinder werden vermutlich die Mitte, meine Enkel die die Briten ihre lange demokratische Tradition, die USA seit 200 Jahrzehnte des ausgehenden 21. Jahrhunderts erleben. BevölkeJahren, seit Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung, eine rungswissenschaftler sind sicher, dass die Deutschen dann unstrahlende Republik. Grundlage unserer eigenen Identität hinge- weigerlich nur noch 30 Millionen sein werden. Wer bedenkt vergen sei Auschwitz. Günter Grass nannte seine Frankfurter Poetik- antwortungsbewusst, was das heißt, welche Entschlüsse es heute Vorlesung 1990 nicht etwa „Schreiben in Deutschland“, nein: erfordert? In unseren Jahrzehnten hat man den älteren Genera„Schreiben nach Auschwitz“. Ein Titel, nicht weiter erwähnens- tionen, die das Dritte Reich erlebt haben, selbstgerecht und vor56

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J. ECKEL / RETRO

wurfsvoll ihre Versäumnisse vorgehalten. An diesem strengen Demokratie, wie viel vorbildliche Staatstätigkeit jener JahrhunMaßstab müssen auch wir Heutigen, unter ganz anderen Voraus- derte kennt unsere Geschichte! Europa solle endlich erwachsen setzungen, vor völlig verschiedenen Herausforderungen, uns mes- werden, meinte kürzlich wieder einmal „Die Zeit“. Ein Mensch sen lassen. Wir sind den Vorfahren wie den Nachkommen Re- ist erwachsen, wenn er sich so annimmt, hinnimmt, wie er nun einchenschaft schuldig. Gewiss lässt sich fragen: Sind 30 Millionen mal geworden ist. Wenn er sich weder über- noch unterschätzt. Deutsche nicht genug? – Nicht, wenn der Großteil im Rentenal- Auch mit den eigenen dunklen Seiten zurechtkommen, leben ter ist und die Übrigen die sozialen Lasten zu tragen haben. Was kann, sich nicht mehr als einzigartig empfindet, in die Generationsfolge stellt. In diesem Sinne muss erst einmal Deutschland erbedeutet dieser Schwund für unsere Einwanderungspolitik? Ein Volk, dessen Sozialsystem einen ausgewogenen Altersauf- wachsen werden, um in Europa bescheiden und gleichzeitig selbstbau benötigt, bekommt natürlich gewaltige Probleme, wenn kaum bewusst seine Rolle zum gemeinsamen Besten auszufüllen. Niemand außerhalb unserer Grenzen hat je die Vorstellung genoch Junge nachwachsen. Ich will nicht suggerieren, dass die Deutschen durch bevölkerungspolitische Maßnahmen aufgepäp- teilt, dass Europa, die EU, an die Stelle der Nation treten solle oder könne. Es war immer vom pelt werden müssen. Aber Fortbestehen der Natioich will sagen, dass wir nen, zumindest auf absehlangfristiger denken, auch bare Zeit, die Rede. Die für die Enkelgenerationen Völker, auch das unsere, planen müssen. werden für die Lösung der Wenn man das Problem dringenden eigenen Prounseres langfristig unaufbleme erwartungsvoll auf haltsamen Bevölkerungsdie eigene Regierung, das schwundes durch Einwaneigene Parlament blicken. derung lösen will, dann Und das eigene Land, die muss man sich über die fieigene Nation wird darnanziellen, vor allem die über entscheiden, niepsychologischen Folgen mand sonst, keine Allianz, im Klaren sein. Bisher sind keine Union, ob man ökoja die Vertreter des Multinomisch, technologisch in kulturellen immer davon der Spitzengruppe bleibt, ausgegangen, mehr oder (wieder) in sie kommt weniger stillschweigend, oder (weiter) zurückfällt. dass die Ausländer einen Man hat die Deutschen kleinen Anteil darstellen. in Ost und West „SozialEine Situation, bei der die staatspatrioten“ genannt. Deutschen im eigenen Grenze bei Frankfurt (Oder): Den Nachbarn auf die Nerven gehen Wir sind stolz auf unseren Land auf weite Strecken in die Minderheit gerieten, wäre nur erträglich, wenn eine Inte- Wohlfahrtsstaat. Die Honecker-Ära kennzeichnete „die Einheit gration der Ausländer in die deutsche Kultur stattfinden würde. von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, was in der Praxis, wie bei uns Henry Kissinger hat gesagt: „Wenn das, was heute in Amerika heute, auf den Vorrang der Sozialpolitik hinauslief. „Wir haben und auch in Deutschland vertreten wird, die multikulturelle Über- die Sozialpolitik zu sehr in den Vordergrund gestellt und zu zeugung, dass man alle so lassen soll, wie sie sind, schon in den wenig die ökonomischen Notwendigkeiten bedacht“, räumte dreißiger Jahren gegolten hätte, dann wäre mein Aufstieg in Ame- Egon Krenz kürzlich ein. Inzwischen habe er sich zu der Errika gar nicht möglich gewesen, denn dann wäre ich in der Bronx, kenntnis durchgerungen, dass man nur ausgeben könne, was man wo alle damals Deutsch sprachen, weil sie deutsche Emigranten auch erwirtschaftet habe. Diese schlichte, späte, aber fundamenwaren, als Deutsch sprechender Jude sitzen geblieben.“ Die kul- tale Einsicht des letzten SED-Generalsekretärs möchte man turelle und politische Integration ist die Voraussetzung, um sich nicht nur seinen Nachfolgern in der PDS-Führung, sondern allen in der neuen Nation, der Gast-Nation, die dann die eigene wer- deutschen Politikern und natürlich dem Volk dringend ans Herz den soll, erfolgreich durchzusetzen. Wir haben die Folgen der legen. Die alte Bundesrepublik war nie wieder so tüchtig, so erfolgveränderten Zusammensetzung der Bevölkerung bisher in keiner Weise zu Ende gedacht. So gehen wir mit fundamentalen Pro- reich wie in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens (1949 bis 1969); in der zweiten Hälfte ihrer Existenz begann sie, in dem blemen Deutschlands um! Alle Welt weiß, dass wir ein Umsetzungs-, nicht aber ein Er- Irrglauben, die Konjunktur sei staatlicherseits beliebig steuerbar, kenntnisproblem haben. Längst ist allen Verantwortlichen klar, in durchaus unterschiedlichen Phasen sich auf den Lorbeeren der was getan werden müsste. Wir tun das Erforderliche jedoch nicht, beiden Anfangsjahrzehnte auszuruhen, über ihre Verhältnisse zu weil wir mit uns selbst nicht im Reinen sind, den Frieden mit uns leben. Schon lange vor der Wiedervereinigung war sichtbar, dass selbst, mit dem eigenen Land nicht gemacht haben, wesentlich von wesentliche Entscheidungen unerledigt blieben, ja unerörtert vernegativen Gefühlen Deutschland gegenüber erfüllt sind, Deutsch- tagt, ignoriert wurden. Joachim Fest hat gemeint, der Nationalland nicht bejahen können, ihm eigentlich keine, schon gar keine sozialismus sei im Tiefsten Wirklichkeitsverneinung gewesen. glückliche Zukunft wünschen, es am liebsten in einer größeren Hannah Arendt beklagte, dass die Deutschen Tatsachen von MeiEinheit, beispielsweise in Europa, vielleicht auch gleich in den Ver- nungen nicht unterscheiden könnten, Meinungen für Tatsachen hielten, Tatsachen wie bloße Meinungen behandelten. Sind uns einten Nationen, wie Zucker im Tee auflösen würden. Ohne die NS-Verbrechen je zu vergessen, für die auch die diese Züge nicht immer noch, immer weiter eigen? Die deutsche Tatsachenblindheit, Realitätsverleugnung wurde Nachgeborenen historisch haften, müssen wir gleichzeitig einsehen, dass sie lediglich eine kurze Phase einer großen, reichen Ge- noch erstaunlicher mit der Wiedervereinigung 1989/90. Jedem schichte der Deutschen kennzeichnen, nur eine – wenn auch un- aufmerksamen Zeitgenossen hätte sofort klar werden müssen, begreiflich schreckliche – Unterbrechung der langen, insgesamt dass es innen- wie außenpolitisch um weit mehr ging als eine bloße außerordentlich positiven Rolle bedeuten, die wir auf diesem Ausdehnung der Bundesrepublik. Innenpolitisch mussten sich die Kontinent gespielt haben. Welchen kulturellen Reichtum in Mu- ungelösten, aufgeschobenen alten Probleme und die beträchtlisik, Philosophie, Literatur verdankt die Welt zum Beispiel den chen neuen, auch mentalen Lasten, die eine abgewirtschaftete Deutschen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie viel frühe städtische DDR in das vereinte Land einbrachte, zu einer gefährlich großen 58

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FOTOS: J. GIRIBAS

Herausforderung auftürmen. Außenpolitisch war 1991 ohne lan- Neue, tiefe Krisen dort würden uns aber stärker gefährden als ges Nachdenken unschwer zu sehen, dass das Verschwinden der andere, weiter entfernt lebende Gesellschaften – vielleicht nicht Sowjetunion aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa die westliche militärisch, obwohl auch das nicht ausgeschlossen ist, zuminAllianz und in erster Linie – weil geografisch als östlichste Macht dest aber mit dann immer wieder drohenden neuen Flüchtlingsdes Westens am stärksten von dortigen Veränderungen betroffen strömen. Ausdruck unseres anhaltenden Zögerns, die neuen Realitä– Deutschland vor die Frage stellte, was mit dem Erbe des etablierten Sozialismus geschehen müsse, wie man den neuen Regi- ten zum Ausgangspunkt einer entschlossenen, zielstrebigen Polimen im Osten zu begegnen hatte, wie sie demokratisch und markt- tik zu machen, ist die verbreitete Reserve gegen die Formel einer kommenden Berliner Republik, mit der doch lediglich die Erwirtschaftlich zu ermutigen waren. Die zügige, zielstrebige Aufnahme eines Großteils der neuen wartung gemeint ist, dass die in Bonn unerörtert, zumindest unDemokratien in die westlichen Systeme war seit 1990 das Gebot erledigt liegen gebliebenen Fragen in der neuen Hauptstadt der Stunde, das sich in erster Linie Deutschland hätte zu eigen ma- endlich tatkräftig angepackt werden. Eine Autostunde von der heutigen Ostgrenze chen müssen. StattdesDeutschlands entfernt sen betrieb man bei uns sollten sich die außenpoim Irrglauben,Vertiefung litischen Perspektiven und Erweiterung gleichDeutschlands insofern zeitig voranbringen zu ändern, als neue Gefahkönnen, vorrangig jene ren künftig frühzeitiger Vertiefung der EU, die erkannt, Lösungen sorgein Stück weit tatsächfältiger im Voraus belich erreicht wurde, aldacht werden. Es darf lerdings auf französiuns nicht noch einmal sches Betreiben unter passieren, dass wir derart risikoreichen Konditiounbedarft in einen benen, wie insbesondere waffneten Konflikt wie dem voreiligen Experiden dieses Frühjahrs hinment des Euro. eingeraten. Nie wieder Die EU-Erweiterung sollte eine deutsche Regeriet leider auf die langierung von den Ereigge Bank, ohne dass das nissen so überrumpelt unsere Bevölkerung zu werden, dass ihr nichts beunruhigen schien – im anderes übrig bleibt, als Gegenteil. Man glaubt Türken vor dem Schloss Bellevue: „Sind 30 Millionen Deutsche nicht genug?“ einen autoritären, geweithin noch immer, mit unserer Westintegration seien alle außenpolitischen Orientie- walttätigen Potentaten kurzerhand mit unserem verblichenen rungsfragen hinreichend beantwortet. Das galt schon vor 1989/90 Führer und Reichskanzler gleichzusetzen – ein abwegiger Verallenfalls bis zum Beginn der Entspannungsphase, der neuen Ost- gleich, wie der weitere Verlauf der bisher keineswegs ausgestanPolitik Brandts und Scheels. Seit der Wiedervereinigung, seit un- denen Kosovo-Krise gezeigt hat. Wir Deutschen müssen, weil wir den potenziellen Konflikten serer Rückkehr in die Mitte Europas ist unsere (natürlich begrüßenswerte, wichtige, ja alternativlose) Westverankerung keine am nächsten liegen, uns früher und gründlicher als unsere europäischen Alliierten ein kohärentes Bild jener östlichen Krisenhinreichende Antwort mehr auf die neue Gesamtkonstellation. Wir bemerken ebenso wenig, dass unsere zur Routine gewor- regionen machen, die sich offenkundig von Albanien bis Weißrussdenen Reuebekundungen wegen der nationalsozialistischen Un- land und ins Baltikum erstrecken. Es ist ein Unding, dass man heutaten unseren östlichen Nachbarn längst auf die Nerven gehen, te, weil wir nicht hinreichend eigene Experten im Lande haben, sie – etwa die Polen – geradezu wütend machen, weil sie unsere zu Wissenschaftlern nach New York und Washington reisen muss, Gedankenlosigkeit dahinter spüren. Es sei schön und gut, dass wir um verlässlich zu erfahren, was östlich unserer Grenzen eigentuns Hitlers und seiner Untaten anhaltend schämten, bekommt lich vorgeht, sich dort anbahnt. Wenn die Balten Gesprächspartman in Warschau und anderswo heutzutage immer wieder zu ner suchen, um zu wissen, was von der russischen Politik ihnen hören. Aber wichtiger sei, dass sich die Deutschen darüber klar gegenüber zu halten ist, dann fahren sie nicht nach Deutschland, würden, was sie heute und morgen gemeinsam mit unseren sondern nach Amerika. Die ganze Osteuropa-Expertise sitzt in langjährigen Verbündeten und den neuen osteuropäischen Part- Amerika. Unsere Schläfrigkeit ist mir unbegreiflich. Seit 1990 komme ich aus dem Staunen über meine Landsleute nern anzupacken gedächten. Was ist beispielsweise von der polnischen Anregung zu halten, sich gemeinsam um die Stabilisierung nicht heraus. Selbst angesichts der riesigen Staatsverschuldung neigen sie dazu, jede Regierung abzustrafen, die ihr notwendige der ukrainischen Demokratie zu bemühen? Darauf werden die wenigsten von uns eine Antwort wissen, ha- Einschränkungen des hohen Lebensstandards zumuten will. Da ben wir doch nicht einmal bemerkt, wie fundamental, und zwar kann man nur mit Bertolt Brecht ironisch fragen: „Wäre es da zum Positiven hin, das lange tiefgestörte polnisch-ukrainische nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein Verhältnis sich in den letzten Jahren gewandelt hat. Stattdessen anderes?“ endet für die meisten Deutschen noch immer unser Europa an der Wartburg, allenfalls an Oder und Neiße, die man stellenweise Arnulf Baring durchwaten kann, so dass uns längst klar sein sollte, dass wir ein ureigenes Interesse an der wirtschaftlichen, sozialen und politiwurde durch den Bestseller „Machtschen Stabilität ganz Ost-Mitteleuropas haben müssen. wechsel. Die Ära Brandt-Scheel“ (1982) Nach dem Ersten Weltkrieg sind fast alle neuen ost-mittelbekannt. Geboren 1932, lehrt der Histoeuropäischen Staaten rasch autoritär entgleist. Am Vorabend riker, der auch im Bundespräsidialamt des Zweiten Weltkriegs war nur noch die Tschechoslowakei eine arbeitete, bis 1997 Zeitgeschichte und halbwegs funktionsfähige Demokratie. Weshalb sollten die neuInternationale Beziehungen an der Freien Regime, nach den Verheerungen des Sowjetismus, heute staen Universität Berlin. biler sein als die Regierungssysteme dieses Raumes nach 1918? 60

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FOTOS: K. GREISER ( li.); P. FRISCHMUTH / ARGUS ( re.)

Ex-DDR-Bürger Gartenschläger (1976 am Tatort), Grabmal in Schwerin: „Eben so’n Ding besorgen“ PROZESSE

„Herren über Leben und Tod“ Einer der spektakulärsten deutsch-deutschen Todesfälle kommt vor Gericht. Die Anklage zeigt, dass DDR-Verbrechen allenfalls noch mit juristischer Kreativität zu bewältigen sind.

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amals, als das Böse aus allen Ritzen der zusammenstürzenden DDR quoll, war der Fall natürlich Chefsache. Im August 1990 teilte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) dem Generalbundesanwalt neue Erkenntnisse über einen spektakulären Todesfall an der innerdeutschen Grenze mit. Für den BND stand fest: Die Schüsse, mit denen der in Hamburg lebende DDRHasser Michael Gartenschläger im Frühjahr 1976 getötet wurde, seien auf höchste Weisung gefallen. Stasi-Chef Erich Mielke persönlich habe „die Ermordung“ befohlen. Daraufhin hätten Spezialisten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Gartenschläger „auf DDR-Gebiet gelockt und weisungsgemäß erschossen“ – ein kapitales Staatsverbrechen. Aus der dringenden Chefsache wurde ein langes Verfahren. Und die eindeutige BND-Story vom Mord in der Stasi-Falle mutierte zu einem juristisch hoch komplexen Drama. „Wir sind auf einige rechtliche und tatsächliche Probleme gestoßen“, bekennt ein Ermittler. Ab Dienstag soll der Fall nun endgültig aufgeklärt werden. Vor dem Landgericht Schwerin müssen sich die ehemaligen Stasi-Grenzer Walter Lieberam, 50, Uwe Wienhold, 45, und Peter Raupbach, 44, wegen versuchten Totschlags verantworten. 64

Da Raupbach zur Tatzeit erst 20 Jahre alt war, findet die Verhandlung vor der Jugendstrafkammer statt. Wenn es um die allmähliche Verwandlung des DDR-Staatsgebietes in ein Gefängnis ging, log die Staatsführung besonders dreist. So mokierte sich SED-Chef Erich Honecker im Oktober 1972 vor 4500 Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend, der Westen mache in Empörung über „sogenannte Todesmaschinen, die es gar nicht gibt“. Dabei hatten Pioniereinheiten im Jahr zuvor damit begonnen, die trichterförmigen Selbstschussanlagen des Typs SM 70 an der Grenze zu montieren, alle zehn Meter und in drei verschiedenen Höhen (0,40, 1,50 und 3,00 Meter). Das unmenschliche SM-70-Regime nach Strich und Faden bloßzustellen, das war ein Bravourstück so recht nach dem Geschmack von Michael Gartenschläger. Schon als 17-jähriger DDR-Bürger hatte er sich über den Mauerbau empört und die Scheune einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft abgefackelt. Nachdem ihn das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) am 15. September 1961 „zu lebenslangem Zuchthaus“ verurteilt hatte, schmähten ihn DDR-Zeitungen als „Staatsverbrecher“, der „für immer von der Gesellschaft isoliert werden“ müsse. 1971 kaufte ihn die Bundesregierung frei. d e r

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Zwar hatte Gartenschläger den Facharbeiterbrief als Dreher, aber für eine regelmäßige Arbeit war er nicht zu haben. Gemeinsam mit Gleichgesinnten, die er häufig im Hamburger Sozialheim „Helfende Hände“ traf, suchte er lukrative Abenteuer – am liebsten zu Lasten der Ostzone. Geschick und Glück hatte Gartenschläger vor allem als Fluchthelfer. Er holte sechs Ostdeutsche in den Westen, schmuggelte auch mal einen Rumänen nach Jugoslawien oder organisierte einen heimlichen Pass-Wechsel in Libyen. Im November 1975 las Gartenschläger im SPIEGEL einen Bericht über den Aufbau und die Funktionsweise der DDRGrenzanlagen. Vor allem ein Satz blieb bei ihm hängen: Wie die Selbstschussautomaten im einzelnen funktionieren, „weiß der Bundesgrenzschutz bis heute nicht genau“. Für ihn ein klarer Fall: „Wenn die so’n Ding brauchen und nicht haben, wirst du denen eben so’n Ding besorgen.“ Wochenlang ging er an der Grenze auf Pirsch, studierte die Sprengtrichter durch seinen Feldstecher und zog Rückschlüsse, wenn einer der Apparate durch Wildwechsel hochging. Mitte März wählte er seinen Tatort aus, ein unübersichtliches Terrain bei Büchen, zwischen dem westdeutschen Bröthen und dem ostdeutschen Wendisch Lieps. In der Nacht zum 30. März 1976 war es so weit. Während ein Kumpel das Gelände sicherte, robbte Gartenschläger etwa 50 Meter südlich der Grenzsäule 231 zum Zaun, durchtrennte die Zündkabel, löste die Schrauben – und dann „nichts wie weg“. Die geklaute SM 70 übergab er dem SPIEGEL, der das Gerät in Labors zerlegen und analysieren ließ (16 und 18/1976). Gartenschlägers Coup erregte großes Aufsehen, in Kreisen eingefleischter DDR-

Deutschland nen mit Kalaschnikows, einer, Raupbach, hat gar ein leichtes Maschinengewehr. Gartenschläger und seine Kumpane stellen trotz der Dunkelheit fest, dass sie auf der anderen Seite erwartet werden. Flüsternd verständigen sie sich darauf, für heute abzudrehen. Doch Gartenschläger, der eine spanische „Star“-Pistole bei sich trägt, macht plötzlich kehrt. Wenigstens, sagt er, will er einen der Schussapparate zünden: „Die sollen wissen, Gartenschläger hat wieder zugeschlagen.“ Stasi-Kämpfer Linß erspäht auf einmal einen Schemen, eine Gestalt. Er greift zu seiner Kalaschnikow – und stößt dabei an ein Magazin. Es klappert metallisch in der Dunkelheit. Dann peitschen Schüsse durch die Nacht. Linß behauptet, sein Gegenüber habe zuerst gefeuert, er habe in Notwehr reagiert und unmittelbar nach ihm seine drei schwer bewaffneten Kameraden. Andere Zeugen hingegen hören sofort mehrere Schüsse gleichzeitig. Sicher ist: Im Licht der DDR-Scheinwerfer liegt nach der Ballerei ein Mann am Boden, regungslos. Linß tastet sich heran, hebt den Arm des Getroffenen – und spürt Gegendruck. „Er lebt noch“, ruft er seinen Kameraden zu. Von hinten brüllt Lieberam: „Weg da vorne!“ Linß springt zur Seite, die drei anderen feuern auf den Schwerverletzten am Boden. „Es war eine wilde Schießerei“, erinnert sich Raupbach. Für die Staatsanwaltschaft ist die zweite Schussfolge das Verbrechen, denn bei den ersten Schüssen lässt sich der genaue Ablauf nicht klar genug nachvollziehen. Mit den anschließenden Salven aber hätten sich die drei Schützen „zu Herren über Leben und Tod aufgeworfen“. Tatsächlich war Gartenschläger vollkommen wehrlos, und die gerichtsmedizinische Rekonstruktion ergab, dass er offenkundig schon durch die ersten Schüsse tödlich verwundet worden war. Deshalb wird nur der Versuch angeklagt, nicht eine vollendete Tat. Die Logik dahinter: Wenn er schon so gut wie tot war, konnten die Stasi-Männer ihn nicht mehr umbringen. Linß, 44, der bei der zweiten Salve nicht geschossen hat, ist im Prozess nur Zeuge. Ein paar Wochen später erhielten alle vier Schützen den DDR„Kampforden in Silber“. Sie hätten ihrem Staat „gewissenhaft und zuverlässig“ gedient und sich „konsequent bei Erfüllung der Aufgabe“ gezeigt. Zur konspirativen Feier in Berlin überreichte Generalleutnant Kleinjung auch eine Prämie von 1500 Mark. Es gab Würstchen und Sekt. FOTO (rechts): MROTZKOWSKI

Gegner war er auf einmal berühmt. Am sitzer dieses Wagens sei wahrscheinlich 22. April erhielt er einen Brief der „Ar- unterwegs, um eine weitere SM 70 zu beitsgemeinschaft 13. August“ mit der holen. Bitte, gegen ordentliches Honorar eine Die DDR-Truppen, die das Gespräch weitere Selbstschussanlage abzubauen. mithören, reagieren sofort. GeneralleutNoch in der Nacht des gleichen Tages zog nant Karl Kleinjung, Chef der Hauptabteier los – und knipste nur 200 Meter vom lung I, alarmiert alle seine Einsatzkräfte ersten Tatort entfernt eine zweite SM 70 im Grenzkommando Nord und schickt vom Zaun. weitere Verstärkung an den Abschnitt rund Die DDR-Machthaber tobten. Stasi-Chef um die Grenzsäule 231. In seinem ausMielke habe, so ein früherer MfS-Offizier, führlichen „Maßnahmeplan“ verlangt seiner Hauptabteilung I befohlen, „diesen Kleinjung wiederum, „die Täter festzuTäter bei einem erneuten Angriff unbe- nehmen bzw. zu vernichten“. dingt festzunehmen“. Gegen Kleinjung, heute 87, und zwei In den zackig erstellten Plänen der Miel- weitere hochrangige Ex-Offiziere hat die ke-Untergebenen klingt die Weisung deut- Staatsanwaltschaft 1997 in Berlin Anklage lich schärfer. Schon einen Tag nach Gar- erhoben. Der Vorwurf lautet nur auf „Tottenschlägers zweitem Coup ist in einer schlag in mittelbarer Täterschaft“. Das schriftlichen „Information“ von „Festnah- Landgericht hat die Verhandlung gegen die me oder Liquidierung der Täter“ die Rede. Befehlshaber zwar bereits formell eröffDie zweite Variante lautet „Festnet, doch Termine stehen noch nahme oder Vernichtung“. nicht fest. MfS-Chef Mielke, 91, Ehemalige MfS-Offiziere be- Drei DDR-Grenz- wird von der Justiz nicht mehr soldaten streiten bis heute, dass das ein behelligt, da er verhandlungsunfeuern auf Mordauftrag war. Im pervertierfähig ist. ten Deutsch ihres Regimes, er- den SchwerverAm 29. April fällt Gartenläutert einer, habe „vernichten“ schläger Stasi-Leuten nahe der letzten, der oder „liquidieren“ lediglich „die Grenzsäule 231 ins Auge. Die wehrlos am Anwendung der Schusswaffe unPosten erstatten Meldung: Boden liegt ter den damaligen Schusswaf„14.38 Uhr – eine männliche fengebrauchsbestimmungen und Zivilperson … beobachtet das nicht die Tötung eines Menschen be- Territorium der DDR mittels eines Ferndeutet“. glases. Beobachtete Person ist identisch Am 24. April nimmt ein spezielles Ein- mit dem Täter.“ satzkommando der Stasi den Dienst an In der Nacht zum 1. Mai fährt Gartendem von Gartenschläger bevorzugten schläger wieder los. Im Auto erzählt er, so Grenzabschnitt auf. Dass sie auf der rich- einer seiner beiden Mitstreiter, „dass er tigen Spur sind, erfahren die MfS-Leute die DDR so lächerlich machen wolle, dass am Morgen des 26. April von Beamtenkol- alle Welt ihren Spaß hätte“. Diesmal möchlegen aus Westdeutschland. Über Funk ver- te er den Todesapparat vor der Ständigen ständigen sich trottelige Bundesgrenz- Vertretung der DDR in Bonn aufstellen schützer, ein besonderes Augenmerk sei und dazu Schilder: „Vorsicht Zonengrenze auf einen BMW 2500 zu legen. Der Be- 200 Meter“. Die Nacht ist kühl, nur drei Grad über * Links: 1980 bei einer Feier mit SED-Chef Erich Null. Hinter dem Grenzzaun an der Säule Honecker; links von Honecker Stasi-Chef Erich Mielke, 231 liegen vier Schützen: Lieberam, der rechts von Honecker HVA-Chef Markus Wolf, 2. v. r. Zugführer, Wienhold, Raupbach sowie Kleinjung; rechts: im Oktober vor seinem Haus in Herbert Linß. Bewaffnet sind drei von ihBerlin.

Stasi-Spitze, Ex-General Kleinjung*: „Täter festnehmen bzw. vernichten“ d e r

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Deutschland

Ricardo.de-Homepage: „Natürlich ist da viel Müll dabei“

Friedhof der Kuscheltiere Online-Auktionshäuser überbieten sich mit bizarren PRAktionen. Das Alltagsgeschäft ist jedoch zäh. Für einige dürfte bald der Hammer fallen.

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rwin Liedke, 37, hält sich selbst für eine gelungene Mischung aus Kaffeefahrt-Clown, Pausen-Füller und Geschäftsmann. In seiner Büro-Wabe am Hamburger Hafen drängeln sich mitunter ein paar hundert Kauflustige – virtuell, denn Liedke rühmt sich, „der weltweit erste Internet-Auktionator“ zu sein. Mehrmals pro Woche verhökert der Schirm-Herr des Online-Versteigerers Ricardo.de via Mausklick „alles, was einen Stecker hat“: Ramschpaletten voller Kaffeemaschinen und Handys, Restposten von Staubsaugern und Notebooks. Mal ging hier eine Statistenrolle in der „Lindenstraße“ weg, mal eine kanadische Insel. Liedke versteigert sogar UntergangsTrips der besonderen Art: eine Tauchfahrt zur „Titanic“ wie einen KanzleramtsRundgang mit Doris Schröder-Köpf „samt Probesitzen auf Gerhards Sessel“. Der Gag heiligt die Mittel. Verrückte wie Liedke und ihre noch verrückteren Offerten sind der letzte Schrei in einem – zumindest an Lautmalerei – nicht armen Geschäft. Das Online-Auktionsgewerbe brummt. Der Suchdienst auktionsindex.de bastelt bereits an einer Liste der Top-500-Firmen. Jung-Unternehmer wie die Gründer des Berliner Auktionshauses 68

alando.de zeigten, wie schnell man in der bunten Branche reich werden kann. Nach nur drei Monaten verkauften sie ihre Klitsche im Sommer für einen zweistelligen Millionenbetrag an den weltweiten Marktführer eBay. Die wachsende Konkurrenz überbietet sich mit immer neuen Studien und dubiosen Rekord-Zahlen. Ricardo rühmt sich seiner 300 000 registrierten Kunden, auch wenn darunter, wie bei anderen auch, ein hoher Prozentsatz von Karteileichen und Mehrfach-Anmeldern sein dürfte. Alando/eBay kontert mit einem gigantischen Flohmarkt von über 500 000 Produkten. Wer jedoch durch die virtuellen Regale surft, findet tausendfach Nippes, Schrott und Klamotten-Müll, für den kein einziges Gebot vorliegt. Was darf es sein? Ein „Sexy Rio Slip“ für 8 Mark bei eBay? Ein „Designerstuhl Wurzelholz“ für 250 Mark bei andsold.de? Oder ein „Steiff Gürteltier SN00004“ für 699 Mark bei ricardo.de? Die Internet-Regale sind ein Friedhof der Kuscheltiere, ein Flohmarkt oft unverkäuflicher Nichtigkeiten. „Natürlich ist da viel Müll dabei“, gibt Ricardo-Sprecher Matthias Quaritsch zu. „Aber das macht auch den Charme aus.“ Online-Auktionen bieten das gewisse

W. GRITZBACH

INTERNET

Ricardo.de-Auktionator Liedke

„Alles, was einen Stecker hat“ d e r

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Nichts. Nur vier Prozent der NetzSurfer verschlage es regelmäßig auf die Seiten irgendeines Versteigerers, bilanziert eine Studie der Marktforscher von Fittkau & Maaß. Wenn die Kunden dann noch gefragt werden, was ihnen an Online-Auktionen besonders gefalle, nennen über 40 Prozent den „Unterhaltungswert“. Kein Wunder: Noch immer geht es den Firmen vor allem darum, die eigene Marke bekannt zu machen. Koste es, was es wolle. Im ersten Geschäftsjahr gab Ricardo rund sieben Millionen Mark für Marketing aus, mehr als die Firma überhaupt umsetzte. Für die nächsten Jahre sind rote Zahlen fest eingeplant, was niemanden stört. Außer eBay weist keiner Gewinn aus. Hemdsärmeligkeit gehört zum Handwerk: Ricardo finanziert seine Werbung gern mit Gegengeschäften. Die Pro-Sieben-Gruppe bekam für TV-Spots Aktien im Wert von rund 2,5 Millionen Mark. Michael Beckel, Ex-Verlagsgeschäftsführer des „Stern“, wurde für einen solchen Tauschhandel schwer getadelt. Er soll die Verlagsspitze bei Gruner + Jahr nicht rechtzeitig informiert haben. Im Geschäft Privat-an-Privat schleusten alle Internet-Händler im ersten Halbjahr dieses Jahres gerade mal 810 Millionen Mark durch ihre Kanäle. Programmiert ist weniger der Erfolg als der Ärger: Die virtuellen Lager müssen fortwährend nach Waffen- oder Drogendeals, Päderasten-Perversionen, Pornos und Organ-Offerten durchstöbert werden. „Bei uns sind Gott sei Dank noch keine Nieren aufgetaucht“, grinst Ricardo-Mann Quaritsch. Die Sicherheitsvorkehrungen seien „primitiv“, urteilt das Fachmagazin „Internet World“. Auch die Zahlungsmoral sorgt für Streitigkeiten zwischen Verkäufern und Käufern. Zudem kaufen rund zehn Prozent im Internet teurer ein als im Laden zum Listenpreis, schätzt man bei Ricardo. Für die ersten Auktionsklitschen dürfte bald der Hammer fallen. Europaweit könnten neben eBay „nur zwei bis drei Anbieter überleben“, glaubt Ricardo-Vorstand Stefan Glänzer. Sein eigener Börsenwert sackte im Sommer tief ab. Momentan verkauft sich nur eines wie geschnittenes Brot: Gerüchte. Die sechs Alando-Gründer etwa sollen das Hickhack mit ihren neuen US-Chefs bei eBay bereits wieder satt haben. Und Hans-Jörg Assenbaum, entnervter Geschäftsführer des nur mäßig erfolgreichen Bertelsmann-Ablegers andsold.de, schmeiße demnächst hin. Er werde sich nächstes Jahr verabschieden, sagt Assenbaum lapidar, findet dann aber zu den gängigen FrohsinnsParolen zurück: „Wir entwickeln uns prächtig.“ Thomas Tuma

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U. DECK / ARTIS

Verfassungsrichter Paul Kirchhof, Limbach, Hans-Joachim Jentsch*: „Wie weit reichen unsere Kompetenzen?“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H

„Auch wir können irren“ SPIEGEL: Frau Limbach, das Verfassungsge-

richt macht neuerdings Reklame, lädt die Bürger in dieser Woche zu ausgesuchten öffentlichen Verhandlungen ein. Hat Ihr Haus Image-Probleme? Limbach: Das Vertrauen der Bürger in das Bundesverfassungsgericht ist eher zu groß. Aber wir haben ein Problem, weil viele nicht wissen, worum es bei uns wirklich geht, nämlich allein um verfassungsrechtliche Fragen. Viele wenden sich im Irrglauben an das Bundesverfassungsgericht, dass dieses letzte Instanz sei, die auch noch einmal guckt, ob die unteren Gerichte das Zivil- und Strafrecht richtig angewandt haben. Und viele beschäftigen das Gericht mit Bagatellen. SPIEGEL: Wundert Sie das? Das Gericht steht seit langem in dem Ruf, sich sowohl in die Politik als auch in die Rechtsprechung allzu heftig einzumischen. Sie und Ihre Kollegen geben sich omnipotent. Limbach: Das liegt uns fern. Wir werden nur auf einen Antrag hin tätig. Und unver* Oben: bei der Verhandlung zum Länderfinanzausgleich am 22. September; unten: Ministerpräsidenten Erwin Teufel, Edmund Stoiber und Roland Koch als Vertreter der klagenden Länder.

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meidlich wirkt die Interpretation der Ver- normen, die offen und unpräzise sind und fassung eines politischen Gemeinwesens deshalb Interpretationsarbeit herausfordern. auf die Politik ein. Usurpationsgelüste ver- SPIEGEL: Kurz und dunkel, meinen Ihre Kolspüren wir nicht. Auch bei uns gilt: Wo legen, sei das Grundgesetz. kein Kläger, da kein Richter. Limbach: So kann man es auch sagen. Das SPIEGEL: Politiker beklagen wohl nicht ohne Musterbeispiel ist das Recht auf informaGrund, dass Ihr Gericht es geschafft hat, die tionelle Selbstbestimmung … meisten Probleme des Landes als verfas- SPIEGEL: … dass also jeder Bürger Einfluss sungsrechtliche Frage zu deklarieren, folg- darauf nehmen kann, was mit seinen perlich ein Mitspracherecht zu beanspruchen. sönlichen Daten geschieht. Limbach: Das ist eine groteske Übertreibung. Wobei ich das Verdienst des Gerichts nicht schmälern will, zum Aufbau des Rechtsstaats in der Bundesrepublik einen erheblichen Beitrag geleistet zu haben. Wir treffen unsere Entscheidungen ausschließlich am Maßstab der Verfassung. Aber gewiss haben Sie ein leichtes Spiel mit Ihrem Vorwurf. Die Schwierigkeit, unsere Aufgabe zu begrenzen, liegt in der besonderen Gestalt der Verfassungs- Politiker in Karlsruhe*: „Zu gern auf das Gericht verlassen“ d e r

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DPA

Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, über den Einfluss der Karlsruher Richter auf die Politik und über die Zukunft des Rechts in Europa

Deutschland Limbach: Dieses Recht kann nicht unmittelbar, also wortwörtlich, aus dem Grundgesetz herausgelesen werden. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes konnten diese Problemlage auch gar nicht voraussehen. Und doch musste unter dem Eindruck des technologischen Wandels, der die Privatheit der Bürger empfindlich beeinträchtigen kann, das Verfassungsgericht eine Antwort finden. SPIEGEL: Warum eigentlich? Warum kann man nicht Dinge, die vom Grundgesetz nicht bedacht wurden, der Politik überlassen? Limbach: Das könnte bei Untätigkeit der Politik zu einer gewissen Versteinerung und sozialem Unfrieden führen. Wenn es dabei um verfassungsrechtliche Grundpositionen der Bürger geht, wäre eine Fortschreibung der Verfassung erforderlich. SPIEGEL: Eine Sache der Politik, nicht der Richter. Limbach: Man ändert eine Verfassung nicht bei jedem neu auftretenden Problem. Das ist viel zu beschwerlich. Die Richter müssen die Verfassung als ein „lebendes Instrument“ begreifen, das es im Lichte der heutigen Verhältnisse auszulegen gilt. Das Bundesverfassungsgericht ist bewusst mit dem Auftrag eingesetzt worden, der Verfassung zur Wirksamkeit zu verhelfen. Das bedeutet bei einem Wandel der ökonomischen und technologischen Verhältnisse, dass das Gericht behutsam und mit kleinen Schritten das Grundgesetz fortschreiben muss, aber im Geiste dieser Verfassung. SPIEGEL: Das Gericht ist der Geist? Limbach: Ich meine damit, im denkenden Gehorsam gegenüber dem Grundgesetz. SPIEGEL: Nehmen Sie zum Beispiel das Urteil aus dem Jahr 1993 zum Abtreibungsparagrafen 218 im Strafgesetzbuch. Da hat sich das Gericht Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch ausgedacht und in Kraft gesetzt. Limbach: Damals stand der Senat vor der Schwierigkeit, dass in beiden Teilen Deutschlands trotz der Wiedervereinigung unterschiedliches Recht gelten würde, wenn er nicht eine Übergangsregelung trifft. Dass man das einerseits verhindern und dem Gesetzgeber andererseits einen gewissen Zeitraum verschaffen wollte, bis zu dem er das Gesetz noch einmal reformiert, erklärt diese besondere Situation. SPIEGEL: Ein jüngeres Beispiel: Das Gericht erklärt eigenmächtig, welche Erziehungsfreibeträge im Steuerrecht in Kraft treten, wenn der Gesetzgeber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt untätig bleibt. Limbach: Das Gericht, das über keine Vollstreckungsmöglichkeiten verfügt, muss mitunter darauf bedacht sein, durch Fristsetzungen seinen Entscheidungen Wirksamkeit zu verschaffen. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorweggenommen, wie der Steuergesetzgeber dem Tatbestand im Einzelnen Rechnung trägt, d e r

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P. ADENIS / G.A.F.F.

Gericht verlassen und dieses anrufen, weil sie zu zerstritten oder zu zögerlich sind, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen. SPIEGEL: Manchmal entfacht das Gericht aber selbst neuen Streit. Bei der Entscheidung zur Vermögensteuer hat das Gericht en passant den so genannten Halbteilungsgrundsatz aufgestellt, um den es seither heftige Debatten unter Juristen und Politikern gibt: Häufig wird das Urteil so interpretiert, dass die Bürger nicht mehr als eine 50-prozentige Steuerlast tragen müssen. Selbst Ihr ehemaliger Richterkollege Ernst-Wolfgang Böckenförde hat festgestellt, dass dies eine unnötige und womöglich unverbindliche Stellungnahme war. Limbach: Wir Richter – und auch die Richterinnen – pflegen unsere Entscheidungen nicht zu kommentieren oder zu erläutern. Demonstration gegen Abtreibungsstrafrecht (1992): „Friedenstiftend gewirkt“ SPIEGEL: Aber solche frei schwebenden Zahlenspiele machen das Gericht populär. dass Ehe und Familie unter dem besonde- Limbach: Das Grundgesetz ist in diesem Limbach: Maßstab für unsere Entscheidunren Schutz unseres Staates stehen. Punkte recht eindeutig. Gleichwohl oder gen kann nicht sein, wie populär sie sind. SPIEGEL: Aber für den Fall, dass der so gerade deswegen gilt, dass auch das Gericht Wir Juristen haben dafür zu sorgen, dass schnell keine Lösung findet, selbst über auf die Grenzen seiner Kompetenzen be- das Grundgesetz zu Wort kommt. dacht sein muss. Es gibt kaum ein Problem, SPIEGEL: Gibt es auf alle verfassungsrechtmehr als 20 Milliarden Mark verfügt. Limbach: Das ist eine schlichte Behauptung, das von uns so intensiv diskutiert wird: Wie lichen Fragen nur die eine zwingende Antdie gern kolportiert wird. Das Bundesver- weit reichen unsere Kompetenzen? Wo be- wort des Grundgesetzes? fassungsgericht hat dem Gesetzgeber schon ginnen die Kompetenzen von Legislative Limbach: Ich meine, nein. Selbst das Bunin früheren Urteilen deutlich gemacht, dass und Exekutive? Auch in dem Verfahren, das desverfassungsgericht kann irren. Aus der Familien auch hinsichtlich ihres Existenz- wir in dieser Woche abschließen. Offenheit und Vagheit von Grundrechtsminimums zu schützen sind. Keine Regie- SPIEGEL: Beim Länderfinanzausnormen und Grundrechtsprinzirung, kein Parlament ist beglückt, wenn gleich? pien folgt auch, dass nicht nur „Das Gericht die eine Interpretation die einein Gericht eine Entscheidung trifft, die Limbach: Ja. Stets pflegen wir uns das mühsam ausgehandelte Haushaltsar- zu vergewissern, was unsere Auf- ist in der einen zig richtige sein muss. oder anderen SPIEGEL: Warum schicken Sie die rangement in Frage stellt. Das wissen wir gabe ist und wo der durch das wohl. Grundgesetz beschriebene Ge- Entscheidung Politiker nicht manchmal mit der Auskunft zurück, sie sollen SPIEGEL: Das Gericht pfuscht dem Gesetz- staltungs- und Entscheidungsein wenig spielraum des Gesetzgebers beihre Probleme selber lösen? geber ins Handwerk. zu deutlich Limbach: Das Grundgesetz hat sich deut- ginnt. Ich will nicht leugnen, dass Limbach: Das Grundgesetz hat geworden“ lich für den Vorrang der Verfassung ausge- das Bundesverfassungsgericht dem Gericht die Aufgabe übersprochen und angeordnet, dass die Grund- mitunter in der einen oder andetragen, Kompetenzstreitigkeiten rechte unmittelbar alle staatlichen Gewal- ren Entscheidung ein wenig zu deutlich ge- zwischen den anderen staatlichen Instanten binden, auch den Gesetzgeber. Es ist die worden ist. zen zu entscheiden. Viele dieser EntscheiAufgabe des Gerichts, darüber zu wachen, SPIEGEL: Sollte das Gericht diese Entwick- dungen haben auch friedenstiftend gewirkt. dass die Gesetze im Einklang mit der Ver- lung nicht wieder zurückdrehen? Denken Sie an das Abtreibungsstrafrecht. fassung stehen. Limbach: Von einer Entwicklung im Sinne SPIEGEL: Also doch: Karlsruher Urteile statt SPIEGEL: Aber jedenfalls gegenüber der ge- einer Tendenz kann nicht die Rede sein. politischer Debatten. setzgebenden Gewalt fordern Ihre Kritiker Umgekehrt habe ich zuweilen den Ein- Limbach: Nein, das wäre schade. Nehmen druck, dass sich die Politiker zu gern auf das Sie das Beispiel der Entscheidung von mehr Respekt.

Deutschland flüssig werden, wird das Bundesverfassungsgericht durch die europäischen Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg überflüssig werden. Umso weniger, als derzeit auf europäischer Ebene ein föderales Staatswesen gar nicht angepeilt wird. SPIEGEL: Über dem Bundesverfassungsgericht ist nur der „blaue Himmel“, heißt es so schön. Der blaue Himmel ist aber jetzt Europa. Limbach: Dazu sage ich nur so viel: Als gute Europäerin ist es für mich selbstverständlich und zu respektieren, dass es auf europäischer Ebene weitere Gerichte gibt, die auch einmal anders entscheiden als wir. Schließlich wird das Menschenrechtsniveau in Europa davon abhängen, wie diese Gerichte, die nationalen und die europäischen, miteinander zusammenarbeiten. SPIEGEL: Was halten Sie dann von der Idee eines Grundrechte-Katalogs für die EU? Limbach: Ich sehe dessen Bedeutung vor allem in der Symbolik. Schließlich haben wir ja heute schon einen Grundrechtsschutz auf EU-Ebene, den der Europäische Gerichtshof aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und aus der Europäischen Menschenrechtscharta entwickelt hat. SPIEGEL: Das Ende des nationalen Verfassungsstaats ist also noch nicht nahe? Limbach: Im Gegenteil, in dem Maße, wie wir die europäische Integration vorantreiben, müssen wir im eigenen Lande um eine lebendige und rechtsstaatliche Demokratie besorgt sein. Ich halte es für unrealistisch, dass sich unsere Staatlichkeit einmal im Supranationalen auflöst. SPIEGEL: Frau Limbach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. T. WEGNER / LAIF

1994 zu den Einsätzen der Bundeswehr chen Besteuerung von Renten und Pensioauf dem Balkan. Diese hatte ja nicht nur nen steht noch an. Sie müssen zunehmend für die Politik eine Wirkung. Das war Verteilungskämpfe schlichten. auch für jeden Angehörigen der Bundes- Limbach: Bei diesen Verfahren geht es notwehr und deren Familienangehörige eine wendig um finanzielle Fragen. Doch schlichsehr wichtige Frage. Hier hat das Urteil ten wir nicht Verteilungskämpfe. Es ist Sades Gerichts streitschlichtend gewirkt. Be- che des Gesetzgebers, soziale Gegensätze denken Sie, dass es sich dabei nicht nur zum Ausgleich zu bringen. Das Gericht hat um einen politischen Konflikt, sondern um sich in solchen Fragen stets zurückgehaleine auch in der Staatsrechtslehre umstrit- ten. So hat es beispielsweise darauf vertene Verfassungsfrage gehandelt hat. SPIEGEL: Aber gerade der Streit um die Auslandseinsätze der Bundeswehr zeigt doch, dass das Gericht, wenn es Politik macht, auf Dauer nicht ernst genommen wird. Als es jetzt gegen Serbien ging, spielten die entgegenstehenden Bestimmungen des Völkerrechts und des Grundgesetzes, die Sie in Ihrem Urteil von 1994 noch hochgehalten haben, überhaupt keine Rolle mehr. Die Deutschen sind einfach losgeflogen. Limbach: Unsere Bedingung ist respektiert worden, dass der Bundestag darüber ent- Limbach beim SPIEGEL-Gespräch*: „Denkender Gehorsam“ scheiden musste. Im Übrigen möchte ich das Verhalten der Politik vor wiesen, dass das Existenzminimum wegen dem Hintergrund unserer Entscheidungen des Sozialstaatsprinzips nicht besteuert werden darf, hat aber die Konkretisierungen nicht kommentieren. SPIEGEL: Bundesgesetzgeber und Regierung dem Gesetzgeber überlassen. versuchen auch die Vorgaben zum Steuer- SPIEGEL: Es gibt kaum einen Bereich mehr, recht durch alle möglichen Tricks und halb auf den nicht Europarecht zumindest ausgaren Vorschläge zu umgehen. strahlt. Wenn der Europäische Gerichtshof Limbach: Das sagen Sie. Auch hier gilt mei- und nicht Karlsruhe das letzte Wort zum ne Zurückhaltung. Sollten Bürger oder Ge- Europarecht hat, könnte man sich vorstelrichte der Meinung sein, dass neue Steu- len, dass das Bundesverfassungsgericht eierregelungen verfassungswidrig sind und nes Tages so hinfällig wird wie die Deutden Urteilen des Bundesverfassungsge- sche Bundesbank? richts kein Respekt gezollt wird, dann mö- Limbach: Diese Sorge treibt mich nicht um. gen sie es wiederum anrufen. Genauso wenig, wie die VerfassungsgeSPIEGEL: In diesem Jahr hat das Gericht richte der Bundesländer durch uns übermehrfach über die Familienbesteuerung entschieden, jetzt über den Länderfinanz- * Mit Redakteuren Dietmar Hipp und Thomas Darnausgleich, das Verfahren zur unterschiedli- städt.

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Deutschland nisteriums mögen sich darauf lieber nicht verlassen. Eine 200 Mann starke SonderJA H R TAU S E N D W E N D E truppe bezieht am Silvestermorgen in der Berliner Zentrale Posten. Die Beamten sollen im Schichtdienst bis zum 3. Januar Kontakt zu Lagezentren im In- und Ausland halten. Für den Bundesgrenzschutz, der nicht nur an den Außengrenzen, sondern Polizei und Feuerwehr rüsten für die Nacht der Nächte: auch auf Flughäfen und bei der Bahn für Silvester rechnen die Sicherheitsbehörden mit Sicherheit sorgt, gibt es Urlaub in der Krisenzeit laut einem Ukas des Ministers „nur technischen Katastrophen, Selbstmorden und Verbrechen. noch in Ausnahmefällen“. Millionen Deutsche, die in dieser Nacht ihre Party des Jahrtausends feiern wollen, bringen die Einsatzplaner im ganzen Land schon jetzt ins Schwitzen. Eine Million Menschen erwarten die Behörden zur Stunde null allein am Brandenburger Tor. Der Berliner Senat hat sich schon mal eine Wetterprognose geben lassen: Danach wird sich 1999 bei trockenen minus 2 Grad verabschieden. Das bedeutet, so die Prognose: Im Zentrum der Hauptstadt wird eine geballte, alkoholisierte und mit Knallkörpern ausgerüstete Masse ins neue Jahrtausend feiern. Was passiert, wenn das Licht ausfällt, wenn eine Panik ausbricht? „Das wird ein Riesen-Sicherheitsproblem“, schwant Hans-Rudolf Zschernack von der Berliner Senatskanzlei. Die Berliner Feuerwehr schließt sogar den „totalen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens auf Grund des Ausfalls von Lebensmittel-, Benzin-, Gas- und Wasserversorgung“ in ihre Planungen ein. Gerüchte, im Osten der Stadt könnten Probleme mit der zum Teil noch aus DDRZeiten stammenden Software zur Stromversorgung auftreten, weist das Berliner Energieunternehmen Bewag zurück. „Die Silvesterfeuerwerk*: Angst vor dem geballten Chaos Stromversorgung ist am 31. Dezember genauso sicher, n der Uniklinik Frankfurt probten die wenn nicht sogar sicherer Sicherheitsleute ungewollt den Ernstals an anderen Tagen“, befall für die Nacht der Jahrtausendwenteuert Bewag-Sprecher de. Der Strom fiel aus. 15 Sekunden dauSiegfried Knopf. erte es, bis die Notaggregate Energie lieFachleute halten solche ferten. Sie kam mit solcher Kraft, dass erst vollmundigen Versicheruneinmal die Sicherungen rausflogen. gen für Pfeifen im Dunkeln. „Jetzt wissen wir wenigstens, was uns erDas Problem sind nämlich wartet“, kommentierte Clemens Flock, zwischen 6 und 25 MilliarMillenniumsbeauftragter des Krankenhauden kleinste elektronische ses, den Vorfall. Bauteile, sogenannte EmDamit ist die Klinik vielen Behörden bedded Systems, die weltund Firmen weit voraus. Was der Republik weit in alle möglichen Moin der Nacht der Nächte an elektronischen Katastrophen bevorsteht, ist unklar. Bun- Polizei-Einsatzzentrale*: Magnetplättchen und Schiebetafeln dule vom Airbag bis zum Kernkraftwerk eingebaut desweit bereiten sich vor allem Polizei und Feuerwehr darauf vor, auch dann fit zu lagen versagten, Ampeln erloschen. In sind. Sie sind schwer zu orten, teils zum sein für den Schutz der Bürger, wenn die Brooklyn, Harlem und auf der Upper West Schutz vor Raubkopierern falsch beschrifprozessorgesteuerte Hightech beim Da- Side plünderten Wegelagerer die Geschäf- tet und häufig nicht 2000-sicher. Es sei „unseriös zu behaupten, man wistumswechsel verrückt spielen sollte. te, verwüsteten Rowdys Bürohäuser. Schase, was passieren werde“, sagt die 2000Ein Stromausfall in der Silvesternacht den: mehr als 300 Millionen Dollar. gilt als GAU. Als Horrorszenario dient der Die Deutschen sind besser gerüstet: Das Beauftragte Elisabeth Slapio von der InBlackout von New York 1977. Dort gingen Stromnetz wird von mehreren Kraftwer- dustrie- und Handelskammer Köln, die für nach einem Blitzeinschlag im Atomkraft- ken gespeist, der Ausfall eines Erzeugers ist den Deutschen Industrie- und Handelstag werk Indian Point für 25 Stunden in der leicht zu verkraften. Die Unternehmen ha- die Silvesterplanungen koordiniert. Die Hamburger Polizei hat für die meisganzen Stadt die Lichter aus. Alarman- ben Millionen in die Vorsorge investiert, ein Totalausfall gilt als ausgeschlossen. ten Beamten bereits Urlaubssperre für den * Oben: in Hamburg; unten: in Offenburg. Doch die Experten des Bundesinnenmi- 31. Dezember angeordnet. Die Feuerwehr I. RÖHRBEIN

Pfeifen im Dunkeln

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der Hansestadt verstärkt sich mit Helfern aus den Freiwilligen Wehren. Sämtliche Rettungs- und Notarztwagen sowie zusätzliche Löschfahrzeuge werden besetzt sein. Und in der hochmodernen Funkzentrale wird bereits die stromlose Einsatzlenkung mit Magnetplättchen und Schiebetafeln geprobt. Auch die Bahn beugt vor: Ein paar Minuten vor und nach Mitternacht werden alle Züge anhalten. Viele regionale Verkehrsbetriebe wollen dem Beispiel folgen. Die Telekom versichert zwar, in Deutschland werde es keine Kommunikations-Probleme geben, räumt aber ein, Fehler könnten im internationalen Netz auftreten. In München bereitet sich ein „Stab für außergewöhnliche Ereignisse“, der SAE 2000, in dem sämtliche Behörden der Stadt, Polizist Rummler Energieversorger und die Müllabfuhr vertreten sind, schon lange auf den Notfall vor. Polizei und Feuerwehr stellen sich darauf ein, Einsätze wie zu Großvaters Zeiten zu fahren – ohne Telefon und Computer. Für den Fall, dass gar nichts mehr geht, werden, so Polizeioberrat Joachim Rummler, „in der ganzen Stadt SOS-Punkte“ eingerichtet, an die sich die Bürger direkt wenden können. Über eine vom Stromnetz unabhängige Funkleitung gelangen die Meldungen in die Einsatzzentrale. „Bis zu 80 Prozent aller Einsatzkräfte“, schätzt Rummler, werden in dieser Nacht im Dienst sein. Rummler: „Der Schutz von Menschenleben hat Priorität, dann folgt Hilfe für Verletzte und danach Verfolgung von Straftaten.“ Auch sonst ist die Bayern-Metropole gerüstet. Ärzte und Krankenschwestern in den Spitälern fahren Doppelschichten, Boten sollen im Notfall Befunde vom Labor zum zuständigen Mediziner schaffen. Die Frankfurter Uniklinik wird in der Silvesternacht per E-mail und Telefon mit ihren Partnerkliniken in Japan und Australien verbunden sein. Sollte dort das Chaos ausbrechen, blieben auf dieser Seite der Erde wegen der Zeitverschiebung noch ein paar Stunden Zeit für Vorbereitungen – vorausgesetzt, die Kommunikation klappt. Völlig unberechenbar ist, welche Folgen das magische Datum auf die Psyche mancher Zeitgenossen haben wird. Der Münchener Diplompsychologe Georg Sieber befürchtet, Gefühle könnten eskalieren und sich in irrationalen Ausbrüchen entladen – in Selbstmorden etwa oder in großspurigen Aktionen: „Das Ausnahmedatum 2000 wird für viele zum Auslöser.“ Andreas Ulrich d e r

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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (7) Die Woche vom 6. 11. 1989 bis zum 11. 11. 1989

»Die Mauer muss weg«

T. ERNSTING / BILDERBERG

Über Nacht bricht die Berliner Mauer – aus Versehen? Regierende in Ost und West sind gleichermaßen überrumpelt. Die Massen jubeln, doch Bürgerrechtler, bestürzt über den drohenden Untergang ihrer DDR, ziehen sich schmollend zurück.

Volksfest am Brandenburger Tor nach der Maueröffnung d e r

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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«

CHRONIK

»Das ist ja unfassbar!« Ost-Berlin Im ZK, neuerdings „Zirkus Krenz“ genannt, sind die Volksdompteure ratlos. Die „Deutsche Demonstrierende Republik“ (Transparent-Text) lässt sich offenbar weder mit Zuckerstücken noch mit der Zuchtpeitsche dressieren. Eine Flut von Hiobsbotschaften bricht über den glücklosen Egon Krenz herein, dessen Zähne noch länger, dessen Augenringe noch dunkler wirken als sonst. Auf die Straße gegangen sind an diesem Tag nicht nur die 500 000 in Leipzig, sondern auch 60 000 in Halle, 50 000 in Karl-

K. MEHNER

Mit Lust probt das Volk seine neue Kraft. Trotz Eiseskälte und Dauerregen strömen 500 000 Demonstranten in die Leipziger Innenstadt, und viele genießen es, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Den Karl-Marx-Platz bedeckt ein Wald von Regenschirmen. Partei-Würdenträgern, die das Wort ergreifen, schlägt Empörung entgegen: „Abtreten!“, „SED, das tut weh!“, „Zu spät, zu spät!“ Ausgelöst hat die vieltausendfache Aggression der Entwurf eines neuen Reisegesetzes, den die Regierung an diesem Tag vorgestellt hat.

dem niemand weiß, wie schnell er wahr wird: „Die Mauer muss weg, die Mauer muss weg, die Mauer muss weg.“

J. WITT / SIPA PRESS

Montag, 6. November 1989 Leipzig

Bittsteller Schalck, Auftraggeber Krenz: Der Klassenfeind soll zehn Milliarden zahlen

Völlig unbeeindruckt davon, dass 48 Stunden zuvor in der Ost-Berliner City fast eine Million DDR-Bürger ihr Recht auf Freizügigkeit eingefordert haben, will die SED von Dezember an gerade mal 30 Tage Auslandsurlaub und 15 Mark Reisedevisen genehmigen – pro Person und Jahr. Geplant sind obendrein „Bearbeitungsfristen“ von einem Monat und Reiseverbote, die von der Obrigkeit verhängt werden können, wann immer der „Schutz der öffentlichen Ordnung“ es erfordert. „365 Tage Reisefreiheit und nicht 30 Tage Gnade“ verlangen dagegen die Montagsdemonstranten. „Jetzt sollen wir reisen dürfen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken“, ruft ein Redner sarkastisch. Riesenbeifall, als er endet: „Das Reisegesetz muss weg.“ „In 30 Tagen um die Welt, ohne Geld“, höhnen die tropfnassen Massen – bis plötzlich ein Sprechgesang anschwillt, der einen verwegenen Traum beschreibt, von 86

Marx-Stadt, 25 000 in Schwerin, 10 000 in Cottbus. Und überall knallen SED-Mitglieder den Funktionären die Parteibücher auf den Tisch. Ratlos registriert Krenz: „Unser Bund von Gleichgesinnten, wie wir die Partei nennen, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.“ Klaus Gäbler, 58, Leiter der Abteilung Propaganda des Zentralkomitees, hat für den SED-Chef eine „Erste Einschätzung“ der Alex-Demo gefertigt: Selbst reformbereite Funktionäre, „begonnen bei Genossen Schabowski“, kamen kaum zu Wort, SED-Kritiker dagegen wurden selbst dann gefeiert, wenn sie „wenig Konstruktives“ zu bieten hatten. Krenz selber lief es, als er im Krisenstab die Demonstration am Bildschirm verfolgte, immer wieder „kalt über den Rücken“. Die an seiner Partei geäußerte Kritik empfindet er als „so grundsätzlich, dass sich die Frage stellt: Ist unsere Konzeption vom d e r

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Sozialismus überhaupt noch zu verwirklichen?“ Der millionenfache Protest gegen den halbherzigen Reisegesetz-Entwurf hat die SED nun noch weiter zurückgeworfen. „Was vor einem halben Jahr noch ein großer Fortschritt gewesen wäre, ist jetzt schon am Tag der Veröffentlichung Makulatur“, begreift Krenz: „Wieder traben wir den Ereignissen hinterher.“ Auch in der Stasi herrscht Weltuntergangsstimmung. Erich Mielke lässt seit Tagen brisante Papiere beiseite schaffen. Geheimhaltungsbedürftige Akten, die Rückschlüsse auf das Stasi-Spitzelsystem ermöglicht hätten, sollen aus den schlecht gesicherten Kreisfilialen in die Bezirksverwaltungen gebracht werden. Für die wenigen Dokumente, die vor Ort bleiben dürfen, „sind die erforderlichen Voraussetzungen für ihre kurzfristige Vernichtung zu schaffen“. Während die Stasi insgeheim Vorsorge für den Tag X trifft, buhlt sie mit einem absurden Vorstoß um das Vertrauen der Bürger. Im „Neuen Deutschland“ erscheint ein vom Ministerium vorformuliertes „Interview“. Darin stellt Rudi Mittig, 64, der momentan aussichtsreichste Kandidat für die Mielke-Nachfolge, die Stasi als eine Art Heilsarmee hin: Der „totale Überwachungsstaat“, das „allgegenwärtige Spitzelsystem“ existieren nur in der Phantasie westlicher Medien. Das Ministerium für Staatssicherheit „überwacht“ nicht das Volk, es arbeitet mit den Bürgern zusammen. Doch die Bürger sind vom Glauben längst abgefallen. „Lügen haben kurze Beine“, reimen Montagsdemonstranten, „Egon zeig, wie kurz sind deine.“ Mehr als die zunehmenden Schmähungen bedrücken den Generalsekretär die Wirtschaftsdaten: Die ostdeutsche Republik hat Auslandsschulden von 49 Milliarden Valutamark. Um die Verschuldung zu stoppen, müsste der ohnehin dürftige Lebensstandard im nächsten Jahr um 25 bis 30 Prozent gesenkt werden. Das, weiß der SED-Chef, ist „politisch nicht zu verantworten“. Rettung erhofft sich der Kommunist Krenz ausgerechnet vom Konservativen Kohl. Die Absurdität dieses Ansinnens wird Krenz-Mitstreiter Günter Schabowski zehn Jahre später in die Worte fassen: „Es entspricht der paradoxen Logik jener Zeit,

Montagsdemonstration am 6. November in Leipzig: Die tropfnassen Massen lassen ihrer Wut freien Lauf

dass wir bei dem Versuch, die DDR fünf Minuten vor zwölf zu retten, auf die Hilfe der klassenfeindlichen, aber einheitsverpflichteten Bundesrepublik spekulierten“ – die indes „nicht unbedingt begierig sein konnte, mit den Geldern ihrer Steuerzahler den Samariter am Bett der siechen DDR zu spielen“. Krenz hat den SED-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski in geheimer Mission nach Bonn geschickt: Der Stasi-Offizier soll Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Innenminister Wolfgang Schäuble um Milliardenbeträge für die kaputte Kommandowirtschaft anpumpen. Im Kanzleramt bittet der Goldfinger der SED seine christdemokratischen Gesprächspartner um „langfristige Kredite … bis zur Höhe von zehn Milliarden Verrechnungseinheiten“, also D-Mark, außerdem um „Bereitstellung zusätzlicher Kreditlinien in freien Devisen, die – beginnend im Jahre 1991 – jährlich zwei bis drei Milliarden DM betragen könnten“.

Nun spätestens ist Seiters und Schäuble klar, in welch desolatem Zustand die DDRWirtschaft ist: Anders als noch 1983 und 1984 können einmalige Milliardenkredite die DDR nicht mehr retten. Der Ost-Berliner Unterhändler muss ohne Zusage heimreisen.

Dienstag, 7. November 1989 Gera Schneidbrenner zischen, Funken sprühen. Auf dem Hof des „VEB Maschinen- und Dampfkesselbau“ in Gera-Liebschwitz zerlegen wutentbrannte Arbeiter in kleinste Stücke, was sie gerade erst zusammengeschweißt haben: mysteriöse Werkstücke, offiziell deklariert als „Zaunsegmente“. Die Metaller haben herausgefunden, welchem Zweck die angeblichen Zaunteile wirklich dienen sollen. Die Geraer Volkspolizei, die den Auftrag erteilt hat, will sie als „Sperr- und Räumgitter“ vor ihre Last-

Vopo-Waffe „Übersteigeschutz“: Sichelscharfe Messer gegen Demonstranten d e r

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wagen vom Typ „W 50“ schrauben – ideal zum brutalen Vorgehen gegen Demonstranten: vorn ein Teil von 2,20 mal 1,20 Metern, links und rechts ein kleineres zum Ausklappen. Angefacht hat den Arbeiterzorn ein „Übersteigeschutz“, der auf die Gitter montiert werden soll: Mähdreschermesser mit sichelscharfen Klingen. Ein Maschinenbauer empört sich: „Wie können Genossen der Volkspolizei auf die Idee kommen, eine Technik zu konstruieren, die gegen das Volk eingesetzt werden soll und die so gedacht ist, dass die Menschen aufgeschlitzt werden?“ Morgens um neun Uhr sind zwei Vopos in Zivil auf dem Betriebsgelände aufgetaucht, um mit einem Kleintransporter vom Typ „Barkas B 1000“ die „Zaunsegmente“ abzuholen. 20 Arbeiter haben sich den Polizisten in den Weg gestellt und sie vertrieben. Dann ließen die Metaller ihre Schneidbrenner fauchen.

Ost-Berlin Bei den Sachbearbeitern des „Eingabewesens“ im Roten Rathaus herrscht Hochbetrieb. Bergeweise treffen in der Kommunalverwaltung Beschwerdebriefe empörter Bürger ein. Auf Grund von Massenflucht und Misswirtschaft droht selbst im DDR-Versorgungsparadies Berlin der Kollaps. „Wir können weder backen noch braten – nur Eintopf kochen“, schreibt ein Invalidenrentner aus Treptow an den „lieben 87

100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«

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Oberbürgermeister“; für seinen schrottreifen Elektroherd finde er nirgendwo in der DDR-Hauptstadt Ersatz. „Nun laufen wir schon seit geraumer Zeit durch Berlin, um eine Doppelliege zu kaufen“, beschwert sich ein Köpenicker Familienvater: „Es kann nicht sein, dass eine Stunde nach Öffnung des Einrichtungshauses alle ausverkauft sind.“ Wo Waren vorrätig sind, fehlt es oft an Personal; seit Jahresbeginn haben sich über 2000 Verkäuferinnen und Lagerarbeiter aus Ost-Berlin in den Westen aufgemacht. Immer häufiger öffnen Bäcker, Fleischer, Friseur und Kneipier ihr Geschäft nur zeitweise oder gar nicht. An herabgelassenen Rollläden steht „Technische Störung“ oder „Vorübergehend geschlossen“ – und jeder weiß: Auch die sind nun „rüber“. Die Hiergebliebenen müssen zahllose Überstunden leisten; NVA-Soldaten, die

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DDR-Ausreisende*: Das Politbüro verwirft die Idee, eine zweite Mauer zu bauen

Ost-Berliner Regierungssprecher Meyer

Halbheiten und Peinlichkeiten

einspringen sollen, können die fehlenden Fachkräfte nicht ersetzen. So richtet der Magistrat, mit wenig Erfolg, Sondertelefone für arbeitswillige Spezialisten ein und lässt einen Aufruf in den Tageszeitungen veröffentlichen: „Viele Kassierer, Krankenschwestern und Kraftfahrer werden benötigt.“ Allen Widrigkeiten zum Trotz wird, wie jedes Jahr um diese Zeit, im Roten Rathaus der Speiseplan für die Adventswochen festgelegt. „Der Verkauf von Lebkuchen beginnt planmäßig am 20. 11.“, versichert die Verwaltung, „eine durchgängige Versorgung mit Fleisch- und Wurstwaren, alkoholfreien Getränken wird gesichert“ – allerdings „ohne dass alle Sorten stabil im Angebot sind“. Während weitere Versorgungsengpässe drohen, gedeihen in den Amtsstuben des Ost-Berliner Rathauses immer neue Blüten zentralistischer Planwirtschaft. Soeben vorgelegt: eine „Beschlussvorlage“ mit dem Titel „Einführung von Zuschlägen für die Dienstleistungsart ,Einnähen von Reißverschlüssen im Sofort- und Schnelldienst‘“.

Schalck informiert, nun lässt Seiters sich mit dem SED-Mann verbinden. Das Telefonat mit Schalck-Golodkowski leitet eine neue Ära in der bislang weitgehend sozialliberal geprägten Ostpolitik ein: Erstmals verlässt Bonn die Linie der Nichteinmischung in DDR-Angelegenheiten. Von Kohl beauftragt, diktiert Seiters dem Ost-Berliner Devisenbeschaffer die Bedingungen, unter denen die DDR fortan mit westdeutscher Kapitalhilfe rechnen darf: „Öffentlich“ müsse Krenz erklären, dass die SED bereit sei, „die Zulassung von oppositionellen Gruppen und die Zusage zu freien Wahlen in zu erklärenden Zeiträumen zu gewährleisten“. Außerdem, setzt Seiters nach, sei unabdingbar, dass „die SED auf ihren absoluten Herrschaftsanspruch verzichtet“, wenn sie Geld sehen will. In Ost-Berlin informiert Schalck kurz darauf Krenz über das Telefonat. „Das ist Erpressung“, empört sich der SED-Chef. Fünf Jahre später werden die US-Historiker Philip Zelikow und Condoleezza Rice den Kurswechsel als historischen Einschnitt bewerten. Mit ihren harten Bedingungen habe die Regierung Kohl den in Bonn bis dahin herrschenden „ostpolitischen Konsens aufgekündigt“: „Während Krenz verzweifelt auf Hilfe hoffte, um sein Land zu stabilisieren, wollte ihm Kohl diese erst gewähren, wenn er das bestehende System stürzte.“

Ost-Berlin

Bonn

Krenz, von Kohl in die Enge getrieben, zeigt Wirkung. Um die Staatspleite abzuwenden, stimmt er das Politbüro auf die Bonner Bedingungen ein – mit einer List: Er kaschiert die demütigenden Konditionen als Ratschläge der sowjetischen Freunde.

Der Kanzleramtsminister hat den Kanzler über das Gespräch mit dem Bittsteller

* An der tschechisch-bayerischen Grenze bei Schirnding.

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Ausführlich berichtet Krenz über seinen jüngsten Besuch in Moskau. Dringend habe Gorbatschow ihm empfohlen, mit einer Legalisierung der Opposition nicht zu warten, bis sich die Bürgerrechtler zu Systemgegnern entwickelt haben. Dass Schalck auf Betteltour in Bonn war und Kohl auf der Anerkennung des Neuen Forums besteht, verschweigt Krenz den Genossen. Das Politbüro beschließt, die seit Wochen vorliegende Anmeldung des Neuen Forums „entgegenzunehmen“. Mit einigen anderen fixen Korrekturen versucht die Partei, sich vom Haltegriff am letzten Wagen des Reformzuges ein Stück weiter nach vorn in Richtung Lok zu hangeln. Neue Gesichter im Politbüro sollen dem Volk Veränderungswillen signalisieren. Daher beschließt die alte Garde des Proletariats, am nächsten Tag, zu Beginn der 10. Tagung des Zentralkomitees, komplett abzudanken. Doch drei der Nachfolger, die Krenz vorschlägt, sind bejahrte Bekannte, alles andere als Hoffnungsträger. Sie fallen prompt durch, andere Kandidaten werden auf Druck der Parteibasis in den Bezirken zurückgezogen. Die elf Vollmitglieder, die schließlich bestätigt werden, haben mit drei Ausnahmen dem Gremium schon vorher angehört. Auch sie tragen also Mitverantwortung für die Politik der Ära Honecker. Im Zeichen von Glasnost wird, erstmals in der DDR, ein Regierungssprecher installiert. Doch auch diese Reform ist an Halbheit und Peinlichkeit kaum zu überbieten. Der neue Mann ist ein alter Haudegen: Wolfgang Meyer, 55, bisher Hauptabteilungsleiter Presse im Außenministerium, hat jahrelang als Zensor die in der DDR akkreditierten West-Journalisten geschurigelt. Als erste Amtshandlung gibt Meyer den Rücktritt aller 44 Minister bekannt; bis zur Bildung einer neuen Regierung bleibt Willi Stoph samt Kabinett geschäftsführend im Amt – und ist damit verantwortlich für

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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«

Mittwoch, 8. November 1989 Ost-Berlin Günter Schabowski, 60, in der SED neuerdings zuständig für Information und Agi90

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tation, muss einen Parteiauftrag ausführen. „In den Massenmedien“ soll er, hat das Politbüro beschlossen, unverzüglich „darauf hinwirken, dass die Bürger ihr Land nicht verlassen“ (siehe Porträt Seite 104). Eine entsprechende Zusage hat am Abend zuvor auch Außenminister Fischer in seinem Gespräch mit dem Moskauer Botschafter gegeben: „Die Kampagne in den Medien, die DDR-Bürger zum Hierbleiben zu veranlassen, wird verstärkt“, verrät ein Vermerk über das Treffen mit Kotschemassow. Die SED versuche, so Fischer, „auch andere bestimmte Leute dafür zu gewinnen“. Als potenzielle Bündnispartner im Kampf gegen die Reisewut haben die Parteistrategen Menschen im Auge, die sie noch vor wenigen Wochen mit Knast und Knüppeln traktieren ließen: Die Einheitssozialisten planen, die Reformsozialisten aus der Bürgerbewegung für ihre Zwecke einzuspannen, um das mehr und mehr vom Westen faszinierte Volk am Abhauen zu hindern.

DEUTSCHES RUNDFUNKARCHIV

eine allerletzte Weichenstellung, eine Entscheidung mit historischen Folgen. Die anhaltende Ausreisewelle verlangt rasche Reaktionen. Seit Öffnung der tschechoslowakischen Grenze verlassen stündlich im Schnitt 300 DDR-Bürger via ∏SSR die Republik in Richtung Westen. Im Politbüro zeichnet Außenminister Oskar Fischer ein düsteres Bild: Die Prager Bruderpartei verlange von Ost-Berlin, die Ausreisewelle sofort zu stoppen – Tenor: „Wenn ihr die Grenze zu uns nicht dichtmacht, machen wir sie zu.“ Die Idee, eine zweite Mauer zu bauen, diesmal zwischen DDR und ∏SSR, wird verworfen. Auch eine vorgeschlagene leichtere Stacheldrahtversion, fürchten die alten Herren, würde nur neue Probleme schaffen: Massenattacken auf den Zaun ließen sich nur mit Waffengewalt stoppen. Außenminister Fischer wird vom Politbüro beauftragt, dem ZK einen neuen Vorschlag zu unterbreiten. Grundgedanke: Die für Dezember ohnehin geplante weitgehende Freigabe der „ständigen Ausreise“ soll vorzeitig in Kraft treten. Fischer meint, wenn die DDR als Vorposten des Ostblocks ihre Grenzen durchlässig machen wolle, müsse dieses Vorhaben mit den Freunden in Moskau abgestimmt werden. Deshalb bittet er am Abend den Sowjetbotschafter in Ost-Berlin, Wjatscheslaw Kotschemassow, 71, zu sich in sein Außenministerium gegenüber dem Palast der Republik. Das Politbüro, eröffnet Fischer dem Diplomaten, neige dazu, das neue Ausreisegesetz so zu formulieren, dass DDR-Bürger die Möglichkeit erhalten, ohne Umwege über Drittländer direkt in die Bundesrepublik zu fahren – sofern sie sich entschließen, dort ihren ständigen Wohnsitz zu nehmen. Kaum ist Kotschemassow in seine Botschaft zurückgekehrt, um die Ecke Unter den Linden, ruft er seinen Außenminister in Moskau an. Eduard Schewardnadse reagiert gelassen: „Wenn die deutschen Freunde eine solche Lösung für möglich halten, werden wir wahrscheinlich keine Einwände anmelden.“ Die Sowjets durchschauen das Spiel der SED-Spitze. Die Konsultation Kotschemassows durch Außenminister Fischer, formuliert ein Botschaftsrat an diesem Abend ganz undiplomatisch, zeuge „von der Feigheit des Genossen Krenz“. Der Generalsekretär wolle die Mitverantwortung für die Folgen seines Schrittes den Sowjets zuschieben. Krenz wisse genau, worauf die geplante Maßnahme hinauslaufe: auf eine Öffnung der Grenze – mit unabsehbaren politischen Konsequenzen.

Schriftstellerin Wolf (bei ihrem TV-Appell)

„Bleiben Sie bei uns!“

Beide Seiten entdecken in diesen Tagen aus unterschiedlichen Motiven, so der Historiker Walter Süß, „einen kleinsten gemeinsamen Nenner“ – sie wissen: „Von oben her stabilisiert oder von unten aus verändert“ werden kann „nur eine DDR, der die Menschen nicht davonlaufen“. Am Abend darf denn auch, im Namen von Bärbel Bohley und anderen Bürgerrechtlern, die Schriftstellerin Christa Wolf über das von Schabowski kontrollierte DDR-Staatsfernsehen einen Appell an alle Ausreisewilligen richten: Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns! Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen … Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Doch das Volk, so wird sich 24 Stunden später zeigen, hat seinen eigenen Willen –

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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG« und mehrheitlich längst ganz andere Visionen als seine Politiker, seine Pastoren und seine Poeten.

Donnerstag, 9. November 1989 Ost-Berlin

sen“. Dann kommt er endlich zum Punkt: Allerdings „ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden“. Der Ministerrat habe beschlossen, „heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen“. „Ab wann tritt das in Kraft?“, will einer wissen. Schabowski kramt in den Papieren, kratzt sich am Kopf – so genau weiß er das auch nicht. Hastig liest er den Gesetzestext vor. Darin stehen Sätze wie: „Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Und: „Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen“ der Volkspolizei seien „angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen“. Für jeden DDR-Bürger ist damit klar, dass er zunächst zur Behörde muss, um einen Antrag zu stellen. Und weil die Ämter jetzt Feierabend haben, geht das frühstens am nächsten Morgen. Dann aber unterläuft Schabowski ein für die Existenz der DDR verhängnisvoller Fehler. Auf die nochmalige Nachfrage: „Wann tritt das in Kraft?“, stottert der Informationssekretär des ZK hilflos herum: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Schabowski meint natürlich: morgen früh, wenn die Ämter öffnen. Er kann nicht ahnen, dass die DDR-Bürger ihn beim Wort nehmen und „sofort“ losstürmen. Als ein Journalist nachhakt, ob die Ausreiseregelung auch für die Übergänge nach West-Berlin gelte, merkt Schabowski zum ersten Mal, dass mit dem Zettel von Krenz etwas nicht stimmen kann. Er schaut nach, ja, da steht „Berlin (West)“, und ihm jagt, wie er später erzählt, durch den Kopf:

DPA

Die Dienstbesprechung, deren Folgen Europas Grenzen verändern wie ein Weltkrieg, beginnt um 9 Uhr in Ost-Berlin – ausgerechnet in der Mauerstraße. Dort, im Ministerium des Innern, brüten vier Experten, darunter zwei Stasi-Obristen, über einer kniffligen Aufgabe: Die SED-Führung hat dem Quartett – unter dem Eindruck der ∏SSR-Drohung, die Grenze zu schließen – den Auftrag erteilt, rasch eine Regelung für jene Bürger zu finden, die das Land für immer verlassen wollen. Schnell ist der Runde klar, dass die Vorgabe absurd ist: An diejenigen, die nur mal eben eine Tante in West-Berlin besuchen wollen, ist nicht gedacht worden. So legen die Experten einen Entwurf mit dem Titel „Unverzügliche Visaerteilung für ständige Ausreisen“ beiseite und formulieren einen Passus über „Privatreisen nach dem Ausland“, die „ohne Vorliegen von Voraussetzungen“ beantragt werden sollen. Wer weg will aus der DDR, für immer oder nur kurz, muss nach diesem Entwurf nur noch ein Visum beantragen. Gegen 12 Uhr kommt das Papier ins Zentralkomitee, das gerade in die Mittagspause geht. Krenz liest einigen zufällig noch anwesenden Mitgliedern des Politbüros den Text vor, die nicken ihn ab. Danach geht die Vorlage zum Ministerrat, des-

sen Mitglieder im Umlaufverfahren zustimmen sollen. Günter Schabowski, der Pressesprecher des neuen Politbüros, ist nicht im Saal, als Krenz gegen 16 Uhr im Plenum die neue Ausreiseverordnung vorliest. Er weiß daher nicht genau, was auf den zwei DIN-A4Seiten steht, die Krenz ihm mit den Worten in die Hand drückt: „Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.“ Den will Schabowski sich bis zuletzt aufheben. Handschriftlich notiert er einen Fahrplan für den Ablauf der Pressekonferenz: „Kurz vor Schluss – Nennung MiRaBeschluss“. Er weiß nicht, dass der Ministerrat ihn zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beschlossen hat und daher auch die Grenztruppen nicht instruiert sind. Und er übersieht, dass auf der zweiten Seite des Papiers der Satz steht: „Über die Regelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November 1989 zu veröffentlichen.“ Heute ist aber erst der 9. November. Fast eine Stunde langweilt Schabowski hunderte von Journalisten im Kinosaal des „Internationalen Pressezentrums“ mit Schilderungen, was in einem SED-Aktionsprogramm stehen soll und welche Folgen ein neues Wahlgesetz haben werde. Die Medienleute sind schon im Aufbruch begriffen, als um 18.53 Uhr Riccardo Ehrman von der italienischen Nachrichtenagentur Ansa ans Saalmikrofon geht und eine, wie es scheint, banale Frage nach dem umstrittenen Reisegesetz-Entwurf stellt. Umständlich und weit ausschweifend, mit verschachtelten Sätzen und gespickt mit „Ähs“, verbreitet sich Schabowski minutenlang über „dieses Bedürfnis der Bevölkerung, zu reisen oder die DDR zu verlas-

Schabowski (Podium, 2. v. r.) am 9. November im Internationalen Pressezentrum: „Das wird ein Knüller für uns“

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A. PACZENSKY / IMAGES.DE

S. BERGEMANN / OSTKREUZ

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO

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Grenzöffnung am Übergang Bornholmer Straße (1989), Stasi-Grenzer Jäger (1994), Nevyhosteny (1996): „Ich lasse die Leute raus“

„Hoffentlich wissen die Sowjets davon, dieses Ding berührt ja den Viermächtestatus – verflucht.“ Unter den hunderttausenden, die Schabowskis Auftritt im Fernsehen verfolgen, ist auch Dieter Teichmann. Der Generalmajor hat an diesem Abend die oberste Befehlsgewalt im brandenburgischen Pätz, dem Sitz des Kommandos der Grenztruppen. Nach der Sendung geht Teichmann seelenruhig zum Abendessen und macht sich Gedanken, „was auf die Grenztruppen in den kommenden Wochen zukommen“ würde. Als Teichmann vom Abendbrot an seinen Schreibtisch zurückkehrt, wird ein Anruf von Generalmajor Erich Wöllner, dem Kommandeur des Grenzkommandos Mitte in Berlin, durchgestellt. Wöllner will sich kundig machen, weil er von überall her Anfragen erhält, was die Ankündigung Schabowskis bedeute. Aber auch sein Vorgesetzter Teichmann, merkt er nun, weiß von nichts. Trotzig denkt sich Wöllner: „Wenn die dir vorher nichts sagen, dann sollen sie auch sehen, wie sie zurechtkommen.“ Er beschließt: „Du machst jetzt gar nichts“, und geht nach Hause. Von den historischen Ereignissen der folgenden Stunden werden die politischen Führer der DDR ebenso überrumpelt wie subalterne Staatsdiener – etwa Bruno Nevyhosteny, 41, Hauptmann einer Passkontrolleinheit (PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit. Nevyhosteny ist nachmittags um drei von der Frühschicht an der Grenzübergangsstelle (GÜSt) Bornholmer Straße nach Hause gekommen. Ferngesehen hat er nicht; daher ist ihm die von Schabowski in die Welt gesetzte Information entgangen, die sich in den Medien binnen kurzem zu der Formel verkürzt hat: „Die Grenzen sind auf.“ Gegen 21 Uhr lässt das Telefon den Hauptmann in seiner Wohnstube in BerlinLichtenberg hochschrecken. Auf Befehl seines Vorgesetzten fährt Nevyhosteny zusammen mit einem Kollegen zur Bornholmer Straße – auf Schleichwegen, denn es ist merkwürdig viel los auf den Straßen. Die Stasi-Männer, die abertausende zur Gren94

ze strömen sehen, bekommen es mit der Angst zu tun: „Die machen uns fertig.“ Als die Grenzer die Baracken erreichen, versucht ihr Vorgesetzter, PKE-Vizechef Oberstleutnant Harald Jäger, 46, gerade verzweifelt zu erfahren, wie er sich verhalten soll. Über die Schabowski-Mitteilung, die neue Reiseregelung – freie Fahrt in den Westen – gelte „ab sofort“, kann Jäger nur den Kopf schütteln: „Ab sofort? Das geht doch gar nicht.“ Zu seinen Mitarbeitern sagt Jäger: „Das ist doch absoluter geistiger Dünnschiss.“ Immer mehr Menschen rücken an, fordern „Macht das Tor auf“. Immer wieder versucht Jäger, von Oberst Rudi Ziegenhorn, Vizechef der Stasi-Hauptabteilung VI, konkrete Weisungen zu erhalten. Nach Beratung mit dem stellvertretenden StasiMinister Gerhard Neiber empfiehlt der Oberst: „Die am aufsässigsten sind und die provokativ in Erscheinung treten, die lass raus. Denen macht ihr im Ausweis einen Stempel halb über das Lichtbild – und die kommen nicht wieder rein.“ Nach diesem Verfahren passieren gegen 21.20 Uhr die ersten DDR-Bürger, ausgebürgert per Handbewegung, die Grenze. Doch das Geschubse und Gedrängel am Schlagbaum wird immer heftiger. Schließlich kapitulieren die Stasi-Grenzer, von denen einige Todesängste verspüren. Jäger an Ziegenhorn: „Es ist nicht mehr zu halten, wir müssen die GÜSt aufmachen. Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus.“ Ein Kollege meldet: „Wir fluten jetzt.“ Die Mauer fällt – zum Einsturz gebracht nicht durch den Willen des Genossen Generalsekretär, der sich bald zum Grenzöffner stilisieren wird, sondern durch Volkes Macht, durch den Druck der Bürger. Wie benommen wanken die Grenzhüter inmitten des Stroms der Grenzgänger hin und her. Verschwommen nimmt Hauptmann Nevyhosteny den Jubel im gelben Nachtlicht wahr, sieht Leute „in Massen über die Grenze krabbeln“, ganz ohne Formular, ohne Kontrolle, ohne Stempel. Der Hauptmann hatte Hass erwartet. Stattdessen gibt es für die Grenzer nun Blumen, Küsse und Rotkäppchen-Sekt. d e r

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Etwa zur selben Zeit nähert sich Wolfgang Herger, der gerade ins Politbüro aufgerückte ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, seiner Wohnung in der Wisbyer Straße. Er traut seinen Augen kaum: Westwärts steuernde Trabis bilden einen Rückstau, der vom zwei Kilometer entfernten Grenzübergang Bornholmer Straße bis zu seinem Haus reicht. Herger knipst eilends den Fernseher an und vernimmt zu seinem Erstaunen, dass die Tore in der Mauer weit offen stehen. Das Betonmonster, das West-Berlin auf 165,7 Kilometer Länge umschließt und dem in der geteilten Stadt mehr als 70 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat die Amtszeit Erich Honeckers genau 22 Tage und 10 Stunden überdauert. In seinem Arbeitsbuch notiert Herger: Heute haben wir entweder einen strategischen Fehler gemacht oder eine strategische Flucht nach vorn … Die Grenze ist de facto geöffnet. Man fährt und läuft hin und her, obwohl wir heute ganz anderes beschlossen haben. Es sollte wieder über das „Amt“ gehen, doch das wurde igno-

Jubel nach der Maueröffnung: „So ein Tag, so

Freudenfest auf der Mauerkrone

„Die sind verrückt geworden“

an und jubelt: „Das kann eine große Sache für uns werden.“ „Halleluja! Die Mauer kippt!“ – Millionen von Ostdeutschen empfinden in diesen Stunden wie der ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann. Für Teile der Opposition dagegen zerplatzt der schöne Traum von einem eigenständigen deutschen Zweitstaat, der sich einen „dritten Weg“ zwischen bürgerlichem Liberalismus und diktatorischem Staatssozialismus bahnt. Nicht wenige reagieren wie Bärbel Bohley: „Die Leute sind verrückt geworden“, empört sie sich, „und die Regierung hat den Verstand verloren.“ Die Filmemacherin Freya Klier hält fest, „die Wucht der Meldung“ von der Maueröffnung habe sie „unter die Bettdecke getrieben statt auf die nächtliche Straße“. Die DDR, fürchtet die Bürgerrechtlerin, werde sich schon bald „auflösen wie eine Brausetablette“.

riert. Die Leute sind mit dem Personalausweis an die Grenze gegangen. Jetzt liegt es an der BRD-Seite … Sie können die Grenze nicht schließen, und wir wollen es nicht. Schabowski fährt unterdessen im Strom der Trabis zum Grenzübergang HeinrichHeine-Straße, wo sich Ost- und West-Berliner um den Hals fallen und „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ singen. Die Freude der Menschen nährt die Illusion des Funktionärs, er habe der DDR einen Dienst erwiesen. Schabowski ruft Krenz

T. STODDART / KATZ / AGENTUR FOCUS

Warschau

wunderschön wie heute“

Bundeskanzler Helmut Kohl wird von dem Jahrhundertereignis bei einem Staatsbesuch in Warschau überrascht, beim Essen. Schon kurz vor 19 Uhr, zeitgleich mit Schabowskis Pressekonferenz, prophezeit Solidarnos´ƒ-Chef Lech Walesa, wie ein Kanzler-Mitarbeiter festhält, dass „die Mauer in ein bis zwei Wochen nicht mehr stehen“ werde. Wenig später, während des Festbanketts im Palast des Ministerrats, ruft der KohlVertraute Eduard Ackermann aus Bonn den Kanzler an. d e r

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STODDART / KATZ / FOCUS

ORBAN / CORBIS SYGMA

Augenzeuginnen am 9. November

„Wahnsinn, ick gloob’s nich“

Ackermann: „Herr Doktor Kohl, halten Sie sich fest, die DDR-Leute machen die Mauer auf.“ Kohl: „Sind Sie sicher?“ Ackermann: „Das Fernsehen überträgt live aus Berlin, ich kann es mit eigenen Augen sehen.“ Kohl: „Das ist ja unfassbar!“ Mitarbeiter bedrängen den Kanzler, sofort nach Deutschland zurückzukehren. Kohl will die Polen nicht brüskieren, doch er weiß: Seinem Vorbild Konrad Adenauer wurde nach dem Mauerbau am 13. August 1961 immer wieder angelastet, dass er nicht sofort nach Berlin geeilt war, sondern seinen Wahlkampf fortgesetzt hatte. Gisbert Kuhn, einer der mitgereisten Bonner Zeitungskorrespondenten, schlägt Kohl vor, den Besuch „nicht abzubrechen, sondern nur zu unterbrechen“. Nach einem Gespräch mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher entschließt sich der Kanzler, dem Rat des Reporters zu folgen.

West-Berlin Für Walter Momper wird das Unfassbare kurz nach 23 Uhr zur Gewissheit. Bei ei95

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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG« validenstraße aus kontaktiert trägt dem Vize-Verteidigungsder Mann mit dem roten minister die Leitung. Schal eine Stunde vor MitterDie DDR ist in diesen Stunnacht seinen Polizeipräsidenden, wie Krenz später schreibt, ten („Da müssen doch Gitter „einem militärischen Einsatz her“) sowie die alliierten näher, als dies manche wahrStadtkommandanten: „Ihr haben wollen“. In seinen Memüsst die West-Berliner Polimoiren gibt Krenz seine Lagezei ermächtigen – am BranEinschätzung mit den Worten denburger Tor fangen die Verwieder: rückten an, überall mit dem Hammer auf der Mauer rum- General Snetkow Zeitweilig sind über 1000 Menzukloppen.“ schen auf der Mauer am BranDer Ansturm auf die offene Grenze ge- denburger Tor. Einige springen ins DDRwinnt von Stunde zu Stunde an Wucht – je- Grenzgebiet. Das ist eine sichtbare Verder will dabei sein, notfalls mit dem Man- letzung der Grenze der DDR vom Westen tel überm Schlafanzug. Noch lange nach her. Wenn es Sinn macht, von gefährlich Mitternacht erkunden aufgekratzte Westler die höchste Steigerungsform zu bilden, den Osten und Ostler den Westen der dann ist diese Situation am BrandenStadt: „Wahnsinn, ick gloob’s nich.“ burger Tor die bisher gefährlichste. Sie Während Leuchtraketen in den Nacht- kann jederzeit militärische Eingriffe aushimmel zischen und beschwingte Zecher lösen. auf der fußwegbreiten Mauerkrone Sektflaschen schwenken, bangt Momper: Sowjetbotschafter Kotschemassow, of„Wenn da ein Verrückter drüben losschlägt, fenbar irritiert über die Art und Weise des da ist doch die Hölle los.“ Mauersturzes, ruft an und will wissen: Drüben denken zu dieser Stunde ein „Wer hat der DDR das Recht gegeben, die paar Verrückte bereits an die Mobil- Grenzen zu öffnen?“ Gorbatschow wünmachung der so genannten Volksarmee. sche umgehend informiert zu werden. Im Auftrag von Krenz entwirft Streletz ein besänftigendes Telegramm an den KPdSU-Chef, das die Grenzöffnung als Freitag, 10. November 1989 spontane Reaktion der politischen Führung Ost-Berlin darstellt – die damit in Wahrheit gar nichts Früher als sonst nähern sich im Morgen- zu tun hatte. Zur „Vermeidung schwerwiegender grauen die dunkelblauen Volvo-Limousinen aus Wandlitz, der geheimen Waldsied- politischer Folgen“, so telegrafiert die DDR-Regierung nach Moskau, habe Ostlung, der Hauptstadt der DDR. Um 7 Uhr trifft sich Krenz in seinem Ar- Berlin „größeren Ansammlungen von beitszimmer im „Großen Haus“ mit Ge- Menschen“ die Ausreise „gestattet“. Die neraloberst Fritz Streletz. Der übernäch- Grundsätze des „Vierseitigen Abkomtigte Staatschef befiehlt die Bildung einer mens über Berlin (West)“ seien „nicht „Operativen Führungsgruppe“ und über- berührt“; Besuchsreisen zu West-Berliner DPA

Mauerbesetzer, DDR-Grenzsoldaten am Brandenburger Tor

„Das ist ein historischer Tag“

A. SUAU / PLUS 49 / VISUM

ner Live-Diskussion im Studio E des Senders Freies Berlin steckt ein Sicherheitsbeamter dem Regierenden Bürgermeister unter dem Tisch einen Zettel zu: „Grenzübergang Bornholmer Straße ist offen.“ Momper – „Das ist ein historischer Tag“ – verabschiedet sich vom Bildschirm und jagt im Senats-Daimler, begleitet von einem Blaulichtwagen, mit Tempo 80 bei Rot über alle Ampeln zur Mauer. Dort herrscht Volksfeststimmung, Hände recken sich ihm entgegen: „Walter, hättste das gedacht?“ Den Walter trifft die Weltsensation nicht gänzlich unvorbereitet. Am 29. Oktober hat er seinen Ost-Berliner Kollegen Erhard Krack nebst SED-Sekretär Schabowski bei einem Gespräch im Palasthotel kennen gelernt. Am Ende der Unterredung eröffnete Schabowski ihm, wie Momper fand, ziemlich unvermittelt: „Übrigens – wir werden Reisefreiheit geben.“ Was er denn damit meine, fragte Momper. „Richtige Reisefreiheit“, versicherte Schabowski: „Jeder DDR-Bürger kann reisen, wohin er will. Er kann die DDR auch auf Dauer verlassen.“ West-Berlins Senat hat daraufhin flugs eine Projektgruppe installiert – Auftrag: „Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und der DDR“. Erster Vorschlag: Wegen der ab Dezember erwarteten 500 000 Tagesbesucher soll der Kurfürstendamm für Autos gesperrt werden. Zufällig zum 9. November ist eine Begrüßungsbroschüre fertig geworden, die Momper in Auftrag gegeben hat – ein Willkommensheft für DDRBürger. In der Nacht des Mauerfalls übernimmt Momper das Kommando. Von einer Polizeibaracke am Sektorenübergang In-

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Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich weiß nicht, ob wir alle noch nicht oder viele – da will ich niemandem zu nahe treten – den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet … Der Druck war nicht zu halten. Eine halbe Stunde später, um 11.30 Uhr, trifft Krenz, besorgt um die „normale Ordnung in der Stadt“, eine Entscheidung, die er jahrelang leugnen wird. Er befiehlt, wie Zeugenaussagen und Dokumente belegen, „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für zwei Eliteeinheiten, die in Potsdam und Umgebung stationiert sind: die 1. Motorisierte Schützendivision und das Luftsturmregiment 40. Zehn Jahre später wird Krenz eine merkwürdig anmutende Begründung nachliefern: Die Regierung habe geplant, neue Grenzübergangsstellen einzurichten – eine zusätzliche Aufgabe, mit der „die Grenztruppen der DDR überfordert“ gewesen wären. Nur „aus diesem Grunde“ sei der Befehl erfolgt. In Potsdam jedenfalls munitionieren die Mot.-Schützen auf, Soldaten rennen zu den Waffenkammern. Zehntausend Mann halten den Atem an. Militärisch wie politisch ist der KrenzBefehl (Begründung: „Verteidigung der souveränen Grenzen der souveränen DDR“) unsinnig. Wo sollen die Schützenpanzerwagen auffahren? Alle Straßen Richtung Berlin sind mit Trabis verstopft. Mit Unterstützung der Sowjetarmee kann Krenz ohnehin nicht rechnen. Botschafter Kotschemassow hat am Morgen den russischen Armeegeneral Boris Wassiljewitsch Snetkow ermahnt, sich auch 100

nach der Maueröffnung jeder Einmischung zu enthalten. Der Diplomat zum General: „Gehen Sie in sich und erstarren Sie!“

West-Berlin Kohl kann nicht auf direktem Weg von Warschau nach Berlin kommen. Denn nur Flugzeuge der westlichen Alliierten dürfen bestimmte Luftkorridore über der DDR benutzen. Die Maschine des Kanzlers muss einen Umweg über die Ostsee nach Hamburg nehmen. Dort lässt der Bonner US-Botschafter Vernon Walters ein amerikanisches Militärflugzeug für Kohl und seine Entourage bereitstellen. In Berlin erwarten zehntausende den Kanzler und seinen Außenminister vor dem Schöneberger Rathaus. Auf dem überdachten Portalaufgang steht, neben Kohl und Genscher, Berlins Ex-Bürgermeister und Altkanzler Willy Brandt, der bereits die Einheit heraufziehen sieht: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Kohl wird schon vor seiner Rede gnadenlos ausgepfiffen – von „linkem Pöbel“, wie er bemerkt. Als habe Momper persönlich die Störer bestellt, macht Kohl den Bürgermeister für

Sonnabend, 11. November 1989 Ost-Berlin Gestern Nacht noch, gleich nach der Rückkehr aus Berlin, hat Helmut Kohl seinen Freund George Bush angerufen: „Die Grenzen sind absolut offen“, schwärmt er. „Ohne die USA wäre dieser Tag nicht möglich gewesen.“ Der Präsident revanchiert sich, er sei „stolz“ darauf, wie geschickt der Kanzler „dieses außerordentlich schwierige Problem“ behandelt habe. Kohl verabschiedet sich mit Grüßen an Bush-Gattin Barbara: „Sag ihr, dass ich ihr zu Weihnachten Würstchen schicke.“ Nun, am Vormittag um 10.13 Uhr, lässt sich der Kanzler mit Egon Krenz verbinden. Er wolle „sagen, dass ich sehr, sehr begrüße diese sehr wichtige Entscheidung der Öffnung“, beginnt der Kanzler. Krenz quittiert das Lob für sein Malheur brav: „Das freut mich sehr.“ Der SED-Generalsekretär ist in Sorge. Er sieht die Wiedervereinigung herannahen und versucht, Kohl festzulegen: „Steht nicht auf der Tagesordnung.“ Da ist der Kanzler, mit Blick aufs Grundgesetz und seinen Amtseid, natürlich „ganz anderer Meinung“. Doch Kohl beruhigt Krenz: Die Wiedervereinigung sei „jetzt nicht das

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Verwandten habe es im Übrigen bisher schon gegeben. In der Sitzung des ZK, die Krenz um 9.05 Uhr eröffnet, fällt zur Maueröffnung fast eine Stunde lang kein einziges Wort. Stattdessen beschäftigen sich die Genossen mit den Weltmarktpreisen von Speicherschaltkreisen. Neun gespenstische Redebeiträge sind schon gehalten worden, als Krenz gegen 10 Uhr den Raum verlässt. Jemand hat ihm einen Zettel gereicht: „Genosse Kotschemassow möchte dich dringend sprechen.“ Von einem Nebenraum aus ruft der SED-Chef den Sowjetbotschafter zurück. „Genosse Krenz“, richtet ihm der Diplomat mit freudiger Stimme aus, „im Namen von Michail Gorbatschow, im Namen der sowjetischen Führung beglückwünsche ich Sie und alle deutschen Freunde zu Ihrem mutigen Schritt, dass Sie die Berliner Mauer geöffnet haben.“ Krenz eilt in den Sitzungssaal. Erst jetzt, nachdem Gorbatschow Zustimmung signalisiert hat, wagt er es, die Mauerpanne anzusprechen und zu verteidigen:

Kundgebungsredner Brandt, Kohl: „Zu Weihnachten Würstchen für Barbara“

das Pfeifkonzert verantwortlich. Als der glatzköpfige Sozialdemokrat redet, giftet der Christdemokrat in die offenen Mikrofone: „Lenin spricht, Lenin spricht.“ Zuletzt sorgt auch noch der CDU-Politiker Jürgen Wohlrabe für falsche Töne. Der stimmgewaltige Rechte, den SPDZuchtmeister Herbert Wehner einst als „Übelkrähe“ diffamierte, intoniert das Deutschlandlied, mit kehliger Stimme und eine Oktave zu tief. Dissonant fallen Kohl, Genscher, Brandt und Momper in den Gesang ein. d e r

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Thema, das uns im Augenblick am meisten beschäftigt“. Der Bundeskanzler rechnet zu diesem Zeitpunkt mit der deutschen Einheit erst in fünf oder zehn Jahren – und nicht in 325 Tagen. Krenz bedankt sich bei Kohl für das freundliche Gespräch. Die „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für die Nationale Volksarmee hebt der SEDChef noch am selben Tage wieder auf. I RI NA

J OCH E N B ÖLSCH E ; C H RIST IAN H ABBE , H ANS H ALT E R , N ORBE RT F. P ÖTZL , R E PKE , C ORDT S CH N I BBE N , BARBARA S UPP

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Unbequem zwischen allen Stühlen

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ten die lang gedienten Politbürokraten die Ablösung des reformunwilligen Alten betrieben, um die DDR zu retten. Aber die Zukunft konnten sie wegen ihrer Vergangenheit beide nicht gewinnen. Der 1929 im vorpommerschen Anklam geborene Schabowski war als Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ (1978 bis 1985) ein strammer Agitprop-Mann Honeckers gewesen und auch danach, als Ost-Berliner SED-Chef, stets linientreu. Seine Ehe mit einer Russin und seine guten Verbindungen zur Sowjetunion waren wohl die einzigen Merkmale, die ihn zum Gorbatschow der DDR prädestinierten. Mit Glasnost hatte Schabowski indes nichts im Sinn. In einem Brief an Honecker regte er sich beispielsweise darüber auf, dass immer mehr Bürger den „Drecksender Sat 1“ empfangen wollten und sich deshalb größere Fernsehantennen wünschten. Alexander Osang, Ex-Reporter der „Berliner Zeitung“, erinnert sich an Vorfälle aus dem Jahr 1988, die Schabowski als intriganten Hardliner erscheinen lassen. Einem Geschichtslehrer, der in einem FDJ-Sommerlager äußerte, er wisse nicht mehr, was er seinen Schülern über die Stalin-Zeit erzählen solle, pflichtete Schabow-

Anzeigenblatt-Journalist Schabowski (1992)

Zurück ins alte Metier

O. JANDKE / CARO

in einziger falscher Zungenschlag sicherte ihm einen Platz in der Geschichte. „Sofort“, sagte Günter Schabowski, der Sprecher des neuen SEDZentralkomitees, am 9. November 1989 auf die Journalistenfrage, wann die neue Reiseverordnung in Kraft trete. „Morgen früh“, hätte er sagen müssen. Mit seiner Antwort löste Schabowski die überraschendste Völkerwanderung der Neuzeit aus. Er selbst „ahnte in diesem Augenblick nicht“, schrieb er später, dass er „im Namen der SED-Führung der DDR gerade das endgültige Verfallsdatum aufdrückte“. Still litt Schabowski zunächst unter dem Vorwurf seiner Genossen im Politbüro, er habe der DDR den Todesstoß versetzt. Seine Antwort gab er erst, als Egon Krenz Anfang Dezember abdankte: „Wenn ein System daran zu Bruch geht, dass sich die Menschen frei bewegen können, hat es nichts Besseres verdient.“ Neben der Maueröffner-Episode verblasst Schabowskis Rolle als Königsmörder. Am Sturz Erich Honeckers hatte der damalige Erste Sekretär der HauptstadtSED jedoch ebenso Anteil wie der kurzzeitige Parteichef Krenz. Konspirativ hat-

L. KOCH / HNA

SED-Wendepolitiker Günter Schabowski: Vom linientreuen Agitprop-Funktionär zum PR-Manager

Angeklagter Schabowski (1997): „Beschimpft als Schwein, Ratte und Waschlappen“

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ski vor Publikum bei – und mokierte sich hinterrücks, wie so jemand in einem Jugendforum zu Wort kommen könne. Der Generaldirektor des Kombinats Schienenfahrzeugbau, der gegenüber Schabowski einen unsinnigen Parteibeschluss kritisierte, wurde kurz darauf strafversetzt. Die Vorschrift, jeder Betrieb müsse einen bestimmten Prozentsatz an Konsumgütern produzieren, hatte dazu geführt, dass selbst Schwermaschinenbetriebe Wäscheständer und Partygrills im Überfluss herstellten. So hatte sich Schabowski innerhalb und außerhalb der Partei Feinde geschaffen, die den bisweilen cholerischen „Schah Bowski“ nun „ab ins Exil“ wünschten. Die Kurve kriegte Schabowski allerdings flinker als alle anderen. Als erstes Mitglied des Politbüros ging er auf die Straße und diskutierte mit empörten Demonstranten. Als erster aus der Parteispitze empfing er demonstrativ zwei Abgesandte des Neuen Forum, den Biologen Jens Reich und den Physiker Sebastian Pflugbeil – und verhalf so der Opposition zu einer gewissen Anerkennung. Schabowski war es auch, der sich, neben dem vom pensionierten Agentenführer zum SED-Vordenker gewendeten Markus Wolf, am 4. November bei der KünstlerDemo auf dem Alexanderplatz dem Pfeifkonzert von hunderttausenden aussetzte und sich als opportunistischer Anpasser ausbuhen ließ. Mit erstaunlichem Geschick mutierte der gelernte Partei-Propagandist zum PR-Manager. Er arrangierte Homestories mit den neuen Regenten, vermarktete die Abrechnung mit dem alten Regime und inszenierte publikumswirksam – „Krenz zieht aus Wandlitz aus“ – den Verzicht der Nachfolger auf ihre Privilegien. Da hatte Schabowski allerdings noch die Illusion, ein DDR-Reformsozialismus könne überleben. Erst später merkte er, dass „das System, dessen politischer Klasse und Führung“ er angehörte, „vor dem Leben, vor der Wirklichkeit versagt“ hatte. Zu den „herben Dämpfern“, die ihn schnell am Neubeginn zweifeln ließen,

zählt Schabowski die erste Fernsehrede des neu gewählten Generalsekretärs Krenz: „Das war noch die blecherne Diktion des SED-Zeitalters, allenfalls geeignet, die konservativen Genossen zu beruhigen.“ Kurze Zeit zeigte Schabowski Ambitionen, seinen Mitverschwörer Krenz als Partei- und/oder Staatschef zu verdrängen. Doch dann fiel er, als Gregor Gysi die Führung der SED/PDS übernahm, zugleich mit seinem Verbündeten aus allen Ämtern. Anfang Januar 1990 verlor Schabowski seinen Sitz in der Volkskammer.Wenig später wurde er, zusammen mit Krenz, aus der Partei ausgeschlossen. Von 1992 an wirkte der gelernte Journalist wieder in seinem alten Metier: Er wurde Mitgesellschafter eines Anzeigenblatts im südhessischen Rotenburg und arbeitete als Layouter; heute lebt er als Rentner in Berlin. Schabowskis 1991 erschienener Autobiografie „Der Absturz“ bescheinigt der westdeutsche Psychoanalytiker Tilman Moser „Aufrichtigkeit“. Glaubwürdig sei Schabowskis „Staunen über die Verbohrtheit des Systems und seiner Träger“.

„Wenn ein System daran zu Bruch geht, dass sich die Menschen frei bewegen können, hat es nichts Besseres verdient.“ Einstigen Kampfgefährten gilt Schabowski als Verräter, seit er seine moralische Mitschuld an den Mauertoten bekannt und sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt hat. Im August 1997 hat das Berliner Landgericht den einstigen Berliner SED-Chef zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt; über seine Revision entscheidet der Bundesgerichtshof in diesen Tagen. Der Anklage hatte er von Anfang an widersprochen: Er sei kein „SchreibtischTotschläger“. Zu Krenz, der von „Siegerjustiz“ sprach, ging Schabowski jedoch auf Distanz: Er halte nichts von derlei „Zungenrollern“. Der einstige „rote Star“ Krenz leide am „Roten Star“, an „ideologischer Blickverengung“. So hat sich Schabowski unbequem zwischen alle Stühle gesetzt: Er wird, so sein Anwalt im Plädoyer, „von den Kommunisten als Schwein, vom Solidaritätskomitee als Ratte, von großen Teilen der Bevölkerung als Wendehals, von der Nebenklage als Waschlappen beschimpft“. Norbert F. Pötzl

Im nächsten Heft „Ich liebe doch alle“ – Die Stasi unterwandert Modrows Reformkabinett – Der „Swingman“ greift ein – Margaret Thatcher flippt aus d e r

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Deutschland

ZEITGESCHICHTE

„Alles, alles, alles überprüfen“ Die Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht muss wegen zahlreicher Fehler zurückgezogen und kontrolliert werden. Doch auch manche Kritiker sind oft schlampig in der Argumentation.

DPA

Institutschef Reemtsma*

„Außerordentlicher Glaubwürdigkeitsverlust“

* Auf der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag in Hamburg vor angezweifelten Fotos der Wehrmachtsausstellung.

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M. AUGUST

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o sehen Verlierer aus. Blass und starr blickte Jan Philipp Reemtsma am vergangenen Donnerstag in den Raum, Hannes Heer malte in seinen Notizen, Bernd Boll, versteckt zwischen den Journalisten, schaute betreten auf den Fußboden. Die drei Wissenschaftler des Hamburger Instituts für Sozialforschung hatten die spektakulärste zeitgeschichtliche Ausstellung der neunziger Jahre durch Deutschland geschickt. Rund 900 000 Menschen in 33 Städten sahen seit 1995 die Bilderschau über die Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront und in Serbien, bis 2003 war die Ausstellung ausgebucht. Die Bilder von lachenden Landsern vor Leichenbergen, zusammen mit langen Textdokumenten aus Wehrmachtsbefehlen oder Feldpostbriefen, Wehrmachtsausstellung (in Kiel): Ausgebucht bis 2003 provozierten heftigen Widerstand, führten aber in der Öffentlichkeit einen „außerordentlichen Glaubwürdigauch zu einer neuen Sicht auf die deut- keitsverlust“. Ein Kuratorium von Wissenschaftlern schen Streitkräfte in Hitlers Diensten. Nun haben die Initiatoren ihre Ausstel- soll bald Bildlegenden und Textwände lung selbst aus dem Verkehr gezogen. Die komplett überprüfen; nominiert wurden Eröffnung in Braunschweig in dieser Wo- die Historiker Omer Bartov, Cornelia che ist abgesagt, auch die Tournee durch Brink, Friedrich Kahlenberg, Manfred die Vereinigten Staaten von Amerika ab Messerschmidt, Reinhard Rürup und Dezember. „Gravierende Fehler“ räumte Hans-Ulrich Thamer. Hochmütig hatten Reemtsma ein, Heer gab „Leichtfertigkeit“ die Ausstellungsmacher bis vor kurzem und handwerkliche Unzulänglichkeiten fast alle Kritik an der Korrektheit etlicher zu; die Ausstellungsmacher beklagten Teile ihres Werks zurückgewiesen. Schnell waren sie mit dem Verdacht, wer an falschen Bildzuschreibungen oder unvollständigen Zitaten Anstoß nehme, sei ein Rechtsradikaler. Ungnädig reagierten die Hamburger zunächst auch auf Recherchen des deutsch-polnischen Historikers Bogdan Musial und des SPIEGEL. Diese hatten Anfang des Jahres ergeben, dass Heer und Boll Fotos mit Opfern der sowjetischen Geheimpolizei NKWD

fälschlicherweise der Wehrmacht zuordneten (SPIEGEL 4/1999). Heer hatte die Zuordnung der Bilder übernommen, wie er sie in Moskauer Archiven vorfand, und dabei nicht bedacht, dass Stalins NKWD die Fotos für Propagandazwecke gesammelt hatte, meist aus den Brieftaschen toter deutscher Soldaten. Auch sonst sind ihm Fehler unterlaufen. Als der ungarische Militärhistoriker Krisztián Ungváry sich einige Bilder der Ausstellung genauer ansah, stellte er fest, dass sie statt deutscher Landser finnische und ungarische Soldaten zeigten. Reemtsmas Mitarbeiter hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Uniformen der Männer auf den Fotos zu identifizieren. Für Ungváry und Musial sind solche Versäumnisse nur „die Spitze eines Eisbergs“. Ungváry war eigentlich angetreten, die Vergehen der ungarischen Armee aufzuarbeiten. Inzwischen behauptet er, dass zehn Prozent der Fotos in der Wehrmachtsausstellung keine Verbrechen der Wehrmacht im juristischen Sinne „beweisen“ könnten. Bis zur vergangenen Woche glaubten Reemtsma und Heer, sich mit Korrekturen an der laufenden Ausstellung begnügen 107

FOTOS: J. MÜLLER ( li.); A. KIRCHHOF / ACTION PRESS ( re.)

Deutschland

Kritiker Musial, Ausstellungsveranstalter Vogel, Reemtsma, Heer*: Eher amateurhaft in das Projekt hineingestolpert

M. AUGUST

Musial hatte allerdings in der Tat Konzu können. Institutsdirektor Reemtsma Instituts schickten eine Rechnung über wollte die Schau unbedingt in den USA 1007,81 Mark und die Aufforderung, inner- takte in die rechte Szene. Der ehemalige zeigen; das war nur möglich, wenn sie halb von 24 Stunden eine Unterlassungs- Solidarno´sƒ-Aktivist, 1985 in die Bundesrepublik gekommen, zeigt bei seinen Rein Deutschland nicht zurückgezogen wür- erklärung zu unterschreiben. Reemtsma macht heute den Ex-Kom- cherchen wenig ideologische Scheu: „Ich de. Zunächst hofften deshalb Mitarbeiter des Hamburger Instituts auf eine Absage munisten Heer für den rabiaten Umgang rede mit jedem. Es kommt darauf an, dass des Ausstellungstermins in Braunschweig; mit kritischen Historikern verantwortlich; die Argumente stichhaltig sind.“ An der das hätte Zeit zur unauffälligen Über- weil es so viele Anwürfe gegen die Aus- umfangreichen Beteiligung der Wehrmacht prüfung gegeben, ohne die US-Reise zu steller gab und man das hausinterne Ver- an Kriegsverbrechen lässt er allerdings keifahren vereinfachen wollte, konnte Heer nen Zweifel. gefährden. Auch Ungváry gibt schon einmal ein InAber Reemtsma und Heer sind nicht unmittelbar mit den Anwälten des Instimehr allein die Herren der Ausstellung; sie tuts agieren. Hinter den Kulissen versuch- terview im rechtsradikalen Blatt „Junge Freiheit“, seine Promotion veröfwird inzwischen von einem Förfentlicht er in einem rechtslastiderverein betreut, in dessen Kuragen Verlag. Für die beiden gebotorium der ehemalige SPD-Vorsitrenen Osteuropäer, die den real zende Hans-Jochen Vogel den existierenden Sozialismus selber Kurs bestimmt. Auf der erweiternoch erlitten haben, steht der ten Vorstandssitzung am verganFeind im Zweifelsfall links. genen Mittwoch machte er klar: Sonntag vorvergangener Wo„Der Schaden durch punktuelle che entschuldigte sich Reemtsma Korrekturen ist größer als durch bei Musial für die Klage; drei Tage ein Zurückstellen.“ Reemtsma danach bot er ihm die Mitarbeit lenkte sofort ein. Man müsse „alan der Korrektur der Ausstellung les, alles, alles überprüfen“. an. Der Deutsch-Pole ist dazu Den schmählichen Rückzug grundsätzlich bereit, obwohl er hatten sich die Ausstellungsmaden Verdacht hegt, dass die vielen cher so wenig träumen lassen wie Fehler kein Zufall sind; sein Argden unglaublichen Erfolg beim Puwohn richtet sich gegen Heer. blikum. Eher amateurhaft war das Dieser verfügt unter HistoriHamburger Institut in das Projekt kern über keinen guten Ruf. hineingestolpert. Reemtsma hatte Schon Anfang der siebziger Jahre ursprünglich das Thema Wehrfiel er auf eine Fälschung herein, macht übersehen, als er Jahre zudie deutschen Gewerkschaftsfühvor mit Mitarbeitern eine Ausstelrern unterstellte, vor Hitlers lung über den Zweiten Weltkrieg Beanstandetes Ausstellungsfoto*: Aus Moskauer Archiven Machtantritt mit den Nazis geplante. Dann fand man für die Schau keinen Ausstellungsraum und ver- te die Reemtsma-Truppe, Musial eine kungelt zu haben. Später veröffentlichte zichtete nur deshalb darauf, sie in der klei- Nähe zur Anti-Ausstellungs-Kampagne der er Geständnisse, die der NKWD deutschen nen, eigenen Institutsbibliothek zu zeigen, Rechtsradikalen anzuhängen, was sie heu- Kriegsgefangenen abgepresst hatte; Heer hält sie für glaubwürdige Quellen zu den weil sich die Bibliothekarin sträubte, die te bestreitet. Um die Ausstellung legte sich ein anti- Verbrechen der Wehrmacht. Bücherei zu räumen. Heer stieß 1993 zu Schon in einem Konzeptpapier zur der Reemtsma-Truppe. Die Leitung der faschistischer Schutzwall. „Jeder Kritiker Ausstellung übernahm er, weil er als Ein- riskierte, an den rechtsradikalen Rand ge- Vorbereitung der Ausstellung hatten die ziger der beteiligten Wissenschaftler in drückt zu werden“, erinnerte sich Rolf- Macher in eine Richtung gedacht, die den Dieter Müller, einer der wenigen Histori- späteren Vorwurf, sie hätten die WehrHamburg wohnt. macht pauschal verurteilen wollen, nicht Als Musial seine Vorwürfe erstmals im ker, die sich trotzdem trauten. ganz so unsinnig macht: „Zur Debatte steSPIEGEL publizierte, verwickelte Heer den damaligen Doktoranden in einen * Oben: auf der Pressekonferenz in Hamburg am ver- he“ die Beteiligung des „kleinen Soldaten Rechtsstreit über die Frage, ob er auf Mu- gangenen Donnerstag; unten: NKWD-Opfer in Boryslaw an den NS-Verbrechen, seine Rolle als arbeitsteiliger Täter, als Handlanger, Mitsials Kritik reagiert habe. Anwälte des 1941. 108

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GARF / STAATSARCHIV DER RUSSISCHEN FÖDERATION MOSKAU

Eine Propagandakompanie des Heeres helfer, Zeuge, Gaffer und auch als Be- vor, Verbrechen mitzurechnen, die nicht richterstatter“. der Wehrmacht anzulasten sind. Er glaubt druckte die Plakate, mit denen Juden aufIn der Ausstellung haben der Historiker inzwischen sogar, dass die Ausstellung die gefordert wurden, sich in Sammelstellen einzufinden. Die Lastwagen, mit denen Heer und seine Mitstreiter Fehler dut- Überprüfung nicht überstehen werde. zendweise zu verantworten. Bilder über Doch viele seiner Vorwürfe sind unbe- die Opfer in die Schlucht gekarrt wurden, dasselbe Ereignis sind mit unterschiedli- rechtigt. Er moniert Bildlegenden, die stellte die Wehrmacht. Dennoch zählt Babi chen Legenden zu sehen, ein Zitat ist sinn- längst korrigiert sind oder die es nie gege- Jar für Ungváry nicht zu den Verbrechen entstellend geändert worden, Funktions- ben hat; ein Bild hält er auf Grund einer der Wehrmacht, weil kein Landser gebezeichnungen sind falsch, Bilderreihen Vergleichsaufnahme für gefälscht, obwohl schossen hat. Ungváry möchte auch die Debatte wurden auseinander gerissen und so zu- gute Indizien dafür sprechen, dass die Versammengesetzt, dass sich daraus ein neu- gleichsaufnahme eine Fälschung ist. Ung- wieder eröffnen, ob nicht Morde der er Sinn lesen lässt. váry will die Verbrechen von russischen Wehrmacht an Zivilisten Teil eines klassiHeer redet sich damit heraus, dass his- oder ukrainischen Hilfswilligen (Hiwis) aus schen Partisanenkriegs gewesen seien. Mit torische Fotoausstellungen oft fehlerhaft der Ausstellung verbannen, obwohl, wie der Begründung, es handle sich um Partiseien, weil sich nur selten die Bilder ein- der Historiker Christian Streit moniert, sanen, haben Wehrmachtseinheiten an der Ostfront Juden und Zigeudeutig zuordnen ließen. Aber die ner zu tausenden getötet. Wehrmachtsausstellung war eine Doch ob die Erschießung besondere Ausstellung geworvon Partisanen vom Kriegsden. Ursprünglich sollte sie zeirecht gedeckt wird, ist umgen, dass der Krieg im Osten ein stritten. Und in der SS galt Vernichtungskrieg war, ohne die Devise: „Wo der PartiVorbild in der Geschichte. Die san ist, ist auch der Jude, Besucher sahen in ihr stattdessen und wo der Jude ist, ist auch eine Dokumentation über die der Partisan.“ In den ersten Verbrechen der Wehrmacht; die Monaten nach dem deutüberwältigend vielen Gräuelschen Überfall auf die Sofotos wurden zu Zeugen der Anwjetunion diente der Partiklage. Und da zählt jedes Detail. sanenkrieg als Camouflage Dafür ist Heer der falsche für den Holocaust. Erst späMann. Als Studentenaktivist des ter wurden die Freischärler SDS hatte er in den sechziger zur militärischen BedroJahren die Aufdeckung der NShung für die Wehrmacht – Vergangenheit von Größen der eine Unterscheidung, die Bundesrepublik ins Visier ge- Ausstellungsfoto mit finnischen Soldaten: Handwerkliche Fehler Ungváry nicht vornimmt. nommen. Ziselieren lernt sich Trotz aller Vorwürfe und der Zerknirbei einer solchen Aufgabe nicht. Im Aus- „kein Wehrmachtsoffizier ein eigenmächstellungsband finden sich denn auch Sätze tiges Handeln von Hiwis geduldet hätte“. schung über die Fehler hofft Reemtsma, in wie: Die „Mannschaftsgrade der WehrSS und Wehrmacht dividiert Ungváry drei Monaten wieder mit der erneuerten macht unterschieden sich zu diesem Zeit- streng auseinander. Aber oft hat die Abbil- Ausstellung reüssieren zu können. Die punkt (zweite Hälfte 1942 –Red.) nicht dung von SS-Männern in der Wehrmachts- Chancen sind eher gering. Viele Sachvermehr von der Mentalität der Himmler- ausstellung ihre Berechtigung, beide arbei- halte lassen sich gar nicht in so kurzer Zeit Truppe“; nur mit Mühe konnte Chef teten vielfach Hand in Hand. In der klären, die sechs beteiligten Experten Reemtsma behaupten, aus solchen Formu- Schlucht von Babi Jar bei Kiew wurden am könnten sich noch über manche Details lierungen resultiere kein Generalverdacht 29. und 30. September 1941 von Polizei und zerraufen. Der münstersche Historiker Hans-Ulgegen alle acht Millionen Wehrmachtssol- SS 33 771 Juden ermordet; es war ein Wehrdaten, die an der Ostfront kämpften. machtsgeneral, der das Sonderkommando rich Thamer, ein ausgewiesener Kritiker Wie viele von ihnen an Wehrmachts- 4a um „radikales Vorgehen“ gegen die Ju- in dem Gremium, ist skeptisch: „Ich weiß verbrechen beteiligt waren, ist immer noch den gebeten hatte. Durch Sprengkörper, nicht, ob es gelingen wird“, meint er, „in unbekannt. Kritiker Ungváry rechnet die von Partisanen gelegt, waren hunderte drei Monaten ist das nicht zu machen.“ Zahl eher klein und wirft der Ausstellung deutscher Soldaten zuvor getötet worden. Klaus Wiegrefe

REUTERS

ne zwei Jahre ältere Schwester, und anschließend sich selbst. Fassungslos und schockiert blickt die Republik seitdem nach Bad Reichenhall, einen bis dahin beschaulichen Kurort mit rund 17 000 Einwohnern nahe Watzmann und Königssee. Dass in Deutschland ein Jugendlicher Amok laufen könnte, war für die meisten Bundesbürger bislang außerhalb jeder Vorstellung. So etwas gab es nur in den USA, wo sich fast jedes Kind eine Schusswaffe besorgen kann. Nun wird im Lande eifrig gestritten und diskutiert. Wie konnte es so weit kommen, dass ein Jugendlicher derart ausrastet? Wie konnte er an die Waffen gelangen? Wie lassen sich solche Taten künftig verhindern? Die ersten Antworten der Experten und Politiker zeigen vor allem eines: Fast alle sind rat- und hilflos. Kein Wunder – ist doch auch die Tat beispiellos. „Noch nie“ sei ihm „ein Jugendlicher begegnet, der zu so einem Gewaltexzess fähig gewesen wäre“, so Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München. Nicht nur Fachleute erinnert das grausame Verbrechen an den Amoklauf zweier Teenager am 20. April dieses Jahres in Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Dabei hatten der 17-jährige Dylan Klebold und sein ein Jahr älterer Freund Eric Harris einen Lehrer und zwölf Mitschüler getötet. Anschließend erschossen sie sich selbst. Die Beschreibungen, die überlebende Mitschüler damals von den beiden Amokläufern gaben, passen zu dem, was ehemalige Schulkameraden Peyerls heute berichten. Auch Martin sei ein eher schüchterner Eigenbrötler gewesen, habe daheim Video-

Zerschossenes Klinikfenster, Peyerl-Wohnhaus: „Ausbruch eines Vulkans“ K R I M I N A L I TÄT

„Der Martin war immer nett“ D

ie Vorstellung im Theater des Kurgastzentrums Bad Reichenhall verlief ganz nach Plan. Kurz vor Beginn der Aufführung musste sich der Hauptdarsteller zwar noch von einem Arzt aus dem Publikum eine Spritze geben lassen, weil ihn ein Knie stark schmerzte. Doch dann war Günter Lamprecht, 69, nichts mehr anzumerken. Auf der Bühne spielte er vorvergangenen Sonntagabend den „Tatort“-Kommissar Franz Markowitz, stets auf der Jagd nach skrupellosen Tätern, routiniert wie immer. Im wirklichen Leben wurde Markowitz alias Lamprecht keine 20 Stunden später 110

selbst Opfer eines brutalen Verbrechens. Getroffen von zwei Kugeln aus einem Revolver Colt Phython, Kaliber .357 Magnum, lag der Schauspieler vorigen Montag über eine halbe Stunde lang im eigenen Blut direkt vor dem Städtischen Krankenhaus Bad Reichenhall. Neben ihm seine Lebensgefährtin Claudia Amm, 57, und Fahrer Dieter Duhme, 55, beide ebenfalls schwer verletzt. Lamprecht wollte sich in der Klinik sein Knie untersuchen lassen. Auf die drei geschossen hatte ein 16-Jähriger, der Lehrling Martin Peyerl. Mit weiteren mindestens 16 Schüssen tötete Peyerl vier Menschen, darunter seid e r

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S. KIENER / BILD ZEITUNG

Der Amoklauf eines 16-Jährigen in Bad Reichenhall schockt die Republik. Experten rätseln über die Ursachen: War der Täter ein Neonazi – oder einfach nur lebensmüde?

Amokläufer Peyerl

Die eigene Schwester hingerichtet

Deutschland malt. Daneben wurden in der ganzen Wohnung Musik-CDs mit rechtsradikalen Liedern sowie Gewaltvideos gefunden. Sofort nach dem Amoklauf verlangten Politiker aller Couleur erst mal „Konsequenzen“. Nordrhein-Westfalens Innenminister Fritz Behrens (SPD) plädierte für ein strengeres Waffengesetz. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinrath, widersprach ihm. Nicht das Gesetz müsse verschärft werden, sondern die Polizei müsse sich mehr darum kümmern, illegale Waffen aufzuspüren. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) will sein Augenmerk darauf richten, dass legal erworbene Waffen sicherer verschlossen werden. Er möchte das Waffengesetz so ändern, dass diejenigen Behörden, die die Erlaubnis zum Besitz der Waffen erteilen, in Zukunft gleichzeitig „Mindestanforderungen für die sichere Verwahrung festlegen“ müssen. Bislang gibt es dafür nur Empfehlungen. Das Bundesinnenministerium Otto Schilys (SPD) hält dies allerdings für „einen der üblichen Hauruck-Vorstöße Bayerns“. Auch Kriminologen, Psychologen und Psychiater taten sich zunächst schwer, die Ereignisse von Bad Reichenhall zu erklären und einzuordnen. Zum Teil widersprachen sich ihre Deutungen. In einem Punkt zumindest scheinen sich die Experten aber einig: Der Amoklauf des 16-Jährigen war, wie der Psychiater Lothar Adler formuliert, „keine spontane oder Affekttat“. Sie sei, urteilt der ÄrztliOpfer Daniela Peyerl, Lamprecht, Amm: „So ein Gewaltexzess“ che Direktor des thüringiWartungstrupp. 1981 meldete Peyerl der schen Landesfachkrankenhauses für PsyPolizei, eine Waffe gefunden zu haben. Um chiatrie und Neurologie in Mühlhausen, diese behalten zu können, beantragte er „sicher lange vorbereitet“ gewesen und lebeim zuständigen Landratsamt eine Be- diglich von einem „finalen, vermutlich sitzkarte. Sie wurde genehmigt. In den fol- kränkenden Ereignis ausgelöst“ worden. genden Jahren schloss sich Peyerl, dem die „Für uns Außenstehende sieht das alles so Polizei „Alkoholprobleme“ bescheinigt, wahnsinnig überraschend und plötzlich aus“, so Adler, der 1993 an der Universität insgesamt fünf Schützenvereinen an. Nach seiner Bundeswehrzeit wechselte Göttingen eine der wenigen wissenschaftPeyerl mehrfach den Job. Mal arbeitete er lichen Untersuchungen über Amokläufer als Zugbegleiter bei der Bundesbahn, mal veröffentlichte. „In Wirklichkeit halten wir auf der Mülldeponie Bad Reichenhall, mal eine solche Tat vor allem deshalb für plötzals Hausmeister bei der Kurverwaltung. Bis lich, weil sie uns zunächst so sinnlos erzum Freitag vor der grausigen Tat seines scheint.“ Der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz, Sohnes hatte Peyerl eine befristete Beschäftigung im Feuerwehrerholungsheim vergangene Woche selbst in Bad ReichenSt. Florian in Bayerisch Gmain. Zum 31. hall, glaubt, die Kripo könnte sich die Oktober hatte man ihm gekündigt. Am Suche nach Martins Motiv sparen: „Das Dienstag voriger Woche sollte er einen werden wir nie erfahren.“ Alles, was sich sagen lasse, sei, „dass Martin nicht mehr leneuen Job als Hausmeister antreten. Die Kripo interessiert, wie die Eltern ben wollte, aber nicht zu einem ,normalen‘ dazu stehen, dass die Zimmer ihrer Kinder Selbstmord fähig war“. Deshalb, so Gallvoll von NS-Devotionalien waren. Unter witz, „musste er am Ende zum ersten Mal anderem hing in Danielas Zimmer ein Hit- in seinem Leben etwas Grandioses veranlerbild, Martin hatte am Kopfende seines stalten und mit einem riesigen Feuerwerk Bettes ein Hakenkreuz an die Wand ge- untergehen“. Wolfgang Krach mögliche Sympathie für rechtsradikales Gedankengut spielten „keine Rolle“. Helfen bei der Suche nach dem Auslöser für den Amoklauf könnten vor allem Martins Eltern, die vorigen Freitag erstmals als Zeugen befragt wurden. Ihre Vernehmung könnte diese Woche fortgesetzt werden. Vor allem dem Vater, einem ehemaligen Bundeswehrsoldaten, dürfte die Polizei kritische Fragen stellen. In der Wohnung fanden die Beamten nach eigenen Angaben insgesamt 19 Waffen. Drei Waffenbesitzkarten berechtigten ihn jedoch, so das Landratsamt Berchtesgadener Land, lediglich dazu, 17 Waffen – 5 Revolver und Pistolen sowie 12 Gewehre – zu führen. Außerdem, heißt es bei der Polizei, seien „nicht alle Waffen im Schrank gewesen“. Rudolf Peyerl, gelernter Kfz-Mechaniker, hatte sich Mitte der siebziger Jahre für zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. In der Artilleriekaserne Bad Reichenhall arbeitete er als Unteroffizier in einem

FOTOS: BILD ZEITUNG (li.); AP (re.)

spiele gespielt, die für Jugendliche verboten seien, erzählt der 15-jährige Michael Schandl. „Der Martin war immer nett, ist nie aufgefallen, hat aber den Kontakt zu uns abgewiesen“, so seine ehemalige Klassenkameradin Stefanie Hocheder. „Ein bisschen rechtsradikal“ sei er zudem gewesen, will die 16-Jährige bemerkt haben. So habe er beispielsweise Hakenkreuze in seine Mappen und Ordner gemalt. Auch die Traunsteiner Kripo beschreibt Peyerl, der im September eine Ausbildung als Betriebsmechaniker begonnen hatte, als „Einzelgänger“, der „sehr zurückgezogen lebte“. Ihren Ermittlungen zufolge brach der 16Jährige, als er Montagvormittag allein zu Hause war, offenbar ohne größere Probleme den Waffenschrank seines Vaters, eines leidenschaftlichen Sportschützen, im Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung in der Riedelstraße 12 auf. Martins Eltern, Theresia und Rudolf Peyerl, waren zum Friedhof ins benachbarte Piding gefahren, um – Tradition an Allerheiligen – das Grab der Großmutter zu besuchen. Martin wollte nicht mitkommen. Schwester Daniela, gelernte Kinderpflegerin, arbeitete im Krankenhaus, dessen Eingang keine 50 Meter von der Wohnungstür der Peyerls entfernt liegt, direkt gegenüber auf der anderen Seite der Riedelstraße. Gegen 12 Uhr mittags kam die Schwester nach Hause. Was sich dann in der Wohnung abspielte, konnte die Kripo bis Ende vergangener Woche nicht klären – sie wird es vermutlich nie mehr können. Fest steht, dass Martin anfing, aus zwei Fenstern wild zu schießen. Sechs Kugeln aus einem Selbstlade-Gewehr Ruger M-14, Kaliber .223, trafen die Nachbarin Ruth Zillenbiller, 59, vier ihren Ehemann Horst, 60. Beide waren vermutlich sofort tot. Mit einem zweiten Gewehr, Kaliber .44-40, traf der Junge einen Patienten des Krankenhauses direkt in den Kopf. Der 54-Jährige war nur kurz vor die Kliniktür gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Er erlag Dienstagabend seinen Verletzungen. Als Beamte eines Spezialeinsatzkommandos die Wohnung am Montag gegen 18 Uhr stürmten, fanden sie den 16-Jährigen in der Badewanne. Er hatte sich, so die Ermittler, mit einer Schrotflinte erschossen. Zuvor hatte er seine Schwester mit fünf Schüssen – je zwei in Kopf und Brust sowie einen in den Arm – regelrecht hingerichtet. Auch seine Katze hatte Martin umgebracht. Was den jungen Mann zu dem grausigen Verbrechen bewegte, liegt für die Behörden ebenfalls noch im Dunkeln. „Irgendetwas hat den Vulkan zum Ausbruch gebracht, und das suchen wir“, so Polizeisprecher Fritz Braun. Für den Traunsteiner Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese, der die Ermittlungen leitet, ist lediglich „klar, dass das Motiv in der Persönlichkeit des Täters liegt“. Alkohol, Drogen oder auch eine

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Wirtschaft

Trends

INTERNET

Lifestyle online D

er elektronische Handel im Internet (E-Commerce), der bislang vor allem auf Bücher, CDs und Elektronikartikel beschränkt war, kommt jetzt auch in der Modebranche in Schwung. Am Mittwoch vergangener Woche ist Boo.com, eine Online-Firma, die Trendklamotten über das Netz vertreibt, in sieben Ländern gleichzeitig gestartet. Die schwedischen BooGründer, Kajsa Leander und Ernst Malmsten, beide 28, haben von Investoren wie Alessandro Benetton, dem französischen LVMH-Chef Bernard Arnault und der US-Bank Goldman Sachs weit über 100 Millionen Dollar bekommen, so wird geschätzt. Nie zuvor hat ein Internet-Start-up in Europa so viel Geld in die Hand genommen. Auch etablierte Textilhändler bauen ihr Online-Geschäft aus: Mit Apple-Chef Steve Jobs holte sich zum Beispiel die US-Kette Gap, seit 1997 mit einem Laden im Internet, einen Softwarespezialisten in den Aufsichtsrat. Hennes & Mauritz, eine der erfolgreichsten Modefirmen Europas, will den Internet-Verkauf vom Heimatland Schweden aus jetzt auch in ganz Skandinavien anbieten, weitere Länder sollen folgen. Nur der Jeanshersteller Levi’s macht einen Rückzieher: Nach Weihnachten wird sein Online-Verkauf eingestellt. Die Kosten waren zu hoch, und der stationäre Handel ärgerte sich über die Konkurrenz aus dem Netz.

Gap-Internetseite

H Y P O - A F FÄ R E

Peinliche Pleite

Der Nächste bitte

ach dem Konkurs der mit 200 Millionen Mark subventionierten Aluminiumhütte Aluhett bei Halle gibt es in Sachsen-Anhalt Streit um die Verantwortlichkeit. Regierungschef Reinhard Höppner hatte 1996 die Rettung des Werkes zur Chefsache erklärt, dabei aber Warnungen von Strafverfolgern offenbar nicht ernst genommen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Halle gegen acht Manager des Unternehmens und den Berliner Pleite-Unternehmer Valentin Fischer wegen Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug. Noch im Februar dieses Jahres warnte der Landesrechnungshof vor Fischer, der offenkundig nur versuche, „sich persönlich zu sanieren“. Das Schreiben zitiert ausführlich Rügen des Europäischen Rechnungshofes über „offenkundige Fehler“ bei der Zuschussvergabe und Subventionen „ohne Vorlage von Rechnungen“ sowie „unklare Gesellschafts- und Betreiberverhältnisse“. Die Staatsanwaltschaft Halle sah dagegen bei Vorermittlungen „keinen konkreten strafrechtlichen Anfangsverdacht“. Regierungschef Höppner weist deshalb die Vorwürfe zurück: Man könne „als Regierung ein privates Unternehmen nicht total überwachen“.

maligen Hypo-Vorstände in Erwägung ziehen, sollten diese nicht freiwillig zurücktreten, berichten Insider. Auch die Allianz, die 18 Prozent an der Fusionsbank hält, wollte sich daraufhin nicht die Blöße geben, vier Vorstände zu behalten, die womöglich kurz darauf von der Bankenaufsicht ihres Amts enthoben werden. Hausser ist nun der einzige noch als Bankvorstand tätige ehemalige Vorstand der Hypobank.

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as Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen überprüft derzeit, ob es Joachim Hausser, den Vorstandschef der Hypothekenkreditbank (HKB), von seinem Amt abberufen muss. Hausser war Vorstandsmitglied der ehemaligen Hypobank, schied aber nach der Übernahme des Instituts durch die Vereinsbank aus dem Gremium aus. Seither führt er die in Hallbergmoos bei München ansässige und von der HypoVereinsbank völlig unabhängige HKB, an der er auch persönlich beteiligt ist. Zusammen mit allen anderen Ex-Vorständen der Hypobank verantwortet er jedoch die vor zwei Wochen von Sondergutachtern für nichtig erklärte 1997er Bilanz der Hypo (SPIEGEL 43/1999). Darin sind 3,6 Milliarden fauler Immobilienkredite nicht ausgewiesen. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens sind die vier aus der Hypobank kommenden Vorstände der HypoVereinsbank zurückgetreten – und zwar auf maßgeblichen Druck des Bundesaufsichtsamtes. Die Bankaufseher hatten dem Vorstand und dem Aufsichtsrat des Kreditinstituts sowie den Betroffenen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie eine Abberufung der eheEhemalige Hypo-Zentrale d e r

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Trends MILLENNIUM

Werbung mit Computercrash

JUMP

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Frauen beim Aerobic-Kurs GESUNDHEIT

Fit for Profit A

usländische Anbieter drängen in den deutschen Fitness-Markt. Neben der südafrikanischen Healthland-Gruppe, die bis Ende nächsten Jahres bundesweit 30 neue Studios eröffnen will, plant jetzt auch der britische Gastronomie- und Freizeitkonzern Whitbread eine eigene Studiokette in Deutschland. Die Firma, die unter anderem die Hotelkette Marriott sowie die Steakhäuser der Marken Maredo und Churrasco betreibt, war 1995 mit der Übernahme der Studios des früheren Tennisstars David Lloyd ins boomende Fitness-Business eingestiegen. Deutschland, wo derzeit 4,3 Millionen Menschen in mehr als 6000 Fitness-Clubs trainieren, gilt den Briten als Wachstumsmarkt: In den USA und Großbritannien sind prozentual schon doppelt so viele Menschen Mitglied in einem Fitness-Club.

DEUTSCHE BAHN

Teure Trasse

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J. RÖTTGERS / GRAFFITI

ie neue Hochgeschwindigkeitsstrecke für den ICE zwischen Köln und Frankfurt wird später fertig und wesentlich teurer als zuletzt geplant. Der im Jahr 1995 ausgehandelte Festpreis von 7,75 Mil-

liarden Mark ist nach internen Berechnungen der Deutschen Bahn AG nicht mehr zu halten. Erhebliche Mehrkosten verteuern das Prestigeprojekt des Unternehmens um 1,75 auf 9,5 Milliarden Mark. Eine schleppende Planfeststellung, erhebliche Umplanungen, aber auch Nachforderungen der beteiligten Baukonsortien treiben die Kosten zum Beispiel für Brücken und Tunnels um 900, für die Fahrbahn um 270 und die Streckenausrüstung um 210 Millionen Mark in die Höhe. Nach dem Vertrag von 1995 mit dem Bundesverkehrsministerium sind „Kostenerhöhungen und nicht zuwendungsfähige Maßnahmen“ im wesentlichen von der Deutschen Bahn zu tragen. Nach dem internen Bericht muss nun die ohnedies gebeutelte Bahn deshalb rund 1,4 Milliarden Mark mehr ausgeben als geplant.

ICE-Neigezug

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ürger, Behörden, Banken: Zur Jahrtausendwende und dem befürchteten Computercrash geben sich alle betont gelassen. Nur die Werbewirtschaft ist in heller Aufregung. Bei Maggi etwa soll ein Jahrtausendwenderucksack mit Fertigsuppe und „Nudelspaß“ über die Sylvesternacht helfen – „mit oder ohne Stromausfall“. Ein „Jahrtausend Investment“ verspricht die Commerzbank mit ihren neuen Branchenfonds – die Kreditinstitute wollen ihren Kunden die Angst nehmen, durch einen Computercrash könne ihr Geld verloren gehen. Immerhin jedes siebte Unternehmen will nach Erhebungen der Nürnberger GfK gesondert zum Millennium werben, obwohl die große Mehrheit der Deutschen die Computerumstellung gar nicht fürchtet. Ganz vorn dabei sind Sekt- und Champagner-Marken. Während Deinhard die Deutschland-Tournee von Udo Jürgens („Udo 2000“) sponsert, werben andere exklusiv im Porsche-Magazin. Moët & Chandon hat rund 300 Millenniumsflaschen (Preis: 80 000 Mark) abgefüllt, will sie aber überwiegend an Prominente verschenken. Versorgungsengpässe erwartet Kraft Jacobs Suchard zwar nicht. Seinen Umsatz möchte der Lebensmittelhersteller (Miracoli, Jacobs Krönung) durch die vermeintliche Sylvesterangst trotzdem nach Kräften ankurbeln. In eigens produzierten Fernsehspots fordert der TV-Komiker Wi- Maggi-Rucksack gald Boning die Zuschauer zum sofortigen Horten von Lebensmitteln auf. In Humor versucht sich auch die Pressestelle der Firma: Nach „Flugzeugabstürzen über dem Pazifik“, so eine Glosse in der Pressemappe von Kraft Jacobs Suchard, gingen „in Neuseeland die Lichter aus und wenig später die ersten japanischen und australischen Kernreaktoren hoch“.

Geld zelne Werte wie Dialog Semiconductor, Centrotec, Teles oder Pixelpark stiegen innerhalb einer Woche um mehr als 25 Prozent. Doch die erfolgreichste Börse für kleine, zukunftsorientierte Unternehmen residiert in Japan. Internet- und Software-Werte ließen den Jasdaq-Index in diesem Jahr um über 200 Prozent steigen. Firmen wie Softbank, Yahoo Japan oder Masternet inspirieren nun auch die Phantasie internationaler Anleger. „Japan hinkt der Erschließung und Anwendung des Internet um mehrere Jahre hinterher. Die Aufholjagd hat gerade erst begonnen“, glaubt Tarek Fadlallah, Analyst von ABN-Amro.

NEUE MÄRKTE 80

Internet-Phantasie in Japan

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or sechs Wochen warnte Microsoft-Präsident Steve Ballmer, dass die Aktienkurse der Technologieunternehmen „absurde Höhen“ erreicht hätten. Doch nach einem kurzen Zwischentief stieg der Aktienindex der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq in der vergangenen Woche auf immer neue Rekordwerte. Auch der Neue-Markt-Index legte nach den positiven Vorgaben aus den USA wieder zu. Ein-

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INVESTMENTFONDS

Rentenindex Rex

Sparbücher abschaffen?

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zen mit tollen Renditen. Doch kein einziger von zehn Fonds der Dresdner Bank, die seit mehr als 20 Jahren bestehen, hatte das Ziel bis Ende September (siehe Grafik) erreicht. Der Aktienfonds Concentra, der vor allem in Standardwerte großer deutscher Unternehmen investiert, schaffte es dann im Oktober, aber nur knapp. Im Durchschnitt beträgt der Wertzuwachs dieser zehn Dresdner Bank-Fonds lediglich 7222 Mark. Der Wertsteigerungen von Dresdner-Bank-Fonds mit einem Sparbuch jährliche Was aus einer Anlage von 1000 Mark vielleicht noch verdurchschnittl. im Zeitraum vom 30.9.1979 gleichbare Deutsche Rendite bis zum 30.9.1999 geworden ist in Prozent Rentenfonds schaffte soDeutscher 7,42 gar nur ein Plus von 4186 Rentenfonds 3186 Mark. Mit kleineVermögens7,91 ren Schummeleien 4580 Ertrag-Fonds prahlt „die BeraterInternationaler bank“ (Werbeslogan) 9,37 5996 Rentenfonds auch in ihrem zweiten VermögensAnzeigenmotiv. „Wer 10,76 7718 Aufbau-Fonds sein Volk liebt, nimmt Transatlanta 11,50 ihm die Sparbücher 8826 weg“, legt die Dresdner DIT Fonds für 11,77 Bank mit weiteren Inse9265 Vermögensbildung raten nach und empInterglobal 11,84 fiehlt ihren Wertpapier9375 fonds DIT-Kapital-Plus. Thesaurus 12,14 Dieser Fonds schaffte 9882 seit Jahresanfang 1999 einen Wertzuwachs Industria 12,49 nur 10532 von rund vier Prozent, ist lediglich Concentra 11859 13,16 abzuziehen ein „Ausgabeaufgeld“ – Quelle: BVI von drei Prozent.

er im Jahr 1980 auf dem Sparbuch 1000 Mark angelegt habe, besäße heute durch Zinseszins rund 1700 Mark, rechnet Dresdner-Bank-Vorstand Joachim von Harbou in ganzseitigen Anzeigen vor: „Wäre aber damals das Geld in einen Wertpapierfonds gezahlt worden, stünde heute ein Vermögen von 12 000 Mark zur Verfügung.“ Die Rechnung gilt gewiss für etliche Fonds, viele glän-

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ANLEIHEN

Schwache Rentenfonds

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orsichtige Anleger, die aus Furcht vor allzu stark schwankenden Aktienkursen in diesem Jahr auf den Rentenmarkt geflüchtet sind, gerieten vom Regen in die Traufe. Mit steigenden Zinsen fielen die Kurse der festverzinslichen Wertpapiere und damit auch die der Rentenfonds. Seit Jahresanfang verloren etwa 30jährige Bundesanleihen mehr als 12 Prozent, 10-jährige Pfandbriefe rund 8,5 Prozent. Die Anhebung der Leitzinsen durch die Europäische Zentralbank könnte die Bondmärkte nun beruhigen, glauben viele Ökonomen, zumal die Teuerungsraten in den Industriestaaten moderat bleiben. Der Zinsanstieg sei gestoppt, die Anleihenkurse blieben stabil. 115

FOTOS: GAMMA / STUDIO X ( li.); W. v. CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF (M.)

Wirtschaft

LANDWIRTSCHAFT aufgedeckte Betrügereien, falsche Abrechnungen

2,6 Milliarden Euro

Obst-Vernichtung, Sitz Brüsseler EU-Kommission: „Schwelle des Akzeptablen überschritten“

E U R O PA

Tatort eines Krimis Der Europäische Rechnungshof enthüllt eine Verschwendung gigantischen Ausmaßes: Fehlgelenkte Subventionen, gefälschte Abrechnungen und eine kaum vorhandene Finanzkontrolle in der EU-Kommission. Milliardensummen wurden willkürlich ausgegeben.

Z

umindest ein Millionenbetrag im EU-Haushalt scheint gut investiert: der für den Europäischen Rechnungshof. Die 545 internationalen Prüfer sind Spürhunde, die nach verschwundenen Euros graben. Sie öffnen die Aktenschränke, wo immer in Europa ein Projekt aus dem Takt gerät. Sie fahren auf die Azoren und nach Lappland, zählen Vieh und Butterberge, inspizieren die Labyrinthe der EU-Finanzen. Ihr Blick auf Europa ist der des gestrengen Kaufmanns. Mit gedrechselter EuroLyrik und Demonstrationen guter Politikerabsichten können die strengen Damen und Herren wenig anfangen. Die Zahlenmenschen wollen wissen, was es kostet. Mit ihren Augen gesehen ist Brüssel Tatort eines brutalen Krimis: Über 300 Seiten dick ist der bislang vertrauliche Jahresbericht des Europäischen Rechnungshofes, schonungslos legen die Luxemburger Kontrolleure darin die über Jahrzehnte gewachsenen Systemfehler bloß. Ihre Jahresbilanz entlarvt Europa als unfertiges Gebilde, das es Betrügern kinderleicht macht. Niemals zuvor schlug der Rechnungshof einen derart scharfen Ton an:

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π Die EU-Administration schlampe bei Verträgen und Ausschreibungen, bei Buchführung und Ausgabenpolitik. „Ein Drittel aller Auszahlungen sind mit gravierenden Irrtümern behaftet, die Kommission schüttet zu hohe Beträge aus. Die Häufigkeit der Fehler hat die Schwelle des Akzeptablen überschritten.“ π Die 15 Mitgliedstaaten seien Betrügereien aller Art aufgesessen, bei den Agrar- und Exportsubventionen (2,6 Milliarden Euro), bei Zöllen (eine Milliarde Euro), aber auch bei der Eintreibung der Mehrwertsteuer hapere es: „Die Kontrollen der EU-Mittel in den Mitgliedstaaten sind zu schwach, die zuständigen Stellen zu nachlässig.“ π Die Kommission führe Schattenhaushalte, die mit ordnungsgemäßer Buchführung nichts gemein hätten. „Die künftigen Pensionszahlungen an Beamte werden rund 15 Milliarden Euro betragen. Diese Beträge müssen aufgeführt werden“, mahnt der Rechnungshof. π Die Kommission rechne sich reich, sagen die Prüfer: „Die potenziellen Schulden bei den Außenhilfen sind um mindestens 2,798 Milliarden unterschätzt.“ d e r

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π Der Rechnungshof misstraut auch der Kontenführung in Brüssel: „1998 ist die Kommission Verpflichtungen in Höhe von 522, 7 Millionen Euro ohne Ermächtigung eingegangen. Die Legalität mancher Auszahlung ist in Frage gestellt.“ π Viele der Ausgaben bei den eigenen Programmen der Kommission mit einem Gesamtbudget von 4,8 Milliarden Euro waren „irregulär“, „unbegründet“, „aufgeblasen“. Und: „Jede zehnte Ausgabe hätte wieder eingetrieben werden müssen.“ π Selbst die eigene Wirkungslosigkeit haben die Prüfer untersucht. Ihren Recherchen zufolge kümmert sich die Kommission kaum um jene Schweinereien, die der Rechnungshof in früheren Jahren aufgedeckt hat. π Bei Beratern der Außenhilfsprogramme beispielsweise hätte sie 170 Millionen Euro anmahnen müssen, für verschwundene Gelder bei der Bosnienhilfe rund 6 Millionen Euro wieder eintreiben können. Doch nichts geschah: „Die Kommission zeigt keinerlei Verantwortung für die Eintreibung der Gelder.“ Die Europäische Union ist mit ihren 374 Millionen Bürgern und einem Bruttoin-

EUKOMMISSION 23344 Beschäftigte, davon 16 920 Beamte

ZÖLLE

1 Milliarde Euro

Zollhafen Rotterdam: „Zu schwache Kontrollen“

EU-Haushalt 1998; Ausgabenbereiche in Milliarden Euro Gesamt: 82 Milliarden Euro Sonstiges Reserven, Verwaltung

Agrarpolitik

Außenhilfen

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z. B. Humanitäre Hilfen, Osteuropa

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Garantiepreise, Exporterstattung

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Subventionen 1998 nach Ländern pro Kopf in Euro

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organisation bislang nicht besonders erfolgreich gewesen, resümieren die Prüfer. Schon vor der Vernichtung haben Obst und andere landwirtschaftliche Produkte die EU-Bürger viele Milliarden gekostet. Rituell kehren in den Berichten des Rechnungshofes die überhöhten Abrechnungen der Landwirte bei ihren Prämien für Fleisch, Milch, Getreide, Obst, Ackerland und stillgelegte Flächen wieder. Systematisch geben viele Bauern ganz offenbar zu hohe Vieh- und Flächenzahlen an, sie kassieren zu Unrecht Milliarden für Olivenöl und Rindfleisch. „Die aufgedeckte Fehlerrate bei den Agrarausgaben ist erneut zu hoch“, schreiben die Prüfer. Offenbar stimmt das gesamte Kontrollsystem nicht. Keiner der Kommissare will sich mit den nationalen Agrarlobbyisten anlegen – die Bürger der Union zahlen für den Schlendrian. Die staatlichen und halbstaatlichen Auszahlungsstellen, welche die Agrargelder bewilligen und bei der Agrardirektion in Brüssel danach abrufen, funktionieren als Selbstbedienungsapparate, so zumindest legt es der Bericht nahe. Ausgerechnet in Niedersachsen, dem Stammland Gerhard Schröders („Die verbraten unser Geld“) entdeckten die Luxemburger besonders hohe Fehlerra-

Sprudelnde Euro-Quelle

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nen vernichten – damit die Preise nur ja nicht sinken. Diesen Aberwitz zahlen Europas Verbraucher doppelt, denn sie subventionieren auch noch die gesamte Vernichtungs- und Marktbereinigungsaktion, im vergangenen Jahr mit dem „historischen Maximum“ von rund einer halben Milliarde Euro, wie der Rechnungshof vermerkt. Bulldozer und Lkw der regionalen, von der EU unterstützten Organisationen karren die frische Ware zu Erdgruben, an Brandstellen oder Lagerplätze in Südeuropa, wo sie mit Öl ungenießbar gemacht werden. Versuche, die Früchte besser zu konservieren oder zu verarbeiten, seien wegen Miss-

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landsprodukt von 6,6 Billionen Euro zu einer Weltmacht geworden, nach der Einführung des Euro wird sie sich mit dem Dollar-Raum messen müssen. Bei Welthandelsrunden vertritt die europäische Quasi-Regierung die Interessen aller Europäer.Von der „neuen Zivilmacht“ spricht Außenminister Joschka Fischer im Straßburger Europaparlament. Doch im Innersten präsentiert sich die Brüsseler Europa-Regierung als schwerfällige, veraltete Administration. Bis heute, so viel muss jetzt als gesichert gelten, hat der Apparat keine effiziente Kontrolle installiert. Mit ihrem 82 Milliarden Euro teuren Haushalt bedient die EU-Kommission vor allem Lobby- und Interessengruppen. Berauscht vom Gefühl der eigenen Bedeutung kümmert sich keiner der Kommissare, auch das wird jetzt überdeutlich, mit wirklichem Nachdruck um die verschlungenen Pfade des Geldes. Die Willkür ist regelrecht zum Maßstab der europäischen Politik geworden. Mit dem größten Posten ihres Haushalts, den Agrarsubven856 tionen in Höhe von 38,8 Milliarden Euro, unterstützt die Union gerade mal fünf Prozent ihrer Bevölkerung, die 560 Landwirte. Eins der schillerndsten Beispiele dieser Klientelpolitik vollzieht sich jedes Jahr als Ritual: Im Sommer und Frühherbst, wenn Tomaten, Salate, Pfirsiche und Äpfel überreichlich auf den Markt kommen, lässt die Union Millionen Ton-

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viel zu selten und duldeten ein kaum durchschaubares Wirrwarr. Manche Maßnahme zur Arbeitsplatzförderung sei nichts als heiße Luft, bemerkt der Rechnungshof. Andere EUGelder fließen in Pleitefirmen. Mit 27 Millionen Euro förderte Brüssel und mit weiteren 21 Millionen die deutsche öffentliche Hand ein Projekt namens „fx.center“ auf dem Gelände des Studio Babelsberg. Kurz nach Eröffnung ging die Betreibergesellschaft „Company b“ Pleite. Jetzt wurde die Firma wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug dem Staatsanwalt gemeldet. Die letzte EU-Kommission war an dem schlampigen Umgang mit Geld und einem nur gering ausgeprägten Verantwortungsgefühl gescheitert. Zwei Sätze lösten in der Nacht vom 15. auf den 16. März den historisch einmaligen Rücktritt einer gesamten EU-Kommission aus. „Die Kommission hat ihre Verwaltung nicht unter Kontrolle. Es findet sich niemand, der bereit wäre, Verantwortung zu übernehmen.“ Dieses Fazit zog damals das Expertenkomitee der sogenannten fünf Weisen, ein vom Europäischen Parlament mit einer Untersuchung beauftragtes Gremium. Der Rechnungshof spürte den damaligen Vorwürfen ebenfalls nach – und zeichnet ein ähnlich vernichtendes Sittengemälde. Zumindest die Kommissare regierten ganz offenbar wie Feudalfürsten. Der Rechnungshof fand reihenweise umdatierte Verträge, angefangen bei der Industriedirektion des früheren Kommissars Martin Bangemann über die Agrardirektion Franz Fischlers bis zur Forschungsabteilung der französischen Kommissarin Edith Cresson. „Nicht nur, dass diese Praxis irregulär ist, sie gibt den Partnern der Kommission überdies den Eindruck, dass es die Administration mit dem Recht nicht so genau nimmt“, schreiben die Prüfer. In der Kommission gibt es bis heute kein einheitliches Aktenzeichensystem, keine Vorschriften zur Registrierung von Dokumenten. Protokolle können in diesem System mühelos verschwinden, ihr Inhalt, und sei er noch so skandalös, interessiert offenbar niemanden so richtig. Der Rechnungshof mahnt die Politiker, die derzeit am liebsten über eine Ost-Erweiterung nachdenken, dieses Projekt zu überdenken – oder „energische“ Reformen einzuleiten: Die Herausforderungen der Ost-Erweiterung seien sonst nicht zu bewältigen. Sylvia Schreiber M. MORITZ

ten. Auch in Italien wird munter abkassiert: Weil die zuständigen Stellen die Milchquotenüberschreitungen nicht termingerecht berechneten, überwies Brüssel im vergangenen Jahr über 221 Millionen Euro zu viel. Frankreich zahlte 100 Millionen Euro an die Bauern zur Bewältigung der BSE-Krise, auch das wieder ohne Übersicht, ohne Kontrolle. Wer sich meldete, kassierte ab. In Spa- Studio-Stadt Babelsberg nien, Irland und Großbritannien fehlten im Prüfungszeitraum verlässliche Register über die Viehbestände. Griechenland bekam Beihilfen für minderwertige Baumwolle, für die Berechnung der betroffenen Baumwollfelder legten die Griechen topografische Karten aus dem Jahr 1938 zu Grunde. Die Pflege der alten, mediterranen Kulturlandschaften lässt sich die Gemeinschaft seit jeher etwas kosten. Sie unterstützt Olivenbauern und Ölmühlen, zahlt Prämien für Bäume, für jeden Liter gepressten Öls, für verkaufte Golfplatz Maria Bildhausen Kanister. Allein die Hilfen für Deutsche Subventionsempfänger: Kräftig zugelangt den Olivenöl-Export in Drittländer waren der Union rund 59 Millionen sonders häufig Besuch von den KontrolleuEuro wert. ren aus Luxemburg. Obgleich der bayeriDoch in Griechenland, Portugal und sche Landesfürst als wortgewaltiger EuroSpanien kontrollieren die Behörden nur pakritiker hervortritt, zählt sein Land zu schlampig, fand der Rechnungshof heraus. den Brüsseler Großkunden. Bei den StrukDie dort abgerechneten Zahlen gelten als turfonds für den ländlichen Raum kassierProdukte blühender Phantasie. Jetzt sollen te das Laptop- und Lederhosenland bislang die Südländer Millionenbeträge zurück- allein zehn Prozent der EU-Fördermittel. zahlen, wünscht sich zumindest der RechMit Brüsseler Gaben förderte die CSUnungshof. Regierung Golfplätze und KücheneinrichIn Deutschland profitierten Landwirte tungen. 21 000 Mark zahlten die Behörden und Lebensmittelexporteure mit 5,553 Mil- aus diesen EU- und Landesmitteln für den liarden Euro ebenfalls von den „Markstüt- Einbau eines Kachelofens in einen Bauzungen“ und „Ausfuhrerstattungen“. ernhof, für einen Bauerntisch mit Stühlen Deutschland ist bei den so genannten 12 800 Mark, und für eine Bar mit vier Preisgarantien zweitgrößtes Empfänger- Hockern wurden 17 390 Mark aus der Steuland der EU, nach Frankreich. erkasse fällig. Deutsche Bauern nehmen natürlich Brüsseler Gelder für die armen Landreebenfalls gern am üppig ausgestatteten Prä- gionen wurden auch für ein „Weide-Rinmiensystem teil. Und auch hier zu Lande der-Festival“ und einen „Gourmet-Tag“ wird abkassiert, was irgendwie abzukas- verwendet. Die Prüfer notierten: „Die zur sieren ist. Landwirte in Mecklenburg-Vor- Verfügung gestellten Belege erwiesen sich pommern beispielsweise sollen bei den An- als wenig überzeugend.“ gaben ihrer Flächen betrogen haben, um Noch weniger glaubt der Rechnungshof immerhin 16 Millionen Euro. an die von Politikern oft als segensreich Auf rund 1,7 Milliarden Euro taxiert der beschriebene Wirkung der StrukturfondsRechnungshof die Verluste, die durch den so mittel, mit über 28 Milliarden Euro der genannten Agrarbetrug europaweit ent- zweitgrößte Posten im Etat. Die Fonds solstanden sind. Die Rückforderungen wegen len für blühende Landschaften in Europa überzogener Marktpreis- und Exporterstat- sorgen, Arbeitsplätze, Infrastruktur und tungen gibt er mit 862,5 Millionen Euro an. Ökologie fördern. Ihre Reform benötige Auffällig geworden ist bei den Recher- „einen langen Atem“, schreiben die Prüfer. chen auch Edmund Stoibers bayerische ProDenn Kommission und Mitgliedsländer vinz. Sie bekam in den letzten Jahren be- kontrollierten die Ausgaben und Belege

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Deutsche-Bank-Niederlassung in Luxemburg: Wartesaal der Steuerhinterzieher STEUERN

Gründlich ramponiert Die Regierung will die Erbschaftsteuer erhöhen und das Bankgeheimnis lockern. Experten sehen erste Anzeichen einer neuen Kapitalflucht.

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erschämt blickt der Mann mit der grellbunten Blümchenkrawatte zu Boden. In der rechten Hand hält er ein Zettelchen mit der Nummer 1264, die linke liegt unauffällig auf einer schwarzen Tasche. Am Nachbartisch bekommt ein etwa 70-Jähriger in Wolljoppe, Typ bayerischer Familienunternehmer, eine Tasse Kaffee serviert. Andere Kunden des Luxemburger Cafés tragen Jeans und Anorak, aber auch Designer-Anzüge. Gesprochen wird kaum, trotz des großen Andrangs. Betrieben wird das Café von der Deutschen Bank. Es ist eine Art Wartesaal für Steuervermeider und Steuersparer. Ständig kommen Privatkundenbetreuer und rufen Nummern auf, um dann mit ihren Kunden in den Besprechungszimmern des Geldpalastes zu verschwinden. Diskretion ist Ehrensache, namentliche BeSPD-Politiker Eichel, Schröder

Anleger verunsichert 120

AFP / DPA

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grüßungen sind absolut tabu. Fast jeder Besucher hat Bargeld in großen Mengen dabei. Auch bei der Dresdner Bank, der Commerzbank und der DG-Bank sowie den rund 60 übrigen deutschen Instituten in dem Fürstentum herrscht reger Betrieb. „Zum ersten Mal seit langem haben wir wieder mehr Anfragen von Neukunden“, freut sich der Chef der Luxemburger Niederlassung eines deutschen Kreditinstitutes. Auch sein österreichischer Kollege Peter Fröhlich von der Raiffeisenbank Kleinwalsertal hat Grund zum Frohlocken. „Jahrelang ist deutsches Kapital zurückgeflossen“, erzählt der Kundenberater, „jetzt erleben wir die Trendumkehr.“ Die Banker sehen erste Indizien einer neuen Kapitalflucht aus Deutschland und machen den steuerpolitischen Zickzack-Kurs der Bundesregierung dafür verantwortlich. Kapital sei scheu, und die Anleger seien verunsichert. Deshalb brächten sie ihr Erspartes in Sicherheit, dorthin, wo sie auf Kapitalerträge keine oder geringere Steuern zahlen. Und wo sie ein strenges Bankgeheimnis vor deutschen Steuerfahndern schützt. Nach einem Jahr hat die rot-grüne Regierung ihr Ansehen gründlich ramponiert. Mehr als zwei Drittel der Deutschen trauen ihr nach einer Emnid-Umfrage nicht mehr zu, die Wirtschaft in Schwung zu bringen, drei Viertel glauben, sie versage bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor allem in der Steuerpolitik gerät die Riege von Kanzler Gerhard Schröder immer wieder ins Schlingern. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine neue steuerpolitische Idee für Unruhe sorgt: π Noch immer ist unklar, ob, und wenn wie, kleine und mittlere Unternehmen von der Unternehmensteuerreform profitieren. π Der SPD-Fraktionschef Peter Struck will Zinserträge effektiver belasten. π Selbst ein Modernisierer wie NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement fordert mittlerweile einen Zugriff auf höhere Vermögen. In dieser Woche werden Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Finanzminister Hans Eichel für neue Unruhe an der Steuerfront

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Wirtschaft Doch die Lösung birgt auch Risiken für das Führungsduo: Wenn nur die Wertansätze für Haus- und Grundbesitz erhöht werden, müssten vor allem die Erben kleiner Immobilien draufzahlen, was vor allem die eigene Klientel hart treffen würde. Das wollen Schröder und Eichel vermeiden: Als Ausgleich für die höheren Wertansätze planen sie nun auch die Freibeträge für nächste Verwandte inklusive Patenkinder anzuheben. Deren Erbschaften bleiben heute bis höchstens 600 000 Mark steuerfrei. Künftig soll der Freibetrag bei rund 1,5 Millionen Mark liegen. Auf vielleicht zwei Milliarden Mark taxieren Eichels Experten die Mehreinnahmen. Fraglich ist, ob sich die Anhänger einer höheren Vermögensbesteuerung durch diese Maßnahme besänftigen lassen. Traditionsverbundene Finanzpolitiker der Fraktion würden lieber kräftiger zulangen. „1998 sind mehr als 270 Milliarden Mark vererbt worden“, sagt ein SpitzenSozi. „Es wäre doch schön, wenn wir zehn Prozent davon einsammeln könnten.“ Schröder und Eichel ahnen, dass sie, bleiben sie bei ihrer eher kosmetischen Erhöhung, ihrer Basis woanders entgegenkommen müssen. Deshalb DG-Bank-Niederlassung in Luxemburg: Reger Betrieb haben sie sich für ihr Für den Mittwoch dieser Woche hat Treffen am Mittwoch noch ein weiteres Schröder seinen Finanzminister zu sich ins Herzensanliegen der Genossen vorgenomKanzleramt geladen. Dann wollen die bei- men: die „gerechte Besteuerung von Zinsden beschließen, wie sie ihre Partei, deren erträgen“. An der hapert es nach Einschätzung vieMehrheit eine soziale Schieflage entdeckt hat, wieder beruhigen können. Die Erb- ler Experten. „Kapitalerträge können eher schaftsteuer soll jetzt schon steigen, ohne der Zahlungspflicht entzogen werden als dass beispielsweise der Spitzensteuersatz Arbeits-Einkommen“, klagt SPD-Frakgleichzeitig nennenswert sinkt. Rechtzeitig tionschef Struck, und zahlreiche Ökonozum SPD-Parteitag Anfang Dezember wol- men sehen das genauso. Viele Sparer geben len Eichels Ministerialbeamte ein Kon- ihre Zinserträge in der Steuererklärung erst gar nicht an, der Staat hat bisher kaum Zuzeptpapier vorlegen. Höher belastet werden in Zukunft vor griff auf die Daten. Eichel würde das Problem am liebsten allem Erben von Häusern und Grundstücken. Die müssen bislang wegen eines durch eine europäische Harmonisierung speziellen Bewertungsverfahrens im lösen. Sollte die auf dem EU-Gipfel in HelSchnitt 50 Prozent des Marktwertes an sinki Anfang Dezember wieder scheitern, Erbschaftsteuer bezahlen. Erbt jemand da- wofür vieles spricht, dann wollen Schröder gegen Geld oder Aktien, fällt die Steuer auf und Eichel eine nationale Lösung wagen. Eichels Beamte empfehlen eine Lockeden tatsächlichen Wert an. Demnächst, so sehen es die Planungen der Beamten vor, rung des Bankgeheimnisses. Auf Kontrollsollen die Ansätze für Immobilien auf rund mitteilungen müssten die Kreditinstitute dann künftig die gesamten Zinserträge ih80 Prozent steigen. Die unterschiedliche Behandlung der rer Kunden bei den Finanzbehörden ofVermögensarten gilt als verfassungswidrig. fenbaren. Bei Fraktionschef Struck („Bild“: Mit der Erhöhung der Erbschaftsteuer er- „Schnüffel-Struck“) stößt das Vorhaben ledigen Schröder und Eichel also gleich auf Beifall. Kontrollmitteilungen seien zwei Probleme: Sie beseitigen einen ver- nötig, „damit man besser an die Zinserträfassungsrechtlichen Missstand und kom- ge herankommt“. Christian Reiermann, Wolfgang Reuter men ihrer Partei entgegen. B. BOSTELMANN / ARGUM

sorgen. Schröder will seinen Widerstand gegen die Umverteilungswünsche der Genossen nun endgültig aufgeben und Vermögen doch höher belasten. „Wir führen keine Steuererhöhungsdebatte“, hatte der Regierunschef bislang stets beteuert. Und auch Finanzminister Hans Eichel hatte sich gegen die zusätzliche Belastung von Vermögen gestemmt. Doch das Kanzlerwort ist offenbar wertlos. Schröder und Eichel haben vor dem linken Flügel ihrer Partei kapituliert. Die zunächst verfolgte und auch von Experten begrüßte Linie in der Finanzpolitik – erst die große Steuerreform mit Senkung aller Tarife, dann im Gegenzug eine härtere Gangart für Erben und Aktienbesitzer – wird nun endgültig verlassen.

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Wirtschaft

J.-P. BOENING / ZENIT

legt und manchmal auch Preisempfehlungen für jeden Kubikmeter schriftlich hinterlassen: „Nicht unter DM 148 gehen!“ Meistens trafen sich die Mauschler in den Hinterzimmern abgelegener Landgasthäuser oder Restaurants, gelegentlich auch im Steigenberger Airport Hotel am Frankfurter Flughafen oder im Holiday Inn am Flughafen Hannover. Wie in einem mittelmäßigen Krimi wechselten die Abgesandten der Betonindustrie ständig die Orte und Lokale. Doch in der „Branche mit den mafiosen Strukturen“ (Knochenhauer) geht es recht kleinbürgerlich zu. Bei ihren konspirativen Treffen zahlte jeder Firmenvertreter sein Essen selbst; die Getränkerechnung übernahm ein so genannter Obmann. Jedes Vierteljahr stellten die Firmen reihum einen anderen Obmann. Der musste kein Geld für Schampus ausgeben. Die Herren, die mit ihrer Kungelei zwischen 1995 und 1998 einen zusätzlichen Profit von mindestens 220 Millionen Mark, vermutlich weit mehr einfuhren, genehmigten sich in der Regel allenfalls Pils und Korn. Es war nicht die erste Garnitur der Betonindustrie, die klammheimlich und zuweilen im Wochentakt in den Hinterzimmern tagte. Nie trafen die Konzernchefs die illegalen Abmachungen – sie schickten die Geschäftsführer ihrer Tochtergesellschaften zu den Treffen, und die Geschäftsführer delegierten die Aufgabe gern an ihre Untergebenen. Die Hauptbeschäftigung der Kartellmitglieder war die Kontrolle der getroffenen Vereinbarungen. Für die Baustellen in der Region Halberstadt/Quedlinburg/Wernigerode beispielsweise waren die Betonlie-

Anlieferung von Transportbeton: „Eine Branche mit mafiosen Strukturen“ KARTELLE

Die Beton-Brüder D

er fränkische Baustoffzulieferer hat sich eine trickreiche Fahrstuhlsteuerung zugelegt. Per Knopfdruck lässt sich eine technische Panne vortäuschen, der Lift bleibt zwischen dem ersten und zweiten Stock stecken. Unliebsame Besucher können so ein Weilchen auf Distanz gehalten werden – Zeit genug für die Geschäftsführung, sich vorzubereiten. Der Spezialschalter für den Lift hat dem Transportbetonhersteller nicht geholfen, als Beamte des Bundeskartellamts anrückten: Die Ermittler nehmen grundsätzlich immer die Treppe. Den Trick mit stecken bleibenden Aufzügen kennen sie seit den achtziger Jahren, als sie Chemiekonzerne durchsuchten, aber zuvor eine geraume Zeit in Fahrstühlen verbrachten. Das fränkische Unternehmen gehört zu den vielen Betonlieferanten, denen das Kartellamt unlautere Machenschaften nachgewiesen hat. Fast alle in der Branche sind betroffen: Die Firmenchefs teilten sich die Märkte auf und kassierten von ihren Kunden überhöhte Preise. Vergangene Woche gab die Bonner Wettbewerbsbehörde das Ergebnis ihrer Razzia von Anfang Mai bekannt: 33 Transportbetonhersteller müssen Bußgelder von insgesamt 255 Millionen Mark zahlen, Verfahren gegen weitere Unternehmen laufen 124

noch, die Summe der Bußgelder wird dann über 300 Millionen Mark liegen – der bislang teuerste Verstoß einer Branche gegen das Wettbewerbsrecht. In der Liste der ertappten Sünder ist offenbar jeder vertreten, der in der Branche Rang und Namen hat: Readymix und Heidelberger Zement, Dyckerhoff und B-top, die Tochter des französischen Branchenriesen Lafarge. Kartellamtspräsident Dieter Wolf traf „alte Bekannte“, denn die Firmen sind schon früher wegen illegaler Absprachen aufgefallen: „Unsere Freunde von damals sind hier wieder komplett vertreten.“ Für Andreas Knochenhauer, der in der Behörde unter anderem für die Bauindustrie zuständig ist, sind die erwischten Kartellbrüder „unsere Stammkunden“. Immer wieder sind es dieselben Firmen mit ähnlichen Methoden: Das letzte deftige Bußgeld – 230 Millionen Mark – war Ende der achtziger Jahre fällig. Damals sprengte Knochenhauers Abteilung ein Kartell der Zementindustrie. Jetzt traf es die Firmen, die in stationären Mischanlagen Zement zu Beton verarbeiten und die flüssige Masse auf Spezial-Lastwagen mit rotierenden Behältern zu den Baustellen bringen. Um die Preise hochzuhalten, hatten die Firmen exakte Lieferquoten für regionale Märkte festged e r

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M. DANNENMANN

Aufregung bei den Herstellern von Transportbeton: Das Kartellamt sprengte Mauschelringe, die mit illegalen Absprachen überhöhte Preise durchsetzten.

Kartellamtspräsident Wolf

Die Schummler von früher wieder ertappt

ferungen auf sechs Firmen aufgeteilt. So durfte die Readymix-Tochter UBN laut Vereinbarung exakt 28,64 Prozent des Betons liefern, die Firma Schwenk bekam mit 18,05 Prozent die zweithöchste Quote. Täglich registrierten die Kartellbuchhalter, wer welche Mengen auf die Baustellen fuhr. Monat für Monat wurde säuberlich in Tabellen erfasst, ob einer über oder unter der zugeteilten Quote lag. Bei der Schlussabrechnung für das vergangene Jahr hatte UBN in dem sachsen-anhaltinischen Gebiet 7764 Kubikmeter mehr geliefert, als der Firma laut Quote zustand; Schwenk lag mit 5271 Kubikmetern unter der zugeteilten Quote. Derart penible Aufzählungen sind verständlich. In der Betonindustrie verfolgt jeder jeden mit abgrundtiefem Misstrauen: Wer so beharrlich Kunden mit verbotenen Absprachen schädigt, betrügt auch seinen Kartellbruder. Schummelei gehört offenbar zu den Geschäftsprinzipien der Branche. Um heimliche Lieferungen aufzuspüren, so berichtet ein Insider, werden Spediteure ausgehorcht, und wenn ein firmeneigener Lkw voll beladen das Werksgelände verlässt, folgt ihm zuweilen möglichst unauffällig ein Auto, um zu sehen, welche Baustellen der Lastwagen als nächstes ansteuert: „Da wird bis aufs Kilo nachgerechnet.“ Immer wieder wurden die Kontrolleure fündig. In Berlin, wo der Wiedervereinigungsboom den Betonherstellern die lukrativsten Geschäfte bescherte, erwischte das Kartell gleich neun Mitglieder beim Quotenschummeln. In den vergangenen Jahren brauchten Baufirmen in Berlin jährlich durchschnittlich rund 2,5 Millionen Kubikmeter Transportbeton. Diese Menge wurde auf 29 Firmen aufgeteilt, von Berger (3,46 Prozent des gesamten Bedarfs) bis Zemtrans (3,87 Prozent); der Löwenanteil ging, wie so oft, an Readymix. Kartellschnüffler fanden heraus, dass 1995 vor allem Readymix heimlich mindestens 80 000 Kubikmeter zu viel geliefert hatte. „Beschiss“, notierte empört der Betonhersteller Roba, eine Tochter des Walter-Konzerns, auf seiner internen Quotenliste. Dann strafte das Kartell den „Beschiss“ intern ab: Die Quoten wurden neu verteilt. Der Readymix-Anteil in Berlin sank von 17 auf 11,58 Prozent, bei anderen Schummlern wurde die Quote geringfügiger heruntergesetzt. Dafür durften von 1996 an die braven Wettbewerbsverhinderer etwas mehr liefern. Den Marktanteil der Roba beispielsweise setzte das Kartell von 2,18 auf 2,58 Prozent hoch. Die Liste mit den neu verteilten Quoten trägt den handschriftlichen Vermerk „Nach Gerechtigkeitsprinzip“. Dass illegale Absprachen besonders häufig bei Zement- oder Betonherstellern vom d e r

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Kartellamt aufgespürt werden, ist unter anderem auf den ausgeprägten Futterneid der Branche zurückzuführen. Zu den üblichen Tippgebern, wie sie auch die Steuerfahndung kennt – gefeuerte Angestellte, verlassene Ehefrauen, eifersüchtige Sekretärinnen –, kommen Firmen hinzu, die sich vom Kartell hintergangen fühlen. Das ständige Misstrauen führt dazu, dass den Ermittlern immer wieder beweiskräftige Unterlagen in die Hand fallen. Da wird auf „Objektlisten“ notiert, welcher Bau von welchem Unternehmen beliefert wird – aus Furcht, ein Konkurrent könnte vielleicht ein paar Mark billiger eine LkwLadung Beton still und leise abladen. Bei den konspirativen Treffen protokolliert einer die Absprachen, weil sich vielleicht später ein anderer an beiläufige Details nicht erinnern will – und die handschriftlichen Notizen liegen noch Jahre später als Gedächtnisstütze in der Schublade. Trotz seiner langjährigen Erfahrungen mit Zement- und Betonherstellern wundert sich Bundeskartellamtsdirektor Knochenhauer immer noch, wie verhältnismäßig einfach sich oft die Mauscheleien aufdecken lassen. Seine Leute finden immer wieder in Schubladen handschriftliche Notizen und auf den Computer-Festplatten „von der EDV ausgedruckte Statistiken, Soll- und Ist-Quoten“. In den durchsuchten Wohnungen hat das Kartellamt keine Unterlagen über die illegalen Praktiken gefunden – alles lag, penibel festgehalten, in den Büros. Anders als bisher meist üblich, haben dieses Mal die bislang erwischten Firmen die Vorwürfe nicht abgestritten und keine Beschwerden über die Höhe der Bußgelder eingereicht, sondern ganz schnell Zahlungsbereitschaft erkennen lassen. Geständnisse mildern die Strafen. Die Bonner Wettbewerbsbehörde kann das 1,5bis 3fache des illegalen Zusatzgewinns abschöpfen. Das Kartellamt hat den ertappten Firmen nachgewiesen, dass sie bei mindestens 22 Millionen Kubikmetern einen Sonderprofit von mindestens zehn Mark pro Kubikmeter eingestrichen haben. Die Strafe ist vor allem deshalb schmerzlich, weil die Unternehmen die Gewinne versteuern mussten, jetzt aber die Bußgelder nicht steuermindernd als Betriebsausgabe absetzen dürfen. Vielleicht zahlen die Firmen aber auch deshalb so bereitwillig, weil Knochenhauers Abteilung vermutlich nur einen kleinen Teil der Mauscheleien aufgedeckt hat: Kartelle in Berlin, im Raum Chemnitz, bei Magdeburg und im südöstlichen Niedersachsen. Die Razzia in diesem Jahr ist mit Sicherheit nicht die letzte. Und wenn die Kartellamtsbeamten wieder ausschwärmen, werden sie wieder die Mahnung ihres Chefs hören: „Benutzt nicht den Fahrstuhl, nehmt die Treppe.“ Hermann Bott 125

A. HUB / LAIF

Hörgeräteakustiker Junke: „Das war ruinös“ A F FÄ R E N

Raffkes in Weiß Gegen alle Standesregeln bessern Ohrenärzte ihr Gehalt auf. Sie kassieren Provisionen für jedes Hörgerät – bis zu 300 Mark pro Stück.

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er Gelsenkirchener Paul-Gregor Junke glaubte an „eine gesicherte Existenz“, als er 1985 seinen Betrieb als Hörgeräteakustiker eröffnete. Schließlich leiden immer mehr Menschen an Schwerhörigkeit, und die Discos sorgen dafür, dass nach einer Untersuchung der Universität Gießen schon 60 Prozent der 20-Jährigen einen Hörschaden haben. Wer Hörgeräte verkauft, so dachte Junke, hat einen krisenfesten Job, und anfangs lief es auch recht gut. Bald schon beschäftigte der Akustikermeister vier Mitarbeiter. Jetzt ist er pleite. Junke hatte nicht mit der Geschäftstüchtigkeit der Ohrenärzte gerechnet: Bis zu knapp 18 000 Mark Provisionen musste er ihnen monatlich zahlen. Als er nicht mehr spurte, verschwanden auf wundersame Weise auch die Kunden. Der Unternehmer aus Gelsenkirchen ist kein Einzelfall. Den meisten in der Branche geht es schlecht. Viele gaben auf. Im Sommer schloss Uwe Fiebing seinen Betrieb in Petershagen, seine Münchner Kollegin Johanna Vogt machte ihre einst florierende Filiale in Rosenheim ebenfalls dicht. Bei dem Osnabrücker

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Hans Dieter Gerland „ist der Umsatz um die Hälfte gesunken“. Der Grund der Misere: Viele Ärzte besorgen sich Hörgeräte mittlerweile vom Versandhandel, denn der lockt mit Provisionen. Im Widerspruch zu den Standesregeln kassieren die Ärzte ab. Weil das Geschäft mit den VersandhausProvisionen so reibungslos läuft, verlangen immer mehr Ohrenärzte eine ähnliche Gebühr auch von den örtlichen Akustikgeschäften. Patienten werden oft nur noch zu solchen Akustikern geschickt, die vorab ihr Einverständnis zur Provisionszahlung erklärt haben. Notgedrungen lassen sich die meisten auf die Zahlungen ein. 200 bis 250 Mark nimmt der Doktor für das Kassenmodell, 300 Mark für das teure Hightech-Gerät. „Eine Lizenz zum Gelddrucken“, beklagt der Hildesheimer Sven Bielenberg die offenbar gängige Praxis. Laut Muster-Berufsordnung ist es Ärzten nicht gestattet, „vom Hersteller oder Händler eine Vergütung oder sonstige wirtschaftliche Vergünstigung anzunehmen“. Daran halten sich jedoch nicht alle, vielleicht sogar die wenigsten. Um den Provisionszahlungen einen legalen Anstrich zu geben, schlossen im vergangenen Jahr Hamburger Akustiker ein Abkommen mit den Ohrenärzten ihrer Stadt: „HNO-Fachärztliche Qualitätssicherung“ nennt sich die Vereinbarung: Der Akustiker schickt den Schwerhörigen zum Arzt zurück, der dann laut Vereinbarung „die Qualität der Anpassung und die Qualität des angepassten Hörgeräts“ überprüft und 120 Mark pro Ohr kassiert. Der Arzt musste auch schon früher das vom Akustiker angepasste Gerät überprüfen – ohne Provision. Jetzt füllt er zusätzlich noch einen Fragebogen aus, schickt d e r

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ihn an den Akustiker und kassiert für diese Maßnahme zur „Qualitätssicherung“ eine Gebühr. Das so genannte Hamburger Modell hat schnell Schule gemacht. So entwickelte etwa die Firma Kind Hörgeräte, mit fast 190 Filialen Marktführer in Deutschland, im vergangenen Herbst ein eigenes Modell der „Qualitätssicherung“. Danach kassiert der Onkel Doktor 100 Mark pro Ohr. Geschäftstüchtige Ärzte holen weit mehr heraus. Typisch, wenn auch besonders krass, ist der Fall Junke. Um an Kunden zu kommen, musste der kleine Mittelständler seinen ganzen Gewinn abliefern. Eine Gelsenkirchener HNO-Ärztin kassierte von Junke durchschnittlich 10 000 Mark Provisionen pro Monat, ein Kollege von ihr rund 7500 Mark. Bei einem Monatsumsatz von gut 40 000 Mark konnte Junke die Abgaben nicht lange verkraften. „Das war ruinös“, merkte er bald. Die erhoffte Umsatzsteigerung war ausgeblieben. „Das ist sittenwidrig und ein klarer Verstoß gegen die Berufsordnung“, sagt Junkes Anwalt Achim Herbertz. Rund 85 000 Mark Provisionen hat der Gelsenkirchener Akustiker an die beiden Ärzte gezahlt, die noch weitere 80 000 Mark angemahnt haben. Junke fordert seine bereits gezahlten Provisionen zurück. Nahezu flächendeckend haben sich diese Praktiken ausgebreitet. Die beiden Versandhändler auric in Rheine und Sanomed in Hamburg sind clever, ihre Provisionsmodelle haben die Begehrlichkeit der Mediziner stimuliert. So wandte sich auric per Rundschreiben an Deutschlands Hals-Nasen-Ohrenärzte: Das Unternehmen versprach „ein interessantes angemessenes Honorar außerhalb des gedeckelten Krankenversicherungs-Budgets“. Das Oberlandesgericht Hamm befand, dass auric „die Ärzte zu einem gegen berufsrechtliche Vorschriften verstoßenden Verhalten auffordert“. Auric hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Die Krankenkassen haben sich bislang kaum um das Thema gekümmert. Ihnen war es egal, wer mitkassierte. Inzwischen dämmert ihnen, dass ihre Ausgaben steigen, wenn eine medizinische Verordnung mit einem zusätzlichen „finanziellen Anreiz verbunden“ ist, so der Bundesverband der Innungskrankenkassen (IKK). „Eine Hörgeräteversorgung über den Arzt“, schrieb der IKK-Vorstandsvorsitzende Rolf Stuppardt vergangenen Monat dem Bundesgesundheitsministerium, könne „für die Gesetzliche Krankenversicherung teurer werden als bei dem herkömmlichen Versorgungsweg“. Ein Verbot der Provisionspraxis wird nun diskutiert. Denn auf die Einsicht der Ärzte darf niemand hoffen. Die betroffenen Akustiker und ihre Anwälte haben da einschlägige Erfahrungen gemacht. Anwalt Herbertz: „Die Ärzte haben überhaupt kein Unrechtsbewusstsein.“ Hermann Bott

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Wirtschaft

G E L DA N L AG E

„Nur Löcher gestopft“ Auf Betrug mit Bankgarantien fielen ein Bürgermeister, eine Adlige und hunderte weiterer Anleger herein. Millionen verschwanden, nun soll eine Bank Schadensersatz zahlen.

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M. WOLTMANN

BHF-Bankzentrale: Einzig solvente Adresse

Betrugsopfer Reda, Betrüger Gärtner

Plötzlich war das Geld weg d e r

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H. MÜLLER

J. GÜNTHER

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sychotherapeutin Gabriele Reda ist von den Therapiesitzungen mit ihrer Klientel gewohnt, dass die Wahrheit oft verschlungene Wege geht. Ihr Beruf hat sie auf die Abgründe der Seele vorbereitet. Doch den Abgründen des Geschäftslebens war sie hilflos ausgeliefert. Auf einem Esoterikseminar lernte die Therapeutin die gebürtige Österreicherin Michele von Neszmely kennen. Die Freundschaft zu der Düsseldorfer Geschäftsfrau blühte auf, als Reda eine Erbschaft über 1,3 Millionen Mark machte. Neszmely schwärmte, so erinnert sich Reda, von tollen Geldanlagen in Luxemburg, bei denen 80 Prozent Rendite pro Monat möglich seien. Bankgarantien würden solche Anlagen zu einem sicheren Geschäft machen. Nur leider hätten Großanleger diese lukrativen Deals für sich selbst reserviert. Doch sie wusste Rat. „Weil du meine Freundin bist“, durfte Reda 1992 an dem Geschäft partizipieren und 500 000 Mark nach Luxemburg überweisen. Bei der Transaktion lernte Reda den Düsseldorfer Anwalt Axel Gärtner kennen, der als Vizepräsident von Fortuna Düsseldorf zu lokalem Ruhm gelangt war und, angeblich, „mit den besten Kreisen“ auf gutem Fuß stand. Auf dessen Konto bei der Düsseldorfer Filiale der BHF-Bank überwies Reda schließlich rund 900 000 Mark, nachdem tatsächlich 80 Prozent Gewinn in Luxemburg ausgewiesen worden waren und weitere Traumrenditen lockten. Doch dann verließ die Psychotherapeutin das Glück. Das Geld verschwand vom Konto des Anwalts. Mit Hilfe großzügiger Renditeversprechen von vier Prozent pro Woche hatte Gärtner ein groß angelegtes Schneeballsystem aufgezogen, bei dem die frischen Anlagegelder seiner renditehungrigen Klienten vor allem dazu dienten, die Zinsen der Vorgänger zu zahlen und des Anwalts aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Nicht nur Reda, auch Mitglieder der High Society bangten um ihr Geld. Eine deutsche Adlige hinterlegte am 25. Juli 1994 bei der BHF-Bank fünf Überweisungen von Gärtner. Die Zahlungen könnten „zur Zeit mangels Deckung nicht ausgeführt werden“, teilte ihr die Bank am Tag darauf lakonisch mit. Am 27. Januar 1995, dem Tag der Durchsuchung seiner Kanzlei, setzte sich Gärtner

nach Dänemark ab. Erst zweieinhalb Jahre später wurde er auf einem Flug von Stuttgart nach Hamburg geschnappt, nachdem ihn eines seiner Opfer im Flugzeug erkannt hatte. Im Sommer vergangenen Jahres gab Gärtner eine tränenreiche Vorstellung vor dem Landgericht Düsseldorf. „Ich war nervlich fertig durch die ständige Hetze, hab nur noch Löcher gestopft“, sagte er reumütig. Das Gericht verurteilte den geständigen Anwalt wegen Betrugs in 129 Fällen und einer Schadenssumme von 20 Millionen Mark zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Strafmildernd wurde gewertet, dass „die Geschädigten es dem Angeklagten leicht gemacht haben, seine betrügerischen Handlungen zu verwirklichen“. Das Geld der Anleger ist großenteils verschwunden. Neben Reda und der Adligen, die laut Urteil 1,1 Millionen Mark vermisst, zählt auch ein prominenter Sportler zum Kreis der Opfer, er ist mit 140 000 Mark dabei. Neszmely wurde von den Düsseldorfer Richtern zwar als Vermittlerin von Kreditgeschäften für Gärtner bezeichnet. Doch die Dame tauchte unter und verzichtete auf ihre Zeugenaussage. Reda ist sicher, dass ihre ehemalige Freundin mit dem betrügerischen Anwalt gemeinsame Sache machte. Inzwischen sitzt Neszmely, wegen eines anderen Falls, in Auslieferungshaft in Liechtenstein. Die Staatsanwaltschaft Koblenz wirft ihr „Beihilfe zur Untreue des Horst Armbrust“ vor. Der war Bürgermeister der baden-württembergischen Gemeinde Neckarwestheim und steckte Steuergelder in Höhe von 40 Millionen Mark vor allem in Bankgarantiegeschäfte. Der Dorfschultes hatte den Einflüsterungen von Anlageberatern getraut, die von „superreichen Grandmasters“ schwadronierten, die mit Milliardensummen ständig Riesengewinne machen sollen. Armbrust wurde zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und hat mittlerweile schon wieder den Singener Seniorenknast verlassen. Die Gemeinde Neckarwestheim, die durch ein Atomkraftwerk zu viel Geld gekommen war, sucht immer noch vergebens nach ihren Steuergroschen. „Die Millionen flossen

vermutlich über die Schweiz und Liechtenstein und versiegten dann irgendwo unauffindbar in den USA“, mutmaßte ein ratloser Richter. Möglicherweise kann Neszmely Genaueres erzählen, wenn Liechtenstein die findige Untersuchungsgefangene endlich ausliefert. Bisher hat sie sich auch gegenüber ihrem Koblenzer Pflichtverteidiger Sven-Ingo Kölzsch nie zu den Vorwürfen geäußert. Jörg Mehler, der Anlageberater des Bürgermeisters, hat Neszmely während seiner Vernehmungen als „treibende Kraft“ hinter den Betrügereien bezeichnet. Mehler wurde vom Landgericht Koblenz für schuldig befunden, fast 600 Anleger um mehr als 60 Millionen Mark betrogen zu haben, und sitzt seit mehreren Jahren ein. Nur das Geld und die Frau im Hintergrund tauchten erneut nicht auf. Neszmely schickte Atteste von Krankenhäusern in Sibirien, dass sie leider bettlägerig sei und zu einer Vernehmung nicht anreisen könne. Tatsächlich war die Dame kerngesund und zur selben Zeit in London unterwegs. Nun drohen Neszmely in Koblenz mindestens vier Jahre Haft wegen Betrugs. Doch es wäre ein Wunder, wenn die vielen Millionen noch einmal auftauchen würden. Gärtner, Mehler und die anderen bisher gefassten Ganoven waren plötzlich arm wie Kirchenmäuse. Einzig die BHF-Bank gilt den Opfern als solvente Adresse. Dort hatte Gärtner ein Konto, und dort ging auch Redas Geld aus Luxemburg ein. „Ohne deren Mithilfe hätte der Betrug nicht funktioniert“, sagt die Psychotherapeutin – sie will die Bank deshalb haftbar machen. Einen ersten Teilerfolg hat sie bereits erzielt. Die Frankfurter Bank hatte am 17. Mai 1994, gut zwei Wochen vor der Überweisung Redas aus Luxemburg, bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eine Verdachtsanzeige wegen Geldwäsche erstattet. Das Konto ihres Düsseldorfer Kunden Gärtner, so schrieb die BHF-Bank, weise „zahlreiche Besonderheiten“ auf, „die aus unserer Sicht für das Konto eines Anwalts mehr als untypisch sind“. Trotzdem war die Bank froh, dass Reda am 3. Juni ihr Geld auf Gärtners Konto überwies, das damals deutlich im Minus war. Dieses Geld stehe der Bank nicht zu, urteilte im Sommer dieses Jahres das Landgericht Düsseldorf. Es sei davon auszugehen, dass die Bank „den Fremdgeldcharakter kannte oder zumindest kennen konnte“, heißt es dort. Nach diesem Teilurteil wurden Reda 550 000 Mark plus Zinsen erstattet. Die Bank will das Urteil anfechten. Schließlich könnten auch andere Geschädigte auf die Idee kommen, sich bei dem Kreditinstitut schadlos zu halten. Christoph Pauly d e r

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Wirtschaft

FOTOS: DANNENMANN

Yello-Zentrale in Köln, Jour fixe im Firmenflur: „Um

Yello-Chef Zerr: „A bissle Datensalat“

STROMKONZERNE

Angriff der Kampfbienen Nach einer raffinierten Werbekampagne glaubt heute fast jeder, dass Strom gelb ist. Der Erfolg des Strom-Neulings Yello hat nicht nur eine Farbe, sondern auch ein Gesicht: Michael Zerr, 37, der als Praktikant gestartet ist.

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er Weg zu Yello ist ein Hindernislauf. Ein gigantischer Sandhaufen versperrt den Weg zum gläsernen Bürozylinder im Schatten des Kölner TÜVKlotzes. Zwar hängen keine Kabel mehr aus den Bürodecken wie noch vor ein paar Wochen. Dafür funktionieren die Aufzüge wieder nicht. Und wenn man endlich in der Baustelle des dritten Stocks den Chef sucht, findet man einen gemütlichen Schwaben, der sich gerade mit einem Akku-Rasierer die Bartstoppeln stutzt. Auf den ersten Blick sieht Michael Zerr, 37, wie der Organist eines gemischten Kirchenchors aus. Auf den zweiten auch. Und für einen dritten Blick ist selten Zeit, denn dann ist der Geschäftsführer des neuen Strom-Vermarkters schon wieder ganz woanders: auch gedanklich. Er liebt die klassische Antwort an den Taxifahrer: „Bringen Sie mich irgendwo hin, ich werde überall gebraucht.“ In nur drei Monaten überzeugte Zerr die Republik davon, dass Strom nicht nur günstig oder umweltfreundlich, sondern vor allem gelb ist. 100 000 Neukunden ließen sich bei Yello bereits registrieren. 130

60 000 bekamen am vergangenen Montag den ersten „gelben“ Strom. Auch wenn bis zur letzten Sekunde mit störrischen Stadtwerken wie dem in Cottbus um die „Durchleitung“ gefeilscht wurde: Der „DDay“ war ein Erfolg. Nun ist Donnerstag, und beim schnell anberaumten Jour fixe im Flur umschwäbelt der Chef erste Erfolgsmeldungen seiner Truppe: „Hey, des isch ja beschtens.“ Wenn einer von „fehlerhafter Kartensortierung“ redet, übersetzt es Zerr mit „a bissle Datensalat“. Und wenn die Marketing-Frau Tülin Yesilgonca von der bevorstehenden „Ethno-Kampagne“ für die 2,1 Millionen Türken in Deutschland berichtet, rutscht er wie ein aufgeregtes Kind herum, das ein neues Spielzeug hat. An Zerrs Stuhl zittert noch das Etikett. Das Hemd quillt ihm da längst wie eine Weißwurst unterm Westchen hervor. Der Mann steht unter Hochspannung. Ganz klar. Es geht um Direktvertrieb, Durchleitungsvereinbarungen, Sponsoring und „KBs“. KBs? Das sind jene Scharen von schnell eingestellten Kundenbetreuern, die d e r

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nun aus der Yello-Idee, aus diesem virtuellen Werbewitz, ein anfassbares ServiceUnternehmen zaubern sollen. Und weil sie dafür eine ganze Armada von gelbschwarzen Dienst-Smarts samt Uniformen bekommen, steht KB intern nur noch für „Kampfbienen“. Im Gegensatz zu den „Heuschrecken“, kleine hungrige Yello-Teams, die von Ende dieser Woche an ausschwärmen sollen, um punktuell deutsche Großstädte „gezielt abzuvespern“: mit Werbung, Info-Ständen und elektrisierenden Shows. All das klingt nicht nur fröhlich, sondern auch kriegerisch. Der Wettbewerb der Stromer wird aggressiv geführt: mit Psycho-Tricks und Kundeneinschüchterung, mit Werbeschlachten, Unterlassungserklärungen und Minischarmützeln. In der Nachbarschaft hatten die YelloLeute gerade einen Wegweiser an einen Strommast gehängt. Prompt kam eine Aufforderung, das Schild wieder abzuhängen. Der Mast gehört dem Kölner Energie-Multi GEW. Da ist das Gelächter groß beim Jour fixe. Die Cottbusser Yello-Repräsentantin rief dagegen weinend in der Zentrale an, weil die dortigen Stadtwerke ihre Privatnummer herausbekommen hatten und sie am Telefon drangsalierten. Das ist freier Markt. 48 Stunden später hatte sie sich wieder gefangen und winkte kampflustig mit 14 neuen Kundenverträgen. Das ist Yello. Hier fragt keiner nach Arbeitszeiten oder Mittagspausen. Und wenn es abends wieder spät wird, lässt Zerr vom Pizzadienst 20 belegte Pappscheiben kommen. Einmal quer durch die Speisekarte, nicht nur mit gelber Ananas belegt. Der Yello-Erfolg hat neben einer Farbe auch drei Väter: Der erste ist Gerhard Goll, Chef des Karlsruher Strom-Giganten EnBW, dem früh schwante, was da an freiem Wettbewerb auf ihn und die anderen knarzigen Altmonopolisten zukommen würde. Das war 1995. Und Zerr kam ihm als Sparringspartner gerade recht. Der gebürtige Heidelberger hatte Jura und Politik studiert und ein langweiliges Referendariat absolviert. Früher gab er als Berufswunsch gern „Bürgermeister“ an. Plötz-

Strom zu verkaufen, braucht man keine Netz-Ingenieure“

lich saß er als angejahrter Praktikant in Golls Vorzimmer. „Hänge Se mal Ihr Mäntele da auf und komme Se mit“, raunte Goll. Der Praktikant gehorchte und horchte – selbst als Gast bei streng geheimen Vorstandssitzungen. Zerr lernte einen Mann kennen, der „so schroff wie lausbubenhaft“ sein könne. Der mitunter Freundschaftsbändchen am Handgelenk trägt und bei einem Betriebsfest schon mal symbolisch eine Stechuhr zerschlägt. Man gefiel sich. Und so durfte der Junge bald als Leiter der Unternehmensentwicklung versuchen, den Konzern umzukrempeln. Der Ex-Praktikant war zunächst nicht viel mehr als ein misstrauisch beäugter Spinner und Außenseiter. Zerr kannte das Gefühl aus seiner Schulzeit, als seine Mitschüler ihn wegen des Ruhrpott-Dialekts ächteten, den er von seiner Essener Mutter mitbekommen hatte. Damals übte er wochenlang vor dem Spiegel Schwäbisch. Aber die Ära der Anpassung war vorbei. Auch wenn ihm in Karlsruhe nicht viel

Das änderte sich erst, als der Düsseldorfer Werber Bernd Kreutz anfing, sich Gedanken über den Auftritt einer quirligen Vertriebs-Tochter zu machen. Vom Namen Yello war man noch Lichtjahre entfernt. 21 Monate ist es her, als Kreutz dem EnBW-Vorstand seine ersten Ideen zeigte. Wochenlang hatte er sich in den Karlsruher Katakomben umgesehen, und das Schlimmste war, dass er den Geist des provinziell erstarrten Energieriesen haargenau widerspiegelte: in silbrigem Schwarzweiß und mit Sprüchen wie „Gut’s Nächtle, RWE“. Die Entwürfe schwitzten eine Mischung von Minderwertigkeitskomplexen, Blockwartcharme und Zukunftsangst aus. Irgendwann wurde es Zerr zu dumm. Er sagte, dass er in so einem Unternehmen nicht arbeiten wolle, und fing an, mit Kreutz und dem eigenen Vorstand zu streiten. Nach schier endlosen Grabenkriegen, Machtkämpfen und Fast-Nervenzusammenbrüchen hatte das Trio Goll, Zerr & Kreutz Strom nicht nur billig gemacht (19 Pfennig pro Kilowattstunde bei einem Grundpreis von 19 Mark pro Monat). Vor allem war das Unfassbare plötzlich strahlend gelb. Yello war geboren. Ohne „w“, weil Kreutz Anglizismen nicht leiden kann. Einen hohen zweistelligen Millionenbetrag soll das mächtige Mutterhaus in den Kreutz-Zug gepumpt haben. Noch erfolgreicher als die Werbung selbst war das Medienecho: In nur vier Wochen zählte die gerade erst Yello-Werbung: Die Konkurrenz wurde rot vor Neid eingestellte Pressestelle 5300 mehr blieb, als lustige Plastikenten in dem Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und Wassergraben auszusetzen, der den EnBW- 288 TV-Beiträge. Die RWE waren zwar Anfang August Sitz umspült. Warfen die alten Elektro-Verwalter Zerr als erster Anbieter auf die mediale Bühne vor, dass er „sich aus dem Unternehmen geprescht, jedoch völlig farb- und namenträumt“, schluckte er es. Einer raunte ihm los. Als der RWE-Spross Avanza dann konzu: „Wie gehen Sie damit um, dass 3000 terte, sein Strom sei blau, hatte Zerr die Leute gegen Sie sind?“ So viele Mitarbei- erste Runde bereits gewonnen. Der Rest ter hatte der Konzern damals. Zerr ant- der Konkurrenz färbte sich lediglich rot vor Neid. wortete: „Schlecht.“ d e r

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Die Lage wird langsam unübersichtlich, denn neben gelbem und blauem Strom geht es heute auch um grünen: Das ist der, der nicht nur aus der Steckdose kommt, sondern aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft.Wie viel davon künftig in Yello steckt, ist noch fraglich. Zerr weiß um die Pläne der Grünen, die für Strom gern eine Kennzeichnungspflicht durchsetzen würden. Er kennt den Ärger mit Verbraucherschützern, die vor den einjährigen Yello-Laufzeiten warnen. Und er hat akzeptiert, dass die Kundschaft trotz aller Erfolge nicht so wechselwillig ist wie von manchen erhofft. Dennoch diskutiert er noch immer weit leidenschaftlicher über Jean-Paul Sartre und Gruppenprozesse, Team-Spirit und Visionen als über die völlig ungeklärten Regeln auf dem Strom-Markt. Zerrs Geschäftsführer-Kollege Marco Demuth, ein gelernter Kaufmann und Schlosser, wollte es irgendwann genau wissen. Also sperrten sich die beiden einen ganzen Tag lang mit Kaffeekanne und Flip-Chart ein und diskutierten über Chaostheorie, während draußen die Praxis tobte. Bei der Donnerstagskonferenz ist die Controllerin denn auch die Einzige, die sich nicht so recht mitzufreuen scheint. Man ahnt schnell, dass sie in all dem kreativen Chaos noch nicht den Überblick hat, was sich hier eigentlich controllen lässt, zumal ihr Chef Führungskräfte eigentlich nur als „Hüter des Chaos“ ernst zu nehmen scheint. Wie viele Mitarbeiter hat Yello mittlerweile? 200? 250? Völlig Wurst, es werden ohnehin jeden Tag mehr. „Um Strom zu verkaufen, braucht man keine Netz-Ingenieure“, sagt Zerr und kultiviert die eigene Ahnungslosigkeit. Von der Materie seines Produkts versteht er bis heute eher wenig. Über den Grundkurs bei einer Kollegin kam er nie hinaus. In einer Karlsruher Bahnhofskneipe kritzelte sie ihm einst alle notwendigen Details auf eine Papierserviette – von der deutschen Verbundwirtschaft bis zu Watt und Volt. „Widerstand wird in Ohm gemessen“, grinst sein Sprecher. „Ach ja, genau“, lacht Zerr. Für Leute wie diesen gutmütigen Schlaks bleibt der Weg das Ziel. Und wenn das Ziel – 1,3 Millionen Yello-Kunden in den nächsten zwei, drei Jahren – tatsächlich erreicht werden sollte? Er lächelt und fängt an, von seinem Bruder zu erzählen, der heute als Architekt in Berlin lebe. Schon als Kind habe der sich tagelang mit seinen Bauklötzen beschäftigt. Ihn selbst habe man dagegen immer schnell „von einem Spielzeug zum nächsten“ locken können. Am Donnerstagabend war die gewaltige Sandkiste vorm Yello-Palast übrigens wieder verschwunden. Die Bagger hatten einen ersten Schotterweg planiert, der den gläsernen Eingang endlich passierbar macht. Zerr fand das fast schade. Thomas Tuma 131

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„Big Brother“ auf RTL 2 N

FOTOS: C. B. v. FLYMEN / HOLLANDSE HOOGTE (gr.); B. FRIEDLANDER ( kl.)

achdem sich RTL 2 mit gepierctem Gummi-Kanzler und bumsfidelen Ballermann-Reportagen ein leidensfähiges Publikum heranerzogen hat, will der Pfui-TV-Sender nun mit der deutschen Version der holländischen Überwachungsshow „Big Brother“ für Quote sor- „Big Brother“-Produktion in Holland gen. Die Luxemburger Bertelsmann-Tochter und RTL-2-Miteignerin CLT-Ufa fürchtet aber offenbar Turbulenzen: RTL2-Geschäftsführer Josef Andorfer soll nun dafür sorgen, dass die Würde der Kandidaten geachtet wird und gegebenenfalls Modifikationen erfolgen – so die Anweisung aus Luxemburg. Für die Sendung werden die Kandidaten drei Monate lang in ein Camp gesperrt und rund um die Uhr von Kameras überwacht. Die Show-Fabrik Endemol hat das Format bereits international vermarktet. Hier zu Lande zeigten nicht allzu viele Sender Interesse. „Dieser pure Voyeurismus passt nicht zu unserem Anspruch“, heißt es bei Pro Sieben in München. Auch Sat 1 hält das Format für „wirtschaftlich unsinnig“, weil man über einen kurzen Zeitraum nur eine sehr spezielle Zielgruppe erreiche. Die Kosten pro TV-Folge sollen bei rund 180 000 Mark liegen.

SEXPRESSE

T V- A K T I E N

Steile Kurven

Stars im Börsenboom

ie Bauer-Illustrierte „Praline“ ist das erste Medium in Deutschland, das sich selbst durch seinen Internet-Auftritt überflüssig machen könnte. Während sich die Auflage der Sexpostille seit Jahren im Sinkflug befindet und zuletzt auf ein historisches Tief von 243 386 verkauften Exemplaren fiel, erfreut sich die Internet-Seite des Sexblatts steigender Beliebtheit. Im September wurden über fünf Millionen BesuInternet-Nutzung und Heftverkauf che von Nutzern gezählt, die sich an kostenlosen Angeboten Besuche bei „Praline 5 wie „Dessous Spezial“ oder interaktiv“ in Millionen, „Sexy Bundesliga“ delektiermonatlich 4 ten – im Vorjahresmonat waren es nicht mal eine Million. Die Einnahmen für „Praline3 Interaktiv“ stammen aus Werbebannern und zusätzlichen, 2 kostenpflichtigen Diensten. Das Angebot im Internet er1 stellen nur drei Redakteure; für die darbende Printausgabe 0 380 arbeitet eine rund 20-köpfige Redaktion. Der Bauer-Verlag dementiert allerdings Absich340 ten, die Print-„Praline“ trotz der Auflagenverluste einzustellen. „Das sind zwei völlig un300 terschiedliche Zielgruppen“, Quelle: IVW verkaufte „Praline“-Hefte sagt eine Sprecherin – zudem in Tausend 260 sei der Anzeigenumfang im Vergleich zum Vorjahr um 21,5 1997 1998 1999 Prozent gestiegen. d e r

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omedy-Star Anke Engelke („Wochenshow“) will wie Stefan Raab und andere TV-Künstler von einem Börsenerfolg der Brainpool TV profitieren. Die Riege teilt sich ein Aktienpaket von fünf Prozent der Kölner Produktionsfirma, die am 22. November an die Börse geht und ihren Wert auf 200 Millionen Mark taxiert. Über ein Family-andFriends-Programm sowie Mitarbeiteraktien können sich die TVStars zusätzlich einEngelke decken. Über den Kurserfolg bestimmen sie selbst: So spielt Anke Engelke Mitte Januar die Hauptrolle in der neuen Sat1-Serie „Anke“, die dem US-Erfolg „Ally McBeal“ nachempfunden ist – eine Fortsetzungsgeschichte mit Comedy-Elementen. Gemeinsam mit Brainpool hat Engelke für solche Werke die Produktionsfirma Ladykracher TV GmbH gegründet; auch Raab unterhält ein solches Joint Venture. Und demnächst wollen die TV-Größen Bastian Pastewka und Ingo Appelt dem Beispiel folgen.

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ACTION PRESS

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Medien

Die Welt ist gemein

36

7 Tage – 7 Köpfe

34,8

RTL, freitags 22.15 Uhr 34 32 30 28

31,9

Ritas Welt RTL, freitags 21.45 Uhr

27,6

TV Total

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26 Pro Sieben, montags 22.20 Uhr 24. Sept.

1. Okt

15. Okt

29. Okt

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enn auf RTL Gaby Köster als Supermarktschlampe die männlichen Dumpfbacken niedermacht und anschließend Jochen Busse und Rudi Carrell in „7 Tage – 7 Köpfe“ blödeln, hat es die Konkurrenz schwer: Freitag ist Jokustag, die Comedy hat an diesem Tag die Macht übernommen und erzielt hohe Quoten bei den jüngeren Zuschauern. Stefan Raab („TV Total“) gelingt dies am Montag: Fast ein Drittel der Jungen sehen ihn auf Pro Sieben.

PROJEKTE

Geschichten aus der Geschichte D

FOTOS: AKG (re. o.); FOTEX ( li. u. ); BPK (re. u.)

er deutsche Fernsehzuschauer muss sich auf immer mehr Movies mit historischen Stoffen einstellen. Besonders solche Produzenten, die – wie die mittelständische Kölner

Queen Victoria (um 1897)

Gulliver-Verfilmung (1995)

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Blödeln ohne Ende

Angaben in Prozent; Zuschauer von 14 bis 49 Jahren

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n unserer Welt der Werbung, PRund Marktkommunikation gibt es immer wieder neue Ideen, zunächst unwillige Kunden unter Druck zu setzen. Von der einfachen Drückerkolonne bis zum Internet-Marketing reicht das weite Feld der Überzeugungsarbeit. Die neueste – und zugleich älteste – Methode der Welt praktiziert die linke „Tageszeitung“ („taz“), die sich wieder einmal kurz vor dem Untergang befindet. Woche für Woche droht sie ihren treuesten Lesern mit Selbstamputation, falls die bundesweit verstreuten Alpha-Müslis nicht ganz, ganz fix und in ausreichender Zahl Abos ordern sollten: Mal gibt es keine Überschriften – bäh! –, mal soll ein Solardach, das Allerheiligste der rotgrünen Jungs & Mädels, mit dem bösen Hämmerchen eines frustrierten Umwelt-Redakteurs zertrümmert werden – klirr! –, mal droht man an, die beliebten Comics des hauseigenen Zeichners Tom durch grafisch verunglückte Weltbilderrätsel von Günter Grass zu ersetzen. UUrrgghh, ätsch, die Welt ist so gemein! Seit es Mamis gibt, die der Kleinen nicht schon wieder ein Eis kaufen wollen, wird geplärrt, aber auch gedroht: Gut, dann zerschneide ich eben mein Konfirmationskleid und bin nie wieder lieb. Nie wieder. Doch während es bei der „taz“ vielleicht schon helfen würde, ein bisschen mehr Professionalität walten zu lassen, können andere Medien von dieser Aktion Marke „Wir sind auch nur eine kleine irre Sekte“ durchaus etwas lernen. So könnten die Einschaltquoten von Sendungen wie „Peep!“ und „Strip!“ weiter nach oben getrieben werden, wenn die Protagonisten der Enthüllung mit Rollkragenpullover und Cordhose drohten. Harald Schmidt könnte ankündigen, dass seine Gags ab sofort von Rudolf Scharping geschrieben werden, und Klaus Bednarz, der TV-Rächer von „Monitor“, zöge seine womöglich schärfste Waffe: Entzug der Strickpullover. Wenn nichts mehr hilft: schwarzer Bildschirm. Das haben wir nun davon.

QUOTEN

Marktanteile von Comedy-Sendungen

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FFP-Entertainment – die allzu große Abhängigkeit von inländischer Auftragsproduktion überwinden wollen, verlegen sich auf das internationale Geschäft mit Geschichten aus der Geschichte. Den Grund für die Beliebtheit des Blicks zurück sieht FFP-Marketing-Mann Gerd Koechlin vor allem in den USA. Dort seien historische Miniserien besonders gefragt, und auch die Deutschen mögen das Spiel mit dem Alten, wie der Erfolg von „Arche Noah“ auf RTL beweist. FFP, im Inland als Lieferant des ZDF mit RosamundePilcher-Filmen bekannt, beteiligt sich gleich an mehreren internationalen Historien-Projekten: an einer neuen Verfilmung von Napoleon (Gemälde, 1805) Gullivers Reisen, an der Lovestory zwischen Queen Victoria und ihrem Mann Albert und an einer weiteren Liebesgeschichte zwischen einer US-Journalistin und einem verheirateten Armee-Colonel aus der Zeit der Berliner Blockade. Auch Napoleon soll mit Beteiligung von FFP verwurstet werden: Es geht um die Kontakte des verbannten Empereurs mit der neugierigen Tochter des Gouverneurs von St. Helena. Alle diese Werke sollen ins deutsche TV kommen. „Rosinen-Bomber“ (1948)

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Fernsehen

Vorschau

für Cobra 11“, „Der Clown“) drehte einen handfesten, vor allem halbwegs verständlichen Abenteuerfilm mit einem Bonnie-und-Clyde-Pärchen (Yvonne de Bark, Sven Martinek), feuerroten Action-Szenen und sogar einem Hauch von Witz: Bevor ein Gangster einen Kumpel liquidiert, entschuldigt er sich: „Das ist nicht persönlich gemeint.“

Einschalten Dinosaurier (1) Donnerstag, 20.15 Uhr, Pro Sieben

Die Saurier werden immer traulicher: Mussten sie bei Steven Spielberg („Jurassic Park“) noch als Monster herhalten, so stellt sie diese durch und durch computeranimierte, 18 Millionen Mark teure BBC-Serie als Tiere vor, die jeder Safaribesucher antreffen kann (SPIEGEL 43/1999). Das Filmteam machte auf fünf Kontinenten Aufnahmen von Dino Landschaften, die denen der Dino-Zeit ähnlich sein könnten. Zeitlupenaufnahmen vom Gang realer Nashörner und Elefanten wurden studiert, um die Computer-Urviecher möglichst echt schreiten zu lassen. Ein bisschen pervers: Der moderne Mensch überschlägt sich nicht gerade für die Erhaltung der lebenden Tiere. Nur am Computer herrscht Ehrfurcht vor den Geschöpfen.

Bienzle und die blinde Wut Sonntag, 20.15 Uhr, ARD

De Bark, Martinek in „Der Träumer …“

Der Träumer und das wilde Mädchen – Hetzjagd durch Deutschland Sonntag, 20.15 Uhr, RTL

So hyperhysterisch, wie der Titel dieses Films androht, ist das Movie zum Glück nicht. Das Action-Concept-Team um Stunt-Spezialist Hermann Joha („Alarm

Der Spätzle-SherlockHolmes (Dietz Werner Steck) hat schon seit mehreren Folgen Kummer mit seiner Freundin (Rita Russek). Bienzle, der sonst so professionell die Mörder jagt, vermag die Trennung nicht zu überwinden. Auch diesmal steht die unaufgeräumte Beziehungskiste inmitten der sehenswerten Ermittlungen (Buch: Felix Huby, Regie: Hartmut Griesmayr), die der Kommissar in der schwäbischen Provinz führt.

Ausschalten Frei wie die Vögel Montag, 22.35 Uhr, West III

Sie rühren die Bongotrommeln und lassen am Lagerfeuer den Joint kreisen. Wer den Film von Arnd Güttgemanns über junge Menschen sieht, die in der Nähe von Darmstadt in Wohnwagen auf städtischem Wald-

Darmstädter Wohnwagenbewohner

gelände hausen, der könnte meinen, die Flower-Power-Schauerzeiten des Hippietums seien noch nicht gut abgehangene Vergangenheit. Besonders der Psychosprech vom „Offenerwerden“, der den Wohnwäglern über die Lippen geht, erinnert an die holde alte Lockenzeit. Freilich gilt die im Titel dieser Doku beschworene Freiheit nicht für den Autor, der sich vor nostalgischer Verklärung hüten sollte. Er wäre verpflichtet, über die Schattenseiten des jugendlichen Zigeunerlebens zu berichten, von denen es in den Statements reichlich Andeutungen gibt. Stattdessen malt der Film lieber im naiven Schwarzweiß und bietet dickwanstige Schrebergärtner auf, die über die Zäune ihrer Parzellen gartenzwergige Verdammund e r

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gen der Jungsiedler („Schmutzfinken“) zu Protokoll geben. Wie das Wohnwagenleben im Winter vor sich geht, wie interne Schwierigkeiten aussehen und wie die sanitären Probleme (kein Wasseranschluss) bewältigt werden – darüber schweigt des Autors Freundlichkeit.

Schrei – denn ich werde dich töten! Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL

Die Steigerung von Thriller heißt nicht am Schrillsten. Genau das aber betreibt dieser Gruselfilm (Buch: Kai Meyer, Regie: Robert Sigl). Schüler bereiten des Nachts in ihrer düsteren Penne einen Abiturstreich vor. Da wird im Kartenraum mächtig mit Taschenlampen herumgefunzelt. Zugleich meuchelt der große Unbekannte mit einer Schere Schüler nieder. Ist der Mörder ein Irrer, ein Pauker oder der Gärtner? Eigentlich egal: Denn bei so übertriebenem Willen zum Schrecken stirbt die Spannung. Selbst eine so begabte Darstellerin wie Katharina Wackernagel („Tanja“) geht in dem Blut- und Budenzauber unter. 135

Medien

B O U L E VA R D - P R E S S E

„Wir müssen den Zoo füllen“

E. HERBST

Eine neue Generation von Klatschreportern kämpft mit den Widrigkeiten des Geschäfts: Was einst eine anspielungsreiche Lektüre war, ist unter dem Konkurrenzdruck der Medien zur Massenware verkommen – Boulevard banal.

„Abendzeitung“-Reporter Hächler

Als Mann fürs Pikante annonciert

A

n diesem Abend lässt sich der Mann aus den Bergen nicht aus der Fassung bringen. Nicht mal von der „Bild“-Reporterin, die sich im Hinterzimmer einer Fernseh-Show redlich darum bemüht. Wann er das letzte mal beim Friseur gewesen sei, will sie von Reinhold Messner wissen, welches Shampoo er in seine „Petrus-Mähne“ reibe und warum seine Hände so sauber sind. „Ich hätte gedacht, dass Menschen, die Dinge tun wie Sie, schmutzigere Fingernägel haben“, sagt sie – aber anstatt zu antworten, starrt ihr Messner nur abwesend ins Dekolleté. Viel dürfte der „Bild“-Leser also nicht über den prominenten Bergsteiger erfahren – außer, dass ihm der Name seines Haarwaschmittels entfallen ist, woraus sich immerhin eine kleine Geschichte über die Nebenwirkung dünner Luft stricken ließe. Schließlich hofft man bei „Bild“, mit einem gehörigen Schuss gaga die Klatschkolumne auf der letzten Seite neu zu beleben. Dafür hat man seit wenigen Wochen eine Frau abgestellt, die sich in der Vergangenheit zu hunderten von Titelseiten-Pin-ups zotige Prosa ausdachte: „Bimmel bammel, jetzt kann der Förster kommen.“ Semantisch nicht unähnlich füllt die „Miezen-Dichterin“ („Zeit“) nun täglich ihre Kolumne. Mal ortet sie in den Armen eines Adligen „Frischfleisch“, dann wieder * Mit Jenny Elvers (2. v. l.), Heiner Lauterbach, Helmut Dietl, Birgit Stein beim Deutschen Filmball im Januar.

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ruft sie einen „neuen Befruchtungstrend in Deutschland“ aus. Auch die Freunde oraler Details kommen bei der ausgebildeten Zahnärztin auf ihre Kosten: Im Falle des TV-Komikers Hape Kerkeling diagnostizierte sie ein „riesiges Loch hinter dem linken Eckzahn“, in Boris Beckers Mundhöhle sah sie gar „das Zäpfchen schwingen – dingdong!“ Die Klatschkolumne als Comic-Ersatz voll drollig-harmloser Episoden: „Ich will die Leute anpieken, aber nicht so, dass sie bluten“, sagt Katja Keßler. „Es bringt ja nichts, wenn ich mir mit dem Flammenwerfer eine Bresche brenne.“ Auch bei der Münchner „Abendzeitung“ – für die einst der legendäre Klatschreporter Hannes Obermaier alias „Hunter“ die Schwabinger „Langusten-Liga“ observierte – operiert seit kurzem eine neue Kraft. In Anzeigen wurde den Lesern Boris Hächler als Mann fürs Pikante annonciert, der sich auf den Partys weniger um das Auf- als das Unter-dem-Tisch kümmern soll. Von derartiger Respektlosigkeit jedoch ist bislang wenig zu spüren. Stattdessen outete sich der ehemalige Sport-Reporter als Frauenfreund, der sich auf der Wiesn an den tief ausgeschnittenen Dirndln ergötzt und die „unerreichbare Diva“ Sophia Loren im Exklusiv-Interview um „das Geheimnis ihrer Schönheit“ bittet. „Wenn man frisch dabei ist, gibt man den Leuten eben nicht gleich auf die Kappe“, sagt Hächler. Eine neue Generation von Pragmatikern drängt in die Klatschspalten – und ihr Beruf hat mit dem Glamour-Job vergangener Tage nur noch wenig zu tun. „Aus Angst vor Sozialneid oder gar Entführungen wird heute lieber hinter verschlossenen Türen gefeiert – oder eben gar nicht“, klagt Marie Waldburg, Gesellschaftskolumnistin der „Bunten“ und zuvor jahrelang für die „Abendzeitung“ an der Feten-Front. „Viele Veranstaltungen finden nur noch statt, weil die Leute für ihr Produkt trommeln wollen.“ Tatsächlich besteht das Gros der Termine mittlerweile aus PR-Nummern wie Filmpremieren oder der Einführung eines „Bunte“-Kolumnistin Waldburg (r.), Partygäste*

Wenig Salz, viel Suppe

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neuen Parfums. Selbst Börsenemissionen oder der Geburtstag eines Privatsenders werden als glamouröse Events vermarktet. Die Zeit der wilden Partys ist vorbei – bei denen irgendwann die Hälfte der Gästeschar im Pool landete und massenhaft „Girls von der Sorte Super-Knacker“ als „Spielknabenfutter mit der Concorde herbeigechartert“ wurden, wie einst Michael Graeter notierte. Graeter war einer der großen in der Klatschreporter-Szene, der in seiner HochZeit vom bloßen Chronisten selbst zum Star der Society wurde, in dessen gut besuchtem Café so mancher Promi um üble

„Bild“-Klatschreporterin Keßler

„Immer größere Mistkugeln“

leuten auf ihn, um die menschelnde Geste in Ton und Bild festzuhalten. „Der Bedarf an Prominenz ist enorm gestiegen“, sagt die Ex-„Bunte“-Chefin Beate Wedekind – um all die Seiten zu füllen, werde jede Mini-Story zur Schlagzeile hochgejazzt. „Früher war der Klatsch das Salz in der Suppe, heute ist es nur noch Suppe.“ Aus reinem Selbsterhaltungstrieb schreibt die Branche öde PR-Veranstal-

tungen zur Super-Gaudi um, bei der die Stimmung wieder mal „blendend“ war, „der Wodka-Lemon gut gemixt“ („Gala“) und die mitternächtliche „Gulaschsuppe heiß begehrt“ („Bunte“). Dabei fällt die Stimmung immer öfter auf den Nullpunkt, weil sich auf mancher Party genauso viele Journalisten wie Gäste einfinden und stramm aneinander vorbeireden. „Was hat sich bei dir optisch getan“, fragte neulich eine Zeitungsreporterin die verdutzte Schauspielerin Sonja Kirchberger. Antwort: „Ich war beim Friseur.“ Soso. Alles wird gebraucht, um die Spalten zu füllen. So weiß „Bild“-Frau Keßler von düsteren Tagen zu berichten, an denen der Schlagersänger Jürgen Drews am Telefon schildert, wie sich seine Freundin im Sexshop die Brustwarzen versengt hat, oder der Freund von Susan Stahnke berichtet, dass es eigentlich nichts zu berichten gibt – außer, dass man noch nicht wisse, wie man Silvester verbringen werde. „Doch selbst wenn man die Mistkugel immer größer dreht, bleibt es Mist“, erkannte Keßler. Da die wirklich Wichtigen hinten und vorne nicht reichen, werden die Naddels dieser Welt rückstandslos verwertet: Erst tauchen sie in „Bild“, „Gala“ oder „Bun-

S. BRAUER

E. HERBST

Nachrede bat. Dem Regisseur Helmut Dietl diente Graeter sogar als Vorbild für die Fernsehserie „Kir Royal“ – was ihn aber nicht davor bewahrte, vor zwei Jahren von der „Bunten“ vor die Tür gesetzt zu werden, weil er seine Party-Dossiers nicht redigieren lassen wollte. Der eitle Graeter witterte „Enteierung“ und klagte. Es scheint, als habe er seine Funktion überschätzt. Aus seinem immer mal wieder angekündigten Comeback – ob nun im Fernsehen oder im Internet – ist bislang nichts geworden, und vielleicht hat das sogar sein Gutes. Schließlich schwant ihm, dass der Berufsstand schon bessere Tage sah: „Selbst die Windsors sind inzwischen vertrocknet.“ Auch sonst haben sich die Arbeitsbedingungen für die Nachfolger von Baby Schimmerlos verschärft. Weil keine Zeitung auf ihren Gesellschaftsteil verzichten will, kein buntes Blatt ohne „Leute“-Rubrik erscheint und im Fernsehen etliche Starmagazine um Zuschauer buhlen, ist das Gerangel um jede noch so kleine Sottise riesengroß. Als der ehemalige Wimbledon-Gewinner Michael Stich auf dem diesjährigen Sport-Presseball eine Kerze entflammte, stürzte sich ein ganzer Tross aus Fotografen und Kamera-

Medien te“ auf, später landen sie nackt bei „Playboy“ oder „Max“, schlussendlich winkt eine Karriere als Talkshow-Dauergast oder Moderatorin bei RTL 2. „Weil sich die Leute, die was zu sagen haben, zurückziehen, sucht man sich halt Unterhaltungschef Manfred Meier entscheidet, wer in der „Bild“die, die jeden Schmarrn mitmachen“, sagt „Bunte“-Reporterin Waldburg. Den schrulZeitung gut wegkommt – und wer nicht. ligen Schneider Rudolph Moshammer zum Beispiel, der auf Geheiß der Fotografen ngefangen hat alles beim Italie- kleiner Runde schon mal einräumt, sein Schoßhündchen apportiert und abner. Manfred Meier saß gerade „dass Verona wie ein Picasso ist, Nadbusselt. mit Mario Adorf beim Wein, als del dagegen wie ein selbstgemaltes „Die Latte für das gesellschaftliche Enihn eine „Bild“-Reporterin anrief und Bild“. Ein bisschen Dealen gehört zum Getree wird immer niedriger gehängt, aber erzählte, dass der Schlagerproduzent mit irgendwelchen Leuten müssen wir den Dieter Bohlen seine Ehefrau verprü- schäft, weswegen es Meier auch fast Zoo ja füllen“, klagt eine Reporterin des gelt habe. Das sei, erinnert sich Meier, lächerlich findet, sich für seine guten RTL-Magazins „Exklusiv“, dessen Front„eine Art Watergate“ gewesen – „da Beziehungen zu den Promis rechtfertifrau Frauke Ludowig längst selbst zum Medenkt man in Dimensionen von wo- gen zu müssen. Zum Schauspieler Heiner Lauterbach etwa, mit dem er schon diendarling geworden ist. chenlangen Schlagzeilen“. Erschwert wird der Job auch durch die Es wurden Jahre. Lückenlos doku- im Sandkasten spielte, später an den Klagefreudigkeit der Promis, für die findimentiert der Unterhaltungschef von Frauen herumbaggerte und dem er vor ge Anwälte jede Zeile auf juri„Bild“ seitdem Verona Feldbuschs Aufstische Relevanz abklopfen. stieg von der geprügelten Ex-MissKein Wunder, dass die VerlagsGermany zur kultverdächtigen TV-Moherren verstärkt darauf achten, deratorin – zuletzt mit dem erschöpdass ihre Angestellten nicht zu fenden Abdruck eines „geheimen Taübermütig werden. „Wir haben gebuchs“. „Ohne ,Bild‘ gäbe es Verona die Möglichkeit, auf Partys in schon gar nicht mehr“, staunt Dieter der ganzen Welt zu gehen, da Bohlen. Unterhaltungschef Meier können wir es uns ruhig mit ein räumt immerhin ein, dass sie ohne das paar Leuten verscherzen“, hatBlatt „wohl kein so großer Star“ gete der „Gala“-Reporter Tom worden wäre. Junkersdorf bei seinem DienstDoch nun ist erst mal Schluss mit antritt vor einem Jahr forsch Verona, schließlich war die Tagebuchgetönt und zum Beweis gleich Nummer nicht gerade ein durchschladie „Bambi“-Verleihung des gender Erfolg, und außerdem nerven Burda-Verlages als „ganz schön Meier die Gerüchte. Obwohl: „Auch „Bild“-Stratege Meier: Watergate beim Wein zähen Braten“ verrissen. wenn es an den Haaren herbeigezogen Nach Verstimmungen auf höchster Ebeist – es gibt schlimmeres, als dass einem vier Jahren – nachdem er bei „Bild“ ne gilt Junkersdorf inzwischen als domesein Verhältnis mit Verona Feldbusch Unterhaltungschef geworden war – androhte: „Jetzt kommen die ganzen tiziert. Nun lobt er nicht nur fremde Feste, nachgesagt wird.“ sondern besonders schön die eigenen. So Macht macht halt sexy, und mächtig Enthüllungen über dich.“ Was natürdurfte anlässlich eines Gesangswettbeist Meier: Jeden Tag entscheidet der lich nur ein Spaß war. Weniger spaßig finden es allerdings werbs im beschaulichen Gütersloh fast die Promi-Macher der Nation, wer zwölf komplette Bertelsmann-Führungsriege auf Millionen „Bild“-Lesern als Star ver- manche, dass Meier zuweilen die Enteiner Doppelseite durchs konzerneigene kauft wird und wer nicht. Auch den hüllungen anderer Kollegen aus dem Blatt marschieren. Auch bei Burdas „BunSchlagersänger Guildo Horn brachte er Blatt wirft. So liegt in der Chefredakte“ wird ein schlichtes „Focus“-Fest gern mit einer solchen Penetranz auf die Ti- tion seit zwei Jahren ein böser Brief mal zum Top-Event hochgejauchzt. telseite, dass es plötzlich wirklich wich- von Manuela Waalkes, der geschiedeImmerhin hält sich die „Bunte“ noch tig war, ob „dieser Mann für Deutsch- nen Frau des Komikers Otto, in dem sie sich darüber beklagt, dass ein Inden Klatsch-Dino Paul Sahner, der seine land singen darf“ oder nicht. Gesprächspartner stets mit einer RechtsMeier entscheidet auch, wer in die terview mit ihr nicht erschienen ist – links-Kombination aus Kumpeltum und Liste der „20 erotischsten Frauen der ein Interview, in dem der von „Bild“ Psychoanalyse überrumpelt. Zuletzt bohrWelt“ kommt, die „Bild“ neulich wie heiß geliebte „Ostfriesen-Blödel“ nicht te er solange bei Steffi Grafs Exfreund, bis einen Countdown herunterzählte und allzu gut wegkam und das dem damadie Illustriertenseite mit Tragisch-Komidie vor allem ein Kriterium kannte – ligen Chefredakteur Claus Larass vielleicht gerade deshalb gefiel. Stimmt, schem gefüllt war. „Die meisten freuen sich Meiers persönlichen Geschmack. direkt, wenn sie mal jemand richtig ins GeMit einer Ausnahme: Ungefähr bei sagt Meier, das habe er aus dem Blatt bet nimmt“, wundert sich Sahner über die Nummer zwölf meldete sich Dieter geworfen – „weil es eine Ansammlung lasche Konkurrenz. Bohlen und fragte nach, ob denn seine von Un- und Halbwahrheiten war“. Denn Otto kennt Meier mindestens Die kümmert es zuweilen nicht mal, ob Lebensgefährtin Naddel gar nicht mehr jemand schon tot ist. So glaubte „Abendin der Liste auftauche. Das aber wäre so gut wie Lauterbach oder Verona – zeitung“-Reporter Hächler bei der Verleischade, schließlich habe die gerade vom Florida-Urlaub oder von durchhung des bayerischen Fernsehpreises den ein „Playboy“-Shooting absolviert, und zechten Nächten auf Sylt. Im nächsten verstorbenen Schauspieler Siegfried Lodie Bilder könne „Bild“ gern vorab Otto-Film hat Meier gar eine Nebenrolwitz erkannt zu haben. Die nekrophilen verbreiten. „Die Fotos waren wirklich le – „um mal zu sehen, wie das hinter Zeilen erreichten allerdings nur wenige Leganz gut“, sagt Meier, obwohl er in den Kulissen ist“. Oliver Gehrs ser – in der Spätausgabe waren sie verschwunden. Oliver Gehrs

Der Promi-Macher

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Medien

JOURNALISTEN

„Die Streitkultur ist unterentwickelt“

ACTION PRESS

Das Moderatoren-Duo Bodo Hauser und Ulrich Kienzle (ZDF) über politischen Journalismus, die Tricks der Parteien und das Ende von „Frontal“

TV-Jounalisten Kienzle, Hauser: „Wir erleben eine gewisse Plattierung“ SPIEGEL: Was gibt’s Neues, Hauser? Hauser: Wir wundern uns, dass die Mel-

dung über das Ende unserer Sendung im Dezember 2000 Wellen schlägt. Wir haben immer gesagt, wenn Kienzle in Pension geht, ist Schluss. Kienzle: Das steht seit 64 Jahren fest. Man soll aufhören, wenn es am Schönsten ist. SPIEGEL: Dann hätten Sie das 1993 gestartete Magazin „Frontal“ vielleicht schon längst aufgeben sollen – die Einschaltquoten sind seit einiger Zeit gesunken. Kienzle: Früher hatten wir zwischen vier und fünf Millionen Zuschauer, heute zwischen drei und vier Millionen. Aber das geht allen politischen TV-Magazinen so, die Landschaft ist zersplittert geworden. Hauser: Heute nennt sich jede Sendung mit mehr als zwei Beiträgen Magazin. Wir erleben eine gewisse Plattierung. SPIEGEL: Ist nicht auch das Links-RechtsSchema der Doppelmoderation antiquiert – der rote Kienzle kritisiert die Schwarzen, der schwarze Hauser immer die Roten? Kienzle: Zu behaupten, es gäbe keinen Unterschied mehr zwischen links und rechts, halte ich für Quatsch. 142

Hauser: Im Gegenteil – der Unterschied kommt immer stärker heraus. Das Schlechteste, was uns beiden passieren kann, wäre eine Große Koalition. SPIEGEL: „Frontal“ etablierte eine neue Fernsehform, den gesendeten Dauerkonflikt zweier Streithähne, die das letzte Wort und den besten Gag für sich reklamieren. Dabei sind alle Dialoge vorgeschrieben. Hauser: Na und? Das geht aus fernsehtechnischen Gründen gar nicht anders. Die n-tv-Moderatoren Erich Böhme und Heinz Eggert wollen es live mit einem lustigen Zwiegespräch besser machen – und verstören die Zuschauer damit jede Woche. Kienzle: Die Geschichte lebt davon, dass die Pointe sitzt und die Kamera es mitbekommt. Wir sitzen Stunden vor der Sendung mit dem Autor Stephan Reichenberger zusammen und schreiben die Texte. Ohne ihn gebe es „Frontal“ nicht mehr, er ist bei unseren Streitereien der Katalysator. SPIEGEL: Politiker sind heute vor allem in Talkshows präsent, etwa bei Sabine Christiansen in der ARD. Nehmen Ihnen die Talkmaster die Arbeit ab? Kienzle: Die Christianisierung des TV- Journalismus hat dazu geführt, dass sich die d e r

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Politiker aussuchen, wo sie hingehen. Sie wählen Sendungen, in denen sie es leicht haben und nicht aggressiv gefragt werden. Hauser: Wir planen derzeit ein „Kreuzfeuer“-Interview, in dem wir beide gezielt Politiker befragen. Schießen wir volles Rohr, müssen wir diesen Teil eventuell wieder aufgeben, weil keine Gesprächspartner mehr kommen. Schon heute haben wir öfter als früher Absagen von der Regierung, etwa von Scharping und Riester. Kienzle: Zur bayerischen Bau- und Bankenaffäre haben wir auch nur den politischen Stuntman von Stoiber bekommen, den Staatskanzleichef Huber. SPIEGEL: Woher kommt der Wandel des Politischen im deutschen Fernsehen? Kienzle: Aus den USA. Präsident Clinton war der erste, der Journalisten bewusst gemieden hat. Seinen ersten Wahlkampf führte er fast ausschließlich über Talkshows. Das hat verblüffend gut funktioniert – die Fragen dort konnte er leicht parieren. In Deutschland hat Hans Meiser in den Wahlkämpfen 1994 und 1998 solche Talkshows auf RTL hoffähig gemacht. Hauser: Die Streitkultur ist hier zu Lande unterentwickelt – wir haben nicht gelernt, in der Sache hart zu diskutieren, ohne dass wir verfeindet auseinander gehen. Kienzle: Die Politiker haben früher auf böse Fragen spontan wütend geantwortet, etwa als der damalige CSU-Chef Franz Josef Strauß 1972 die „Monitor“-Interviewer Claus-Hinrich Casdorff und Rudolf Rohlinger minutenlang als „miese Verlierer“ von der SPD beschimpfte. Das hatte hohen Unterhaltungswert. Inzwischen antworten die Politiker kurz und nur, was sie wollen. Hauser: Es gibt eine neue Politikergeneration, wie man an Kohl und Schröder sieht. Wenn beim jetzigen Kanzler eine harte Frage kommt, nimmt er die weich weg. Da wäre Kohl hochgegangen und hätte den Interviewer beleidigt. SPIEGEL: Bestimmen also PR-Profis im Hintergrund die politische Tagesordnung? Hauser: Ja, und trotz der vielen Spin doctors können Fehler passieren, etwa als Schröder nach der unappetitlichen Gummipuppensatire im RTL-2-Sexmagazin „Peep“ persönlich protestierte. Mit solchen Bockigkeiten verhindert er doch nichts. Kienzle: Das ist symptomatisch – es werden keine harten Fragen mehr gestellt, sondern man trifft Politiker mit der Gummipuppe.

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Hauser: Du bist nur neidisch auf

Gerhard Konzelmann, weil er mehr Bücher verkauft hat. Kienzle: Quatsch. Aber wenn einer im Heizungskeller des Süddeutschen Rundfunks steht und dabei angeblich von einem Öltanker mit den Worten „Unter mir schwimmen 300 000 Liter Öl“ berichtet, hat das mit Journalismus wenig zu tun. SPIEGEL: Was halten Sie von der Machart traditioneller Polit-Magazine? Immerhin wollten Sie den „Sektenjournalismus“ aufbrechen. Kienzle: Na ja, das bezog sich eher auf Gerhard Löwenthal, der mit seinem „ZDF-Magazin“ in den Siebzigern eine Zuschauerquote von fünf Prozent erreichte – das war damals eine Kunst. Wir wollen sowohl Linke als auch Rechte ansprechen. Hauser: Löwenthal hat auch Zeiten hoher Quoten erlebt. Er war halt im ZDF das Gegenstück zu „Kennzeichen D“ mit Hanns Werner Schwarze. Heute gilt, dass ein Moderator nicht nur mit erhobenem Zeigefinger am Pult sitzen darf. Der Vorteil unserer Kombination ist, das wir Sachen sagen können, die jedem von uns als Einzelmoderator nicht erlaubt würden. Da stünde ich permanent vor dem Fernsehrat. DPA

Die Standards sind durcheinander gekommen. SPIEGEL: Gibt es eine Degeneration der politischen Kultur im Fernsehen? Hauser: Es gibt Mangelerscheinungen. Früher habe ich die Vorstellung gehabt, dass Politik von erfahrenen Leuten bewertet wird. In den USA ist daher im Nachrichtengeschäft kaum jemand unter 50. In Deutschland aber hat man den Eindruck, es dürften Personen im Fernsehen kommentieren, die gerade der Talk-Masterin Illner: „Am Anfang zu viel gefragt“ Volontärsschulung entsprungen sind. Immer mehr Leuten auf dem Bild- SPIEGEL: Dafür hat diese Sendung einen schirm fehlt die Glaubwürdigkeit – die Sen- Riesen-TV-Skandal hervorgebracht – etliderchefs meinen, 30-jährige TV-Journalisten che gefälschte Filme des Produzenten würden 30-jährige Zuschauer anlocken. Michael Born liefen dort. SPIEGEL: Wie stark hat die Einführung des Hauser: Dieser Fall, den wir enttarnt Privatfernsehens die Landschaft der poli- hatten, hat für eine Art hygienische tischen Magazine verändert? Säuberung gesorgt. Heute sind alle Kienzle: Von den Privaten ist beschämend vorsichtiger: Die vielen freien Produktiwenig gekommen. Als der Springer-Verlag onsfirmen können mit harter, aufwendibei „Newsmaker“ auf Sat 1 Susan Stahnke ger Recherche nun mal kein Geld verzur Moderatorin machte, hat sich die Sen- dienen. dung als politisches Magazin verabschie- Kienzle: Solche Affären gab es schon vor det. Frau Stahnke ist ein Meinungsmanne- dem Privat-TV. Ich hatte als Nahost-Korquin und keine gestandene Journalistin. respondent der ARD einen Vorgänger, der Hauser: Oder nehmen Sie Jauch: Der hat sich in den siebziger Jahren ein Märchenaus „Stern-TV“ eine Talkshow gemacht, reich aufgebaut hatte. So etwas ging jahrelang in der ARD durch. das ist doch kein Magazin mehr.

DPA

Kienzle: „Monitor“ mit Klaus Kienzle: Es geht um politische Bednarz halte ich beispielsweiAnalysen zu Persönlichkeiten, se für sehr glaubwürdig. Die hadenen wir aus lauter Boshaftigben nicht viel geändert, machen keit jeweils ein Rezept zuordgute Stücke und schlagen zu. nen, etwa zu Lafontaine „SalVon „Report München“ dagetimbocca – Spring in den gen wird man nie erleben, dass Bund“. In dem Werk zeigen wir sie kritisch mit der CSU umgedie Rehabilitation des Knobhen. Und „Panorama“ mit Palauchs, ein bei den Nazis vertricia Schlesinger beweist, dass hasstes jüdisches Gewürz. Die Frauen im politischen Journalis68er haben aus Protest das mus etwas erreichen können. Knoblauchbrot erfunden. Hauser: Es spricht der Macho Hauser: Ich habe geahnt, dass die Kienzle. 68er etwas erreicht haben. Kienzle: Der aufgeklärte Macho, Talk-Masterin Christiansen, Gast*: Wunschsendung von Politikern SPIEGEL: Herr Kienzle, Sie verHauser, das unterscheidet uns. kündeten einst: „Ich habe den SPIEGEL: Ist auch ZDF-Moderatorin May- chern. Worin besteht der Sinn, Fernseh- libanesischen Bürgerkrieg überlebt, ich werde auch Hauser überleben.“ Haben Sie brit Illner – sie hat wochenlang Kienzle Dialoge einfach abzudrucken? bei „Frontal“ ersetzt – ein Erfolgsbei- Hauser: Wir haben uns dagegen ausge- Schäden erlitten? spiel? sprochen, aber der Verlag wollte es so. Ich Kienzle: Ganz ohne Schaden komme ich Hauser: Sie ist eine nette Kollegin. Zu- frage mich auch, wer das kauft, es sind aber aus der Sache nicht raus. nächst hat sie in ihrer neuen Talkshow dennoch viele. Hauser: Es gab Verletzungen. Einmal ist „Berlin Mitte“ zu viel gefragt – im Bestre- Kienzle: Solange die Leute das lieben, ist es Kienzle vor der Sendung mit dem Auto abben, besser als Christiansen zu sein. Ihr in Ordnung. Ich glaube, wir haben einen gehauen. Ich habe ihn mit dem alten Weh„Frontal“-Einsatz hat aber auch gezeigt, bestimmten Stil etabliert. Neulich begrüß- ner-Spruch zurückgelockt: „Wer rausgeht, dass unser Modell mit Kienzles Pensionie- te mich jemand auf der Straße mit den muss auch wieder reinkommen.“ rung definitiv zu Ende ist. Ich musste mit Worten: „Mein Kollege und ich streiten Kienzle: „Frontal“ wird ein einmaliges Exihr ganz anders reden als mit Kienzle, aber uns wie Hauser und Kienzle.“ periment bleiben. Dauerhaft kann eine solsie hat es gut gemacht. SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch „Küchen- che Redaktion schwer funktionieren, weil Kienzle: Die konntest du nicht so anranzen kabinett“ vermengen Sie sogar Kochen mit zu unterschiedliche Meinungen aufeinander prallen. Ehrlich gesagt: Wir sind erfolgPolitik. wie mich. reich gescheitert. SPIEGEL: Parallel zur TV-Karriere haben Sie Ihr Rezept vermarktet, etwa in Bü- * Mit Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine am 10. Oktober. Interview: Oliver Gehrs, Hans-Jürgen Jakobs

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DALLAS MORNING NEWS

Medien

Schauspieler Habeeb, Anwalt Goldstein: „Wir erheben den Zuschauer zum Allwissenden“ R E A L I T Y- T V

Eifersucht als Entertainment Neues TV-Spektakel aus Amerika: Ein Scheidungsanwalt jagt Ehebrecher, mit Detektiven und versteckter Kamera. Die turbulenten Turtelszenen sollen Millionen begeistern.

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vor allem eines aufzeichnen wird: eine mächtige Tirade von Schimpfworten. Denn mittlerweile ist Marks Ehefrau herangestürmt, Mutter von vier gemeinsamen Kindern. Sie reißt die Wagentür auf und beginnt mit ihrer Abrechnung: „Sechs Jahre lang habe ich dir Hurensohn meinen Arsch hingehalten, jede Nacht“, brüllt sie in das Wageninnere, „und nun treibst du es mit dieser Schlampe.“ Solche Szenen sind eine „wunderbare Erfahrung“, findet der texanische Anwalt Bobby Goldstein, dessen Mannschaft die nächtliche Begegnung aufgezeichnet hat:

FOTOS: B. GOLDSTEIN

s ist Nacht über dem einsamen Parkplatz am Rand der texanischen Großstadt Dallas. Mark und seine neue Freundin haben es sich auf der Vorderbank ihres Chrysler-Kombis gemütlich gemacht, sie haben erkennbar Spaß. So viel, dass der Wagen mächtig ins Schaukeln gerät. Plötzlich ist es vorbei mit dem Vergnügen. Scheinwerfer leuchten auf, schwarz gekleidete Männer springen heran. Auf den Schultern tragen sie Kameras, mit ihren Linsen zoomen sie durch die Scheiben. Einer stopft ein Mikrofon durchs halb geöffnete Fenster, das in den nächsten Minuten

„echtes menschliches Drama“ voller roher Gefühle. Wenn alles planmäßig weitergeht, will er das Stück von Mark und seinen Frauen demnächst auf die Bildschirme von ein paar Millionen amerikanischen Haushalten abstrahlen. Das nächtliche Techtelmechtel und ähnliche Darbietungen sollen eine neue Fernsehserie füllen: „Cheaters“, ein Detektiv-Magazin über Ehebruch, heimliche Flirts und verbotenen Sex. Die Sendung ist die neueste Kreation im Land des unbegrenzten Fernsehvoyeurismus, in dem es eigentlich alles schon zu geben schien: kaum ein Eheproblem, das nicht seine eigene Talkshow hatte, kaum ein Schluchzer, der nicht von einer Nachrichtenkamera aufgezeichnet wurde. Nun sollen auch noch die letzten Grenzen des Privaten fallen: Goldstein, 42 Jahre alt, will den Ehebruch zum Entertainment machen. Wie sehr solche Szenen die Zuschauer zu fesseln vermögen, zeigt das Beispiel des Schauspielers Hugh Grant, der weltweit für Schlagzeiten sorgte, als er mit der Prostituierten Divine Brown in Los Angeles erwischt und verhaftet wurde. Dem Advokaten Goldstein dämmerte es vor einigen Jahren während eines Seitensprungs. Er habe panische Angst bekommen, so erzählt er, dass seine Frau plötzlich zur Tür hereinstürme. Nun redet der bullige Texaner davon, wie es ist, selbst ein Jäger zu sein, „wie ein wildes Tier, das eine Herde Gazellen treibt“. Dazu hat sich der Mann, der seine Erfahrung in zwischenmenschlichen Beziehungen als Scheidungsanwalt sammelte, eine schräge Mixtur aus Spielfilm und Realität erdacht. Die Requisiten dafür könnten aus einem schlechten Krimi stammen. Der Rächer der Gehörnten ist Detektiv Tommy Gunn, gespielt von Goldsteins Partner, dem Schauspieler Tommy Habeeb. Gunn raucht Marlboro, trinkt Jack Daniels und prescht mit einem schwarzen Ford

„Detektiv“ Gunn interviewt betrogene Ehefrau

Der Ehemann trifft sich mit seiner Geliebten

„Cheaters“-Demonstrationsband: „Wie ein wildes Tier, das eine Herde Gazellen treibt“

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Die betrogene Ehefrau konfrontiert ihren Mann

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REUTERS

Mustang unermüdlich durch das quadraSchon vor der ersten Ausstrahlung ist in tische Straßengeflecht von Dallas. Sein Ar- US-Talkshows eine heftige Debatte um das beitstag beginnt immer dann, wenn die neue Format entbrannt. Während Goldanderen ins Bett gehen: Dann jagt er die stein sich als Künstler versteht, ein Maler, Herzensbrecher dieser Welt. „der mit den Farben des Lebens malt“, Gunn ist eine Fiktion, seine Aufträge halten ihn andere für einen Alptraum der sind real. Jeder, der sich von einem Partner späten neunziger Jahre. „Dies ist die niedhintergangen fühlt, kann in der Cheaters- rigste Form von Fernsehen, die jemals in Zentrale anrufen. Ein Team von richtigen diesem Land produziert wurde“, entrüstet Detektiven übernimmt den Fall, oft sind es sich eine Briefschreiberin im Internet. Ex-Polizisten. Sie spüren den Ehebrechern Amerikanische TV-Manager zögern nach und nutzen dafür, was der Markt an noch. Seit sie von empörten Eltern zu Überwachungstechnik Mitverantwortlichen für zu bieten hat: getarnte Schießereien an SchuKameras, Infrarotfilme, len erklärt werden, versteckte Mikrofone. sind sie vorsichtiger geWenn alles aufgeworden. zeichnet ist, kommt es Erst im Frühjahr hatte zum „Bust“, dem Höheein Gericht die Veranpunkt des Dramas: Der stalter der „Jenny Jones betrogene Partner stellt Show“, berüchtigt für den Sünder, in flagranti unvorbereitete Begegund vor laufenden Kanungen vor laufender meras. Den Rest erledigt Kamera, zu 25 Millionen Goldstein am SchneideDollar Schadensersatz tisch: Szenen einer Affäverurteilt. Ein 26-jährire, aufbereitet wie ein ger Talkgast hatte drei Spielfilm, Pausen für die Tage nach der Sendung Werbung inklusive. einen Schwulen er„Reality-TV wie nie schossen, der ihm im Studio seine Liebe gezuvor“ verspricht Goldstanden hatte. Der Prostein seinem zukünftigen duzent hat gegen das Publikum. Damit nie- Schauspieler Grant* Urteil Berufung eingemand auf den Gedanken Weltweit für Schlagzeilen gesorgt legt. kommt, es ginge ihm Unklar ist auch, wie die Gerichte einen möglicherweise nur ums Geldverdienen, hat er sich eine feine Philosophie zurecht- anderen Punkt behandeln würden: Goldgelegt: „Wir erheben den Zuschauer zum stein versucht von allen Beteiligten die GeAllwissenden“, sagt er: „Er schaut den nehmigung dafür zu bekommen, die AffäMenschen zu, wie es nur Gott sonst kann.“ re auszustrahlen. Wenn sie mit der UnterWas Gott sich auf dieser Welt so ansehen schrift zögern, muss Goldstein den Ehemuss, hat Goldstein schon im Archiv. Über brechern das Einverständnis schon mal ab20 turtelnden Paaren sind seine Leute kaufen – „je besser die Szene, je höher die nachgestiegen, wo immer die sich unbeob- Summe“, sagt er. Besonders hervorgetan haben sich die achtet wähnten: in schummrigen Bars oder am Flussufer, im Gebüsch oder auf der Pioniere des neuen Formats im Entertainment bisher noch nicht. Habeeb schlug sich Rückbank eines Autos. Sie filmten, wie die blonde Elaina ihren mit Nebenrollen in unbedeutenden FernFreund Hampton mit einem jungen sehserien durchs Leben, Goldstein als AdMädchen betrügt. Sie folgten dem ver- vokat, der gelegentlich Schlagzeilen in eizweifelten Dustin, der vor seiner Verlo- gener Sache produzierte: Im letzten Jahr bung feststellen musste, dass sich seine verurteilte ihn ein Richter zu 100 Millionen Freundin mit seinem Bruder vergnügte. Sie Dollar Schadensersatz, eine der höchsten drehten, wie ein schwuler Partner seinen Summen, die jemals in einer unteren InFreund mit anderen Männern hinterging. stanz festgesetzt wurden. Der Anwalt soll Sie filmten Tränen, Verwünschungen und laut Urteil seine Pflichten in einem Scheidungsverfahren vernachlässigt haben. manchmal auch eine Prügelei. Wann Goldstein mit seinen Szenen aus Goldstein hat sich anschließend mit der dem Leben auf Sendung gehen kann, ist al- Gegenseite auf eine weitaus geringere lerdings noch nicht ganz klar. Der Texaner Summe verglichen. Doch Goldstein gehört zu jenen Menverspricht einen baldigen Start im amerikanischen TV, auch deutsche Fernsehma- schen, die mehr auf der Erde zurücklassen nager seien interessiert. In seinem Studio, wollen als einen Stapel Akten. „Ich bin ein einem abgeräumten Kino in einem herun- Höhlenmensch“, sagt der Affärenjäger, „ich tergekommenen Industriegebiet von Dal- kritzle auf die Wände, was sich hier so ablas, sieht es allerdings noch aus wie in ei- spielt.Wenn sich Historiker in tausend Jahren unsere Bänder ansehen, werden sie sanem Möbellager. gen: Seht, wie die damals miteinander umgingen.“ Mathias Müller von Blumencron * Nach seiner Festnahme im Juni 1995. 150

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FOTOS: WDR

Medien

„Hin und weg“-Darsteller Schüttler, Brühl: Kinder haften für ihre Eltern FERNSEHSPIEL

Pfeile ins wilde Herz „Hin und weg“ – ein präzise inszenierter ARD-Fernsehfilm beschreibt die Liebe zwischen ausgestoßenen Jugendlichen.

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üßer Vogel Jugend – wie schön das klingt, wie unverdrossen er in der Werbung aufflattert, wie gern ihn die Alten durch die Erinnerung fliegen lassen. Doch die holde Jugendzeit, wo Jünglinge errötend auf den Fluren den Spuren der Mädchen hinterhersteigen, war wohl schon immer kaum mehr als eine Projektion. Viele der süßen jungen Vögel von heute jedenfalls haben lädierte Flügel, sind früh aus dem Nest gefallen, und das Verbotsschild vor Baustellen erleben sie umgekehrt: Kinder haften für ihre Eltern. Natascha und David, die Helden des WDR-Films „Hin und weg“ – an diesem Mittwoch 20. 15 Uhr Höhepunkt der ARDReihe „Wilde Herzen“ – , sind solche gerupften Geschöpfe. Das Mädchen kommt aus einer tristen Vorstadtgegend, der Junge wohnt immerhin in einer Villa, aber die Eltern haben jedem der beiden jungen Menschen schwere Lasten auf die Schultern gelegt: Nataschas Mutter und Davids Vater sitzen im Knast. Beim Besuch im Gefängnis lernen sich das Mädchen und der Junge kennen, aber nach Amour fou und rauschendem SichVerlieben sehen die Begegnungen nicht aus. Beide müssen Hypotheken, die ihre El154

„Hin und weg“-Szene

Liebe gegen List

tern hinterlassen haben, bezahlen: Natascha versorgt, so gut es geht, den kleinen Bruder und muss ihm vorspielen, die Mutter sei verreist. Der Junge aus der Villengegend sieht sich gezwungen, die krummen Geschäfte seines Erzeugers fortzuführen: Eine kostbare Figur, den von Pfeilen durchbohrten heiligen Sebastian, soll David in Amsterdam verkaufen, um mit dem Erlös einen gefährlichen, vom Vater einst betrogenen Gangster zufrieden zu stellen. Mit Sinn für dramatische Verwicklungen schürzt das Drehbuch (Franz Liersch) die Knoten zum Liebesabenteuer dieser Habenichts-Königskinder. Die Chancen, dass sich beide finden, sind gering. Das Wasser erscheint viel zu tief, als sich Natascha und David zur Reise nach Amsterdam aufmachen, um den Heiligen zu Geld zu machen. Denn da sind nicht nur jede Menge Dunkelmänner, die den beiden den Weg zum Geld versperren – ein Glück, dass Natad e r

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scha in japanischer Kampfsporttechnik geübt ist. Belastender wirkt sich der innere Schweinehund aus. Das Mädchen will falsch spielen. Es möchte mit Hilfe seines Freundes Body, einem vierschrötigen Nichtsnutz aus dem Wohnsilo, das Geld an sich bringen, um die ebenso durchgeknallte wie betrügerische Mutter aus dem Gefängnis auszulösen. Die betrogene Tochter, eine Geisel des Generationsgefüges, fühlt sich gezwungen, selbst zur Betrügerin zu werden. Was sich nun zwischen dem nichts ahnenden Romeo und seiner unoffenen Julia entwickelt, hebt diesen Film über andere hinaus. Mit psychologischer Genauigkeit inszeniert Hanno Brühl die Brüche in den Gefühlen des Mädchens, wenn die Liebe die List überlistet, und umgekehrt, wenn das Kalkül das Herz besiegt. Mit Katharina Schüttler, 20, steht dem Regisseur für diese Gratwanderung eine Jungdarstellerin zur Verfügung. Sie versteht es, ohne die Panzerungen mimischer Routine selbst aus den vertracktesten emotionalen Zwickmühlen herauszukommen. Glaube, Hoffnung, Liebe haben es nicht leicht auf ihren fast kahl wirkenden Gesichtszügen. Ihr minimalistisches Minenspiel spiegelt die Herbheit eines zu kurz gekommenen Kindes wieder, dessen Enttäuschung, aber auch dessen Stolz. Das Drehbuch schafft auch Romeo, der vom 21-jährigen Sohn des Regisseurs, Daniel Brühl, gespielt wird, immer wieder gute Gelegenheiten, die Dialektik von Selbstbewusstsein und Kindlichkeit, Anhänglichkeit und Verletztheit vorzuführen. Auch wenn am Ende die Liebe siegt: Diese Kinder sind sehr einsam. Die Eltern haben ihnen nicht geholfen, und den höheren Mächten traut das Liebespaar auch nicht recht über den Weg. Zwar lässt sich David am Ende für seine betrugsanfällige Natascha, dem heiligen Sebastian gleich, von Gangsterbuben quälen, aber das bei RTL so beliebte und platt beschworene Walten religiösen Bimbams im Hintergrund gibt es in diesem Film glücklicherweise nicht. Angesichts der Heiligenfigur bekennt Natascha, dass sie nur „an Kohle glaubt“. Für die würde sie auch sterben, aber dann fällt sie sich selbst ins Wort: „Scheiße, dann hätt ich ja nichts davon.“ So nüchtern, so treffend und nicht unkomisch kann es zugehen im deutschen TV-Movie, selbst im Gespräch über die letzten Dinge. „Hin und weg“ ist ein Beispiel, dass das Gute oft so nah liegt. Brühl ist fest angestellter Regisseur beim WDR, der Sender produzierte selbst. Die Sebastianspfeile treffen mitten ins Wilde Herz. Die Zeiten der künstlichen Schrittmacherei, mit der in dieser ARD-Reihe möglichst alles im Rhythmus der neuen deutschen Komödie schlagen sollte, scheinen vorbei: Der Zuschauer ist dankbar. Nikolaus von Festenberg

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Gesellschaft

Szene FOTOGRAFIE

Mit den Füßen träumen er argentinische Tango vereint selbst extreme Empfindungen scheinbar mühelos: Er bietet den Tanzenden ein Spektrum von heiterster Ausgelassenheit bis zur tiefsten Trauer, von zur Schau gestellter Frivolität bis zu erlittener Tragik, und der Zuschauer versucht, in dieses Wechselbad intensiver Gefühle einzutauchen. Um seine Entstehung im 19. Jahrhundert ranken sich Mythen, und seine Lieder sind dem Schriftsteller Jorge Luis Borges zufolge eine „weit gespannte Comédie humaine

CORBIS SYGMA

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Model Crawford ÄSTHETIK

Die Schöne beschützen

Tangotänzer

des Lebens von Buenos Aires“. Die Fotografen Tina Deininger, 46, und Gerhard Jaugstetter, 43, zeigen in einem Fotoband („Tango – Leidenschaft in Buenos Aires“) eine Typologie der Tangotänzer, vom alten Profi, der die Kunst beherrscht, „mit den Füßen zu träumen“, bis zum lernwilligen Teenager. Die Bilder zeigen den Tango als eine Ausdrucksform, in der sich Sex nicht allein mit Jugend verbindet, sondern mit Lebenserfahrung, mit tanzend erzählten Geschichten.

SPIEGEL: Frau Etcoff, Sie behaupten, unsere Kriterien für Schönheit seien biologische. Weshalb ist das so? Etcoff: Es gibt eine weltweite Übereinstimmung: Schön ist, was auf Jugend, Gesundheit und Fruchtbarkeit hinweist. SPIEGEL: Zum Beispiel? Etcoff: Bei Männern breite Schultern, schmale Hüften. Bei Frauen eine Sanduhr-Figur und sehr feminine Gesichtszüge, also große Augen, eine kleine Nase, ein zierliches Kinn, alles, was den Unterschied zwischen den Geschlechtern betont. Dickes Haar und glatte Haut gelten als schön, sind aber auch Zeichen von Gesundheit. SPIEGEL: Wählen denn Frauen ihre Männer nach Schönheitskriterien? Etcoff: Nicht allein natürlich. Neuen Untersuchungen zufolge variiert das Schönheitsideal von Frauen je nach Zyklus-

DESIGN

Rostige Kannen

B

unt bemalte Emaillevasen aus Ostasien, türkisfarbene Plastikseifenhalter aus Osteuropa oder Klobürsten aus Mexiko: Die Produktpalette, die der Düsseldorfer Lukas Plum, 36, für seinen O.K.-Versand aus aller Welt nach Deutschland schafft, hat nichts gemein mit dem, was Touristen üblicherweise

Artikel des O.K.-Versands

als Andenken aus der Ferne mitbringen. Statt für landestypische Handarbeiten interessiert sich der frühere Kunststud e r

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phase. In den fruchtbaren Tagen bevorzugen Frauen männliche Männer mit Muskeln und breiten Schultern, den Rest der Zeit eher feminine Gesichtszüge. SPIEGEL: Hat Schönheit auch Schattenseiten? Etcoff: Ein schöner Mensch braucht die Bestätigung, dass man ihn nicht allein deswegen liebt. Er weckt Beschützerinstinkte, aber auch Besitzgelüste. Es gibt eine US-Studie, in der Männern Fotos von schönen Frauen gezeigt wurden, mit der Bitte, Fragen, was sie für diese Frau tun würden, spontan zu beantworten. Die Männer zeigten sich sehr hilfsbereit. Die Frage, ob sie der Schönen in einer Notlage Geld geben würden, verneinten sie aber oft. SPIEGEL: Vielleicht einfach aus Geiz? Etcoff: Nein, das beweist, dass die Männer die Unabhängigkeit der schönen Frau nicht wollen. Denn hätte sie diese, käme sie vielleicht nicht mehr zurück. SPIEGEL: Wen finden Sie schön? Cindy Crawford? Etcoff: Ich favorisiere eher Menschen, die ich kenne. Aber die Models sind schon hübsch anzusehen. J. BAUER

US-Psychologin Nancy Etcoff, 44, Autorin des Buches „Survival of the Prettiest“ (Das Überleben der Schönsten) über ihre Thesen zum Thema Evolution und gutes Aussehen

dent für industriell gefertigte Alltagsgegenstände, laut Plum „Design ohne Designer“. Nach dem Boom des qualitativ Hochwertigen erwartet er jetzt eine Konsumphase, in der sich die Leute an skurriler bis abstruser Gestaltung erfreuen. So wird auch im Katalog des Versands eingeräumt, dass die Blechkannen aus Südasien innen etwas angerostet sind und dass die Installation der aus Osteuropa stammenden Elektroartikel auf eigenes Risiko erfolgt. 167

Gesellschaft

DROGEN

„Uns hassen doch alle“ Sie wollen ihren Anteil am Kuchen der Wohlstandsgesellschaft: schwarze Jugendliche, die nicht arbeiten dürfen und deren Abschiebung bevorsteht. Mit Rauschgifthandel ziehen die Afrikaner Wut und Ablehnung auf sich. Von Bruno Schrep

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FOTOS: R. JANKE / ARGUS

Mit den 400 Dollar finanziert er seine s gibt Menschen, deren bloßer An- waffnete Männer packten ihn und seinen Flucht. Wie er bis nach Deutschland geblick die Bewohner des Hamburger älteren Bruder, schleppten be ide mit. Sammy stammt wie viele der schwarzen langt ist, verrät er nicht, denn das könnte im Schanzenviertels in Raserei versetzt. „Raus mit ihnen“, fordert der griechi- Drogenhändler aus Sierra Leone. Dort tob- Asylverfahren gegen ihn verwendet wersche Weinhändler. „In der Sahara ausset- te bis vor kurzem ein Bürgerkrieg zwi- den. Mit dem Flugzeug? Per Schiff? Über zen“, ergänzt ein altehrwürdiger Hambur- schen Regierung und Rebellen, dessen die Grenze eines Nachbarstaats wie Polen? ger Ladenbesitzer. „Mit der Kalaschnikow Fronten längst nicht mehr erkennbar wa- „Es war ein langer Weg“, sagt Sammy. draufhalten“, phantasiert der türkische Friseur. „Auschwitz wieder eröffnen“, empfiehlt der graubärtige Gast in der deutschen Eckkneipe. Der Hass richtet sich gegen junge Männer. Manche sind 17, 18 oder 19 Jahre alt, einige noch keine 16, beinahe Kinder. Sie kommen aus Afrika. Sie haben Asyl beantragt. Sie verkaufen Rauschgift. Sie dealen in aller Öffentlichkeit mit Kokain, mit Haschisch und Marihuana. Jeder kann zusehen – in Hamburg und in anderen deutschen Großstädten. „Ameisen“ heißen sie in der Drogenszene oder auch „Frontschweine“. Die Weißen im Viertel sagen: „Koks-Neger“. Sie sind die Letzten beim Milliardengeschäft mit illegalen Drogen: Sie verteilen kleinste Mengen an die Süchtigen. Sammy gehört zu den Älteren, ist fast 20. Schon um zehn Uhr an Asylbewerber Tom: „Ich weiß, dass Drogenhandel Sünde ist“ diesem Montagmorgen geht er Kurz nach elf Uhr kommt der erste vor dem Eingang des S-Bahnhofs Stern- ren. Beim Kampf um die Macht in der schanze auf und ab. Obwohl die Sonne Hauptstadt Freetown und um die Diaman- Süchtige: ein junger Mann auf Krücken, scheint, friert er, hat den Kragen seiner grell- tenminen terrorisierte eine enthemmte Sol- das linke Bein wegen Spritzenabszessen bunten Jacke hochgeschlagen. In seinem dateska die Bewohner mit Folter, Mord bandagiert. Sammy kennt ihn, gibt ihm ein Mund verbirgt er vier in Stanniol ver- und Verstümmelung, über die Hälfte der Zeichen, winkt ihn zu einer unübersichtliBevölkerung wurde obdachlos. chen Stelle, greift blitzschnell in den Mund. schweißte Kügelchen Kokain. Die Männer, die Sammys Eltern töteten Sekunden später humpelt der Süchtige daSammy schaut sich nach Kunden um. Aus der Bahn, die gerade angekommen und ihn rekrutierten, sind Rebellen. Sie ge- von. Gesprochen wird kein Wort. Wenig später stoppt ein großer Merceist, stürmen jedoch nur ein paar eilige ben ihm ein Sturmgewehr, eine AK-47, Passanten. Dahinter schlurft ein Obdach- zwingen den damals 15-Jährigen, mit ihnen des, direkt an der Haltestelle der Buslinie loser, in der einen Hand eine Plastiktüte, zu kämpfen. Bei Überfällen auf entlegene 181. Der Fahrer, das Gesicht hinter einer in der anderen eine geöffnete Flasche Dörfer muss er schießen: auf unbewaffne- Sonnenbrille versteckt, kurbelt die Scheibe herunter, hebt drei Finger, streckt kurz Bier. Als er an Sammy vorbeikommt, te Zivilisten, auf Frauen, auf Kinder. Nach acht Monaten flieht er während die Hand aus dem Wagen. Wieder wird spuckt er aus. Der Afrikaner guckt weg. Hass ist er ge- eines Gefechts mit Regierungssoldaten. kein Wort gesprochen. Gegen Mittag ist plötzlich John da, älter wohnt, wenn seine Geschichte so stimmt – 400 Dollar, die er sich nach und nach zuwas er beteuert: Als er im April 1995 in sammengestohlen hat, versteckt er in ei- als Sammy, ebenfalls aus Sierra Leone. Sein seinem Heimatort von der Schule kam, war nem Schuh. Zu Fuß und per Anhalter Gesicht verrät Nervosität und Misstrauen. sein Elternhaus abgebrannt,Vater und Mut- schlägt er sich bis in den Nachbarstaat Er sieht aus, als hätte er seit Jahren nicht mehr gelacht. In seinem Heimatort hackten ter lagen erschossen in den Trümmern. Be- Guinea durch. 168

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Rauschgiftdeal vor dem Hamburger S-Bahnhof Sternschanze: „Clever wie Bergziegen“

die Rebellen Männern, die ihnen nicht folgen wollten, die Unterarme ab. John sah die Verstümmelten, bei einigen hatten die Rebellen die abgetrennten Gliedmaßen zusammengebunden und ihren Opfern um den Hals gehängt. Seitdem macht sich John keine Illusionen mehr. Dass er in Deutschland gescheitert ist, hat ihn noch mehr verbittert. Er wurde nicht als politisch Verfolgter anerkannt, ebenso wenig wie die meisten aus jenen westafrikanischen Ländern, wo es nach den Standards der deutschen Behörden keine Verfolgung gibt. Der Traum, er könne sich hier zum Automechaniker ausbilden lassen, erwies sich als völlig unrealistisch. Er wird noch geduldet und bekam die befristete Erlaubnis, zwei Stunden täglich für eine Zeitarbeitsfirma Büros zu schrubben.

John hat über ein Dutzend schwarze Männer mit zum S-Bahnhof gebracht, die auf seine Anweisungen hören. Lärmende junge Burschen mit bunten Baseballmützen und Turnschuhen, ausgelassen und angespannt zugleich. Manche schwenken Bierdosen, trinken sich Mut an. Andere rauchen Gras. Sie schwärmen aus in den angrenzenden Park, in die benachbarten Straßen, bilden kleine Gruppen, zischeln Vorübergehenden zu: „Want someting?“ Khaled ist dabei, ein schlaksiger Junge mit giftgrüner Schildkappe, darunter ein Kindergesicht. Er fährt ständig die Rolltreppe zur S-Bahn hoch und runter, führt da ein Verkaufsgespräch, mischt sich dort in Verhandlungen ein, wird geholt, wenn es Verständigungsprobleme gibt.

Kokaindealer Sammy: „Es war ein langer Weg“

Khaled ist erst 15, lebt in einer Jugendwohnung. Bevor er mit Marihuana dealt, geht er zur Schule. Heute hat er gerade eine Deutscharbeit zurückbekommen, Grammatik. Stolz zeigt er die Note, eine Drei minus. Als er von Guinea nach Hamburg kam, war er gerade 13. Die Geschichte, die er auf dem Ausländeramt erzählte, hat dort niemand geglaubt: Seine Eltern seien tot, sein Onkel und einziger Verwandter, ein hoher Militär, sei bei der Regierung in Ungnade gefallen und sitze im Gefängnis. Er selbst habe gerade noch fliehen können. Die Beamten stufen Khaled als eines jener afrikanischen Kinder ein, die von ihren Angehörigen auf gut Glück und ganz allein nach Europa geschickt werden, um dem Elend in der Heimat zu entkommen – Afrikas Misere führt direkt ins Hamburger Schanzenviertel. Die Auswirkungen im Stadtteil sind verheerend. Die Drogenszene ist allgegenwärtig: Treppenhäuser und Zufahrten sind mit gebrauchten Spritzen übersät. Ladenbesitzer finden morgens in ihren Eingängen Junkies, meist in erbärmlichem Zustand. Das Quartier, in dem seit Jahrzehnten Deutsche und Ausländer zusammenleben, bislang geprägt vom Miteinander unterschiedlichster Kulturen, droht zu kippen. Der Reiz, neben dem türkischen Gemüsehändler den asiatischen Imbiss und den alternativen Bäcker zu finden, wiegt Ängste und Empörung nicht mehr auf. Familien mit Kindern ziehen weg. Geschäfte schließen. Für viele Bewohner, die bislang als besonders tolerant gegenüber 169

Gesellschaft

Sekunden absoluten Wohlgefühls

Tom kann gerade noch weglaufen, sich in einen Hauseingang flüchten. Er zittert, ist außer Atem. Drei Kokainkugeln, die er im Mund verborgen hielt, hat er vorsichtshalber verschluckt. Fünf Minuten später steht er wieder auf der Straße. Der 17-Jährige musste schon schlimmere Angst aushalten: damals, auf dem riesigen Containerschiff, das ihn von Liberia nach Hamburg brachte. Tom fuhr als blinder Passagier. Alles, was er besaß, etwas Schmuck und 120 Dollar, gab er einem spanischen Matrosen, der ihn bei Nacht an Bord schmuggelte und in einem winzigen Verschlag nahe dem Maschinenraum ver-

Drogenkiez Schanzenviertel: Familien mit Kindern ziehen weg

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steckte, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Bett. Zwei Wochen lang weiß er da nicht, ob draußen Tag oder Nacht ist. Wenn er Schritte hört, beginnt er zu beten. Der Spanier hat ihn beschworen, nie das Versteck zu verlassen, und ihm für den Fall seiner Entdeckung mit dramatischen Gesten ein schnelles Ende prophezeit: Matrosen würden ihn packen und über Bord werfen – ein Schicksal, das blinden Passagieren aus Afrika schon oft widerfahren ist. In seiner dunklen Kammer stellt sich Tom sein schönes neues Leben vor. In Deutschland, hatten ihm Rückkehrer vorgeschwärmt, gebe es großartige Chancen für gewiefte schwarze Jungs: jede Menge Jobs, tolle Kleidung, sogar Autos. Tom wollte auch zur Schule gehen, denn er kann weder lesen noch schreiben außer den paar Versen, die er während sechs Monaten in der Koranschule gelernt hatte. Dann steht er an einem Aprilmorgen um vier Uhr am Hamburger Hauptbahnhof, ohne Geld, ohne Ausweis, und fragt, wie ihm der Spanier eingeschärft hat, andere Schwarze nach dem Ausländeramt. Toms Träume sind schnell ausgeträumt. Sein Asylantrag wird abgelehnt. Sein befristetes Aufenthaltspapier – Fachjargon: Duldung – läuft in ein paar Wochen ab. Arbeiten darf er nicht, von Gesetzes wegen. Er wüsste auch nicht, was. Selbst Zeitungen auszutragen wird ihm untersagt. Beim Deutschkurs, den er drei Monate besuchen darf, kommt er nicht richtig mit. Er lernt nur ein paar Brocken: „Bleiberecht“, „Platzverweis“, „Scheiße“. Gut verständigen kann er sich nur mit Schwarzen, die wie er die afrikanische Sprache Fula sprechen. Buchstaben bleiben ihm ein Rätsel. Im Asylbewerberheim, weit außerhalb gelegen, hat Tom unendlich viel Zeit. Um sie sinnvoll zu nutzen, fehlen ihm alle Voraussetzungen. Anfangs bleibt er bis mittags wie betäubt im Bett liegen, guckt dann im Fernsehraum stundenlang die Zappelbilder eines Musiksenders. Doch schnell wird er von der Umtriebigkeit der Mitbewohner angesteckt: Jugendliche wie er, die trotz Arbeitsverbots ständig beschäftigt sind, mehrmals täglich zwischen Heim und Innenstadt hin- und herpendeln; die Markenjeans und Goldketten tragen, von Erlebnissen bei Discobesuchen schwärmen und von Treffen mit Mädchen. Und das, obwohl sie wie Tom nur 410 Mark monatlich für Kleidung und Verpflegung bekommen. „Woher habt ihr das Geld?“, will er von einem Zimmernachbarn wissen. „Frag John.“ Von Kokain hat Tom zuvor nie gehört. Er weiß nicht, wie es riecht, er weiß nicht, wie es wirkt, er weiß nicht, wie es hergestellt R. JANKE / ARGUS

Junkie in Hamburg

C. AUGUSTIN

Minderheiten galten, ist schwarz inzwischen ein Synonym für schlecht. „Hier gilt doch längst jeder Afrikaner als Dealer“, glaubt Alhagi C. Der Mann aus Gambia, seit acht Jahren in Deutschland, ist auf die Drogenhändler so wütend, wie es viele der rund 17 000 Afrikaner sind, die in Hamburg leben. „Sie zerstören unseren Ruf und unsere Existenz“, befürchtet Alhagi C. Wenn der 41-Jährige die Jugendlichen beim Tischtennisspielen im Schanzenpark trifft, gibt es Streit. „Ihr kassiert Dreckgeld, Blutgeld“, schimpft er, „stop it.“ Die Jungs lächeln dann nett und spielen weiter. Von Menschen, die sich beruflich mit ihnen befassen müssen, werden die jungen Dealer sehr unterschiedlich beurteilt. „Clever wie Bergziegen“, sagt der Chef vom Rauschgiftdezernat, dessen Beamte ihnen ständig hinterherlaufen. „Arme Schweine“, sagt der Jugendrichter, bei dem die Halbwüchsigen immer wieder als Angeklagte landen. „Opfer verfehlter Flüchtlingspolitik“, sagt die Sozialarbeiterin, deren Organisation seit Jahren ein Zentrum für afrikanische Jugendliche und mehr Geld für Ausbildungsmaßnahmen fordert. „Wer arbeiten darf, hört sofort auf zu dealen“, berichtet ein Heimleiter. Doch sobald die Arbeitserlaubnis abgelaufen sei, „sind die Jungs wieder auf der Szene“. Mittwochnachmittag, 15.20 Uhr: Razzia. Polizeisirenen. Geschrei. Quietschende Reifen. Die schwarzen Männer sind schon Sekunden zuvor in alle Richtungen auseinander gestoben, einer stolpert, schlägt langweg aufs Pflaster. Späher, die an der Hauptstraße standen, hatten über Handy Alarm geschlagen – zu spät. Die Uniformierten kommen diesmal aus mehreren Richtungen zugleich. Zivilbeamte springen hinzu, eben noch getarnt als Bauarbeiter und Handwerker. Zwei Dealer werden festgenommen, mit Handschellen gefesselt, in einen Streifenwagen verfrachtet. „Nazis“, ruft ein Schwarzer hinterher. „Bravo“, tönt es aus einem Fenster.

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Gesellschaft wird. Doch er kapiert sofort, dass ihn dieses Zeug seinen Wünschen näher bringen kann: Er will auch in die Disco und ins Kino, er will auch schicke Klamotten, und er will auch eine goldene Kette um den Hals. John weiß, wie das Geschäft funktioniert: Einer der Ältesten im Asylbewerberheim, der nicht mehr selbst auf der Straße steht, sich hochgedient hat, kauft Kokain in größeren Mengen ein; von Südamerikanern, von Kurden, auch von Deutschen, die gegen Honorar als Drogenkuriere nach Peru oder Kolumbien fliegen. Das Gift wird dann gestreckt, in Kügelchen verpackt und an Mittelsmänner wie John gegeben, der es

Das tägliche Versteckspiel mit der Polizei entspricht ihrer Sehnsucht nach Abenteuer an die Jungs verteilt. Die werden bei ihrem risikoreichen Einsatz nicht reich. Beim ersten Mal bekommt Tom fünf Kugeln. John weist ihn ein: „Verkauf für 20 Mark pro Stück. 6 Mark sind für dich, den Rest gibst du mir.“ Und: „Bleib nie stehen. Halt Blickkontakt zu den anderen. Lauf bei Streit sofort weg.“ Schon am zweiten Tag wird Tom erwischt. Ein Süchtiger, der dafür freikommt, verpfeift ihn. Auf dem Polizeirevier muss sich Tom nackt ausziehen, bleibt fünf Stunden in einer Zelle eingesperrt. Dann lassen ihn die Beamten laufen – und kriegen ihn danach nie mehr. Andere fallen ständig auf. Der ängstliche Barry, der die Kokainkügelchen nicht runterschlucken mag, auch nicht schnell genug laufen kann und sich oft ungeschickt anstellt, ist schon mehr als 20-mal geschnappt worden. Der Jugendrichter verdonnerte ihn zweimal zu gemeinnütziger Arbeit und vor kurzem zu einem Jahr Haft mit Bewährung – bewirkt hat es nichts. Jungs wie Barry wissen, dass sie ohnehin abgeschoben werden, in Deutschland keine Zukunft haben. Sie dürfen nur bleiben, solange in den Heimatländern Bürgerkriege toben. Die Frist wollen viele nutzen. Barry muss sie nutzen. Er denkt ständig daran, dass seine Angehörigen in Afrika auf seine Hilfe hoffen, auf Geld warten, und so dealt er trotz der vielen Festnahmen immer weiter. Er fühlt sich unter Druck, denn die Familie hatte jahrelang gespart, um seine illegale Einreise zu bezahlen. Er bereut längst, dass er den Trip gewagt hat. Manche der Jüngsten können ihre Situation jedoch schlecht einschätzen: Die Ängste und Risiken in der Szene, das tägliche Versteckspiel mit der Polizei entsprechen ihrer Sehnsucht nach Abenteuer und Gefahr. Und das leicht verdiente Geld nährt den gefährlichen Irrtum, künftig mühelos mit Straftaten durchzukommen. Natürlich ist allen klar, dass sie fortwährend Gesetze brechen. Aber nicht alle 172

spüren, dass kaum etwas bei den Bürgern als verwerflicher und moralisch minderwertiger gilt als das Geschäft mit der Sucht. Dazu sind viele zu fremd, zu naiv, zu sehr auf ihren kurzfristigen Vorteil fixiert. John ist es egal. „Uns hassen doch sowieso alle“, glaubt er. „Es spielt keine Rolle, ob wir dealen oder nicht.“ Als er kürzlich ausnahmsweise allein S-Bahn gefahren sei, hätten ihn sofort mehrere Weiße angepöbelt: „Neger raus.“ Beim Besuch eines HSV-Spiels seien er und seine Freunde von betrunkenen Fußballfans verfolgt worden: „Scheiß-Nigger.“ Und als er ein Konzert besuchen wollte, habe ihn der Türsteher herrisch abgewiesen: „Du nicht, Bimbo.“ Johns Landsmann Tom gehört dagegen zu denen, die sich wegen der Dealerei schämen. „Ich weiß, dass Drogenhandel Sünde ist“, sagt der Muslim, der täglich betet, manchmal auch in die Moschee geht. Er hofft, dass Gott ihn nicht so streng bestraft: „Er sieht doch, wie es mir hier geht.“ Wenn Tom das schlechte Gewissen zu sehr plagt, ist er spendabel gegenüber Süchtigen wie Micha. Der kommt am Freitagabend mit fahrigen Bewegungen zum S-Bahnhof Sternschanze, in der Jackentasche eine CD, die er gerade geklaut hat, und sonst gar nichts. Micha hat sich selbst überlebt. Er ist 41, uralt für einen Fixer. Seine Haut ist von einer Hepatitis gelb verfärbt, in seinem Oberkiefer sitzen noch zwei Zähne. Er hat alles ausprobiert: geschluckt, gespritzt, gekifft. Und er hat alles versucht, um von Drogen loszukommen, war oft zum Entzug in der Psychiatrie, hat dutzende Therapien hinter sich. Jetzt bekommt er die Ersatzdroge Methadon gegen die Heroinsucht. Den Kick, die Sekunden absoluten Hochgefühls, sucht er beim Kokain. Tom ist sein Stammdealer. An diesem Freitag hat Micha Glück. Tom will seine CD nicht, weiß, dass er kein Geld hat, schenkt ihm trotzdem eine Kugel – danach geht alles ganz schnell: Micha rennt hinter eine Schallschutzmauer der Deutschen Bahn, mitten in eine Mülllandschaft aus zerborstenen Möbeln, weggeworfenen Autoreifen und leeren Bierdosen. Mit seinem Feuerzeug brennt er die verschweißte Folie des Kügelchens weg, löst das weiße Pulver mit Wasser auf, zieht die Flüssigkeit auf eine Spritze. Während oben ein Zug vorbeifährt, zieht er die Hosen runter, spritzt sich in den linken Oberschenkel. In die total zerstochenen Arme würde kein Schuss mehr passen. Solche Szenen, im Schanzenviertel täglich zu beobachten, schüren den Hass.Auch Junkies wie Micha suchen die Schuld für ihr Elend gern bei den Dealern: „Manchmal denke ich, ohne diese verdammten Nigger wäre ich längst weg davon.“ Doch eigentlich sei das ja auch wieder Quatsch: „Als ich vor 21 Jahren angefangen habe, gab’s keine schwarzen Dealer.“ ™ d e r

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FOTOS: THOMAS & THOMAS

Gesellschaft

Schlagerstar Lindner, Adoptivsohn, Lebensgefährte Link: „Nie die Fahne geschwenkt“ S H OW BU S I N E S S

„An den Pranger gestellt“ Der Münchner Sänger Patrick Lindner über seinen Kollegen Rex Gildo, sein Outing als Homosexueller und sein Leben als Familienvater SPIEGEL: Herr Lindner, Ihr Kollege Rex Gildo behauptete zeit seines Lebens, kein Toupet zu tragen und weder Alkoholiker noch homosexuell zu sein. Muss man im Schlagergeschäft sein Publikum belügen, um Erfolg zu haben? Lindner: Das muss jeder für sich entscheiden. Viele haben vom Rex einiges gewusst, aber man hat halt – auch unter Kollegen – nie drüber gesprochen. Ich glaube, es war bei ihm ein Generationenproblem. Merkwürdig ist doch, dass jetzt nach seinem Tod diese Fragen gestellt werden, man hätte ihn selber fragen sollen. SPIEGEL: Haben Sie es denn getan? Lindner: Nein. Der Rex war ein lieber, netter, unheimlich lustiger Kollege. Über sein Privatleben hat er nie gesprochen. Es gab Situationen, in denen man auf private Themen gekommen ist, aber wenn man merkte, dass der andere sich verschließt, lässt man das Thema eben fallen. SPIEGEL: Haben Sie Angst davor, so wie der alternde Gildo in Baumärkten vor einem johlenden Publikum auftreten zu müssen? Lindner: In Märkten zu singen ist nicht verwerflich, das mache ich auch. Ich möchte aber im Alter nicht noch auftreten müssen, um mein Brot zu verdienen. Ich hoffe

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nur, dass ich es selber merken werde, ob es wirklich noch sein muss, mit alten Hits rumzuziehen. Aber beim Rex waren es sicher nicht finanzielle Probleme. Vielleicht konnte er nicht aufhören. Er hatte ja jahrelang einen Riesenerfolg. SPIEGEL: Haben Sie denn hinter der Fassade von Fröhlichkeit das Unglück gespürt?

Schlagerstar Gildo (1984)

„Unheimlich lustiger Kollege“ d e r

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Lindner: Wir alle, die mit ihm gearbeitet haben, merkten manchmal, dass es ihm nicht gut geht. Aber er hat niemanden an sich herangelassen, auch wenn ihm andere helfen wollten. SPIEGEL: Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert, nachdem Sie den russischen Jungen Daniel adoptiert haben und es die Runde machte, dass Sie mit Ihrem Manager zusammenleben? Lindner: Rex fand die Adoption ganz phantastisch. Das hat aber an unserem distanzierten Verhältnis nichts geändert. Im Übrigen: Der Rex war ja verheiratet. Er hätte sich in dieser Situation und in seinem Alter sicher schwerer getan als ich, mit seinem Leben an die Öffentlichkeit zu gehen. SPIEGEL: Haben Sie jemals daran gedacht, für die Fans zu heiraten? Lindner: Nein, nie. SPIEGEL: Aber früher haben Sie regelmäßig behauptet, „die Richtige noch nicht gefunden“ zu haben. Ein Ablenkungsmanöver? Lindner: Das sind so Geschichten der Yellow Press. Wenn man sich als Star bei den Zeitungen beschwert, solche Sachen nicht gesagt zu haben, kommt von den Journalisten immer der Satz: „Die Leute lesen’s halt gerne.“ Man kann nichts dagegen machen. SPIEGEL: Außer vielleicht, die Wahrheit zu sagen. Fühlen Sie sich nach Ihrem nicht ganz freiwilligen Selbst-Outing besser? Lindner: Ich fühl mich nicht besser. Ich hab mir auch schon vorher nichts vorgemacht. Mein Freund Michael Link und ich haben zwar nie die Fahne der Bewegung geschwenkt, das ist wahr. Allerdings hat das Publikum viel selbstverständlicher reagiert, als ich es zu hoffen gewagt hätte. SPIEGEL: Haben Sie Ihr Coming-out als Zwei-Stufen-Strategie geplant? Erst die Adoption öffentlich machen und dann die Beziehung? Lindner: Ich wollte mit dem Kind ganz frei mein Haus in Grünwald verlassen können, ohne dass Horden von Fotografen davor lauern. Also habe ich damals mit der „Bunten“ eine Geschichte gemacht, in der schon Andeutungen über mein Privatleben standen, die sich jeder selber auslegen konnte. Das Outing fand dann sehr diskret in einem langen schönen Interview in der „Amica“ statt. Und dann kam im April die „Bild“ mit einer riesigen Überschrift … SPIEGEL: … „Patrick Lindner: Warum ich mich jetzt zu meinem Schwulsein bekenne“. Lindner: Genau. So etwas würde ich selber nie sagen, weil es nicht meine Art ist. SPIEGEL: Und wenn Rosa von Praunheim damals nicht nur Alfred Biolek und Hape Kerkeling, sondern auch Sie geoutet hätte? Lindner: Es gab damals schon Andeutungen, aber niemand hat die Sache verfolgt. Heute tue ich mich natürlich leichter. Aber trotzdem fühlt man sich ausgezogen und an den Pranger gestellt mit einem Schild um den Hals. SPIEGEL: Ist Ihnen das Bekenntnis deshalb so schwer gefallen, weil Sie, erst in der

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ACTION PRESS

Gesellschaft

ZDF-Schlagerparade (1997)*: „Als volkstümlicher Sänger in der unteren Schublade“

* Vordere Reihe: Rex Gildo, Gaby Baginsky, Jürgen Drews, Cindy & Bert, Costa Cordalis.

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tung entwickelt. Die Grenzen sind ja auch fließend. Es gibt doch Volksmusik, die kommt ganz ohne Dialekt aus. Und man muss sich fragen, was daran volkstümlich sein soll. Vielleicht nur die Tatsache, dass der Interpret einen Trachtenjanker anhat. Als volkstümlicher Schlagersänger bist du im Ansehen in einer unteren Schublade. SPIEGEL: Haben Sie deshalb zum Entsetzen Ihrer Fans bekannt, Sie wollten nicht mehr mit klatschenden pfälzischen Hausfrauen auf der Bühne stehen? Lindner: Das war ein Missverständnis. Meine Fans dachten, ich wollte alle Hausfrauen dieser Welt beleidigen, ich meinte aber tatsächlich eine Volksmusik-Gruppe mit dem Namen „Pfälzer Hausfrauen“. Ich stand an einem Punkt meiner Karriere, wo ich nicht mehr unbedingt in eine Hitparade oder einen Wettbewerb gehen musste. SPIEGEL: Was ist so schlimm daran? Lindner: Schauen Sie: Ich hatte schon meine eigene Show, in der ich internationale Stars wie die Milva präsentierte, da wollte ich nicht mehr in der „Hitparade der Volksmusik“ auftreten. Das passte einfach nicht mehr zusammen. SPIEGEL: Und deshalb sind Sie zur ARD gewechselt? Lindner: Ich war sieben Jahre lang exklusiv beim ZDF und habe vier Unterhaltungschefs überlebt, da wird man zum Pingpongball. Und bei der ARD moderiere ich zuerst am Muttertag eine Gala fürs Müttergenesungswerk. Diese Aufgabe beweist mir, dass ich mit meiner Ehrlichkeit letztlich sehr viel weiter gekommen bin. FOTEX

Volksmusik und dann im Schlager, dem Publikum nicht nur Musik, sondern auch ein ganzes Heile-Welt-Paket anbieten? Lindner: Mag sein. Ich bin ein konservativer Mensch, habe ein Haus gebaut, lebe in einer geregelten, harmonischen Beziehung, und manchmal denke ich, dass es bei uns geordneter zugeht als in manchen bürgerlichen Ehen. Ich bin stolz, wenn der Daniel durchs Haus läuft und „Papi“ schreit. SPIEGEL: Wie geht denn die Gay Community mit einem solchen Musterpaar um? Lindner: Jedenfalls bin ich nicht zu deren Ikone geworden. Ich gelte ja als der Nette, der Brave und der Korrekte, bei dem man es nie vermutet hätte. Und offenbar habe ich auch anderen Männern Mut gemacht, sich zu ihrem wahren Leben zu bekennen. SPIEGEL: Befürchten Sie, dass Daniel Ihnen eines Tages vorwirft, zwei Väter und keine Mutter gehabt zu haben? Lindner: Kann sein, dass er sagt: Was hast du mir angetan; aber es ist doch wichtiger, dass er in einer Umgebung voller Liebe aufwächst. Seine Mutter hat ihn in St. Petersburg gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Und was man über diese Frau in den Akten lesen kann, ist ziemlich schrecklich. Da herrschte materielles und menschliches Elend. SPIEGEL: Hängt Ihr Wechsel von der Volksmusik zum Schlager mit Ihrem Privatleben zusammen? Lindner: Überhaupt nicht. Ich habe mich halt in diese Rich-

Sänger Lindner (1997) d e r

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Interview: Joachim Kronsbein

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Gesellschaft KREDITE

Piepen für den Puff Immer mehr klamme Deutsche versetzen ihr Auto. Spezialisierten Pfandleihern bescheren vor allem Handwerker zweistellige Zuwachsraten.

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J.-P. BÖNING / ZENIT

s war eine typisch bürgerliche Klientel, die den Berliner Auto-Pfandleiher Achim Schadow aufsuchte: Nach und nach erschienen vor seinem Schreibtisch ein gut gekleideter Rentner, eine redselige Senatsbeamtin, ein junger Hauptstadt-Polizist und ein stadtbekannter Tischlermeister. Die drei Herren und die Dame kamen mit ihren Autos und wollten schnell Geld. Der Pfandleiher taxierte den Zeitwert der

Schadows Kunden hatten zwei Gemeinsamkeiten. Sie brauchten dringend Bargeld – und sie steckten so tief in den Miesen, dass sie ihrer Bank keinen Pfifferling mehr wert waren. Der rüstige Rentner, mutmaßt der Geldverleiher, „braucht die Piepen für die Spielbank oder für den Puff“. Anders als bei Banken und Sparkassen bleiben den Kunden der Pfandleiher aber peinliche Fragen nach den persönlichen Lebensverhältnissen und dem Verwendungszweck des Kredites erspart. Jedes Jahr versetzen tausende klamme Bundesbürger ihr Auto für ein bis drei Monate, und es werden immer mehr. Während die knapp 300 deutschen Pfandhäuser hauptsächlich Schmuck und Uhren beleihen und mit mageren Zuwachsraten um drei Prozent leben müssen, verbuchen die rund zwei Dutzend Auto-Pfandleihen Umsatzsteigerungen um zehn Prozent. „Die Leute haben eben eher ein Auto als wertvolle Uhren oder Schmuck“, erklärt Schadow den Boom der Branche. Wer so abgebrannt ist, dass er nur noch beim Pfandleiher kreditwürdig ist, zahlt –

Auto-Pfandleiher Schadow: Peinliche Fragen bleiben den Kunden erspart

Gefährte und gewährte, branchenüblich, die Hälfte als Kredit. Er stellte einen Barscheck aus, und ein paar Minuten, nachdem die Kunden vorstellig geworden waren, lösten sie den Scheck in einer nahen Bank ein und machten sich von dannen. Schadow, der zu den Seriösen der Branche zählt, behielt die Autos samt Fahrzeugbriefen als Pfand. Der Rentner ließ seinen Ford Fiesta da und nahm 4000 Mark mit, der Ford Sierra der Senatsbeamtin brachte 1000 Mark. Der Polizist bekam 10 000 Mark für seinen BMW, der Handwerksmeister 20 000 Mark für seinen Mercedes SL. 180

selbst im Vergleich zu den teuren Überziehungszinsen beim Dispositionskredit der Banken – kräftig drauf. Üblich sind pro Monat ein Prozent Zinsen auf die Leihsumme. Richtig Geld verdienen die Auto-Pfandleiher allerdings mit satten Nebengebühren, die als „Kostenvergütung“ und als „Standgeld“ auf den Zins geschlagen werden. So stellen manche Kreditgeber monatlich bis zu fünf Prozent in Rechnung; für das Abstellen des Fahrzeuges kommen bei den meisten rund 200 Mark hinzu. Wer seinen VW Golf auch nur vier Wochen lang mit 10 000 Mark beleiht, muss d e r

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bei einigen Kredithaien der Branche insgesamt bis zu 800 Mark zahlen – ein effektiver Jahreszins also von 96 Prozent. Für Klaus Germann, Geschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Pfandkreditgewerbes, ist die Grenze des Zumutbaren klar.Wer fünf oder mehr Prozent Kostenvergütung verlange, sei „unseriös und schadet der ganzen Branche“. Acht von zehn Kunden lösen nach der Erfahrung von Thomas Stäbler vom Stuttgarter Kraftfahrzeug-Pfandhaus Haugstetter & Stäbler ihr Fahrzeug innerhalb von drei Monaten aus; wenn nicht, darf das Pfand versteigert werden. Zumeist aber sind die Pfandleiher kulant, verlängern die Frist um einen oder sogar mehrere Monate – und kassieren ordentlich weiter. Das Gros der Kunden sind längst nicht mehr verkrachte Existenzen, stattdessen versetzen immer mehr Selbständige ihre Fahrzeuge – oft weil sie wegen der Zahlungsmoral ihrer Kunden klamm sind und kein Geld mehr für Materialeinkäufe oder gar die Löhne ihrer Mitarbeiter haben. So π belieh ein Berliner Maurermeister seinen Jeep und drei Wochen später einen Mercedes der E-Klasse, um seine Handwerker bezahlen zu können; π löste ein Dachdeckermeister bei der Auto-Pfandleihe Arclas im rheinischen Willich Anfang Juli seinen Mercedes SL aus, den er wegen Liquiditätsschwierigkeiten mit 50 000 Mark belastet hatte; π ließ sich der Inhaber eines Baugeschäftes beim Auto-Pfandhaus Hannover 3000 Mark auf einen Mini-Bagger auszahlen, um über die Runden zu kommen; π nahm ein Schreinermeister beim AutoPfandhaus Römer im rheinischen Frechen 20 000 Mark auf seinen Opel Sintra auf. Ein Kunde hatte sich für 18 000 Mark einen Zaun bauen lassen und die Rechnung nicht bezahlt. Mitunter, glaubt Bernd Sakreida von der Auto-Pfandleihe Doma im niederbayerischen Plattling, seien die Motive der Gewerbetreibenden jedoch auch nicht ganz koscher. Manchmal werde der Pfandkredit etwa „für Wareneinkäufe genutzt, die wegen Schwarzarbeit nicht über die Bücher laufen sollen“. Nicht selten versuchen Kunden, die Pfandleiher zu leimen. Dem Berliner Schadow wollten Kunden etwa einen VWTransporter unterjubeln, der „einen Knick im Dach und ein verzogenes Führerhaus“ hatte. Ganoven drehten dem Hamburger Pfandleiher Joachim Ratajek ein VW Golf Cabrio an, das samt Fahrzeugbrief gestohlen worden war. Er belieh das neuwertige Auto mit 20 000 Mark und musste den Schaden tragen. Wie die meisten Kollegen versucht Klaus Aringer von der Arclas Pfandkredit in Willich, solch Ungemach zu vermeiden. Bieten ihm dubiose Gestalten ein teures Auto an, „checke ich bei der Polizei, ob das Ding womöglich geklaut ist“. Carsten Holm

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Ausland

Panorama VA T I K A N

Sichtung der Kandidaten rotz wütender Hindu-Proteste trat Papst Johannes Paul II. am vergangenen Freitag seine 89. Auslandsreise nach Indien und Georgien an. Derweil wurde im Vatikan über mögliche Nachfolger spekuliert. Zwar präsentierte sich der 79-jährige, gesundheitlich angeschlagene Papst während der jüngsten Synode der europäischen Bischöfe „ausgesprochen präsent“, so der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann. Dennoch hat unter katholischen Amtsträgern in Rom in aller Stille eine kritische Sichtung papstfähiger Kandidaten begonnen, was im Vatikan weit mehr Interesse weckt als die dem italienischen Parlament vorliegenden Dokumente über die Rolle östlicher Geheimdienste beim Papstattentat 1981. Zu den Favoriten für die Nachfolge auf dem Stuhl Petri zählen der Johannes Paul II. mit Bischöfen im Vatikan französische Kardinal Pierre Eyt, sein belgischer Amtsbruder Godfried Danneels, Christoph Schoenborn 1978 bei seinem Wechsel von Krakau nach Rom von der „New aus Österreich und der Bosnier Vinko Puljiƒ. Die römische Ku- York Times“ charakterisiert wurde, solle nun ein Administrarie dränge allerdings darauf, berichteten Teilnehmer des Bi- tor folgen. Dem deutschen Papstvertrauten Joseph Ratzinger schofstreffens, einen aus ihren Reihen in das Amt zu hieven. wird zwar eine mit entscheidende Rolle bei der Papstfindung, Nach dem „geopolitischen“ Papst, wie der Pole Karol Wojtyla aber keine Chance auf das Amt eingeräumt.

„Vor Diktatur schützen“ Filip Vujanoviƒ, 45, Premier der jugoslawischen Teilrepublik Montenegro, über den Konflikt mit Serbien

AP

SPIEGEL: Montenegro hat die D-Mark als paralleles Zahlungsmittel eingeführt und damit seine Finanzautonomie gegenüber Belgrad erklärt. Ist das der entscheidende Schritt zur Unabhängigkeit? Vujanoviƒ: Wir mussten unsere Wirtschaft vor der Diktatur der Jugoslawischen Nationalbank schützen. Serbien hat in den vergangenen vier Monaten die Geldmenge durch den illegalen Druck neuer Dinare um rund 40 Prozent erhöht. Wir konnten dagegen nichts tun. Und jetzt hat Belgrad als politische Strafaktion sogar den Zahlungsverkehr zwischen unseren beiden Republiken unterbunden. Das ist lächerlich, denn wir kontrollieren nur fünf Prozent der Dinare innerhalb Jugoslawiens.

SPIEGEL: Welche Konsequenzen zie-

SPIEGEL: Sie führten soeben Gespräche mit Generalstabschef Ojdaniƒ. Drohte er mit Intervention? Vujanoviƒ: Entsprechend dem Verhalten Belgrads besteht die Option, eine eigeVujanoviƒ: Er versprach, sich nicht poline montenegrinische Währung einzutisch in die Angelegenheiten Monteneführen sowie der Liquidierung des Digros einzumischen und nur die territonars als Zahlungsmittel. Wir werden an riale Integrität Jugoslawiens zu verteididen Grenzen künftig Finanzkontrollen gen. Natürlich werden wir die Aktivitähaben, welche die unkontrollierte ten der Armee weiterhin kontrollieren, Ausfuhr von Dinaren verhindern. Eine insbesondere der Militärpolizei. Im Falerneute Kontrolle unserer Wirtschaft le einer bewaffneten Intervention rechdurch Belgrad werden wir nicht nen wir, ähnlich wie in Slowenien, mit dulden. einer Spaltung der Armee. Aber wir hoffen, dass sich dieser Konflikt vermeiden lässt. SPIEGEL: Wächst nun der Druck der Bevölkerung auf Ihre Regierung, die Unabhängigkeit von Belgrad zu erklären? Vujanoviƒ: Der Bundesstaat funktioniert nicht mehr, wir werden diese Situation nicht mehr lange tolerieren können. Die Gespräche über eine Neudefinition unserer Beziehungen sind im Gange. Allerdings schließe ich nicht aus, dass Belgrad dabei nur Zeit gewinnen will. In Mark ausgezeichnete Waren in Montenegro

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MONTENEGRO

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AFP / DPA

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Panorama INDIEN

Tödlicher Leichtsinn Ü

ber eine Woche nach dem verheerenden 17-stündigen Wüten eines tropischen Wirbelsturms an der Ostküste Indiens werden die Rettungsarbeiten durch Unruhen und Plünderungen bedroht. Hungrige Überlebende greifen Helfer an, rauben auf den wenigen nicht zerstörten Küstenstraßen steckengebliebene Lastwagen aus und stehlen Lebensmittel aus Lagerhäusern in Bhubaneswar, der Hauptstadt des Bundesstaates Orissa. Narayan Mahapatra aus dem verwüsteten Dorf Hosnabad im Bezirk Jajpur kritisiert das langsame Vorgehen des Staates: „Kein einziges Korn Reis hat uns bisher erreicht.“ Schuld ist vor allem die chaotische Organisation der Hilfslieferungen. Zwar hat der indische Regierungschef Atal Behari Vajpayee umgerechnet 257 Millionen Mark Katastrophenhilfe angewiesen, doch nur wenige auf dem Landweg unerreichbare Gebiete werden bisher ausreichend aus der Luft mit Lebensmitteln versorgt. 5000 Soldaten mussten ins Unglücksgebiet geschickt werden – auch um Retter und Ingenieure vor der aufgebrachten Menge zu schützen. Wütende Überlebende griffen sogar einen Hubschrauber an, mit dem Politiker ins Katastrophengebiet geflogen waren. Weder Bürokraten noch die Einwohner von Orissa hatten den Sturmwarnungen besondere Bedeutung geschenkt, obwohl Aufnahmen indischer Wettersatelliten rechtzeitig vorla-

Überflutete Straße unweit der indischen Stadt Baleshwar

gen. Offiziell wurde nur vor dem Baden an den Stränden gewarnt. „Hier herrscht ein Sicherheitsgefühl, das an Fahrlässigkeit grenzt“, sagt Britta Girgensohn-Minker vom Deutschen Roten Kreuz. Der Zyklon hatte mit einer Windgeschwindigkeit von 255 Stundenkilometern bis zu zehn Meter hohe Wellen vor sich hergetrieben und weite Teile des Staates zerstört. Insgesamt sind 15 Millionen Menschen betroffen, 2 Millionen wurden

TERRORISMUS

Endstation Bagdad?

Amerikanisches Kampfflugzeug F-16 USA

Militärkaufhaus im Internet

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eim Vertrieb von ausrangiertem Militärmaterial setzt das Pentagon auf das Internet: In einem „virtuellen Kaufhaus“ werden Ersatzteile für Waffen, gebrauchte US-Fahrzeuge oder ausgemusterte Elektronik angeboten. Verantwortlich für den Verkauf ist der „Verteidigungsdienst für Wiederverwertung und Absatzförderung“ (DRMS). Die Agentur, gegründet 1972, rühmt sich, die „beste Verbin-

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dung zwischen Regierung und Geschäftswelt“ zu sein. Auf ihrer Web-Seite (www.drms.dla.mil) bietet sie hunderte von Artikeln an: Werkzeuge, Flugzeugteile und „vieles, vieles mehr“. Zwar werden Waffen nach Darstellung der DRMS nur als angeblich unbrauchbarer Schrott angeboten, Kritiker der Online-Offerten fürchten jedoch, dass die USA planen, die neue Technologie auch für den Verkauf von Handfeuerwaffen und Munition zu nutzen. Mit Waffenverkäufen in Höhe von rund 27 Milliarden Dollar war Washington auch 1998 wieder der weltweit größte Lieferant von Kriegsmaterial. d e r

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ach Informationen nahöstlicher Geheimdienste sind die ultrareligiösen Taliban nicht länger bereit, dem mutmaßlichen Terroristenführer Ussama Ibn Ladin, 43, in Afghanistan Schutz zu gewähren. Der Fanatiker aus einer reichen saudi-arabischen Familie gilt als Drahtzieher der Sprengstoffattentate auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam im August vergangenen Jahres. Die mögliche Abkehr der Taliban von ihrem langjährigen Verbündeten Ibn Ladin, der angeblich von afghanischen Milizen bewacht unter Hausarrest steht, geht auf ein Geheimtreffen amerikanischer Unterhändler mit Vertretern des religiösen Regimes in Genf zurück. Für die Zusammenkunft hatten die USDiplomaten eigens einen einflussreichen Vertrauensmann des in Amerika inhaftierten ägyptischen Terroristenscheichs Umar Abd al-Rahman mit in ihr Verhandlungsteam aufgenommen, der die Taliban zum Sinneswandel bewegen sollte. Zudem setzte Washington im Uno-Sicherheitsrat durch, dass gegen Afghanistan ein Embargo verhängt wird, wenn Ibn Ladin nicht bis zum nächsten Sonntag ausgeliefert werden sollte. Um sein Gastland vor Sanktionen zu bewahren, will Ibn Ladin das Land verlassen, angeblich in Richtung Bagdad. Aber auch der Jemen, aus dem Ibn Ladins Familie einst nach Saudi-Arabien auswanderte, gilt als mögliche Fluchtburg. Ussama Ibn Ladin

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AFP / DPA

REUTERS

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Ausland BÜCHER

Scholl-Latours Schatten über der Türkei

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W E S TBENGALEN

CHINA

INDIEN

AP

150 km

Baleshwar

ORISSA

Bhadrakh Jajpur Cuttack

Bhubaneswar Puri

Golf von Bengalen

Paradip stark verwüstetes Gebiet weniger betroffen

AFRIKA

Trockenzeit bringt Krieg

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desopfern gefordert. Überdies beendete der Krieg das zarte Wirtschaftswachstum, das die Staaten vorübergehend in den Rang der wenigen afrikanischen Musterländer erhoben hatte. Schon massieren die Feinde ihre Armeen für die Wiederaufnahme der Kämpfe. Ein Vermittlungsvorschlag der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU), den die Kriegsparteien bereits akzeptiert hatten, wurde gleichwohl nicht verwirklicht. Jetzt starteten US- und OAUDiplomaten einen letzten gemeinsamen Versuch, den drohenden neuen Waffengang doch noch zu verhindern.

REUTERS

ine diplomatische Offensive soll in allerletzter Minute verhindern, dass mit dem Ende der Regenzeit am Horn von Afrika der blutige Konflikt zwischen den beiden Ländern Äthiopien und Eritrea wieder aufflammt. Der Kampf um ein 415 Quadratkilometer großes Stück Wüste hat in 18 Monaten auf beiden Seiten zehntausende von To-

obdachlos. Ein Armee-Offizier schätzt die Zahl der Toten schon auf über 10 000, weit mehr als die vom Staat offiziell gemeldeten 1000 Opfer. „Wir haben die allmächtige Atombombe“, höhnte die Tageszeitung „The Times of India“, „doch bei Überflutung, Dürre und Zyklonen sind wir machtlos.“

Äthiopische Soldaten auf dem Weg zur Front (1998) d e r

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ie Blicke der Dörfler erscheinen dem Besucher „intensiv, durchdringend, fremd“. „In der verkapselten kurdischen Gebirgswelt“ trifft er mitunter auf einen regelrechten „Wolfsblick“; andernorts wirken „manche Gestalten durch lange Inzucht gezeichnet“. Aber auch die Islamisten in Istanbul sind dem Reisenden wohl nicht ganz geheuer, schauen „oft etwas finster wie Verschwörer“. Kein Zweifel: Peter SchollLatour, journalistischer Experte für Krisenregionen weltweit, bedient in seinem jüngsten Werk manche Klischees. Diesmal hat der langjährige Fernsehkorrespondent, der jüngst von der nordrheinwestfälischen Landesregierung für sein publizistisches Lebenswerk mit dem Professorentitel geehrt wurde, die Türkei heimgesucht. Das islamische Land steht für Scholl-Latour, wie schon der Buchtitel dramatisch ankündigt, vor einer „Zerreißprobe“, über der laizistischen Republik Atatürks sieht der Autor bereits „Allahs Schatten“. Obgleich es Scholl-Latours Opus nicht an politischen Einschätzungen und historischen Verweisen mangelt – eine fundierte Analyse bleibt der Auflagenmillionär schuldig. Allzu offensichtlich beschränkt sich der Vielschreiber über weite Strecken darauf, lediglich seine Reiseeindrücke runterzudiktieren, Anmerkungen zu Hotels und seinen Trinkgewohnheiten („Habe mich zum Sun-downer an der Brüstung des Dachrestaurants installiert“) inklusive. Die atmosphärische Dichte seines Indochina-Bestsellers „Der Tod im Reisfeld“ erreicht der publizistische Kriegsgewinnler damit nicht im entferntesten. Doch bei aller Kritik an Scholl-Latour, dem renommierte Islamwissenschaftler vorgeworfen haben, er schüre die Angst vor dem Islam und beute sie aus, geben die gesammelten Notizen einen durchaus lesbaren Einblick in die Krisenregion zwischen Kurdistan und dem Kosovo, dem Scholl-Latour „vor dem Hintergrund der langen osmanischen Geschichte“ gleich noch ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Peter Scholl-Latour: „Allahs Schatten über Atatürk. Die Türkei in der Zerreißprobe“. Siedler Verlag, Berlin; 432 Seiten; 48 Mark.

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Ausland

K AU K A S U S

Sehnsucht nach dem Imperium Im Bergland zwischen Europa und Asien kämpfen die Völker um Souveränität – und um den kostbaren Rohstoff Öl. Russland riskiert mit seinem Tschetschenien-Feldzug den eigenen Zerfall, Georgien strebt derweil unter den Schutz der Nato.

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ckungen an der Staatsspitze, er zwingt zum Schulterschluss mit der Regierung und hilft bei der Restauration der Gesellschaft. Ist das Kaukasus-Abenteuer vielleicht nur Wahlwerbung für den vor Wochen noch unbekannten, nun höchst populären Premier Wladimir Putin? Alles trifft zu, doch es geht um mehr. Offen erklärt der russische Regierungschef, sein Land könne die strategisch wichtige Region „nicht entbehren“ – es geht um den ganzen Kaukasus, Russlands Kolonialland seit dem vorigen Jahrhundert, als es die Festung Wladikawkas ausbaute, die heute Hauptstadt von Nord-Ossetien ist. Auf Deutsch heißt der Name „Beherrsche den Kaukasus“. Es geht um Russlands Rolle als Großmacht. Wenn die tschetschenischen Aufständischen nicht völlig vernichtet würden, das Land die Unabhängigkeit gewönne, „ist das Schicksal Russlands vorausbestimmt“, sorgt sich der Vizepräsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, Gennadij Ossipow: „Danach folgt der Zerfall.“ Da klingt Sehnsucht durch nach den Zeiten, als Moskau die malerische Bergregion mit hartem Griff im Sowjetimperium hielt. Heute präsentiert sie sich als bedrohlicher

ange Panzerkolonnen wälzten sich fort aus Grosny, eine Armee rollte heimwärts, es war ein Sieg der Vernunft: 50 000 russische Soldaten zogen sich vor drei Jahren aus Tschetschenien zurück. Im Auftrag des Präsidenten Boris Jelzin hatte General Alexander Lebed die „blutende Wunde“ am Kaukasus gestillt: Er versprach dem Muslim-Volk Selbstbestimmung. Nun ist die Wunde wieder aufgerissen, abermals jagt eine 50 000 Mann starke Streitmacht Grosnys Bewohner in die Flucht und belagert die Hauptstadt. Eine Revanche des geschlagenen Heeres? Der russische Verteidigungsminister Marschall Igor Sergejew will „die Ordnung wiederherstellen“. Er sagt: „Wir sind hierher gekommen, um nie wieder zu gehen.“ Generaloberst Nikolai Koschman, Jelzins Statthalter in den „befreiten Gebieten“, träumt von einem tschetschenenfreien Land: Grosny werde nach Ende der Kämpfe nicht wieder aufgebaut – die Stadt habe kein Recht mehr zu existieren. Oder dient der Krieg als Heilmittel für alle russischen Leiden? Zumindest lenkt der Tschetschenien-Feldzug ab von Finanzskandalen und korrupten Verstri-

Tscherkessk

Suchumi

Schwarzes Meer

Adscharien

100 km

zu

Wladikawkas

Tschetschenien MachaNasran Grosny

Nord-

GEORGIEN

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Republik Adygien

Inguschien

KaratschaiKabardinoTscherkessien Balkarien Abchasien Naltschik

Republiken am Kaukasus

Bevölkerung Anteil der Russen vorherrschende Religion

Kaukasus-Republiken innerhalb Russlands

Maikop

Explosive Mischung

bestehende geplante Pipeline

Konfliktherd

RUSSLAND

Adygien

Tiegel von hundert Völkerschaften, als unzugängliches Versteck für lokale Fürsten, die fast alle Transitstraßen blockiert haben. Beinahe täglich erschüttern Terroranschläge, Entführungen und Scharmützel die Schluchten des Berglands zwischen Europa und Asien, das etwas größer als Deutschland, doch nur von 22 Millionen Einwohnern besiedelt ist. Jahrhundertelang weckte das Gebiet zwischen dem ölreichen Kaspischen Meer und den Sonnenstränden des Schwarzen Meeres die Begierde übermächtiger Nachbarn. Osmanen, Araber und Perser versuchten das kaukasische Babylon in ihre Gewalt zu bringen. Im russischen Bürgerkrieg besetzten Türken und Engländer das Land. 1942 gelangten die Deutschen bis kurz vor Grosny, Gebirgsjäger hissten die Reichskriegsflagge auf dem höchsten Berg des Kaukasus – viele Einheimische empfingen begeistert die Wehrmacht. Denn Stalin hatte ganze Völker willkürlich aufgeteilt, den Islam unterdrückt und gleich mehrmals das Schriftsystem geändert. Nach dem Abzug der Deutschen übte der Diktator Vergeltung: Tschetschenen, Inguschen, Karatschaier und Balkaren ließ er als Kollaborateure nach Sibirien und

450000 68% Christentum

tschkala

Dagestan

KaratschaiTscherkessische Republik Republik NordOssetien

Kaspisches Meer

663000 30% Christentum

Republik Tschetschenien

Tiflis

Eriwan

TÜRKEI

ASERBAIDSCHAN Berg-Karabach (z. Zt. armenisch kontrolliert)

Baku

(zu Aserbaidschan)

IRAN

797000 6% Islam

Selbständige Kaukasus-Staaten Armenien

Nachitschewan

KabardinoBalkarische Republik

792000 32% Islam

Republik Inguschien

313000* 13% Islam

*ohne Flüchtlinge

SüdOssetien

ARMENIEN

436000 42% Islam

3,7 Mio. 68% 2 % Christentum

2,1 Mio. 6% Islam

Republik Dagestan

Georgien

5,4 Mio. 68% 6% Christentum

Aserbaidschan

7,7 Mio. 68% 2% Islam

REUTERS

AP

Mittelasien deportieren, was hunderttausende das Leben kostete. „Die Gegend war menschenleer“, erinnert sich Schriftsteller Anatolij Pristawkin, der 1944 als obdachloser Junge in den fast entvölkerten Kaukasus verschickt worden war. „Wir hörten nachts Kanonen und Bomben, aber wir wussten nicht, dass in den Bergen ein Krieg tobte, über den während der ganzen Sowjetherrschaft keine Zeile geschrieben wurde.“ Mit dem Ende der UdSSR explodierte der angestaute Druck. Selbst der russischen Intelligenzija, welche einst die lärmenden, geschäftstüchtigen Kaukasier als exotische Paradiesvögel bewundert hatte, blieb der ungestüme Freiheitsdurst der von Moskau unterdrückten Völker bis heute fremd. Namhafte Professoren erklärten die aufständischen Tschetschenen zu einer „schlechten Ethnie“; Dichter-Patriarch Solschenizyn wollte das Problem der Rebellenrepublik durch den Bau einer Art Berliner Mauer lösen. Auch Michail Gorbatschow billigt den neuen Feldzug. Denn befreit von der Sowjetherrschaft gleicht der Kaukasus einem Hexenkessel. Lokale Konflikte schürt Moskau nach Kräften, wenn sie der eigenen Herrschaft dienen. Vor sieben Jahren brach zwischen den muslimischen Inguschen, die nach Stalins Tod aus der Verbannung zurückkehren durften, und den christlichen Osseten ein Kampf um Wohnrechte in der einst gemeinsamen Hauptstadt Wladikawkas aus. 12 000 russische Soldaten marschierten ein, stellten sich auf die Seite der Osseten und trieben 70 000 Inguschen über die Grenze nach Osten: Es war eine Militäroperation, „in Armeestäben professionell geplant, mit bestialischen Strafaktionen und grausamer Schändung der Bevölkerung“, wie die Soziologin Swetlana Tscherwonnaja sagte. Noch heute befinden sich Russische Rekruten in Tschetschenien: „Hergekommen, um nie wieder zu gehen“ beide Völker de facto im Kriegszustand. Tscherkessen und Karatschaier, von Sta- Polizei sind von Awaren besetzt, die nur richtet worden, 3500 Religionslehrer unlin einst willkürlich zusammengespannt, ein Viertel der Bevölkerung stellen. Mos- terrichten den Koran. Russische Truppen haben dieses Jahr den Hass aufeinander kau hat 22 000 Polizisten und 15 000 Solda- zerbombten im August mehrere Dörfer mit gelernt, weil sie sich jeweils von den ande- ten stationiert – um „extremistische Got- gut funktionierender islamistischer Verwaltung. Nun drohen die Klans und Stämren dominiert fühlen. Vor sechs Monaten teskrieger“ zu bekämpfen. 5000 Moscheen sind seit dem Zusam- me, die moskauhörige örtliche Staatssiegte in Wahlen, die sein tscherkessischer Gegenkandidat Derew für gefälscht hält, menbruch des Imperiums in Dagestan er- führung wegzusprengen. In Abchasien, abgespalten von Georgien, der in Moskau aufgewachsene Halbwurden im Oktober sieben Uno-BeobachKaratschaier Semjonow, früher Beter als Geiseln entführt – Präsident Eduard fehlshaber des russischen Heeres. Schewardnadse, der mehrere Attentate nur Nach wochenlangen Demonstrationen knapp überstand, möchte den Separader Tscherkessen gegen den vertisten-Sprengel rasch zurückerobern. meintlichen Agenten Moskaus verGeorgien hatte wie Armenien und Asermittelte Putin jetzt einen faulen Kombaidschan immerhin den Sprung in die Unpromiss: Semjonow bleibt ein Jahr, abhängigkeit geschafft, als das Moskauer dann wird wieder abgestimmt. Reich 1991 in Konkurs geriet. Nur mit In Dagestan, wo über zwei Dutzend Mühe bewältigten die Führer der drei ReNationalitäten leben, hatten die Bolpubliken die Wirren der Wendezeit, zwei schewiki besonders brutal die Völkervon ihnen – der Georgier Schewardnadse, schaften umgruppiert und Siedlungs71, und der Aseri Gejdar Alijew, 76, – diengebiete zerrissen – jetzt tobt der ten einst in höchsten Rängen der KPdSU, Kampf um das angestammte Acker- Särge der Attentatsopfer in Eriwan sie saßen im Politbüro. Beide mussten sich land. Schlüsselposten in Politik und „Elende, halb verhungerte Existenz“ d e r

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P. N. KASSIN

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geopolitisches Loch“ gefallen. Alle Ansätze zu einer Vernunftpolitik habe Jelzin in den Reißwolf gesteckt, klagt auch der Dagestaner Abdulatipow, Minister im Kreml-Kabinett: „das Konzept einer neuen Nationalitätenpolitik, den Plan zum Wiederaufbau Tschetscheniens, ein Sozialprogramm für den Kaukasus“. Auch der einstige Unterhändler Lebed sieht das so: Seit dem Friedensschluss mit Grosny habe Moskau nie wirklich Kontakt zum tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow gesucht. Vorigen Dienstag jedoch brach der Oberkommandierende Jelzin überraschend seinen Urlaub in Sotschi ab und kehrte nach Moskau zurück. Beobachter sahen erstmals Kriegspremier Putin unter Druck, dem es nicht gelungen war, den Rest der Ölfeld vor Baku: Pipeline durch Tschetschenien ans Schwarze Meer Welt für die russische Sicht im Tschetschenien-Konflikt nach 1991 in mehreren Bürgerkriegen und einzunehmen. Revolten extremer Nationalisten, SeparaZeitgleich brachten rustisten und Putschisten erwehren. sische Politiker wieder Doch die jungen Staaten im SüdkaukaMaschadow, den der Kreml sus gründen sich auf schwache Fundalängst zum Ober-Terrorismente. Armut, Korruption und Misswirtten abgestempelt hatte, als schaften bremsen den Neuanfang. In ArVerhandlungspartner ins menien herrscht seit dem blutigen Überfall Spiel: Der wandlungsfäaufs Parlament ein gefährliches Machthige Jelzin muss seinen vakuum: Vor laufenden Fernsehkameras Kritikern im Westen pünkterschossen Ende Oktober Geiselnehmer lich zum OSZE-Gipfel in unter anderen den Premier und den ParIstanbul am 18. November lamentschef. entgegenkommen. Denn „Heute führen wir in diesem Land eine am Bosporus wird auch elende und halb verhungerte Existenz“, das Abrüstungsabkommen durfte der Anführer der Terroristen im über konventionelle WafFernsehen klagen, ehe er abgeführt wurde. fen besprochen, das Mos„Tausende Kinder haben keine Schuhe Dorfposten in Dagestan: 5000 neue Moscheen kau mit der Truppenkonoder Schulbücher. Unsere Wirtschaft ist zusammengebrochen, wir stehen vor der Solche Kurswechsel südlich des Kauka- zentration in Tschetschenien gebrochen Gefahr, unsere Staatlichkeit zu verlieren.“ sus treiben die Russen in die Enge. Wird ih- hat. Schon warnen russische Generäle vor Seit Jahren liegt Armenien im Konflikt nen jetzt sogar der Zugang zu den Ölquel- der „erneuten Ohrfeige“ eines Rückzugsmit Aserbaidschan um die Enklave Berg- len des Kaspischen Meeres und zu den befehls. Ein russisches Geheimdienst-Dossier rät Karabach. In der aserischen Hauptstadt kaukasischen Transportrouten versperrt, Baku setzte Präsident Alijew soeben die wird Russland seine Großmachtstellung dem Kreml zum Umdenken. Ein Desaster auch im zweiten Tschetschenien-Krieg, so gesamte außenpolitische Führung ab: Sie schwerlich halten können. hatte gegen einen Kompromiss im DauerUm Georgien und Aserbaidschan unter warnt der Befund, „wäre die völlige Disstreit mit Armenien opponiert. Druck zu setzen, unterstützt Moskau die kreditierung der Staatsmacht und hätte die Allen Staaten geht es jetzt auch ums Öl: Gegner von Schewardnadse und Alijew. Abtrennung des Nordkaukasus zur Folge“. Jelzins Feldzug könnte aber auch die Wird der Kaukasus nicht befriedet, ziehen Die Separatisten in Abchasien erhalten sich die internationalen Konzerne zurück, ebenso Hilfe wie der adscharische Pro- Russische Föderation sprengen. Der Tschedie das Erdöl im Schelf des Kaspischen vinzfürst Abaschidse, der Schewardnadse tschene Ruslan Chasbulatow, ehemals Meeres fördern möchten. Pipelines sollen stürzen will. Das abgelegene Armenien, Russlands Parlamentspräsident, sieht nur das flüssige Gold von Aserbaidschan durch eingekeilt zwischen zwei feindlichen Mus- eine finstere Alternative: Führt Russland Georgien oder durch Dagestan und Tsche- lim-Staaten sowie Georgien, ist Moskaus sich am Kaukasus weiterhin als Eroberer tschenien ans Schwarze Meer pumpen. letzter Verbündeter im Kaukasus. Dort auf, dann zieht es sich damit von der ZiviWeitere Rohölleitungen sind geplant – an bauen die Russen ihre militärische Präsenz lisation zurück und verdorrt ohne Hilfe Tschetschenien vorbei durch die Türkei aus – mit neuen MiG-Jägern und modernen aus dem Westen finanziell, technisch, kulturell. Oder es verliert den Nordkaukasus zum Mittelmeer. Jetzt soll mit dem Bau Abwehrraketen. begonnen werden. Im Streit um Berg-Karabach hatten sich und lässt damit Unruhen in anderen ReDamit kommen wieder die Großmäch- Alijew und sein armenischer Amtskollege gionen entstehen: im Fernen Osten etwa te ins Spiel. Die Amerikaner, die das Öl- Kotscharjan offenbar auf einen Gebiets- oder im Gebiet Kaliningrad (Königsberg). Doch wenn Russland in seine Regionen kartell im Nahen Osten ausmanövrieren austausch geeinigt. Dies war womöglich möchten, haben den Kaukasus vor Jahren der Anlass für das Massaker im Parlament zerfällt, so warnt Tschetschenien-Komschon zur Zone „unseres nationalen Inter- von Eriwan. Es fiel zusammen mit einem mandeur General Wladimir Schamanow, esses“ erklärt. Alijew bot der Nato bereits Besuch des stellvertretenden US-Außen- dann bedrohen „anderthalb Dutzend Kernwaffenstaaten in unkontrollierbarem Zueinen Luftwaffenstützpunkt an, Scheward- ministers Strobe Talbott. nadse will „kräftig an die Tür der Allianz Im Kaukasus, bilanziert Schriftsteller stand“ die Welt. Fritjof Meyer, Christian Neef klopfen“ (siehe Interview Seite 190). Pristawkin, sei der Kreml plötzlich „in ein 188

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GEORGIEN

„Die Grenze ist offen“ Präsident Eduard Schewardnadse über den Konfliktherd Kaukasus und seinen Wunsch, der Nato beizutreten

geschlossen. Aus Rücksicht gegenüber Moskau? Schewardnadse: Die Grenze ist offen. Frauen, Kinder, alte Menschen, die zu uns flüchten, nehmen wir auf. Nur Männer, die ein Gewehr tragen können, lassen wir nicht durch. SPIEGEL: Die Russen trauen Ihnen nicht. Sie möchten gern eigene Truppen an dieser Grenze postieren. Schewardnadse: Diese Forderung gibt es. Aber sie verträgt sich nicht mit unserer Souveränität. Niemand kann unsere Grenzen besser schützen als unsere eigene Armee. SPIEGEL: Wenn den Russen eine Befriedung nicht gelingt, droht dem Kaukasus dann bald das gleiche Schicksal wie dem Balkan? Schewardnadse: Die drei Staaten des Südkaukasus, außer Georgien noch Armenien und Aserbaidschan, schließen eine solche Entwicklung aus. Jede Einmischung von außen wäre ein unverantwortliches Abenteuer. SPIEGEL: Der Südkaukasus wird doch zwangsläufig in Mitleidenschaft gezogen, wenn der Nordkaukasus brennt. Schewardnadse: Mit unseren eigenen Problemen werden wir selbst fertig. Doch wir brauchen natürlich Stabilität für die gesamte Region. SPIEGEL: Ist das der Grund dafür, dass Sie Ihr Land so schnell wie möglich in der Nato sehen möchten? Schewardnadse: So schnell wie möglich – das habe ich niemals gesagt. SPIEGEL: Im Jahr 2005 wollen Sie beim westlichen Verteidigungsbündnis anklopfen. Schewardnadse: So ist es. Aber: Wenn Sie bei mir anklopfen, könnte ich Ihnen die Tür öffnen – oder auch nicht. SPIEGEL: Demnach liegt es an der Nato, ob Georgien eintritt. In Moskau wird befürchtet, für Georgien würde die Nato ihre Eingangstür sofort aufmachen. Eine russi-

und internationaler Beobachter gelöst nichtkaukasische Macht, kämpft im Kau- werden. kasus gegen angebliche Terroristen – wie SPIEGEL: Sind Sie da nicht zu optimistisch? weit darf sie dabei gehen, um nicht in Schewardnadse: Es wird positive Ergebnisden Verdacht ethnischer Säuberung zu se geben. Das beweist schon das Beispiel geraten? Süd-Ossetien, wo der Versöhnungsprozess Schewardnadse: Der Nordkaukasus ist für zwischen den Volksgruppen bereits weRussland kein fremdes Territorium. Dort sentlich weiter fortgeschritten ist. Georleben viele Russen, und dort sind sie zu gische wie ossetische Flüchtlinge kehren Hause. Ich weiß nicht, für welche Zeit- wieder heim. In zwei, drei Jahren werden spanne Moskaus gegenwärtige Operatio- die laufenden Verhandlungen alle Streitnen geplant sind. Aber wenn sie sehr lan- fragen geklärt haben. ge anhalten, ist nicht auszuschließen, dass SPIEGEL: Taugt Ihr Konzept einer Internasie zu ethnischen Säuberungen ausarten. tionalisierung wie im Fall Abchasien auch dazu, den TschetscheSPIEGEL: Bitte konkreter: nien-Konflikt zu bewälBilligt Georgien Moskaus tigen? zweiten TschetschenienKrieg in diesem JahrSchewardnadse: Das wird zehnt? Ist er eine innerRussland nie zulassen. russische Angelegenheit, SPIEGEL: Obwohl es verwird dabei die Verhältnisnünftig wäre? mäßigkeit der eingesetzSchewardnadse: Alle Welt ten Mittel gewahrt? könnte sich für eine Einstellung des Krieges ausSchewardnadse: Wir müssprechen – wenn Russland sen die territoriale Intedas nicht will, gibt es dort grität Russlands respektiekeinen Frieden. Russland ren. Dies ist seine interne ist schließlich ständiges Angelegenheit. AndererMitglied des Uno-Sicherseits stellt sich die Frage heitsrats und kann jedernach der Moral. Jeder zeit von seinem Vetorecht Staat ist verpflichtet, gegen Gebrauch machen. den Terrorismus zu kämpfen. Aber in TschetscheSPIEGEL: Sie haben Ihre nien sind viele unschuldige Staatschef Schewardnadse Grenze zu Tschetschenien Opfer zu beklagen. SPIEGEL: Sie kennen das Dilemma aus dem eigenen Land. Zwei nationale Minderheiten Georgiens fordern seit Jahren mehr Unabhängigkeit: Osseten und Abchasen haben sich praktisch von Tiflis losgesagt, und die Führer der Adscharen beschuldigen Sie, das Land „in den Krieg zu führen“. Wie lösen Sie denn diese Konflikte? Schewardnadse: Abchasien, Süd-Ossetien und Adscharien sind alles Bestandteile Georgiens. In Abchasien hat es ethnische Säuberungen gegeben, das ist erwiesen: An die 300 000 Georgier, aber auch Armenier und Russen sind vertrieben worden, fast die Hälfte der Bevölkerung Abchasiens. Tausende wurden umgebracht, nur weil sie Georgier waren. SPIEGEL: Die Abchasen hatten in diesem Konflikt andere Völker des Nordkaukasus auf ihrer Seite. Schewardnadse: Es gab Einmischung von außen. Deshalb kann dieses Problem heute auch nur mit Hilfe der Weltgemeinschaft Lieferung eines US-Militärhubschraubers für Tiflis: „Jede Einmischung ein Abenteuer“ AP

AFP / DPA

SPIEGEL: Herr Präsident, Russland, eine

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sche Zeitung hat bereits die böse Botschaft verbreitet: Schewardnadse tauscht Russland gegen die Nato. Schewardnadse: Bislang befinden wir uns in der Phase partnerschaftlicher Beziehungen zur Nato. Die nächste Etappe wird davon bestimmt, wie sich Russlands besondere Beziehungen zum Nordatlantikpakt entwickeln. Erst wenn das klar ist, werde ich anklopfen. SPIEGEL: Gab es aus dem Brüsseler NatoHauptquartier schon Reaktionen auf Ihren Vorstoß? Schewardnadse: Ich habe noch nichts gehört. Aber wir wissen ohnehin, dass der Beitritt zur Nato eine komplizierte Sache ist. SPIEGEL: Ihre Ankündigung und die ähnlichen Ersuchen der baltischen Staaten müssen doch Russlands Ängste entfachen, von der Nato militärisch eingekreist zu werden. Schewardnadse: Warum nimmt Moskau den baltischen Republiken dann nicht übel, in die Nato zu drängen? Nur wir werden für den gleichen Wunsch sofort scharf angegriffen. SPIEGEL: Wohl, weil Georgien bislang als ein ausgesprochen russlandfreundliches Land gilt. Schewardnadse: Wir sind wirklich Russlands Freunde und an guten Beziehungen interessiert. Eine antirussische Politik können wir uns gar nicht leisten. Sie wäre auch unvernünftig. Aber Moskau muss sich daran gewöhnen, dass das russische Imperium nicht mehr besteht. Und daran, dass wir ein selbständiges, unabhängiges und freies Land sind. SPIEGEL: Ein kleines Land. Schewardnadse: Es ist dennoch unsere innere Angelegenheit, ob und wo wir anklopfen. Schließlich hat uns Russland auch nicht gefragt, als es seinen Sondervertrag mit der Nato geschlossen hat. SPIEGEL: Haben Sie bei der Nato vorgefühlt, weil Sie möglicherweise Schutz vor dem russischen Imperialismus suchen? Schewardnadse: Nein. SPIEGEL: Die Nato ist eine Verteidigungsgemeinschaft. Gegen wen möchten Sie sich besser verteidigen können? Schewardnadse: Gerade weil wir ein kleines Land sind, wollen wir dasselbe Niveau der Landesverteidigung wie die Mitgliedstaaten der Nato. Allerdings: Der Antagonismus von Russland einerseits und der Nato andererseits ist unvernünftig. Er kann und wird überwunden werden. SPIEGEL: Verstehen wir das richtig: Sie wollen in die Nato und zugleich in der GUS bleiben? Schewardnadse: Warum soll das nicht möglich sein? SPIEGEL: Sie wären die ersten. Schewardnadse: Wer weiß.Vielleicht geht ja Russland diesen Weg noch vor uns. Nur: Was bliebe dann noch von der Nato? Interview: Jörg R. Mettke d e r

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Ein Dessert zu viel Der Rücktritt des Finanzministers schwächt den liberalen Flügel der Regierung und belastet das Verhältnis zwischen Jospin und Chirac.

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Zurückgetretener Minister Strauss-Kahn*: Falsch datierte Briefe eingereicht

finanzierte Imperium geriet rasch in Schieflage. Das Management, traditionell der Sozialistischen Partei verbunden, suchte verzweifelt nach frischem Kapital. Da traf es sich gut, dass gerade ein Mann mit bewährter Überredungskunst und exzellenten Beziehungen zur Verfügung stand: DSK, der nach der verheerenden Wahlniederlage der Sozialisten 1993 seinen Ministerposten verloren hatte und auch nicht ins Parlament gewählt worden

Rechnung zu stellen, das er ordnungsgemäß versteuerte. Nun wäre eine solche Anwaltstätigkeit, auch wenn sie nicht ganz frei von Hautgout ist, kaum zu verurteilen gewesen. Aber Mitte 1998 beanstandete der Rechnungshof die Verluste sowie die hemmungslose Diversifizierung der Studentenkasse, und die Justiz begann, wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zu ermitteln. Dabei stießen die Untersuchungsrichter auch auf die Honorarrechnung von StraussKahn, inzwischen der wichtigste Minister in der Regierung Jospin. Sie schöpften den Verdacht, DSK könne für eine fiktive Arbeit entlohnt worden sein – eine in Frankreich bei linken wie bei rechten Politikern beliebte Methode, verdiente Parteifreunde zu begünstigen. So bezahlte das gaullistisch beherrschte Pariser Rathaus jahrelang ganze Heerscharen von Scheinangestellten, die für ihr Geld nichts taten. Sogar die Frau des Bürgermeisters Jean Tiberi kassierte für ein wertloses Gutachten, was ihr jetzt ein peinliches Strafverfahren eintrug. Strauss-Kahn erkannte die Gefahr und bat das Pariser Anwaltsgericht, die Rechtmäßigkeit seiner Bezüge von der Studentenkasse zu begutachten. Er bekam, was er wollte – einen erstklassigen Persilschein. „Die Arbeiten, die Sie erbracht haben, sind bedeutsam gewesen“, bestätigten die Kollegen. Das Dumme daran: In den Unterlagen, die Strauss-Kahn daraufhin triumphierend der Justiz übergab, befinden sich offensichtlich mehrere falsch datierte, erst nachträglich ausgestellte Briefe und BeFOTOS: AFP / DPA

r war der funkelnde Stern in der grauen Regierung des Sozialisten Lionel Jospin, und sein weiterer Aufstieg schien unaufhaltsam: Bürgermeister von Paris hätte er werden können, später dann Premierminister, falls sein Freund Jospin in knapp drei Jahren die Präsidentschaftswahl gegen Jacques Chirac gewonnen hätte. Doch nun erlebte Dominique StraussKahn, 50, das Drama des überbegabten Kindes. Ein abrupter Abgang nach 881 Tagen im Amt war der letzte Dienst, den der Superminister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie dem Regierungschef erweisen konnte. Starren Blicks, ohne mit einem Wort von der vorbereiteten Erklärung abzuweichen, gab der rhetorisch sonst so Gewitzte vorigen Dienstag seinen Rücktritt bekannt – ein wegen mutmaßlicher Fälschungen und krummer Geschäfte an den Pranger gestellter Politiker, der nunmehr als einfacher „Bürger“ um die Wiederherstellung seiner Ehre kämpft. Kurz zuvor hatte Strauss-Kahn, wohl der kompetenteste und erfolgreichste Finanzminister Frankreichs seit 25 Jahren, der Nation, den Sozialisten und sich selbst noch glänzende Zeiten in Aussicht gestellt: die endgültige Überwindung der Wirtschaftskrise, eine lange Periode stabilen Wachstums, Vollbeschäftigung vor dem Ende des nächsten Jahrzehnts. Die Weissagung war allerdings mit einem Zusatz versehen, der im Nachhinein ziemlich prophetisch klingt: „Wenn wir keine Dummheiten machen.“ Die Wahrheit ist, dass „DSK“, wie er halb kumpelhaft, halb ehrfürchtig genannt wurde, über eine geradezu unglaubliche Dummheit stolperte, die er allein sich selbst zuzuschreiben hat. Eine alte Affäre um das Geschäftsgebaren der nationalen studentischen Krankenkasse Mnef („Mutuelle nationale des étudiants de France“) holte ihn überraschend ein. Mitte der achtziger Jahre hatte die Versicherung einen gewagten Expansionskurs begonnen. Rund 50 Tochtergesellschaften wurden gegründet, die Studentenwohnungen, Kantinen und Cafeterias, Buch- und Computerläden verwalteten. Doch das verschachtelte, auch mit öffentlichen Geldern

Neuer Minister Sautter, Premier Jospin

Die Nerven liegen blank

war. Von 1994 bis 1997 beriet er die Kasse. Es gelang ihm, einen potenten Geldgeber zu überreden, mit 21 Millionen Francs (über sechs Millionen Mark) bei einer Holding der Mnef einzusteigen. Eine diskrete Arbeit, die so gut wie keine Spuren in den Akten hinterließ und deren Aufwand sich nachträglich schwer bemessen lässt. Strauss-Kahn erlaubte sich jedenfalls, für seine Bemühungen ein Honorar von 603 000 Francs (180 000 Mark) in * Mit seiner Ehefrau Anne Sinclair. d e r

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scheinigungen. Das will jedenfalls das kriminaltechnische Labor der Pariser Polizei herausgefunden haben. Der Superminister als plumper Urkundenfälscher? DSK wusste, dass er „matt gesetzt“ war, wie er Vertrauten gestand. Zu Jospin, der „nicht die Richter über Bildung und Auflösung einer Regierung entscheiden lassen“ wollte, sagte er: „Lionel, ich muss gehen.“ Sein Verlust ist für den Premier ein harter Schlag, denn ohne Strauss-Kahn, der mit seiner pragmatischen Bonhomie die Wirtschaftsbosse und die Wähler der Mitte zu beruhigen verstand, droht die Regierung nach links zu kippen. Fortan fehlt das liberale Gegengewicht in einem Kabinett, in dem Innenminister Jean-Pierre Chevènement, ein linksnationalistischer Querdenker, und Arbeitsministerin Martine Aubry, eine streitbare Dogmatikerin, auf ihre Chancen lauern. Der sofort ernannte Nachfolger, der Staatssekretär Christian Sautter, kann diese Aufgabe kaum wahrnehmen. Er machte mit dem sozialistischen Parteibuch als Funktionär Karriere, ohne jemals gewählt worden zu sein. Seine Schweigsamkeit in der Öffentlichkeit trug ihm den Spottnamen „der Karpfen“ ein – ein Statthalter, kein ebenbürtiger Ersatz. Wie sehr bei dem angeschlagenen Jospin derzeit die Nerven blank liegen, zeigte sich in einer Fragestunde des Parlaments. Als ein gaullistischer Abgeordneter wissen wollte, ob die studentische Krankenversicherung zur verdeckten Parteienfinanzierung der Sozialisten beigetragen habe, beschuldigte Jospin den Fragesteller implizit, von Mitarbeitern des konservativen Präsidenten gespickt worden zu sein. Das trug ihm sogleich eine schneidende Rüge des Staatschefs ein. „Unterstellung dient niemals der Wahrheit“, kanzelte Jacques Chirac den Regierungschef ab und erinnerte daran, dass „die Führung der Staatsgeschäfte Selbstbeherrschung und einen kühlen Kopf verlangt“. So hat der Fall Strauss-Kahn auch noch Züge einer Staatsaffäre bekommen und die bislang erstaunlich harmonische Kohabitation zwischen dem gaullistischen Präsidenten und dem sozialistischen Premierminister gestört. Jospin, dem bisher fast alles zu gelingen schien, muss aufpassen, dass er die Kontrolle behält, sonst kann er alle Hoffnungen, 2002 als Schlossherr in den Elysée einzuziehen, fahren lassen. Dominique Strauss-Kahn, der mit seiner stämmigen Figur und dem Genießergesicht – im Gegensatz zum Asketen Jospin – die ökonomisch erwünschte Konsumlust äußerst glaubwürdig verkörperte, scherzte gelegentlich über sich, er sei einer, der zum Nachtisch am liebsten Käse und etwas Süßes esse. Diesmal war es ein Happen zu viel, und seine Genossen werden noch lange am Bauchgrimmen leiden. Romain Leick d e r

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Kanzler Schröder in Peking: „Verschont mich mit Deutschland“

dass das Ansehen des deutschen Kanzlers proportional zur Entfernung vom Kanzleramt wächst. Der Zuspruch half dem angeschlagenen Regierungschef sichtlich auf. „Er hat gelitten wie ein Hund“, berichtet ein Freund. Sieben 16-Stunden-Tage pro Woche schufWeit weg von den deutschen Querelen, in te der Kanzler, und dennoch beziehe er Japan und China, schlug Bundeskanzler Gerhard Schröder nur Prügel. Im Land der aufgehenden Sonne löste lang entbehrte Sympathie entgegen. sich sogar eine Peinlichkeit vom Beginn inks ein Auto, rechts VW-Chef Ferdi- Sympathie mitreißen. „Anerkennenswert“, der Reise wunderbar auf. Kurz vor dem nand Piëch, vorn eine Wand von Ka- lobte Schickedanz-Vorstand Ingo Riedel Abflug hatte DGB-Chef Dieter Schulte die meras und rundherum ein glückli- das Engagement des Regierungschefs. Teilnahme überraschend abgesagt – „aus cher Ort, der vom Automobilwerk lebt. Bernd Gottschalk, Chef des Verbandes der persönlichen Gründen“. Wollte sich da Dazu schrammelt eine Damenkapelle in Automobilindustrie, mochte sich „wirklich schon einer von dem Kanzler im Sinkflug Stützstrümpfen Beethovens „Freude schö- nicht beklagen“, und der im Hoffnungs- absetzen? markt der neuen Mitte aktive SteckdosenDer Grund für die plötzliche Absage ner Götterfunken“. Gerhard Schröder fühlt sich endlich mal Hersteller Walter Mennekes aus dem Sau- fand sich gleich am ersten Abend in Tokio wieder so richtig wohl: In Anting vor den erland bekannte: „Ich find den Kanzler im Hotelzimmer des Industriellen Jürgen Toren Schanghais ist alles wie in Wolfs- gut.“ Wann hatte der so viel geballte Net- Heraeus. Als der Mann aus der Wirtschaftsdelegation versuchte, das Zahlenburg. Alles wie früher in Niedersachsen, als tigkeit zum letzten Mal gehört? Nun weiß Schröder endlich, warum Wil- schloss seines Koffers zu öffnen, wollte ihm dem Ministerpräsidenten Schröder das Rely Brandt, Helmut Schmidt und Helmut das nur mit einiger Gewalt gelingen. Welgieren noch Spaß machte. Auf Staatsbesuch in Japan und China ver- Kohl so gern auf Reisen gegangen waren. che Überraschung: Heraeus fand die Wägangene Woche erholte sich der Kanzler Es scheint eine Art Naturgesetz zu sein, sche des DGB-Chefs. Nach dem Flug von Düsvon seiner Berliner Republik. „Verschont seldorf zur Kanzlermaschimich mit Deutschland“, bat er mehrmals, ne nach Berlin hatte der „oder wollt ihr mir den Tag verderben?“ Unternehmer versehentlich Einmal morgens, einmal abends studierden Koffer des Gewerkte Schröder rasch die Meldungen aus der schafters vom Band geHeimat, ansonsten ersparte ihm die Delenommen, während Schulte gation Reizwörter wie Rente, Riester und annahm, seine Utensilien Rot-Grün. Stattdessen riefen die Japaner seien verschwunden – und „Bravo, Gehado Schlöda“ und applaudem Kanzler nur wegen dierten, wo immer er auftauchte. fehlender Kleider absagte. In China hieß ihn die Pekinger Zeitung In diesem Klima der „Chenbao“ liebevoll willkommen als eiHarmonie glätteten sich in nen „gelernten Marxisten“, der in jungen Schröders Gesicht zuseJahren geprahlt habe, er könne „alle Texthends die Knitterfalten, die stellen auswendig zitieren“. vom Chaos-Regiment in Die mitreisenden Manager aus Deutschder deutschen Innenpolitik land ließen sich von der gelben Welle der übrig waren. Wie schon im Mai, als sich Schröder stell* Am vergangenen Mittwoch im VW-Werk Anting bei vertretend für die NatoSchanghai. Staatsgäste Schröder, Piëch (r.)*: Diplomatische Eisbahn O S TA S I E N

Im Reich der neuen Mitte

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Ausland Staaten bei einem Kurzbesuch in Peking für die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad entschuldigen musste, machte er auch diesmal eine weit bessere Figur, als sie der zweidimensionale Außenpolitiker Kohl („Ist ja hier wie bei uns“/„Ist nicht wie bei uns“) je gemacht hatte. Auf der diplomatischen Eisbahn China hielt der Nachfolger geschickt die Balance zwischen der Forderung nach mehr Rechtsstaat und der von den Chinesen nicht geduldeten Einmischung in innere Belange. Endlich war auch der kleine Koalitionspartner in Gestalt der grünen Parlamentarierin Antje Vollmer zufrieden gestellt. So besuchte der nicht übermäßig historisch denkende Schröder in Schanghai eine Synagoge, nachdem er sich zuvor zum Gespräch mit Intellektuellen getroffen hatte. Die verstanden auch seine Anmerkung, dass die Deutschen angesichts ihrer jüngeren Vergangenheit „eine Missionarshaltung“ besser nicht einnähmen, keineswegs falsch. Schröder präsentierte sich als verantwortungsvoller Erbe von Willy Brandt. Der Leitspruch der Ostpolitik, Wandel durch

Das Ansehen des Kanzlers wächst proportional zur Entfernung vom Kanzleramt Annäherung, drehte sich in Fernost zu einer Annäherung durch Wandel. Maßgeblichen Anteil am behutsamen Auftritt Gerhard Schröders hatte der Schriftsteller Tilman Spengler. Der ChinaKenner las jede Rede des Regierungschefs und diente dem Kanzler als asiatischer Knigge. Mit der ihm eigenen Freude für skurrile Situationen plauderte der Dichter beim Lunch im Tokioter Kaiserpalast mit einem der beiden Prinzen, wie vom Protokoll empfohlen, über Fische. Nur interessierte sich der kaiserliche Nachwuchs in Wirklichkeit für Hühner, über die er eine Doktorarbeit geschrieben hat. Wacker kämpfte Spengler mit der Dolmetscherin, bis sie „den Unterschied zwischen Eierleiter und Eileiter verstanden“ hatte. Einen Feind fürs Leben machte sich der Literat im CSU-Parlamentarier Carl-Dieter Spranger. Als sich dem ehemaligen Entwicklungshilfeminister im Hotel die Tür zum überfüllten Aufzug öffnete, krähte Spengler von hinten: „Das Boot ist voll, Herr Spranger.“ Die Liftbesatzung grölte vor Freude, nur der Konservative mit Deutschlands schärfstem Scheitel mochte am Spaß nicht teilhaben. Weil Gerhard Schröder so viele entspannte Tage in seiner Kanzlerschaft kaum wieder erleben wird, schlug ein praktisch denkender Diplomat vor: „Wir gehen jetzt jede Woche auf Staatsbesuch.“ Andreas Lorenz, Hajo Schumacher

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KLIMA

Vergesst Amerika Die USA bremsen in der Klimapolitik. Doch langsam bildet sich eine Mehrheitsfront gegen die größte Abgas-Nation.

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er ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer, nun Chef der UnoUmweltbehörde Unep, stellte den Gästen eines intimen Mittagsmahls einen Wahlverwandten vor: „Das ist sozusagen mein Enkel.“ Jürgen Trittin widersprach nicht. Der grüne Minister und sein schwarzer Vorfahr demonstrierten auf der Bonner Weltklimakonferenz ein erstaunliches Maß an Übereinstimmung. Mit bebender Stimme, in ganzen Passagen fast wortgleich, beschworen beide Ober-Ökos vergangene Woche die Delegationen aus 173 Ländern, die vor zwei Jahren in Kyoto beschlossenen Richtlinien zur Reduzierung der klimagefährdenden Abgase in konkrete Beschlüsse umzusetzen. Spätestens 2002, zehn Jahre nach dem legendären Umweltgipfel von Rio, müsse das Übereinkommen endlich in Kraft treten. Erster Adressat der flammenden Appelle sind die USA. Sie allein zeichnen für mehr als ein Drittel des von den Industriestaaten in die Atmosphäre geblasenen Klimaschädlings CO2 verantwortlich. Seit Rio bremsen die Amerikaner eine aktive Klimapolitik nach Kräften ab. Sie streiten für die totale Freigabe der so genannten Kyoto-Mechanismen. Die erlauben es den Industrieländern, sich von ihrer Verpflichtung zur Abgas-Reduktion zu Hause freizukaufen, indem sie Umweltprojekte in Entwicklungsländern fördern oder nicht genutzte Emissionsrechte etwa in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion erwerben. In schönen Worten bekennt sich die USRegierung zwar zu den Klimazielen, doch ihre Delegation bekämpft energisch alle Pläne anderer Konferenzstaaten, für den Emissionshandel eine Obergrenze festzulegen. Sonst, so der US-Delegationsleiter Frank Loy, gebe es keine Chance für eine Ratifizierung im von den Kyoto-feindlichen Republikanern dominierten Senat. Loy, in Bonn durchweg als ehrlicher Makler gelobt, soll schon vor dem Bonner Gipfel den Kyoto-Prozess „auf dem Totenbett“ gesehen haben. Die Dauerblockade der USA lockert ein bisher unumstößliches Dogma der Klima* Oben: am 25. Oktober während der Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder; unten: am vergangenen Dienstag vor dem Bonner Konferenzgebäude. ** Sebastian Oberthür, Hermann Ott: „The Kyoto Protocol – International Climate Policy for the 21st Century“. Springer-Verlag, Berlin; 359 Seiten; 98 Mark. d e r

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politik: Ohne oder gar gegen die USA, den größten Verschmutzer, gibt es keine Umsetzung des Vertrages. Nun formiert sich eine neue Front unter Experten. Schon kurz vor dem zweiwöchigen Gipfel kam Bewegung in die Strategiedebatte. In einem Buch, das die Entwicklung seit der Rio-Konferenz akribisch nachzeichnet, wird die Europäische Union aufgefordert, sich offensiv an die Spitze des Klimakampfs zu stellen – und die Amerikaner, jedenfalls vorerst, zu vergessen**. Vertreter der Nicht-Regierungsorganisationen, die die Mammutkonferenzen seit Rio mit ungezählten Diskussionen und Protesten begleiten, finden Gefallen an der politisch brisanten Idee. Die Klimadiplomaten registrieren die Entwicklung aufmerksam und halten sich vorerst bedeckt. Nur ohne die USA, argumentieren die Autoren Herrmann Ott vom WuppertalInstitut für Klima, Umwelt, Energie und Sebastian Oberthür vom Berliner Umweltforschungsinstitut „Ecologic“, ergebe sich eine realistische Möglichkeit, das Kyo-

Umweltminister

Trittin,

Öko-Aktivisten*:

pan, Russland und die Wendestaaten Osteuropas. Die neue Allianz, so die Autoren, könne nur auf der Basis einer „hartnäckigen diplomatischen Anstrengung“ geschmiedet werden, „Kompromissbereitschaft aller Seiten“ vorausgesetzt. Japan, so die Hoffnung, werde sich aus der US-amerikanischen Umklammerung lösen, schon damit „Kyoto“ als Erfolg in die Geschichte der globalen Umweltdiplomatie eingehe. Die ostmitteleuropäischen Staaten, sämtlich Kandidaten für den EU-Beitritt, könnten mit sanftem Hinweis auf die westeuropäischen Klima-Ideale zum Anschluss an das neue Bündnis bewegt werden. Russland schließlich habe zwar ein vitales Interesse, möglichst viele seiner wegen der Wirtschaftsmisere ungenutzten Emissionsrechte gegen Dollar zu verkaufen. Doch sei bei dem bisherigen Konfrontationskurs eben auch das vollkommene Scheitern des Protokolls nicht auszuschließen – was die potenziellen Moskauer Kyoto-Profiteure ohne jede Aussicht auf den Emissionshandel zurückließe. Natürlich wünschen sich auch die Autoren der Studie ein Einschwenken der USA. Das, so ihre Hoffnung, werde von selbst kommen, sobald ein Inkrafttreten des Protokolls in Sichtweite sei und international tätige US-Unternehmen nicht den Anschluss an die dann erwarteten höheren Umweltstandards verlieren wollten. Erste Anzeichen, dass die US-Multis, den republikanischen Hardlinern im Senat zum Trotz, mit dem EU-Kurs sympathisieren, seien schon heute erkennbar. Noch hält es Bundesumweltminister Trittin nicht für hilfreich, die Vereinigten Staaten öffentlich als Bremser „vorzuführen“. Sein Bonner Delegationsleiter Hendrik Vygen sagte vergangenen Mittwoch eine Diskussionsveranstaltung über die Ohne-Amerika-Strategie kurzfristig „aus Termingründen“ ab. Doch vertrauliche Gespräche über eine neue Strategie ohne die USA sind mit russischen Experten schon vereinbart. Der diplomatisch-moderate Kurs könnte sich ändern, wenn am 7. November 2000, wenige Tage vor dem nächsten dann entscheidenden Klimagipfel in Den Haag, ein Republikaner an die Spitze der Weltmacht USA gewählt würde. Dann, so die Überzeugung vieler Delegationen, wäre Kyoto tatsächlich tot – es sei denn, eine neue Allianz würde es allein versuchen. „Wir wünschen uns eine Ratifizierung gemeinsam mit den USA“, meinte die schwedische EU-Umweltkommissarin Margot Wallström in Bonn und lächelte: „Aber das ist keine Voraussetzung für die Ratifizierung und auch nicht dafür, das KyotoProtokoll umzusetzen.“ Gerd Rosenkranz DPA

to-Protokoll unverwässert und rasch im Symboljahr 2002 (Konferenzjargon: „Rio plus 10“) in Kraft zu setzen. Die dafür erforderliche Zahl von 55 Staaten, die das Abkommen ratifizieren müssen, sei das geringere Problem – schon weil die zahlreichen kleinen Inselstaaten, die sich wegen des steigenden Meeresspiegels im Treibhaus Erde in ihrer Existenz bedroht sehen, mitziehen würden.

US-Delegierte in Bonn*: Hardliner im Senat

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Viel schwieriger ist die zweite Ratifizierungshürde zu nehmen. Sie legt fest, dass die Verpflichtungen erst greifen, wenn die beteiligten Länder insgesamt 55 Prozent der 1990 von allen Industriestaaten ausgestoßenen Klimagase repräsentieren. Dazu bedürfte es einer Allianz, der sich neben den EU-Ländern vor allem solche Staaten anschließen müssten, die bisher in der so genannten Umbrella Group an der Seite der Vereinigten Staaten stritten: Ja-

Flammende Appelle an die USA d e r

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Demonstration von Milo∆eviƒ-Anhängern*: Sanktionsmilderung gegen freie Wahlen? J U G O S L AW I E N

Slobos Revanche Vergeblich hofft die Opposition in Belgrad bisher auf den Sturz von Präsident Milo∆eviƒ. Dessen Regime wankt nicht einmal und straft rigoros Abtrünnige und Feinde.

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* Oben: Ende Oktober bei Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs nach Bistrica; unten: mit Ehefrau Mirjana, Sohn Marko, Tochter Marija.

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Präsidenten der Demokratischen Partei. Selbst Zoran Djindjiƒ sieht Anzeichen für ein geplantes Attentat auf ihn. Polizei habe seine Leibwächter nach den bevorzugten Fahrtrouten ausgefragt. Schon nach dem von Belgrad inszenierten Bosnienkrieg sollen Insideraussagen zufolge hunderte von „Mitwissern“ durch mysteriöse Autounfälle ums Leben gekommen sein.Aber auch zahlreiche enge Freunde der Milo∆eviƒ-Dynastie wurden in den vergangenen Jahren unter nie aufgeklärten Umständen ermordet aufgefunden. Sie hatten sich von ihren Gönnern distanziert.

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ttentate, so eröffnete die Belgrader Wochenzeitung „Nedeljni Telegraf“ ihren Lesern, seien eine „serbische Tradition“. Die erlebt im Schattenreich des Balkan-Despoten Slobodan Milo∆eviƒ derzeit eine blutige Renaissance. Allein vier Attentate auf politische Opponenten gab es zuletzt in Serbien. Anfang Oktober sollte der Führer der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) Vuk Dra∆koviƒ durch einen arrangierten Autounfall liquidiert werden. Er überlebte als Einziger – vier Personen starben. Weil das Regime das Attentat nicht mehr leugnen konnte, schob man die Verantwortung auf eine mysteriöse Serbische Befreiungsorganisation (OSA). Diese habe in einem Bekennerbrief den Anschlag gestanden. Einen Tag vor dem Mordversuch gegen Dra∆koviƒ feuerten Unbekannte auf den Präsidenten der SDA-Partei in Priboj/Sand≈ak. In Valjevo warfen Attentäter nachts eine Bombe auf die Terrasse des

Milo∆eviƒ, Familienclan*: „So wunderschönes Land“ d e r

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Die Hoffnungen vieler auf einen baldigen Regimewechsel in Belgrad nach dem Kosovo-Desaster haben sich nicht erfüllt. Sonderpolizei und Armee sichern Jugoslawiens Präsidenten weiterhin die Basis der Macht. Die Anläufe der zersplitterten Opposition, mit Massendemos Milo∆eviƒ zu kippen, schlugen bisher fehl. Entsprechende Ankündigungen des Führers der Demokratischen Partei, Zoran Djindjiƒ, erwiesen sich als zu vollmundig. Einzige Alternative scheinen nun baldige Wahlen zu sein. Dafür ist der Westen offenbar bereit, mit Sanktionsmilderungen einzulenken – etwa humanitären Öllieferungen und einer Aufhebung des Flugembargos. Wenn das man genügt. Denn so leicht gibt Milo∆eviƒ, 58, nicht auf. Stattdessen ließ er zur Jagd auf Fahnenflüchtige blasen. So wurde bekannt, dass sein früherer Spezi, Serbiens Präsident Milutinoviƒ, unter „Hausarrest“ steht. Er soll intern Zweifel am Kurs der Partei geäußert haben. Wo Warnungen und Verlockungen nicht helfen, wird erbarmungslos eingeschüchtert. Eine Erfahrung, die der ehemalige Sozialisten-Vize Milorad Vu‡eliƒ machte. Der hatte sich während des Kosovokriegs nach Griechenland abgesetzt. Sicher sein kann er jetzt nicht mal mehr in Montenegro. Dort wurde sein Auto von Kugeln durchsiebt. Er hatte es zufällig an Freunde ausgeliehen. Vergebens suchte der Westen seit dem Kosovokrieg mit einer internationalen Quarantäne das Milo∆eviƒ-Regime zu schwächen – etwa mit einer Boykottliste für Visa. Auf der stehen seit dem 5. Mai 305 Loyalisten des Serben-Regenten, denen die EU sowie weitere 15 Staaten, einschließlich der USA, die Einreise offiziell verbieten. Ausnahmen, rechtfertigte sich die EU lakonisch, seien allerdings vorgesehen. So wie für Ivica Da‡iƒ, Sprecher der Sozialistischen Partei Serbiens. Der tummelte sich jetzt unbehelligt bei der Tagung der Interparlamentarischen Union in Berlin. Per Handy scherzte er vom Kurfürstendamm mit den in Belgrad zurückgebliebenen Journalisten: „Nicht einmal die Fingerabdrücke haben sie von unseren Gläsern genommen.“ Wenn der Westen Milo∆eviƒ entmachten wolle, müsse er von seinen halbherzigen Aktionen Abstand nehmen, warnt denn auch der Belgrader Staranwalt Toma Fila: „Die Liste ist reine Schlamperei. Personen wurden verwechselt, andere haben seit Jahren eine andere Position.“ Auf mindestens 3000 bis 4000 Personen – vom Gemeindebürgermeister bis zu den Direktoren von Staatsbetrieben – müsse das Reiseembargo laut Fila ausgeweitet werden. Nur dann ließe sich der Machtapparat um Milo∆eviƒ isolieren. Auch die geheime Boykottliste für serbische Firmen, die von korrumpierten Funktionären gemanagt werden, müsste

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Ausland oder China gebunkerten Notgroschen spürbar. Die von der Landesmutter in den Direktoren- oder Ministerstand erhobenen Freunde packten klammheimlich die Koffer, schickten Söhne und Töchter als Vorboten außer Landes. Zoran Mi∆koviƒ, ehemaliger Minister und Direktor des Delta-Konsortiums, einer staatlichen Monopolzentrale für Import-/Exportgeschäfte, verfügte flugs die Firmenverlegung ins Ausland. Damit, triumphierte er gegenüber Freunden, sei er bereits von der EUListe gestrichen. Delta galt als lukrative Einnahmequelle für JUL-Funktionäre und deren dubiose Geschäfte. Die Firma befand sich auf einer Boykott-Geheimliste der EU. Zunehmende Zweifel an der Loyalität seiner politischen Diener lassen Milo∆eviƒ nun noch mehr Rückhalt im engeren Familienkreis suchen. Ehefrau Mirjana führte erstmals eine politische Delegation zu Gesprächen mit den montenegrinischen Abgeordneten, um die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Republiken zu erörtern. Die Montenegriner kamen dabei allerdings nicht zu Wort. Die vorgesehene Diskussionszeit von einer Stunde

Anschlag auf Auto von Dra∆koviƒ (r.): Serie mysteriöser Unfälle

konzernen rund um die Welt, verkündete seinen Rücktritt als Minister ohne Ressort. Niemand in der Regierung, klagte er, habe dort seine demokratischen Reformvorschläge gewürdigt. Das Milo∆eviƒ-Imperium schlug umgehend zurück. „Slobos“ Finanzpolizei prüft jetzt die Geschäftspraktiken des Abtrünnigen. Kariƒ setzt derweil auf das Wohlwollen anderer: Die EU korrigiert im ZweiMonats-Rhythmus ihre Sanktionskartei. Einsichtige dürfen mit einer Streichung aus der Liste rechnen. Dann könnte Kariƒ den Frust politischer Ungnade zumindest in seinem englischen Schloss verwinden. Selbst im hartgesottenen Clan um Milo∆eviƒ-Gattin Mirjana Markoviƒ und ihre kommunistische Parteiorganisation JUL war nach der EU-Entscheidung das Zittern um den Verbleib der in Zypern, Griechenland, der Schweiz, Luxemburg 200

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füllte die Soziologieprofessorin allein mit ihrer Anklage gegenüber den undankbaren Brüdern aus. Sohn Marko wurde vergangene Woche in die Geschäftsführung der Po≈arevacBank aufgenommen – einer Zweigstelle der Beobank, die internationale Transaktionen vornimmt. Tochter Marija ist als Botschafterin für Kuba im Gespräch. Die Welt, so verkündete der SerbenVormann während einer Brückeneinweihung optimistisch, werde sich „schon bald ändern“. Es gelte nur, die Übergangsperiode auszusitzen. Und Ehefrau Mirjana ließ wissen: Das eigene Land sei „so wunderschön“. Da wolle sie gar nicht ins Ausland – schon gar nicht in Staaten, in denen sie nicht willkommen sei. Renate Flottau

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FOTOS: AP ( li.); REUTERS ( re.)

drastisch aufgestockt werden. Hunderte serbischer Unternehmen verlegten ihren Sitz mittlerweile nach Montenegro, weil die EU-freundliche Teilrepublik des Dissidenten-Präsidenten Milo Djukanoviƒ mit rund 600 000 Einwohnern von den Sanktionen ausgenommen wurde. Zunächst hatten die Reisebeschränkungen Panik unter der luxusverwöhnten Gefolgschaft der Präsidentenfamilie Milo∆eviƒ ausgelöst. Immerhin umfasste die Büßerkartei nahezu die gesamte politische und militärische Hierarchie sowie die persönlichen Freunde des Herrscherpaares. Die Nomenklatura fürchtete um ihre Pfründen und Alterswohnsitze im sonnigen Ausland. Die Schweiz ließ bereits Konten der „unerwünschten Touristen“ einfrieren. In London blockierte die Regierung die Immobilien des Milo∆eviƒ-Geldkuriers Bogoljub Kariƒ, Listenplatz 75 der Embargoliste. Als der Multimillionär samt Gattin Milenka sogar vom Flughafen in Nikosia/ Zypern nach Belgrad zurückverfrachtet wurde, war dessen Loyalität zum Regime schnell erschöpft. Serbiens Rockefeller, Besitzer von Banken, einem TV-Sender, eines Kommunikationsnetzes und Wirtschafts-

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Ausland

LIECHTENSTEIN

Einladung zur Geldwäsche Wer Kapital vor dem Zugriff des Fiskus verstecken will, findet im Fürstentum Liechtenstein willige Helfer. Die Treuhänder versichern gern, nur legal zu arbeiten. In einem Dossier des Bundesnachrichtendienstes steht eine andere Version: Mafia-Organisationen, Drogenkartelle und russische Großkriminelle werden geradezu in den Zwergstaat eingeladen.

Geldfächer in Liechtensteiner Bank

Diskrete Fluchtburg für scheues Kapital

Fürstenschloss Liechtenstein: Ein ganzes Land als Handlanger von Kriminellen

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ie Hilfe kam von ganz oben. Liechtensteins Regierungschef Mario Frick nutzte eine InvestmentTagung im Fürstentum, um den Ruf des Finanzplatzes aufzupolieren. „Sorgfalt“ sei bei der Entgegennahme von Geldern oberstes Gebot. Mit der Revision des Bankgesetzes, dem neuen Sorgfaltspflicht-Gesetz und der Verabschiedung von Strafbestimmungen gegen Geldwäsche und Insiderhandel habe sein Land die notwendigen Schritte zur Verhütung der Finanzkriminalität gemacht. Auch Wirtschaftsminister Michael Ritter widersprach den weltweiten Kritiken, die in dem Zwergstaat nicht nur einen Zufluchtsort für das Kapital erfolgreicher Unternehmer sehen, sondern auch eine ideale Spielwiese für Geld- und Ganovenadel. Liechtenstein verfüge über eine „griffige, europäischen Standards entsprechende Missbrauchsgesetzgebung“. Über das angebliche Reinheitsgebot für den Finanzverkehr und die vermeintlichen Saubermänner in der Steueroase können die Regierenden in Deutschland nur gequält lächeln – sie wissen es besser. 202

In den Giftschränken der entscheidenden Ressorts des Schröder-Kabinetts liegt ein Dossier, das der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), August Hanning, Anfang April ablieferte. Das Kanzleramt, Joschka Fischers Diplomaten, Hans Eichels Finanzexperten und Otto Schilys Verbrechensbekämpfer werden darin auf knapp 30 Seiten über krumme Geschäfte von Staats wegen informiert. Das Geheimpapier liest sich, als sei die Schreckensvision aller seriösen Regierungen schon Realität: Ein ganzes Land, mitten in Europa, soll sich den Kriminellen in aller Welt als Handlanger andienen – eben das Fürstentum Liechtenstein. Zu der hofierten Kundschaft, notierte der BND penibel, gehörten „lateinamerikanische Drogenclans, italienische Mafiagruppierungen und russische OKGruppen“. Sie alle würden nicht nur als Anleger geduldet, sondern mit „maßgeschneiderten Finanzdienstleistungen“ zur Wäsche ihres schmutzigen Geldes angelockt. Und das alles gefahrlos: Denn solche Geschäfte in Liechtenstein, urteilt der deutsche Auslandsgeheimdienst, würden d e r

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geschützt durch „ein Geflecht aus Beziehungen von hohen Beamten, Richtern, Politikern, Bankdirektoren und Anlageberatern, die sich bei der Abwicklung illegaler Geldgeschäfte im Auftrag internationaler Krimineller gegenseitig unterstützen“. Der amtliche Befund ruiniert die ohnehin schon ziemlich ramponierte Reputation des Zwergstaates endgültig. Versteckt zwischen Österreich und der Schweiz, beherbergt das Fürstentum auf gerade mal 160 Quadratkilometern rund 32 000 Einwohner und mehr als doppelt so viele Stiftungen, in denen mindestens 200 Milliarden Schweizer Franken fast spurlos verschwunden sind. Das geschieht gewöhnlich innerhalb weniger Stunden. Der Anleger wählt unter den 120 zur Verschwiegenheit verpflichte-

BND-Lauschstation im Schwarzwald: Nächtliche

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FOTOS: F. BIICKLE / BILDERBERG (li.); M. WIENHÖFER / PRINT ( re.)

ten Treuhändern des Landes einen aus, der Namen und Adresse für eine Stiftung hergibt und die Briefkastenfirma verwaltet. Nach Ausstellung der Stiftungsurkunde eröffnet die Gesellschaft auf ihren Namen ein Konto und legt das Geld an. Nach außen gilt der Strohmann als Besitzer des Vermögens, die wahren Eigentümer bleiben anonym und können sich in der Heimat folgenlos Steuerzahlungen sparen. Das Versteckspiel nährt die Einwohner glänzend. Jeder zweite Beschäftigte ist im Geldgewerbe oder Treuhandwesen tätig. Sie alle mühen sich von früh bis spät, den Ruf zu festigen, eine der diskretesten Fluchtburgen für das scheue Kapital zu sein. Das Bankgeheimnis ist Staatsdoktrin, zudem gibt es ein Anwalts-, ein Treuhänder- und ein Steuergeheimnis. Ein scheinbar perfekter Schutz. Erst einmal wurde die Schweigemauer durchbrochen, als es dem SPIEGEL (51/1997) gelang, mit Hilfe einer Diskette etliche Namen der Stifter im Dunkeln zu enttarnen. Das führte zu einer Flut von Steuerstrafverfahren. Jetzt glückte dem BND ein weiterer Coup. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Bundesregierung dem Geheimdienst in den vergangenen Jahren neue Prioritäten bei der Informationsbeschaffung aufgegeben – Geldwäsche und Drogenhandel, die Geschäfte internationaler Verbrechersyndikate sollen aufgeklärt werden. Liechtensteins Diskretion ist die moderne Kommunikation und die Nähe zur deutschen Grenze zum Verhängnis geworden. In den Ausläufern des Schwarzwaldes betreibt der Dienst seine leistungsfähigste Lauschanlage. Die Station ist auf das Abhören des sogenannten Intelsat-Satellitensystems spezialisiert. Außer über Telefon und Fax wickeln Banken weltweit ihren Datenaustausch auch über den Satellitenweg ab. Seit 1996 zapft der BND gezielt den nächtlichen Datentransfer der Geldhäuser an – solange keine deutschen Kunden und

Datentransfers angezapft d e r

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Ausland keine deutschen Institute betroffen sind, gelten praktisch keinerlei Restriktionen. Ein Treffer kam zum anderen, die krumme Kundschaft des Fürstentums und ihre Helfer wurden aussortiert. Im „Weltzentrum der Briefkastenfirmen“, so der BND, würden etliche Anwälte und Berater auf den ersten Blick völlig legalen Geschäften nachgehen. Doch ein erheblicher Teil der rund 120 Treuhänder würde gleichzeitig „ein sehr ertragreiches Standbein in der Illegalität“ unterhalten. Ihren Einfluss und ihre Reputation würden

So ziemlich jeder Wirtschaftskrimi von Format endet im Fürstentum die schwarzen Schafe „gegen entsprechendes Entgelt zum Vorteil organisierter krimineller Gruppen zur Verfügung stellen“. So zählten der südamerikanische Drogenbaron Pablo Escobar vom Medellín-Kartell und das Cali-Kartell zu ihren Kunden. Nur selten wurde bisher ein Fall bekannt, der einen solchen Verdacht nährt: Im August 1996 verhaftete die amerikanische Drogenpolizei DEA den Schweizer Finanzier Karl G. Burkhardt in der Wandelhalle des Luxushotels Ritz-Carlton in Alexandria bei Washington. Der „Geldwäscher der Weltklasse“ (DEA) war den USAgenten von Szenekennern als Spezialist für die Legalisierung größerer Summen Drogengelder genannt worden. Ein V-Mann stellte ihm eine Falle. Er übergab Burkhardt, nachdem der schon drei kleinere Transaktionen abgewickelt hatte, einen Koffer mit zwei Millionen USDollar. Der Schweizer schwärmte laut Anklageschrift von den Möglichkeiten, per Offshore und Liechtensteiner Bankkonten das Geld zu waschen. Liechtenstein habe noch nie Auskünfte über Bankkonten an fremde Staaten erteilt. Wenn – ausnahmsweise – solche Fälle aufflögen, so der BND in seinem Dossier, würden manche Treuhänder „eine besondere Fähigkeit entwickeln, bei Nachforschungen zur rechten Zeit und an den richtigen Stellen Gedächtnislücken zu haben“. War es auch so im Fall Burkhardt? Der in den amerikanischen Gerichtsunterlagen als Burkhardts liechtensteinischer Treuhänder genannte David Vogt erklärte, er sei von dem Schweizer lediglich ersucht worden, für einen südamerikanischen Klienten eine Anstalt zu gründen, in die der Kunde ein Nummernkonto habe einbringen wollen. Von Drogengeldern habe er nichts gewusst. Demonstrativ trat Vogt als Verwaltungsrat der Gesellschaft zurück. Die besondere Fähigkeit der Liechtensteiner, auch der bizarren Klientel Schutz angedeihen zu lassen, ist bei deutschen Fahndern legendär. So ziemlich jeder Wirtschaftskrimi von Format endet im Fürstentum. So war es schon im Fall des Exd e r

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ports der Giftgasfabrik in das libysche Rabita, so ist es heute bei der Suche nach den Hintermännern des Schmiergeldkartells in der deutschen Autoindustrie. Selbst bei einem Hinweis auf die außerordentliche Bedeutung des Falles ist auf Kooperation nicht zu hoffen. Als die Staatsanwaltschaft Stuttgart 1994 im Zusammenhang mit der Lieferung von Zubehör für das pakistanische Atomwaffenprogramm um die Offenlegung der Konten eines verdächtigen schwäbischen Kaufmanns ersuchte, blockte die Vaduzer Justiz ab. In Wirtschaftsangelegenheiten werde keine Rechtshilfe gewährt. Selbst die absurdesten Begründungen werden vorgebracht, um das System der Verschwiegenheit zu bewahren. Das hat die Bundesregierung gerade erst bei ihrer Suche nach verschobenen DDR-Vermögen erleben müssen. In einer liechtensteinischen Anstalt orteten die bundesdeutschen Finanzfahnder 66 Millionen Mark. Zwei derjenigen, die beim Beiseiteschaffen des Geldes geholfen haben sollen, waren Schweizer, Treuhänder mit Wohnsitz im Fürstentum. Der beantragten Auslieferung stand selbst nach sorgfältiger Prüfung nichts mehr im Wege. Stuttgart

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Standort der BND-Abhöranlage

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DEUTSCHLAND

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100 km

Da blieb dem Fürstlich Liechtensteinischen Obersten Gerichtshof nur noch ein ganz besonderer Salto. Vom „Standpunkt der Menschenwürde“, urteilte das Gericht im Juli des vergangenen Jahres, sei eine Auslieferung „nicht zu verantworten“. Die beiden Gesuchten würden „mit ihren Familien schon seit vielen Jahren in Liechtenstein wohnen, haben hier ihre berufliche Existenz, hier gehen ihre Kinder zur Schule“. Eine Inhaftierung von Familienvätern aber wäre ein Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. „Unerträglich“ nannte der Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang Schomburg, diese Entscheidung. Die Bundesregierung protestierte, aber die Vaduzer Kollegen reagierten kühl. Da sei nichts zu machen, d e r

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Schweizer Finanzier Burkhardt

„Geldwäscher der Weltklasse“

schließlich habe man Gewaltenteilung. Erwischt es dennoch jemanden aus der Geldfestung am Fuße der Alpen, ist es wohl eher eine Panne. Als es einmal zu einer Verhaftung kam, war das für den BND nur ein „Betriebsunfall“. Nachrichtendienstliche Meldungen hätten ergeben, dass „ein neueingestellter junger Richter, der nicht auf der Gehaltsliste der Community stand und vermutlich die einschlägigen Zusammenhänge nicht kannte, die Verhaftung der beiden Verdächtigen veranlasst hatte“. So sicher ist sich der Dienst seiner Sache, dass er gleich seitenweise die Namen von in illegale Geschäfte verwickelten Treuhändern, ihre Firmen und Stiftungen auflistet. Klangvolle Namen sind darunter, die sich ihrer Freundschaft zur Fürstenfamilie wie auch zu deutschen Politikern rühmen. Aus juristischen Gründen nennt der SPIEGEL die auf geheimdienstlichem Wege ermittelten Namen nicht. Wie sauber seine Zunft angeblich agiert, erklärt einer der Größten der Liechtensteiner Szene, der Treuhänder Professor Dr. Dr. Herbert Batliner, gern am eigenen Beispiel: „Wir nehmen keine Kunden aus den GUS-Staaten, und wir nehmen auch keine Laufkunden oder Kunden, die mit einem Koffer voller Geld kommen. Diese Leute schaffen es bei mir nicht einmal vom Eingang bis zum ersten Stock.“ Der BND hat Zweifel an solchen Ehrenerklärungen: Während ein Liechtensteiner Treuhänder seit 15 Jahren vorzugsweise „enge Kontakte“ zu dem Cosa-NostraGroßclan Cuntrera Caruana pflege, habe sich ein anderer in den letzten drei Jahren „auf russische Klientel spezialisiert“. Für neue Kundschaft sei der Geldverwalter „auch bereit, große Summen Bargeld ohne Nachfrage nach der Herkunft anzuneh* In kolumbianischer Haft 1992.

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men“, um sie dann persönlich bei der Bank nen von Polizei, Justiz und Banken. Da einzuzahlen. kann nichts schief gehen. Landet ein Das ungenierte Spiel mit dem illegalen Rechtshilfeersuchen in den Amtsstuben, Standbein funktioniert nur, weil die Herren werden erst einmal die Banken angehört – des Geldes den Staat wohl nicht übermäßig so sieht es das liechtensteinische Recht vor. fürchten müssen. Im Gegenteil: Nach Und auch sonst funktioniert das ZusamBND-Erkenntnissen sitzen Helfer in den menspiel der Trickser gut. Behörden des Fürstentums. Als unlängst Fahndern des BundeskriIn dem Dossier wird sogar ein ehemali- minalamtes die Teilnahme an einer von ges Regierungsmitglied beschuldigt, „bei den deutschen Behörden beantragten Verder Abwicklung illegaler Geldgeschäfte nehmung zugestanden wurde, wurde dies im Auftrag internationaler Krimineller“ schon vorab als Meilenstein der polizeilientscheidend geholfen zu haben. Seit meh- chen Zusammenarbeit gefeiert. Im Fürsreren Jahren habe er „Treffen mit den tentum angekommen, wurden die BKAFinanzmanagern südamerikanischer Dro- Männer erst einmal freundlichst zum Mitgenclans organisiert“. tagessen in die Kantine Schon in seiner Amtszeit eingeladen. Kaum waren habe der inzwischen die Teller abgetragen, pensionierte Politiker jeeröffneten die Gastgeber nes „Geflecht aus Bezieden deutschen Beamten, hungen von hohen Benun sei es zu spät, die amten, Richtern, PoliVernehmung sei gerade tikern, Bankdirektoren abgeschlossen worden. und Anlageberatern“ geGegen solche Praktischaffen, das so typisch ken sind die EU-Staaten für die Steueroase ist und hilflos. Bis heute ist das gegen alle Versuche Liechtenstein nicht Mitder Aufweichung gefeit glied der OECD-Sonderscheint. kommission „Financial Selbst die Schweiz, Action Task Force“, die die weltweiten Geldgelange mit Liechtenstein in schäfte überwacht. So einer symbiotischen Beentzieht sich das Fürstenziehung verbunden – ein tum jeder internationalen Großteil der in Liechten- SPIEGEL-Titel 51/1997 Kontrolle. stein verwalteten Gelder Auch die Erkenntnisse aus den BNDliegt auf den Konten Schweizer Banken –, hat sich dem Drängen der Europäer und Lauschangriffen helfen der Schröder-Reder Amerikaner nach mehr Sorgfalt nicht gierung im Kampf gegen die Steueroase mehr verschließen können. Schweizer Er- Liechtenstein kaum weiter. „Wir schaffen mittlungsrichter kümmern sich um die Her- es ja nicht einmal innerhalb der EU, Engkunft dubioser Gelder. Das einstmals mil- land und Luxemburg auf Linie zu brinde Klima hat sich verändert. Da trifft es gen“, resigniert ein hoher Beamter im sich, dass Schweizer Treuhänder jetzt auch Außenministerium, „wie soll es dann bei in Liechtenstein ihre Geschäfte abwickeln einem Staat gelingen, der gar nicht der Union angehört?“ dürfen. Die Chancen sind gleich null, das wissen Dass der ganze Staat nur so groß ist wie eine deutsche Kleinstadt, sorgt für fami- offenbar auch die Geldhäuser, die es nach liären Filz. Familienmitglieder der Treuhän- Liechtenstein drängt – in den letzten vier dergeschlechter sitzen in Schlüsselpositio- Jahren hat sich die Zahl der Institute verdreifacht. Bankier Bruno Gehrig, Mitglied des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank, weiß, warum im Fürstentum die verschwiegene Welt des Kapitals immer noch in Ordnung ist: „Der Erfolg des Finanzplatzes Liechtenstein ist die Frucht eines unbeirrt von Modewellen nachhaltig umgesetzten Nischenkonzepts, das den kleinräumigen und kleinbetrieblichen Voraussetzungen des Landes optimal entspricht.“ GAMMA / STUDIO X

KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA

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Drogenbaron Escobar*: Hilfe gegen Honorar d e r

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Georg Mascolo

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FOTOS: SCANPIX / DANA PRESS

Aufmarsch schwedischer Neonazis (im Oktober): Wer im Weg steht, kommt auf die „Todesliste“ SCHWEDEN

„Revolution ohne Gnade“ Eine Terrorwelle von Rechtsradikalen und Neonazis erschüttert das Land. Lange wurde der braune Untergrund verharmlost, nun kämpft die Regierung um Schadensbegrenzung.

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as Leben hätte so schön und beschaulich sein können für Kriminalinspektor Sten Axelsson. Im Angesicht des nahen Ruhestandes dürfte sich der 60-jährige Polizist eigentlich mehr Zeit gönnen für seine inzwischen neun Enkel oder sein Liebhaber-Hobby, ein TriumphMotorrad, Baujahr 1955. Stattdessen unterliegt der Kriminalist, der eigentlich Menschen vor Bedrohung und Verbrechen schützen soll, selbst strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Sein Haus wird Tag und Nacht überwacht. Seit drei Monaten wagt er nicht mehr, unbewaffnet die Wohnung zu verlassen. Denn Axelsson hat sich den Ruf des „Nazi-Jägers Nummer eins“ in Schweden erworben. Seit fast fünf Jahren bekämpft der Fahnder in Västerås und der Region Västmanland jede Form von Rechtsradikalismus, vor allem die überall aus dem Boden schießenden Neonazi-Gruppen. Deshalb zählt der Polizist in der braunen Szene seines Landes zu den meistgehassten Gegnern. Er steht auf einer Liste von fünf „besonders interessanten Personen“, was so viel heißt wie: besonders gefährdet. Alle fünf, Polizisten und Journalisten, werden in Pamphleten gewaltbereiter Neonazis unverhohlen mit dem Tode bedroht: „Es ist an der Zeit für sie, zu er208

fahren, dass sich Patrioten wehren können wie Männer.“ Die düstere Warnung ist durchaus ernst gemeint. Ein unter dem Pseudonym „Peter Karlsson“ arbeitender Journalist, ebenfalls auf der Fünfer-Liste, wurde Ende Juni vor seinem Wohnhaus Opfer einer Autobombe. Karlsson, auf Enthüllungen über die rechtsextreme Szene spezialisiert, erlitt schwere Rückgratverletzungen, so dass er mühsam wieder laufen lernen musste. Sein achtjähriger Sohn, der mit ihm Wagen saß, wurde ebenfalls schwer verletzt. Der Journalist ist nicht das einzige Opfer. Eine Welle bislang nicht bekannter Gewalt von Rechtsextremisten überzieht seit Monaten das Land. Ende Mai schossen sich drei Neonazis nach einem Banküberfall in Kisa (Beute: 2,8 Millionen Kronen, rund 610 000 Mark) brutal den Fluchtweg frei und töteten zwei Polizisten. Seit Montag vergangener Woche stehen Tony Olsson, Jackie Arklöv und Andreas Axelsson, alle durch einschlägige Aktivitäten ausgewiesen, unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen in Stockholm wegen Mordes vor Gericht. Am 12. Oktober wurde der Stockholmer Gewerkschafter Björn Söderberg, 41, an seiner Wohnungstür mit sechs Schüssen in d e r

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den Kopf hingerichtet. Der Funktionär hatte einen Kollegen als Neonazi geoutet und wurde wochenlang bedroht. Die Polizei verhaftete drei Rechtsextremisten. Ende Oktober, Gewerkschaften und Parteien hatten bereits zu Demonstrationen gegen die „rechte Gefahr“ aufgerufen, explodierte vor dem Gewerkschaftshaus in Gävle an der Ostküste eine Bombe. Kurz darauf ging ein Sprengsatz am Haus des bekannten Musikers Mikael Wiehe in Malmö hoch. Und erst am vorigen Donnerstag durchschossen Unbekannte das Wohnungsfenster des prominenten Journalisten Kurdo Baksi, der Chefredakteur des linken Magazins „Svartvitt“ ist und auf Grund seines Einsatzes gegen den Rassismus als besonders gefährdet galt. „Wir haben den politischen Terrorismus im Land“, bekennt Justizministerin Laila Freivalds. Auf rund 200 bis 250 Mitglieder schätzt die geheim operierende Sicherheitspolizei (Säpo) den harten Kern der braunen Terroristen, dazu kommen bis zu 2000 Sympathisanten. Viele lernten sich nach Erkenntnissen der Ermittler im Gefängnis kennen und verbrüderten sich dort mit Gewaltverbrechern. Sie organisieren sich in Gruppen wie Nationalsozialistische Front, Arische Bruderschaft oder Schwedische Widerstandsbewegung. Ein Großteil der Extremisten unter dem gelben Hakenkreuz auf blauem Grund vagabundiert nach Erkenntnissen der Säpo allerdings nur in einem „lockeren Netzwerk“ durchs Land und verbündet sich, je nach Gelegenheit, mit Gleichgesinnten. Die dramatische Zunahme der Gewalt wird begleitet durch lautstarke Nazi-Propaganda. Das Angebot rechtsradikaler Magazine, die ebenso wie extremistische Par-

Ausland Anschläge gegen Ausländer und Ho- sozialismus und Holocaust zu verbessern. mosexuelle hat es auch in der Vergangen- Vor allem gelang es dem kämpferischen heit bereits gegeben. Neu hingegen, sagt Ermittler mit seinen Kollegen, Auftritte die für Demokratie- und Verfassungsfra- rechtsradikaler Rockgruppen zu verhingen zuständige Staatsministerin Britta Le- dern. Denn die Erfolge der Skinheadjon, sei „die Kombination von schwerer Bands und Nazi-Rocker helfen nach ErGewaltkriminalität, viel Geld und rechts- kenntnis der Behörden, die braune Beweradikalem Hintergrund“. Viele Schweden gung zu finanzieren und jugendliche Symwollten das zunächst nicht wahrhaben. All- pathisanten zu rekrutieren. Untersuchungen von Wiszu lange wurden Rechtsradisenschaftlern ergaben 1997, kale als pubertierende oder dass 17 Prozent der männlibetrunkene Jugendliche verchen Schüler zwischen 12 und harmlost und ihre Taten als 20 Jahren Fascho-Rock hörunpolitisch dargestellt. Der ten. Neun Prozent aller braune Terror stelle „keine Schüler dieser Jahrgänge äureelle Bedrohung gegen den ßerten offen Sympathie für Staat“ dar, schrieb noch im die rassistischen Texte, in deletzten Jahr die Säpo in ihren nen „eine weiße Revolution Jahresbericht. ohne Gnade“ propagiert und „Nach offizieller Sicht durfgegen Ausländer, Juden und te es schwedischen TerrorisMinderheiten gehetzt wird. mus gar nicht geben“, sagt Fil„Das Problem sind nicht die memacher Rolf Wrangnert, Nazi-Organisationen“, sagt „so etwas kam höchstens von der Szene-Kenner und Autor außen ins Land.“ Auch SozioTobias Hübinette, „entscheilogin Lööw kritisiert, dass Ministerin Lejon dend ist die Subkultur.“ Neo-Nazismus viele Jahre Über 300 verschiedene CDs des dumpf„einfach kein Thema“ war. Und selbst Staatsministerin Lejon räumt inzwischen nationalen „White Power“-Rocks sind derein, dass „niemand in der Gesellschaft die zeit über Internet erhältlich, stellte Lööw Entwicklung ernst genug genommen“ fest. Die erfolgreichste Gruppe, Ultima Thule, erspielte sich binnen kürzester Zeit habe. Für Kriminalfahnder Axelsson gab 1995 drei Goldene Schallplatten für hundertder Mord an einem homosexuellen Eis- tausendfach verkauften Rechts-Rock. Aufgeschreckt durch die Ereignisse, verhockey-Star den letzten Anstoß, persönlich den Kampf gegen die rechten Gewalt- sucht die Regierung, den Neo-Faschismus täter aufzunehmen. Der Polizist ent- zu bekämpfen. Weil rund zehn Prozent aller schwedischen Schüler in Umfragen den Holocaust schlicht leugneten, startete Ministerpräsident Göran Persson persönlich die Initiative „Lebendige Geschichte“. Ein eigens aufgelegtes Buch über den Nationalsozialismus wurde über 300 000 Familien ins Haus geschickt. Im Januar will er mit prominenten Staatsgästen wie dem Briten Tony Blair und Israels Ehud Barak die öffentliche Kampagne fortsetzen. Um die Welle von Gewalt einzudämmen, müsse notfalls über eine „Reform der Gesetze“ nachgedacht werden, fordert nun Justiz-Staatssekretärin Kristina Rennerstedt. Auch eine ZusamAnschläge auf Polizisten (im Mai), auf Gewerkschaftshaus (im Oktober): Ernst gemeinte Drohungen menlegung von Sicherheits- und für den Reichstag kandidierte und im wickelte im Alleingang ein „Handlungs- Kriminalpolizei, die von Kriminalisten wie Wahlkampf gezielt um Stimmen von Ein- programm“ für seine Dienststelle und die Axelsson seit langem gefordert wird, ist nicht mehr ausgeschlossen. wanderern warb. „Seitdem lebe ich in Stationen der Region. Nur ein Verbot der braunen OrganiEr suchte Kontakt zu den Führern der ständiger Bedrohung“, sagt Harsan. Fast täglich erhält sie anonyme Anrufe Nazi-Gruppen, aber auch zu deren Geg- sationen und Publikationen kommt für oder Schmähbriefe, in denen sie als „Ein- nern. Er vermittelte und drohte – und half die Regierung nach wie vor nicht in Frage. wandererhure“ beschimpft wird. Landes- so, rechte Anschläge in seiner Gegend zu „Wir müssen Neonazis effektiv bekämpweit bekannt wurde sie nach einem Über- unterbinden. Axelsson bedrängte Kneipen- fen und bestrafen“, sagt Rennerstedt, „und fall auf einer Wahlveranstaltung. Ihr blut- wirte, Gäste mit Nazi-Sympathien vor die nicht durch ein Verbot in den Untergrund verschmiertes Gesicht erschien auf vielen Tür zu setzen, und kooperierte mit Leh- drängen.“ Bernhard Albrecht, Manfred Ertel rern, um die Schulbildung über NationalTitelseiten. B. UNGER / DANA PRESS

teien und Organisationen im liberalen Schweden nicht verboten werden können, stieg von 8 noch vor zehn Jahren auf heute wenigstens 26 an, zählte die Soziologin und Kriminologin Helene Lööw. Sie sind großenteils professionell gemacht und an vielen Kiosken offen erhältlich. Die Zahl einschlägiger Webseiten erhöhte sich von einem halben Dutzend vor noch drei Jahren auf inzwischen knapp 40. Vor allem auf den Internet-Seiten kursieren immer wieder „Todeslisten“ über Gegner, die dem rechten „Kampf im Weg“ stehen. Mal umfassen sie 25, mal 700 Namen. „Es gibt so viele solcher Listen“, räumt Säpo-Generaldirektor Anders Eriksson ein, dass er die Existenz jeder Einzelnen nicht bestätigen will. „Da schrillen nicht immer gleich die Alarmglocken“, heißt es in seinem Amt. Angesichts solch verharmlosender Einschätzungen fühlen sich Opfer wie der Sänger Wiehe von der Polizei „im Stich gelassen“. Lange vor der Explosion schon war der Liedermacher bedroht worden und hatte dies vergebens der Polizei angezeigt. Nach dem Anschlag erhielten die Ermittler einen anonymen Anruf: „Das nächste Mal töten wir ihn.“ Auch Novin Harsan traut sich nach Einbruch der Dunkelheit kaum noch vor die Tür. Die aus Syrien gebürtige Kurdin steht ebenfalls auf einer Todesliste. Ihr „Steckbrief“ mit Privatadresse, Telefonnummer und Lebensgewohnheiten kursiert im Internet. Ins Blickfeld der Rechtsradikalen geriet die Sozialdemokratin, als sie 1998

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„Kauft britisch, esst britisch!“

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Auf massiven Druck der EU bahnt sich eine Lösung im Streit um Rindfleisch aus Großbritannien an. Doch Forscher melden neue, alarmierende Befunde.

Werbeaktion für englisches Rindfleisch (in London): „Franzosen werden geröstet“

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REUTERS

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ritische Journalisten haben eine besondere Schwäche für starke Worte und militärische Metaphern. Kein Wunder, dass sie den neuen Streit um ihr geliebtes heimisches Rindfleisch sofort zum „Beef War“ hochschrieben. Als wäre der Hundertjährige Krieg erneut ausgebrochen, wurden die Franzosen, die „Frösche“, zum Staatsfeind Nummer eins erklärt. Denn Frankreich, wichtigster Auslandsmarkt für Britenfleisch, sperrt sich stiernackig gegen jegliche Einfuhren – obwohl Brüssel den 1996 wegen der BSE-Seuche verhängten Boykott am 1. August teilweise wieder aufgehoben hat. Das als Fleischimporteur für die Briten unbedeutende Deutschland blieb ebenfalls stur, auch nachdem vorvergangenen Freitag der Wissenschaftliche Lenkungsausschuss der EU die Kühe und Kälber auf englischen Weiden für unbedenklich erklärte. Als einzige EU-Staaten lenkten Deutschland und Frankreich nicht ein. Also starteten Londoner Boulevardblätter, in Allianz mit Bauernfunktionären und konservativen Anti-Europäern, unter dem Slogan „Sag einfach Non“ eine krawallige Kampagne gegen den Hauptfeind auf der anderen Kanalseite. Supermarktketten unterstützten, wie Premierminister Tony Blair,

Kundgebung britischer EU-Abgeordneter*

„Sag einfach Non“

die Appelle zum „patriotischen Einkaufen“ und verbannten französische Waren aus den Regalen.Vor einem Einkaufszentrum in Nottingham präsentierte ein frustrierter Viehzüchter ein Transparent: „Lasst euch nicht mit einem Frosch im Mund erwischen. Kauft britisch, esst britisch!“ Der Sieg schien sicher, zumal das EURecht eindeutig auf Seiten der Briten ist. „Franzosen werden geröstet“, titelten die Hurrapatrioten von der „Daily Mail“ – vorschnell, wie sich zeigte. Die deutsch-französische Entente mauerte weiter und äußerte gravierende Be* Am 20. Oktober in Paris. d e r

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denken gegen britische Braten: Allein seit Januar sind nach einer Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums auf der Insel rund 2300 Rinder am tödlichen Hirnschwamm neu erkrankt. Die Seuche ist offenkundig noch immer nicht im Griff. London machte einen Rückzieher, Blair und sein Landwirtschaftsminister Nick Brown suchten nach einer diplomatischen Lösung. Sie wollen eine zeitaufwendige Klage vermeiden, die sich bis zu drei Jahre hinziehen kann. So verhandelte Brown am vorigen Dienstag „in konstruktivem Geist“ mit seinem französischen Amtskollegen Jean Glavany sowie dem irischen EU-Kommissar für Verbraucherschutz und Gesundheit, David Byrne. Der setzte ein Ultimatum, bis zum 16. November muss die Kuh vom Eis. Glavany wurde „dringend“ aufgefordert, das Importverbot aufzuheben. Sonst drohen empfindliche Geldbußen. Am Freitag beriet daraufhin in Brüssel ein eilig einberufenes französisch-englisches Gremium gemeinsam mit EU-Kommissionsbeamten über die Bedenken der Franzosen. Parallel tagten in Bonn Experten der für die Aufhebung des Boykotts in Deutschland zuständigen Bundesländer. Die Forderungen der Importgegner: lückenlose Erfassung von Rindern und Rindfleischprodukten, Kontrolle und Herkunftsbezeichnung der Ware, Entwicklung und Einsatz stichhaltiger BSE-Tests. Im letzten, den Kontinentaleuropäern besonders wichtigen Punkt signalisierten die Briten Ende voriger Woche Entgegenkommen. Aus der strikten Ablehnung jeglicher BSE-Tests wurde plötzlich ein „gemeinsamer internationaler Wunsch“, solche Verfahren „effektiv zu entwickeln“. Es gehe nur noch um „technische und praktische Fragen“, erklärte Brown – dabei stehen britische Wirtschaftsinteressen gegen französischen Protektionismus und internationalen Verbraucherschutz. Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) ist bislang, anders als die Franzosen, einer Konfrontation geschickt ausgewichen. Sie wird zwar von Brüssel als Verhandlungspartnerin in die Pflicht genommen, die Entscheidung über die Aufhebung des Importverbots trifft aber der Bundesrat, und dort bröckelt die Front der Gegner. Beim Bonner Treffen wurde ihnen vorgerechnet, was die drohende Geldstrafe von 1,6 Millionen Mark pro Tag für die einzelnen Länder bedeuten würde. Viele setzen nun auf eine strenge Kennzeichnungspflicht; nur Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen stehen noch eisern zum Importverbot. Niedersachsens Landwirtschaftsminister Uwe Bartels (SPD) setzt sich für eine umfassende Etikettierung ein. Ein sechseckiger Stempel soll garantieren, dass Steak und Wurst bis zum Erzeuger zurückverfolgt werden können. Allerdings bietet das

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und provoziert damit sofort den Widerspruch anderer Politiker. In der Debatte gehe es „zu viel nach dem Bauch und zu wenig nach dem Kopf“, kritisiert Dagmar Roth-Behrendt, EU-Abgeordnete der SPD und ehemalige Vorsitzende des BSE-Untersuchungsausschusses. Die Befürworter des Importverbots brächten keine neuen Argumente, „außer dass es BSE gibt“. Die Bedingungen für die Aufhebung seien von britischer Seite alle erfüllt worden: „Wovor müssen wir uns eigentlich noch schützen?“ Eine Antwort wissen zwei Gruppen von Wissenschaftlern. Sie haben neue, alarmierende Befunde vorgelegt. Englische Veterinärmediziner in Bristol fanden heraus, dass Hirnmasse in den Blutkreislauf geraten kann, wenn dem

J. EIS

Verfahren keinen absoluten Schutz vor Fälschungen. Ein Test, bei dem infizierte Tiere aussortiert würden, wäre sicherer. Die noch renitenten Länder berufen sich auf Fachleute wie den Göttinger Neuropathologen Hans Kretzschmar, der die Freigabe britischen Beefs voreilig nennt. „Zu viele Dinge sind unbekannt“, warnt Kretzschmar und empfiehlt, zwei weitere Jahre abzuwarten. Nordrhein-Westfalens Umweltministerin Bärbel Höhn (Die Grünen) verlangt als Mindestvoraussetzung obligatorische BSETests und eine strenge Etikettierung. Sonst will sie es auf eine Klage ankommen lassen. Unter anderem schreckt sie, dass möglicherweise nicht nur, wie bislang angenommen, verseuchtes Futter das Rindvieh irre macht und Konsumenten gefährdet. Denn nach dem Fütterungsverbot von Tiermehl 1988 dürfte es eigentlich gar keine BSE-Neuerkrankungen mehr geben. Bisher existieren drei Methoden, BSE bei geschlachteten Tieren nachzuweisen. Ein weiteres Verfahren zur Früherkennung wird derzeit an der Universität Mainz entwickelt. Es soll in spätestens sechs Monaten marktreif sein und anhand von 20 Mikrolitern Hirnflüssigkeit, gewonnen durch Punktion, sicheren Aufschluss über eine Infektion lebender Tiere und Menschen geben können. In Göttingen wird sogar eine Substanz klinisch erprobt, die Heilung verspricht; sie soll die BSE-bedingte Zerstörung von Hirnzellen unterbinden. Höhn und die bayerische Gesundheitsministerin Barbara Stamm (CSU) verlangen, dass britische Tiere einer Prüfung unterzogen werden, die BSE-Erreger schon sechs Monate vor Ausbruch der Krankheit erkennt. Der Test, benannt nach der Zürcher Firma Prionics, wurde in NRWSchlachthöfen bei 5029 Rindern erfolgreich angewandt. Nach acht Stunden stand jeweils fest, ob das Fleisch in Ordnung war. Den Prionics-Test möchte Höhn am liebsten europaweit einführen. In der Schweiz habe sich mit seiner Hilfe die Zahl der erkannten BSE-Fälle verdoppelt. Übertragen auf Großbritannien würde das bedeuten, dass dort allein 1999 rund 2300 kranke Tiere unentdeckt geblieben sind und der Vorjahresstand von 3180 BSERindern noch übertroffen würde. „Also ist das Eingrenzen der Seuche bisher nicht erfolgreich gewesen“, folgert Höhn. „Warum sollen wir unser Importverbot aufheben?“ Aus Angst vor hohen Schadensersatzzahlungen und Geldstrafen möchte Ministerin Fischer als oberste Verbraucherschützerin aber nicht zum Rechtsbruch ermuntern und notfalls der EU-Linie folgen. „Der Verbraucher- und Gesundheitsschutz darf nicht unter die Räder einer riesigen Fleischindustrie geraten“, beharrt hingegen die rheinland-pfälzische Umweltministerin Klaudia Martini (SPD) –

Ministerin Höhn

„Warum unser Verbot aufheben?“

Schlachtvieh zur Betäubung ein Bolzen durch die Stirn geschossen wird – ein gängiges Verfahren. Mithin sei fraglich, ob es genüge, Hirn, andere Risikoorgane und Rückenmark zu entfernen, um Menschen vor der BSE-Gefahr zu schützen. Das National Animal Disease Center im US-Staat Iowa nährt diese Sorge mit einem Test, der schon insgeheim an Menschen erprobt wurde: Er kann die durch BSE hervorgerufene Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit im Blut nachweisen, lange bevor erste Symptome auftreten. Nun wollen die Amerikaner in einem Pilotprogramm menschliche und tierische Blutbanken durchchecken. „Das könnte Millionen Bürger erleichtern“, sagt die Biochemikerin Mary Jo Schmerr, „oder ihnen verraten, dass sie an einer schrecklichen Krankheit sterben werden.“ Für den Vorsitzenden des EU-Agrarausschusses, den Grünen-Politiker FriedrichWilhelm Baringdorf, ist dies ein Horrorszenario. Wenn die BSE-Erreger nicht nur in Hirnflüssigkeit, sondern im Blut nachweisbar seien, bedeute dies, „dass möglicherweise auch das bisher als unbedenklich geltende Muskelfleisch infektiös ist“. Selbst das Steak scheint nicht mehr sicher. Rüdiger Falksohn,

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Alexander Neubacher, Barbara Schmid, Michael Sontheimer 4 5 / 1 9 9 9

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S P I E G E L - G E S P R ÄC H

„Der Mechanismus der Rache“ Tschechiens Präsident Václav Havel über die Vision Europa und den EU-Erweiterungsprozess, über Rückfälle in den Rassismus und das Verhältnis zu den Deutschen Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck der Marktwirtschaft stand zu halten. Havel: Dieser Bericht ist ein dickes Buch mit abertausenden angesprochenen Themen in vielen Lebensbereichen. Bei den einen stehen wir besser da, bei anderen schlechter. Aber richtig ist: Wir brauchen mehr Elan und Energie. SPIEGEL: Gegenwärtig läuft Tschechiens sozialdemokratische Minderheitsregierung Zeman Gefahr, durch den Bürgerpartei-Chef Václav Klaus torpediert zu werden. Muss politische Instabilität nicht Ihre Chancen noch mehr schmälern, zu den ersten EU-Beitrittsländern zu gehören? Havel: Nicht unbedingt. Als Dramatiker weiß ich, dass Krisen die Wirkung einer Katharsis haben können. Vielleicht kommt es danach mit Bildung einer besseren Präsident Havel*: „Wir brauchen mehr Elan“ Regierung zu einer stärkedieses Integrationsprozesses nicht er- ren Annäherung an die EU. Aber noch ist es nicht so weit. Mich stört indes etwas ankennen. SPIEGEL: Im jüngsten Brüsseler „Fort- deres: dass jemand aus partikularem Kalschrittsbericht“ bringt es der EU-Kandidat kül eine Krise bei uns entdeckt und das Prag auf viele schlechte Noten. Gerügt Land schlecht regiert sieht, obwohl gerade wird das langsame Tempo der Rechtsan- er selber vor Jahresfrist diese Mindergleichung, und bezweifelt wird Tschechiens heitsregierung unterstützt hat. SPIEGEL: Immerhin sorgt Ihr alter Widerpart Klaus, der eine „Superkoalition“ anstrebt, Václav Havel für beträchtliche Unruhe. Und die EU-Verhandler würde Klaus wohl am liebsten wurde im November 1989, als Maseinem weiteren Prager Fenstersturz übersendemonstrationen in Prag zum antworten. Sturz des kommunistischen Systems führten, zur Symbolfigur der Havel: Die Abneigung des Herrn Klaus geWende. Der Dramatiker, unter den genüber der Brüsseler Bürokratie, seine Kommunisten als Bürgerrechtler Zurückhaltung gegenüber europäischer Infast fünf Jahre lang inhaftiert, amtegration sind allgemein bekannt. Das altierte als letztes Staatsoberhaupt lein bedeutet jedoch nichts. der Tschechoslowakei und ist seit SPIEGEL: Im Dezember wird der EU-Gipfel dem Auseinanderbrechen der Revon Helsinki mit einer Strategie der flepublik in zwei souveräne Staaten xiblen Integration den Kreis der Beitrittserster Präsident Tschechiens. Hakandidaten von sechs auf zwölf Bewerber vel, 63, wurde Anfang 1998 für weierweitern. Ist das für Prag ein ermunterntere fünf Jahre im Amt bestätigt des oder alarmierendes Signal? und überstand eine Reihe schwerer gesundheitlicher Krisen. * Am 28. Oktober in Prag bei der Feier zum 81. JahresAFP / DPA

Vision von einem vereinten, liberalen Europa im Gestrüpp realpolitischer Sachzwänge der Europäischen Union? Havel: Meine Vision hatte schon noch ein paar andere Adjektive als bloß liberal … SPIEGEL: … gewiss, etwa die Idee von einer demokratischen, offenen Bürgergesellschaft Europas … Havel: … jedenfalls habe ich keinen Grund, an meiner Vision von einer europäischen Integration etwas zu ändern: Ich glaube, dass dieses Europa die Gestalt der heutigen gesamten Weltzivilisation vorbestimmt hat, also verantwortlich ist sowohl für das Wunderbare wie für das Widersprüchliche. Jetzt muss sich Europa den allgemeinen Zivilisationsproblemen in einer Weise stellen, die anderen als Vorbild dienen könnte. SPIEGEL: Doch erst einmal muss Europa selbst politische Gestalt annehmen. Täuscht der Eindruck, dass Ihr Land Tschechien, einst Musterknabe als EU-Beitrittskandidat, in seinen Anstrengungen zurückgefallen ist? Havel: Leider hat sich in unseren politischen Eliten ein apathisches Verhaltensmodell durchgesetzt nach dem Motto: Wir wollen alle in die EU, und irgendwann werden wir das auch schaffen, gleichsam im historischen Selbstrutsch, schließlich liegen wir ja in der Mitte Europas. Da ist dann auch die Wiederbelebung eines traditionell tschechischen Fatalismus mit im Spiel. SPIEGEL: Aber wächst bei Ihnen nicht auch die Zahl der EU-Skeptiker? Havel: Eher wächst die Zahl der EUUnkundigen, die den historischen Sinn

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SPIEGEL: Herr Präsident, was wird aus Ihrer

KP-Reformer Dub‡ek, Havel (1989)

tag der Staatsgründung der Tschechoslowakei.

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Ausland zu beseitigen. Die Rassendimension kommt dann als mich sprechen: Ich begrüße Nebenprodukt dazu. diesen Schritt sehr. Europa ist ein untrennbarer politiSPIEGEL: Herr Präsident, scher Körper, und die EU am Ende dieses Jahrhunsollte allen interessierten derts ist wie zu seinem BeLändern, die sich dafür ginn der Balkan Europas qualifizieren, offen stehen. Krisenherd. Sie haben im Auch Tschechien wird erst Kosovo-Konflikt die Natoaufgenommen werden könLuftangriffe auf Jugoslanen, wenn es reif dafür ist wien befürwortet. Die Pround nicht als Folge von erbleme dieser Region wurfolgreichem Lobbyismus. den damit kaum gelöst. SPIEGEL: Als Fürsprecher Havel: Es wäre selbstverPrags gelten die Deutständlich durchaus naiv zu schen. Gehen die neuen denken, dass die NatoRegenten der Berliner ReLuftangriffe die Balkanpublik mit der gleichen probleme lösen können. Verve ans Werk wie einst Doch der Nato-Eingriff der überzeugte Europäer war ein Schritt, durch den Helmut Kohl? die internationale Gemeinschaft gezeigt hat, Havel: Ich möchte keinesdass es ihr nicht gleichgülfalls Noten über deutsche tig ist, welche Bestialitäten Kanzler verteilen. In der Serben-Flucht aus dem Kosovo (im Juni): „Meine Stimme war zu schwach“ dort geschehen. Dieser Tat habe ich an Helmut Kohl den großen Sinn für die historische ten diese Phase bereits im vorigen Jahr- Schritt hätte schon zehn Jahre vorher erund geistige Dimension der europäischen hundert durch, andere später. Doch ich folgen müssen, dann wäre das Leben hunIntegration sehr geschätzt. Und sein Nach- glaube, dass dies nur eine Durchgangsstu- derttausender verschont geblieben. folger Gerhard Schröder hat übrigens kürz- fe ist und im Laufe der Zeit sich die Inte- SPIEGEL: Die Kosovo-Intervention hat das lich in Prag einen bestimmten Termin grationsstrukturen durchsetzen werden. Konflikt-Potenzial auf dem Balkan verartikuliert … Damit sich die unterschiedlichen Länder schärft. SPIEGEL: … Schröder sagte, die Europäi- vereinen können, brauchen sie zuerst ein Havel: Es wird Jahrzehnte dauern, bis diesche Union müsse „im Jahr 2003 aufnah- Bewusstsein der eigenen Identität, das Wis- se Probleme gelöst sind. Ich gebe Ihnen sen, wo ihr Anfang und Ende ist. Dies wird ein Beispiel, das Sie als Deutsche verstehen mefähig sein“. Havel: Ich halte es für sinnvoll, feste Ter- offenbar durch die Phase der Eigenstaat- werden: Wäre die internationale Staatenwelt einschließlich der demokratischen mine im Visier zu haben. Das motiviert die lichkeit erreicht. Beitrittskandidaten und verhindert, die un- SPIEGEL: Ein Symbol für ethnische Ab- Tschechoslowakischen Republik im Jahre angenehmen Entscheidungen auf über- schottung gibt es nun auch in Tschechien: 1938 im Stande gewesen, sich mit Gewalt morgen zu vertagen. die Mauer gegen die Roma in Ústí nad La- gegen Adolf Hitler zu stellen, hätte es vielleicht keinen Zweiten Weltkrieg mit dutSPIEGEL: In dem Jahrzehnt seit dem Fall bem, dem nordböhmischen Aussig. der Berliner Mauer und dem Zusammen- Havel: Solche fremdenfeindlichen Stim- zenden von Millionen Toten geben müssen. bruch des Sowjetreichs entstanden in Eu- mungen gibt es überall in Europa, speziell Aber sicherlich hätte man uns damals dann ropa 15 neue Staaten, meist mit ethnisch- in seinem postkommunistischen Teil. Die- auch wegen einer Attacke auf das souvenationaler Ausrichtung. Liegt hier nicht die se Mauer in der Mati‡ní-Straße von Ústí ist räne Deutschland gescholten. eigentliche Gefahr für das Zusammen- eher ein Symbol von Stumpfheit und SPIEGEL: Jeder historische Vergleich hinkt, wachsen Europas? menschlicher Dummheit, nämlich des un- dieser auch. Die wirklichen Gräueltaten Havel: Die Phase der Bildung von Natio- akzeptablen Versuchs der zuständigen im Kosovo erfolgten erst nach Beginn des nalstaaten ist in Europa einfach nicht so Kommunalbehörden, die Folgen einer Nato-Bombardements … leicht zu umgehen. Manche Staaten mach- schlechten Sozial- und Wohnungspolitik Havel: … Sie sind nicht genau informiert: 400 000 Albaner waren vor Beginn der Angriffe vertrieben worden. Dort geschah etwas, wofür es in der modernen Geschichte keine Analogie gibt: Innerhalb eines halben Jahres wurde eine Million Menschen von zu Hause vertrieben und kehrte dann wieder zurück. Ohne die Luftangriffe wäre diese Rückkehr niemals möglich gewesen, Milo∆eviƒ wollte Kosovo für immer von Albanern säubern. SPIEGEL: Jetzt haben wir ein großalbanisches Problem, zudem großserbische und großkroatische Ambitionen mit der Gefahr einer Zerschlagung Bosniens und einer möglichen Kettenreaktion neuer Konflikte. Havel: Es ist der Mechanismus der Rache, den es zu bekämpfen gilt. Leider gibt es dafür nicht genügend internationale KräfVertreibung von Sudetendeutschen (1946): „Unsere Völker haben viele Gräuel begangen“ te. Ich war selbst unmittelbar nach KriegsSÜDD. VERLAG

L. SENIGALLIESI / SINTESI

Havel: Ich kann da nur für

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ende im Kosovo und habe dort ganz laut wohl kaum untergraben wollen. Es sind erklärt – und ich war nicht der Einzige –, einige andere, die dies tun. man solle jetzt nicht zur Strafe die Serben SPIEGEL: Wie soll Europa zusammenfinden, vertreiben. Aber meine Stimme war zu wenn 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schwach. nicht einmal Tschechen und SudetendeutSPIEGEL: Worin unterscheiden sich die Men- sche zu einem Miteinander fähig sind? schenrechte der Kosovo-Albaner von de- Havel: Sie sind es durchaus. Nur die politinen der Tschetschenen? schen Anführer – die Kommunisten bei Havel: Die Menschenrechte sind universell uns, die Landsmannschaftler bei Ihnen – und sollten überall gelten. Mich beunruhigt sind der Meinung, ein Zusammenleben sehr, was Russland in Tschetschenien tut, wäre nicht möglich. Aber das ist ein Irrtum, und das nicht erst seit gestern. Ich glaube, auf der Bürgerebene gelingt es. dass sich Russland traditionell bereits seit Ich besuche oft die ehemaligen Sudetenlangem gegenüber den kaukasischen Völ- gebiete, das Zusammenleben ist sehr fröhkern überheblich und anmaßend verhält lich. Sie sehen dort überall viele deutsche und dass diese jahrelange russische Unter- Schilder. Die wurden von Tschechen angedrückung der Hauptverantwortliche für bracht, die mit den Deutschen Geschäfte Fundamentalismus und Terrorismus im machen wollen. Kaukasus ist. SPIEGEL: Das sudetendeutsche Problem SPIEGEL: Sie sprachen vom Mechanismus wäre demnach quasi ein virtueller Kampf der Rache – die Serben im Kosovo zahlen der Geister von gestern. für die Sünden von Milo∆eviƒ wie einst Havel: Vielleicht eine Spur zu pathetisch die Sudetendeutschen für die Verbrechen ausgedrückt, aber im Grunde lässt sich dem Hitlers? zustimmen. Havel: Jetzt gebrauchen Sie einen historischen Vergleich, der hinkt. Gleichwohl kann man ihn ziehen. SPIEGEL: Noch immer befürwortet fast die Hälfte der Tschechen die Bene∆Dekrete, die nach dem Krieg zur Enteignung und Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen führten. Können diese Dekrete für Prag zum Stolperstein auf dem Weg in die EU werden? Havel: Dieser Komplex von 150 Dekreten – wobei 3 davon auch Bezug zu den Havel beim SPIEGEL-Gespräch* Sudetendeutschen haben – „An Rücktritt denke ich jeden Tag“ gehört zur Geschichte unseres Rechtsstaates. Dies kann nicht so ein- SPIEGEL: Ihre Amtszeit reicht bis zum fach aufgehoben werden. Man kann es je- Jahr 2003, aber Sozialdemokraten und doch Vergangenheit nennen, die heute kei- Bürgerliche wollen mit einer Verfassungsne Bedeutung mehr hat. So ist einfach die reform Ihre Kompetenzen einschränGeschichte, sie lässt sich schwer korrigie- ken. Dachten Sie in letzter Zeit an Rückren. Unsere Völker haben viele Gräuel tritt? begangen, wie ließe sich das alles wieder Havel: An Rücktritt denke ich seit zehn gutmachen? Deswegen heißt es in der Jahren, solange ich Präsident bin, jeden Deutsch-Tschechischen Erklärung, dass Tag. Ich wäre kein normaler Mensch, hätFragen der Vergangenheit den Aufbau einer te ich keine Zweifel am Sinn meiner Arbeit. neuen und besseren Zukunft nicht kom- So arrogant bin ich nicht. plizieren werden. Der Bundestag hat dem Die Verfassungsänderungen halte ich für zugestimmt, das war sehr wichtig. Und ich sinnlos. Ich trete gegen sie an, nicht um verstehe nicht, warum die gleiche Partei, meine Kompetenzen, sondern um die Lodie diese Initiative im Bundestag ergriff, gik des Verfassungssystems zu schützen. nun auf einmal auf diese Bene∆-Dekrete SPIEGEL: Und auch die Gesundheit macht zurückkommt und somit eigentlich die Ihnen nicht über Gebühr zu schaffen? eigene Deklaration verhöhnt. Havel: Bestimmte Komplikationen habe ich SPIEGEL: Kritik an Ihrem Unions-Freund schon. Ich musste einige Operationen überstehen; manche Körperteile dienen mir Helmut Kohl? Havel: Der war Mitverfasser und Mitunter- nicht mehr so, wie sie sollten. Gott sei zeichner dieser Erklärung. Er wird sie jetzt Dank ist es nicht so schlimm, dass ich zurücktreten müsste. SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen * Mit Redakteuren Walter Mayr und Olaf Ihlau in der Masaryk-Bibliothek der Prager Burg. für dieses Gespräch. 224

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O. JANDKE / CARO

entschwundenen Gelder für 1998 auf einen Betrag, der fast dreimal so hoch ist wie der Jahresetat der russischen Regierung, zehnmal mehr als das inkriminierte Russlandgeschäft der Bank of New York: 70 Milliarden Dollar. Dabei kommt kaum je ein Kunde nach Nauru, das nur zweimal wöchentlich per Flugzeug von Fidschi aus zu erreichen ist. Auch das Geld gelangt gar nicht erst auf die Insel, sondern wird elektronisch dort gutgeschrieben und, frisch gewaschen, gleich wieder abgerufen auf Korrespondenzbanken weltweit. Der auch für Nauru zuständige USBotschafter auf Fidschi, Osman Siddique, erfuhr vor Ort nur, dass niemand unterRussische Zentralbank in Moskau: Wirksame Kontrolle nur an der Quelle scheiden könne, ob es sich bei den Überweder illegal noch „unbedingt typisch für weisungen um „gute oder schlechte“ RUSSLAND Gelder handelt. Insel-Beamte räumen ein, ein unmoralisches Individuum“. Inzwischen drängen sich auf 21 Qua- Nauru fehlten einfach die technischen dratkilometern mit 10 900 Bewohnern die Möglichkeiten, die Fachleute und die ErFinanzinstitute. Sie haben alle dasselbe fahrung, um Buchungsvorgänge richtig und Postfach, dafür aber unterschiedliche Plas- vollständig zu durchleuchten. Dieses Unvermögen teilt Nauru mit antikschilder mit ihrem Firmennamen im Flur der Nauru Agency Corporation. Diese Ge- deren meerumschlungenen Oasen des Pasellschaft registriert die Unternehmen, er- zifiks oder der Karibik. Dort fragt keine Versteck in der Südsee: Der teilt Banklizenzen und bringt der Insel die Steuerfahndung und – anders als in der größte Teil des Moskauer Flucht- ersehnten neuen Einkünfte. Schweiz und den USA, wo russische Geldgeldes fließt nicht nach Eine Bank zu gründen kostet 5680 schiebereien die Justiz beschäftigen – auch Dollar, die anschließende jährliche Gebühr kein Staatsanwalt nach dem Woher und New York oder Zürich, sondern auf eine winzige Insel im Pazifik. 4980 Dollar. „Das ist ein bedeutender Bei- Wohin strotzender Bankguthaben. Der Trans-World-Konzern, der auch Getrag zum Volkseinkommen“, freut sich iel einträglicher als Raub und Dieb- Mathew Batsiua, Regierungssekretär der winne des russischen Aluminiummarkts stahl führt laut „Dreigroschenoper“ Nauru-Republik, die im September der abschöpft, unterhält unweit Nauru, auf jener Weg zum Wohlstand, den der- Uno beitrat und 2001 die Weltmeisterschaft Westsamoa, ebenfalls eine Bank und auf zeit eine Website weist: „Yes! Ich will mei- im Gewichtheben ausrichtet (an Stelle des den Jungferninseln 26 Firmen. Die Bank of New York, bislang im Zentrum der Erne eigene Bank gründen!“ Mitbewerbers Riesa in Sachsen). Das sei fast so, wie Geld selbst zu „Sie verkaufen das Loch im Zuckerkrin- mittlungen über die Schleichwege russidrucken, wirbt im Internet ein OPC Inter- gel“, höhnte gegenüber der „Washington schen Schwarzgeldes, steht laut „Washingnational Trust, und zwar am besten mit ei- Post“ ein Angestellter der Baltic Banking ton Post“ unter Verdacht, mit der Sinexner „Off shore“-Bank, irgendwo auf einem Group, die – mit Sitz in Zürich, London Bank auf Nauru zusammengearbeitet kleinen Atoll, möglichst weit weg. „Unser und Riga – ihren Klienten gern einen Fir- zu haben. Wirksam lässt sich der Favorit“, empfiehlt das UnGeldfluss nur an der Quelle ternehmen, sei die winzige kontrollieren, bei der ZenSüdseeinsel Nauru. tralbank in Moskau, die alle Das palmengesäumte Eigrenzüberschreitenden Konland liegt auf dem Weg von tenbewegungen kennen sollAustralien nach Hawaii und te. Bankvize Melnikow, der bestand einmal hauptsächdie Mega-Schiebungen nach lich aus getrocknetem VogelNauru enthüllt hat, zeigt sich mist, dem begehrten Phosungerührt: Neue Regularien, phat. Doch der Düngervorgar ein zartes Wirtschaftsrat, mit dessen Abbau die wachstum in Russland hätdeutschen Kolonialherren ten die Kapitalflucht jüngst vor 90 Jahren begannen, um ein Viertel gesenkt. geht zu Ende. Auf der Suche Zentralbank-Vize Melnikow, Steueroase Nauru: Dollar statt Vogelmist Sobald die Schieber durch nach neuen Einnahmen wurde vorübergehend eine Basis für die mensitz im Pazifik vermittelt. Es handelt die Südsee-Transaktion die Steuer umganSowjetflotte erwogen – bis die neuen Rus- sich vor allem um russische Klienten. Zum gen hätten, brauchten sie das Geld wieder sen beim Blick in den PC eine profitable- Verschieben der Gelder dient Nauru derzeit daheim, glaubt Melnikow. Sie orderten re Nutzung entdeckten: als Versteck für als der „attraktivste“ Weg, befand Wiktor rund 90 Prozent des Fluchtkapitals zurück ihr Fluchtgeld. Melnikow, Vizechef der russischen Zen- – als Darlehen, die sie sich selbst gewähren. Alles also halb so schlimm in der Sicht Übliche Auflagen, den Transfer größe- tralbank. Dieses Schlupfloch sei „eine ofrer Summen beim Zoll oder einer Zentral- fene Einladung zu Finanzverbrechen und der Zentralbank (die selbst Staatsgelder bank anzumelden, seien dort „nicht erfor- Geldwäsche“, hatte das US-Außenministe- auf der Kanalinsel Jersey parkte). Nur der russische Staat kann mangels Steuereinderlich“, warb im Internet bis vor kurzem rium schon im Februar verkündet. die Universal Baltic Bank Inc., Sitz Nauru. Zentralbanker Melnikow lieferte nun nahmen keine Löhne und keine Renten Dieser Überweisungsweg, so hieß es, sei eine Sensation: Er schätzt die über Nauru zahlen. Fritjof Meyer

Loch im Zuckerkringel

ITAR-TASS

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FOTOS: T. WAGNER / SABA

Zuschauer – überwiegend weibliche Fans – strömen pro Jahr in die Shows. Mit der professionell arrangierten Flucht aus der Männergesellschaft macht die Revue ein glänzendes Geschäft. Zwar herrscht in Japan ein reiches Angebot an speziellen HostClubs, Strip-Shows und Massagesalons, in denen Japanerinnen sich in umgekehrter Rollenverteilung von Männern erfreuen lassen können. Doch anders als die Rotlicht-Etablissements gilt Takarazuka als respektable Unterhaltung. Im Theater sind die Frauen fast ganz unter sich. Umhüllt von Rosenduft und anderen Essenzen, die je nach MusicalThema aus der Klimaanlage wabern, bewundern sie ihre „Traummänner“: In rollentypischen Macho-Gesten stapfen Präsidenten, Playboys und Prinzen über die Bühne. Die Augen rund geschminkt, verwandeln sich die Schauspielerinnen gleich zweifach – in Männer und in Westler. Viele Japanerinnen heiraten nach wie vor weniger aus Zuneigung als um der materiellen Absicherung willen. Und damit erklärt die US-Anthropologin Jennifer Robertson, die Takarazuka über ein Jahrzehnt erforscht hat, auch die Popularität der Bühnen-Zwitter. Die Stars geben sich so galant, wie Japanerinnen es zu Hause oft vermissen: „Solche Liebhaber sucht man vergebens“, sagt TakarazukaVerehrerin Kumiko Ito, 50 und verheiratet. Vor allem mit japanischen Versionen der „West Side Story“ oder dem Sisi-Drama „Elisabeth“ feiert Takarazuka rauschende Erfolge. Doch die Tokioter Ginza ist nicht der New Yorker Broadway, und statt beschwingter Heiterkeit ergreift feierlicher Ernst das Publikum. Die Verkäuferin Maromi Onuma, 24, pilgert mit ihrem Fanclub mehrmals im Jahr ins Theater. Nach den Shows beziehen

Aufführung des Musicals „Elisabeth“ im Takarazuka-Theater: Jungfräuliche Illusion J A PA N

„Bildhübsche, sanfte Liebhaber“ Ein Theater nur mit weiblichen Darstellern bietet Japanerinnen eine gefühlvolle Gegenwelt zur alltäglichen Macho-Gesellschaft.

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n ihrem Apartment hat Chikako Sakamoto, 29, nur Platz für Bett, Kühlschrank und Fernseher. Ihre Kleider muss sie an Wandhaken aufhängen. In ihrer Phantasie aber verkehrt die Bürogehilfin in weitläufigen, glitzernden Palästen, schwärmt von großen Gestalten der Vergangenheit wie John F. Kennedy oder dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. Diese Traumwelt sucht Sakamoto in der Musical-Revue Takarazuka, die gern westliche Exotik, romantisch verkitscht, auf die Bühne bringt. Die berühmten „Männer“, die Sakamoto auf Fotos und Videos wie 228

Geliebte anhimmelt, sind freilich allesamt junge Schauspielerinnen, denn im Takarazuka-Theater dürfen nur Frauen auftreten – auch in männlichen Rollen. Die hoch gewachsenen Aktricen mit ihren kurzen, bräunlich oder blond gefärbten Haaren faszinieren Sakamoto: „Solche bildhübschen, sanften Liebhaber lassen sich nur von Frauen verkörpern.“ Schon ab sieben Uhr morgens stehen hunderte Japanerinnen Schlange, um Eintrittskarten zu ergattern. Das Theater in Tokio, das 2300 Besucher fasst, ist meist ausverkauft. Etwa zweieinhalb Millionen d e r

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Takarazuka-Schülerinnen beim Training

Heirat verboten

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* Darstellerinnen des Todes und der Kaiserin im Musical „Elisabeth“.

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somit hinter den Kulissen jene Rollenverteilung weiter, die auch sonst den japanischen Alltag prägt: „Frauen brauchen einen harten Willen, aber Männer dürfen ruhig etwas verwöhnt und launisch sein“, sagt Juri und lacht dabei fast so chauvinistisch wie ein Ehemann. Kobayashis altväterlicher Geist ist noch überall spürbar. Doch konnte schon der Gründer nicht verhindern, dass seine Schülerinnen oft zum Liebesobjekt latenter lesbischer Neigungen wurden. Für das (überwiegend männliche) Takarazuka-Management ist das Thema zwar tabu. Tatsächlich aber beutet die Revue ähnliche Sehnsüchte aus wie die zahllosen japanischen Frauen-Comics, die den idealen Liebhaber als mädchenhaften Jüngling oder ältere Schwester darstellen.

T. WAGNER / SABA

die Frauen nahe dem Bühnenausgang Posten, um in stiller Andacht die Schauspielerinnen, die mit großen dunklen Sonnenbrillen aus der geheimnisvollen Welt hinter den Kulissen auftauchen, aus der Nähe zu bewundern. Die Stars – offiziell „Schülerinnen“ genannt – müssen sich einer strengen Hierarchie unterordnen, wie sie sonst nur noch im traditionellen Kabuki-Theater oder beim Sumo-Ringen fortlebt. Auch deshalb zieht Takarazuka die Fans an: weil die Revue zwar die westliche MusicalFassade vorführt, aber dahinter alles japanisch belässt. Wenn Takarazuka-Star Sakiho Juri den Bühneneingang betritt, verneigt sie sich ehrfürchtig vor einem Shinto-Altar mit einem Foto von Ichizo Kobayashi, der die Revue 1914 gründete. Die Idee mit der Mädchenbühne kam dem geschäftstüchtigen Unternehmer und späteren Handelsminister, weil er Reklame für seine Hankyu-Eisenbahn zwischen Osaka und Takarazuka machen wollte. Heute noch gehört die Musical-Truppe zum HankyuImperium. Aber Kobayashi ging es nicht nur ums Geschäft, er wollte junge Schauspielerinnen und Zuschauerinnen zu züchtigen Ehefrauen, Töchtern und Müttern erziehen. Männer schloss er aus, um Liebesaffären in der Truppe zu verhindern. Bevor die Schülerinnen auf die Bühne dürfen, trainieren sie zwei Jahre Schauspielerei, Ballett und Gesang. Es herrscht ein Drill wie beim Militär: Morgens um 7.20 Uhr schrubben die Mädchen – alle in blauen Uniformen – die Klassenzimmer, moderne Geräte wie Staubsauger dürfen sie nicht benutzen. Berufsoffiziere der Armee bringen ihnen das Marschieren bei. Solange die Schülerinnen zur TakarazukaTruppe gehören, dürfen sie nicht heiraten. Trotz des altertümlichen Regiments bewerben sich jährlich über tausend Japanerinnen um die 40 Plätze. Auf die schwere Aufnahmeprüfung bereiten sie sich mit teuren Kursen an privaten Ballettschulen vor. Das Jahr ihres Eintritts bei Takarazuka bestimmt die Rangordnung unter den Mädchen. Selbst wenn eine Schülerin auf der Bühne als Superstar gefeiert wird, muss sie sich hinter den Kulissen vor Älteren demütig verbeugen oder ihnen grünen Tee einschenken. Dabei gehört Sakiho Juri, die im Musical „Elisabeth“ den Kronprinzen Rudolf mimte, zu den Privilegierten: Da sie groß und schlank ist, erfüllte sie die wichtigste Bedingung eines Bühnen-Manns. „Die Mädchen-Rollen haben es schwerer“, sagt sie, „denn Männer-Rollen begeistern die Fans mehr. Dagegen müssen Mädchen darum kämpfen, beachtet zu werden.“ Auf bizarre Weise spielt die weibliche Truppe

Takarazuka-Schauspielerinnen*

Doppelte Verwandlung

Wenn die Fans von Sakiho Juri – alle tragen braune Uniformen mit der goldenen Aufschrift „Juri!“ – ihrer Angebeteten vor dem Theater in Tokio auflauern, achten wachsame Ordner streng auf Abstand. Aus der Nähe dürfen die Zuschauerinnen Juri höchstens bei Teepartys in einem Hotel bewundern: Die organisiert der Fanclub für rund hundert Mark pro Teilnehmer, Gruppenfoto inklusive. Viele Verehrerinnen bedrängen ihren weiblichen Traummann mit erotischer Post. „Um die Illusion nicht zu zerstören“, erzählt Juri, müsse sie auch außerhalb der Bühne die Rolle des Mannes spielen. Nie würde sie sich im Rock oder gar mit einem Freund sehen lassen. Als der Bühnen-Mann Saki Asaji jüngst heiratete und die Truppe verlassen musste, brach für die Verehrerin Sakamoto eine Welt zusammen: „Plötzlich entpuppte sich Saki als normale Frau.“

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Kultur

Szene KALENDER

Erotische Verbrecher ie offenbar unwiderstehliche Wirkung von Gefangenen auf manche Frauen ist nicht erst seit der Liebesbeziehung zwischen dem „Heidemörder“ und seiner Psychologin und Fluchthelferin bekannt. Der Kopenhagener Verlag „August Film“ hat jetzt einen Monatskalender für das Jahr 2000 mit zwölf erotischen Fotos dänischer Verbrecher – im Hafturlaub oder hinter Gittern – herausgebracht. Für den Januar 2000 etwa hat sich Drogendealer Søren Bjergstad Jørgensen, 34, stilvoll mit Weinglas und feinem Morgenmantel auf dem Ledersofa drapiert. „Hells Angels“-Rocker Nick Jacobsen, 36 – er sitzt wegen Mordes lebenslang –, posiert für den November 2000 melancholisch sinnend, bedeckt

DB STATION & SERVICE

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Modell des Hundertwasser-Bahnhofs in Uelzen ARCHITEKTUR

Bahnsteig in Pink OUTLINE / INTER-TOPICS

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nur durch Tätowierungen. Eine Frauenjury wählte die Schwarzweißfotos für den Kalender „Forbudte Maend“ („Verbotene Männer“) aus. Doch dann protestierten dänische Abgeordnete, der Buchhandel boykottierte das anstößige Werk. Nun bietet Verleger Johan HyeKnudsen die Knast-Erotik (Druckauflage: 10 000) im Internet feil.

uch gute Vorsätze sind manchmal nur Schall und Rauch. Erst im vergangenen Jahr ließ der Wiener Kunterbunt-Architekt Friedensreich Hundertwasser, 70, ankündigen, er verabschiede sich vom Bauen.Vorbei die Zeit der buntsanierten Plattenbauten mit Zwiebeltürmen? Nein. Noch immer lässt der Kämpfer wider den rechten Winkel von sich hören. Und noch immer stößt sein gebauter Frohsinn nicht nur auf Gegenliebe: Im Sommer sammelten über 10 000 Magdeburger Unterschriften gegen ein geplantes Hundertwasser-Haus, von ihnen als „Märchenburg“ beschimpft. Jetzt beglückt der Österreicher die niedersächsische Stadt Uelzen und modelliert ihren etwas heruntergekommenen Bahnhof zum lustigen „Kulturbahnhof“ um. Hier aber ohne Proteste. Immerhin hatte eine Privatinitiative das Vorhaben angeschoben. Außerdem ist der 1888 entstandene Bau denkmalgeschützt. An die wilhelminische Fassade, so beruhigte die Projektgruppe skeptischere Bürger, „lassen wir den Meister nicht ran“. Offenbar doch: Das Modell, das in dieser Woche präsentiert wird, zeigt Ringel-Säulen rund ums Gebäude, rosafarbene Wartehäuschen, Grasdächer, dort eine Glashaube, hier ein Türmchen – die gewohnte Palette eben, insgesamt aber eine eher harmlose Hundertwasser-Variante. Dass der 16 Millionen Mark teure Umbau, der als Expo-Projekt ausgewiesen wurde, als zukunftsträchtig gilt, hat er weniger dem Pippi-Langstrumpf-Design zu verdanken als einer riesigen FotovoltaikAnlage und dem Ansinnen, stillgelegte Gleisflächen für Wohn- und Geschäftshäuser freizugeben: Das Viertel soll – vielleicht als Hommage an Hundertwassers Kurvenfreude – „Achter-Bahn“ genannt, aber nicht von ihm gebaut werden.

POP

Ins Zeug gelegt eit Janis Joplin hat keine Rock’n’Roll-Frau so herzzerreißend und hemmungslos hinter dem Mikro gelitten wie Melissa Etheridge. Wie es sich anfühlt, von seiner großen Liebe verschmäht zu werden; wie man sich verzehren kann vor Sehnsucht und Eifersucht, während man nachts ums Haus der Angebeteten schleicht – das alles schrie sie in selbstverfassten Hits wie „Bring Me Some Water“ mit kratzig-wilder Stimme heraus. Vier Jahre lang machte Etheridge, 38, nach 25 Millionen verkauften Alben und zwei GramEtheridge d e r

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mies Pause, weil ihr nach eigener Auskunft „die Puste ausgegangen“ war. Nun macht ihr Album „Breakdown“ (Mercury) Furore. Etheridge, die inzwischen als glückliche lesbische Mutter mit ihrer Lebensgefährtin zwei Kinder großzieht, schmachtet und rockt auf dem Album wie eh und je: Songs, in denen sich die Sängerin mit Haut und Haaren ins Zeug legt. Zum ersten Mal aber wagt sich Etheridge an ein politisches Thema: Ihre Ballade „Scarecrow“ ist ein Requiem auf einen homosexuellen Studenten, der vorigen Herbst von Schwulenhassern ermordet wurde. Sie wolle „nicht predigen“, sagt Etheridge, aber „dieser Mord hat mich total geschockt“. 233

Szene FILM

„Eichmann war von fürchterlicher Komik“

AFP / DPA

SPIEGEL: Herr Sivan, wie hat Israel auf das Wiedersehen mit dem vor 38 Jahren hingerichteten Adolf Eichmann reagiert? Sivan: Mit Verblüffung. Man hatte ein Monster erwartet und bekam im Film nur einen Bürokraten zu sehen. „Haben wir denn 1961 den ganzen Prozess verpasst?“, wurde hinterher gefragt. SPIEGEL: Aber er Sivan stand doch mit seiner „Banalität des Bösen“, so die Philosophin Hannah Arendt, im Mittelpunkt des Prozesses? Sivan: Für Israel nicht. Alle blickten erschüttert auf die Zeugen des Holocaust, von denen fast keiner je Eichmann begegnet war. Im Prozess ging es nicht um den Angeklagten, sondern um das Erinnern. Damals wurde Israel ein zweites Mal geschaffen – als Opfer-Staat. SPIEGEL: Eichmann wirkt in Ihrem Film oft kauzig. War er ein schräger Vogel? Sivan: Wir mussten am Schneidetisch oft lachen, denn er war die Karikatur des Befehlsempfängers – von fürchterlicher Komik. Befreit lachten wir nicht.

COURTESY ZHANG HUAN UND MAX PROTETCH GALLERY

Eyal Sivan, 35, Filmemacher aus Israel mit Wohnsitz in Paris, über seinen Film „Ein Spezialist“, eine Dokumentation des Jerusalemer Eichmann-Prozesses, die jetzt in deutschen Kinos anläuft

siert als Greta Garbo oder Liza Minnelli und propagiert so einen lässigen Mix der Kulturen. Auch der chinesische Künstler Zhang Huan setzt seinen Körper ein, hängt sich Tierskelette um oder bemalt sich mit Schriftzeichen. Nur geht es ihm um die Frage nach Herkunft und Identität in einer Zeit, in der sich sein Land mit der, wenn auch zögerlichen, Öffnung zum Westen rasant verändert. Sein Selbstporträt „1/2(#2)“ ist Teil der Ausstellung „Kunstwelten im Dialog“ im Kölner Museum Ludwig (bis 19. März). Die Schau, die mit Namen wie Picasso oder Matisse auftrumpft, beschränkt sich im Wettbewerb der JahrhundertRückblicke auf ein Thema – die Globalisierung in der Kunst. Aller Anfang war danach der Langzeit-Trip Paul Gauguins 1891 nach Tahiti, wo er im naiven Stil SüdseeSchönheiten malte. Bald setzte in Europa ein Run auf die Kunst der so genannten Primitiven ein, vor allem auf afrikanische Plastiken. Das neueste Stück der Schau ironisiert, wie sehr sich die Kulturen längst gleichen – wenn es um das Verschwinden ihrer Kulte geht: Der Chinese Cai Guo-Qiang lässt für seine Arbeit „The Age of Not Believing in God“ Götterfiguren verschiedener Religionen schweben und durchbohrt sie mit Pfeilen. Gern hätte er das Objekt im Kölner Dom aufgehängt. Die kosmopolitische Bestandsaufnahme scheiterte: Der Dompropst lehnte ab.

Zhang-Werk „1/2(#2)“ (1998) AU S S T E L L U N G

Hautnahe Heimatbilder D

er japanische Künstler Yasumasa Morimura hat ein Faible für glamouröse Frauenkleider und schlüpft auch selbst hinein. Womit er die Tradition wahrt: Im japanischen Kabuki-Theater übernehmen grundsätzlich Männer die Frauenrollen. Doch Morimura bevorzugt das Outfit westlicher Diven, po-

„Schlaraffenland“ liegt für einige Milchgesichter der Viva-Ge-

neration in einem Einkaufszentrum: Sieben Jugendliche lassen sich über Nacht einschließen für eine wilde Party zwischen Turnschuhregalen und Fleischtheken. Dumm nur, dass dort gleichzeitig ein paar Leute vom Sicherheitsdienst dabei sind, den ihnen anvertrauten Tresor zu knacken. Es kommt zum blutigen Kampf – doch spätestens mit der ersten Leiche gibt auch der Plot unter großem Getöse den Geist auf (Regie: Friedemann Fromm). Was anfangs gerade noch als grelles Generationenporträt durchgehen mag, verflacht zu einem so konfusen wie langatmigen Baller-Krimi, den auch prominente Darsteller nicht mehr retten können: Franka Potente als Wachfrau wirkt so passend wie ein Weihnachtsmann im August. „Lovers“ ist der fünfte Kinofilm, der sich zum Minimalismus der dänischen „Dogma“-Brüderschaft bekennt, und leider erweist sich dabei, dass man mit diesem Prinzip nicht zwangsläufig 234

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mehr als ein ambitioniertes Amateur-Video zu Stande bringt. Jean-Marc Barr als Autor, Regisseur und Kameramann erzählt im winterkalten Paris von einer französischen Buchhändlerin und einem Bohemien aus Belgrad (Élodie Bouchez und Sergej Trifunoviƒ), die sich „Lovers“-Darsteller Bouchez, Trifunoviƒ ihre Liebe nur in holprigem Englisch gestehen können. Der hübsche Bursche ist, wie sich zeigt, illegal im Land, doch der Harmlosigkeit des Ganzen hilft diese drohende Schwierigkeit nicht auf.

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PROKINO

Kino in Kürze

Kultur K U LT U R G E S C H I C H T E

Am Rande

Zum Kaffee Sex

Spätwendehälse

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L I T E R AT U R

Zähne zeigen

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ls Schülerin schrieb Annegret Held ihren ersten Roman: in 19 Schulhefte, 550 eng beschriftete Seiten – als Schriftstellerin fühlte sie sich deswegen noch lange nicht. Wo lernt man das Leben kennen? Bei der Polizei, dachte sie – und fand sich unversehens als Hüterin der Startbahn West am Frankfurter Flughafen wieder. Immerhin durfte sie doch auch auf Streifenfahrt, die dreijährige Erfahrung schlug sich 1988 in ihrem Reportagebuch „Meine Nachtgestalten“ nieder. Nach dem Studium – Ethnologie und Kunstgeschichte – wandte sich Held, 1962 im Westerwald geboren, in ihrem Roman „Am Aschermittwoch ist alles vorbei“ wieder der Provinz zu. Auch ihr neues Buch „Die Baumfresserin“ führt vor, wie ergiebig Leben auf dem Land ist, wenn eine Autorin zwischen Lokalkolorit und Distanz klug die Waage halten kann. Dass Dornweiler „nicht die Welt“ ist, sondern „ein kleines Dorf mitten in Deutschland, so alt wie der Wald ringsumher“, wird gleich im ersten Absatz klargestellt. Doch Hinterwäldler sind die Bewohner, nahezu alle

in der Kistenfabrik tätig, deswegen noch lange nicht: Wenn etwa Alex seine Paula verführt, legt er dazu als Musik „Kuschelrock, die zweite“ auf – freilich hat die Romantik in diesem Roman kaum eine Chance: „Paula hatte Mühe, Alex zu lieben, weil er beim Geschlechtsverkehr so blöd aussah.“ Dann aber ist es Alex, der sich, wenn auch schluchzend („Es tut so weh“), von der verblüfften Paula trennt: Er sei nicht blöd und habe erkannt, dass sie ihn eigentlich nicht wolle. Und so geht es mit den „Weibern“ und den „Kerlen“ hin und her: bunt gemischt in sich überlappenden Episoden, wie sie besser in den gelungensten Vorabendserien nicht zu finden sind – und zwischendrin kreischen die Sägen und krachen die Baumstämme: Die Kistenfabrik bietet unaufdringlich den Schauplatz für viele Dramen und den Zusammenhalt dieses hinreißend erzählten dörflichen Kosmos. Die titelgebende „Baumfresserin“ ist denn auch kein wild gewordenes Weib, sondern die größte der Maschinen: die „dröhnende, olle Senkrechtsäge“ – aber selbst die kommt dem Leser fast menschlich nah. Annegret Held: „Die Baumfresserin“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 320 Seiten; 39,80 Mark. d e r

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V MUSEUM OF LONDON

ür eine Ausstellung über britische Esskultur braucht man zweierlei: Selbstbewusstsein und einen Hang zum Skurrilen. Weil die Briten beides besitzen, vergnügt und belehrt die Ausstellung „London Eats Out“ im Museum of London (bis 27. Februar) ihre Besucher. Wirkungsvoll zerstört sie die Klischeevorstellung, von jeher sei Tee das britische Nationalgetränk gewesen: Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts trank ein Großteil der Bevölkerung den längst erschwinglich gewordenen Kaffee. Die Kunstdruck „The Pretty Barmaid“ (1770) zahlreichen Coffee Houses waren Männern vorbehalten, weil sie neben günstigem Kaffee oft auch Prostituierte feilboten. Kochen konnten die wenigsten Londoner, da viele Häuser aus Platzmangel keine Küche hatten. Schon seit Jahrhunderten kauften sie sich deshalb frittierten Fisch. Eine Fish-and-Chips-Tüte von 1840 illustriert diese britische Fast-Food-Tradition, die von der Regierung gefördert wurde: Um den Absatz zu garantieren, durften Schnellrestaurants an manchen Tagen nichts anderes als Fisch verkaufen. Auch das Rätsel, warum die Briten trotz des Rinderwahns so heftig ihr Beef verteidigen, löst die Ausstellung: Rinderbraten galt besonders in Kriegszeiten als Symbol nationaler Stärke und Unabhängigkeit – im Gegensatz zur leichten, raffinierten französischen Küche. Karikaturen zeigen neben unterernährten Franzosen kraftstrotzende Engländer. 1735 gründete sich sogar eine „Sublime Society of Beefsteaks“, die sich unter dem Motto „Beef and Liberty“ bis heute allwöchentlich zum Schmaus trifft.

or zehn Jahren rief Christa Wolf auf dem Berliner Alexanderplatz ins Volk: „Verblüfft beobachten wir die Wendigen, im Volksmund Wendehälse genannt.“ Die aufrechte DDR-Schriftstellerin mokierte sich über jene Kreaturen, „die laut Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen“. Teufel, Teufel. Frau Wolf brauchte für die Neujustierung von Ich und Lebenswelt unter historisch verschärften Bedingungen, genannt „Wende“, tatsächlich ein wenig länger als andere: Erst 1993 wechselte sie vom traditionsreichen Ost-Berliner Aufbau-Verlag ganz zum westdeutschen Luchterhand-Verlag. Nun, pünktlich zum Mauerfall-Jubiläum, kommt auch Christoph Hein, nach 20-jähriger Treue zu „Aufbau“, im Westen an: in Siegfried Unselds großem SuhrkampNest – ein „Ausdruck kapitalistischer Normalisierung“, wie Aufbau-Verleger Bernd Lunkewitz freihändig formuliert, der als Millionär mit einer Schwäche für Marxismus und Immobilien weiß, wovon er spricht. Auch Oskar Lafontaine, als Finanzminister gescheitert, im privaten Cash-Handling jedoch überzeugend, hat jüngst bewiesen, dass selbst bei ihm das Herz dort einschlägt, wo normalerweise die Brieftasche sitzt. Aber, Genossinnen und Genossen, Citoyennes et Citoyens – wollen wir solche Banalitäten wirklich hören? Wollen wir, die Kinder von Nutella, MüllerMilchreis und 5-Minuten-Terrine, das echt wissen? Muss man uns, den superfixen hochflexiblen Medienjunkies und ironiegepanzerten Simulationsexperten tatsächlich noch einmal vorführen, wie die Chose läuft? Nein, aber wir hoffen auf den nächsten Übertritt ins richtig falsche Leben: Frank Castorf macht Ikea-Werbung – zuerst für den Küchentisch „Dostojewski Smörebröd, dämonisch gut und bombensicher“. Es gibt viel zu wenig Menschen, die „sich rasch und leicht einer gegebenen Situation anpassen“ können. Vorwärts, Genossen, das neue Deutschland zählt auf euch! 235

Kultur

KINO

Aufschrei der Entrechteten In Amerika wird er für seinen Zynismus scharf kritisiert. Doch US-Regisseur David Fincher etabliert sich mit seiner jüngsten Gewaltsatire „Fight Club“ als wichtigster Erneuerer der Hollywood-Ästhetik. Von Susanne Weingarten

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Regisseur Fincher

Regressiv und reaktionär?

Tyler ihnen einredet, „Männer ohne Zweck, ohne Ziel“. Im Fight Club entdecken sie ihren inneren Hooligan und fühlen sich hinterher errettet. Bald begegnen sich überall Mitglieder mit schillernden Veilchen und zugepflasterten Nasen, die einander verschwörerisch-wissend zunicken. Von diesem Geheimbund ist es, so will es das vor dem Hanebüchenen nicht gefeite Drehbuch (nach dem gleichnamigen Roman von Chuck Palahniuk), nur noch ein kleiner Schritt zu einer gut gedrillten Untergrundarmee, die ihren Frust nicht mehr gegen sich selbst richtet, sondern am Ende gegen das System, das sie hervorgebracht hat. „Fight Club“, gedreht von David Fincher, 36, ist als Provokation angelegt und als solche in Amerika auch aufgenommen worden. In aufgebrachten Verrissen haben Kritiker ihn der Gewaltverherrlichung und des Nihilismus bezichtigt und ihm vorgehalten, seine Gesellschaftskritik sei albern, sein Männerbild regressiv und seine politische Haltung reaktionär. Dass Fincher der Hautgout des Werbe- und VideoclipFilmers anhängt, als der er sich in den achtziger Jahren einen Namen gemacht hat, gibt den Rezensenten nun ein wohlfeiles Argument an die Hand: Ausgerechnet einer mit einer solchen Vergangenheit maßt sich jetzt an, den Konsumwahn zu geißeln. Das lässt sich in der Tat alles anklagen. Der Film fordert es geradezu heraus. Er ist

wird, was seinem Appeal nicht schadet, von Brad Pitt dargestellt. Zusammen unternehmen der zivilisationskranke Jammerlappen (Edward Norton), dessen wahren Namen wir nie erfahren, und der anarchische Zivilisationsverweigerer Tyler Durden in „Fight Club“ eine Geisterbahnfahrt durch Nietzsches finsterste Träume. Als Dritte im Bunde schließt sich ihnen die Punk-Schlampe Marla (Helena Bonham-Carter) an. In einer Gesellschaft, in der alle betäubt, zugerieselt und verweichlicht werden, so behauptet Tyler, kann sich der Einzelne nur noch im Schmerz seiner selbst vergewissern. Wenn der Geist eingeschläfert ist, muss der Körper für ein Gefühl der Lebendigkeit sorgen: Eine Schlägerei kommt da gerade recht als atavistisches Ritual, um die Zivilisationsschäden der Postmoderne zu beheben. Jeder rechte Haken wird zum Befreiungsschlag gegen die drohende Entmannung und Entfremdung. Darum gründen die beiden ungleichen Helden einen geheimen Untergrundclub, dessen Mitglieder sich in einem finsteren Keller nach Herzenslust (und nach strengen Regeln) prügeln dürfen. Dieser „Fight Club“ wird zum Kult der Entrechteten, jener „Zweitgeborenen der Geschichte“, wie der Macho-Guru „Fight Club“-Star Pitt: Finstere Geisterbahnfahrt PHOTO SELECTION

ie Selbsthilfegruppe trifft sich in der schäbigen Turnhalle eines Gemeindezentrums, der man ansieht, dass sie nach altem Schweiß und Gummimatten mufft. Auf Klappstühlen hocken die allesamt an Hodenkrebs Erkrankten, erzählen einander ihre Geschichten und verstecken ihr Leid hinter Therapiejargon: „Bedanken wir uns alle bei Thomas, dass er sich eingebracht hat.“ Am Ende finden die Elendsgestalten auf Kommando zu Paaren zusammen: um einander zu umarmen, zu schluchzen und sich gegenseitig zu versichern: „Ja, wir sind immer noch Männer.“ Aber wenn sie sich dessen so sicher wären, würden sie nicht jede Woche wiederkommen. Einer gehört eigentlich nicht hierher. Laut dem Namensschild, das er sich an die Brust gepappt hat, heißt er Cornelius, ein blasser, verklemmter Endzwanziger mit tiefen Ringen unter den Augen. Er hat keinen Hodenkrebs und auch sonst keine Krankheit; er ist ein vampirischer Elendsjunkie, der allabendlich unter falschem Namen Therapiegruppen besucht und sich das Leid der anderen reinzieht, um seine eigene Depression besser zu ertragen. Denn auch er leidet, wie er den Zuschauern nicht ohne Sarkasmus aus dem Off mitteilt: an seinem Job als Schadensgutachter eines Automobilkonzerns – er muss ausrechnen, ob seiner Firma die Klagen der Unfallopfer oder der Rückruf der defekten Fahrzeuge billiger kommen; außerdem leidet er an Schlaflosigkeit und daran, dass er zum „Sklaven des Ikea-Nestbau-Triebs“ herabgesunken ist. Den Ärmsten quält eine Zivilisation, die ihn zu Langeweile und Entfremdung verdammt, und er weiß zugleich, wie lächerlich im Grunde all diese Wehwehchen wirken. Dann trifft unser Erzähler Tyler Durden. Der ist ein ganzer Kerl. Er trinkt Bier in schmuddeligen Oben-ohne-Bars, schleudert seine halbgerauchten Zigaretten mit Karacho auf die Straße, trägt das Haar verstrubbelt und lebt in einem Abrisshaus, in dem er bald auch dem Erzähler Quartier gewährt. Tyler ist selbst dann sexy, wenn er halbgare Erweckungsaufrufe gegen die Konsumkultur von sich gibt („alles, was du hast, hat irgendwann dich“) und apokalyptische Warnungen ausstößt. Und er

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CORBIS SYGMA

zynisch und brutal, er macht Witze auf Kosten von Leuten, die sich nicht wehren können, er ist hyperreflektiert und unglaublich infantil zugleich, und er schwelgt in seiner eigenen Cleverness. „Fight Club“ ist durchaus hassenswert. Aber diese Reaktion verkennt das Wesentliche: „Fight Club“ ist auch der wichtigste Film, den Hollywood in diesem Jahr hervorgebracht hat. Zusammen mit „Matrix“ von den Brüdern Wachowski zeigt er die Richtung an, in die sich der amerikanische Film künftig bewegen wird. „Fight Club“ ist visuelle Avantgarde, die sich in den Mainstream eingeschmuggelt hat und ihn fortan radikal aufmischen wird. Wie kaum ein Zweiter hat Fincher ausgerechnet die Videoästhetik für diese Renaissance der Filmsprache genutzt. Während andere Videoclip- und Werbe-Veteranen – etwa Michael Bay („Armageddon“) und Simon West („Con Air“) – sich darauf beschränken, ihre technischen Fähigkeiten in immer gewagteren ActionSchnittfolgen zu beweisen, greift Fincher in „Fight Club“ das unausgesprochene Erzähldogma Hollywoods selbst an. Das lautet: Die Bilder sagen die Wahrheit. Wir können darauf vertrauen, dass sie die Geschichte so realistisch erzählen, wie sie sich zuträgt, egal ob sie mit der Kamera oder mit dem Computer hergestellt sind. Diesen Wahrheitsanspruch stellt jeder Zuschauer an einen Hollywood-Film. Das ist schließlich der Grundlagenvertrag zwischen Zuschauer und Filmemacher, den wir eingehen, wenn wir auf die Leinwand

schauen. Im Gegenzug erklären wir uns bereit, für die Dauer des Films zu vergessen, dass er nur aus Licht und Schatten besteht. Wir erklären uns bereit zu glauben. Dieser Vertrag wird in „Fight Club“ gebrochen. Der Zuschauer erfährt am Ende, dass er systematisch getäuscht worden ist. Die Bilder verweisen auf nichts als auf ihre eigene, autonome Logik. Was wir gesehen haben, war vielleicht nur ein Wachtraum, ein schlingernder Trip durch ein fremdes Bewusstsein, in dessen Verlauf Raum, Zeit und Kausalität aufgehoben waren. Einige Szenen werden so wiederholt, dass die zweite Version die erste dementiert. Es wird sogar eine komplette Figur, nachdem der Betrachter sich mit ihr vertraut gemacht hat, als pure Einbildung entlarvt. Dafür, dass er uns um unseren Glauben betrogen hat, muss uns der Film entschädigen – mit spektakulären Bildern oder einer Erzählung, die die Täuschung plausibel macht. Aber selbst wenn er das schafft, so wie „Fight Club“, ändert das nichts an der Tatsache, dass wir lernen müssen, anders auf die Leinwand zu schauen, weil wir unseren Augen nicht mehr trauen dürfen. Das Spiel, das sich Kino nennt, hat neue Regeln. Dieser radikale Bruch aber, den Finchers Film wagt, wäre wohl ausschließlich für Cineasten wichtig, wenn „Fight Club“ nicht gleichzeitig etwas zu erzählen hätte. In seinem ganzen Leinwandspuk verbirgt sich ein Kern echter Verzweiflung. Fincher meint es ernst, wenn er vor der gefährlichen Lebenskrise junger Männer warnt d e r

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„Fight Club“-Darstellerin Bonham-Carter: Ein Gefühl der Lebendigkeit

Fincher-Film „Sieben“ mit Brad Pitt (1995)

Lichtlose, kaputte Welten

und die dumpfe Leere der Markennamenkultur anprangert, und diesen unpopulären Ernst kann all sein Sarkasmus nicht verkleistern und auch nicht sein Wissen, dass er sich mit dieser Attacke bestenfalls lächerlich macht – wie ein idealistischer Späthippie, der die Zeichen der Zeit nicht begreifen mag. Das Lächerlichmachen besorgt Fincher vorsichtshalber gleich selber, indem er seine Betroffenheit satirisch verpackt. „Fight Club“ ist eine Farce, mit der ganzen Wucht der Verzweiflung erzählt. In einer großartigen Slapstickszene prügelt sich der Erzähler selbst quer durch eine Büroeinrichtung, die Faust ins eigene Gesicht hämmernd, bis er blutig und atemlos in ein Glasregal kracht. Mit der gleichen masochistischen Kraft reibt sich auch der Film ununterbrochen an sich selber auf. Er gibt sich zu abgebrüht, um seine eigene Erregung einzugestehen, und zu betroffen, um einfach jeden Gedanken platt zu walzen – 237

und genau diese Unentschiedenheit hält ihn davon ab, das bedrohliche Meisterwerk zu werden, das durchaus in ihm steckt. Stattdessen ist „Fight Club“ inhaltlich ein Monument der Ratlosigkeit, ein Film voller Fragen und angerissener Motive, in einer heiklen Balance zwischen Zynismus und Empathie. David Fincher selbst nennt „Fight Club“ einen Initiationsfilm und vergleicht ihn mit der „Reifeprüfung“ (1967), in der einst Dustin Hoffman apathisch vor dem Erwachsenwerden stand. Edward Norton, der „Fight Club“-Erzähler, ist rund zehn Jahre älter, aber sein Leben hat er genauso wenig im Griff. Er hat alles getan, was ihm seine Eltern gesagt haben, er hat sich den richtigen Job besorgt, die richtige Wohnung und die perfekte Garderobe angeschafft, aber jetzt weiß er nicht weiter: ein passiver Jedermann an einer Schwelle, die er allein nicht zu überschreiten wagt. Das macht ihn verführbar für Tyler Durden und dessen destruktive Sprüche. Den Reiz der Gewalt hat auch Regisseur Fincher bisher immer lustvoll ausgekostet. Sein von alttestamentarischer Wut beseelter Serienkiller zog in „Sieben“ (1995) mordend und verstümmelnd gegen die moderne Gesellschaft zu Felde, und der Thriller hielt dem Entsetzen, das er auslöste, keine Aussicht auf Erlösung entgegen. Die Gewalt siegte, weil die Welt nichts Besseres verdient hatte. Auch in seinem Science-Fiction-Film „Alien 3“ (1992) und dem Psychothriller „The Game“ (1997) schuf Fincher lichtlose, kaputte Welten, aus denen dem Zuschauer nichts als Trostlosigkeit, Melancholie und Morbidität entgegenwaberten. Wie ein apokalyptischer Reiter strafte der Regisseur seine Figuren dafür ab, dass sie schwach, selbstgefällig oder fehlerhaft waren. Man hatte nie das Gefühl, dass Fincher die Welt sonderlich mochte. Da war ihm das Böse in seiner Eindeutigkeit schon lieber. Das gab seinen Filmen einen elementaren, hassgetriebenen Drive, aber auch eine unverkennbare Selbstherrlichkeit. Während andere Regisseure gern behaupten, sie wären kriminell geworden, hätten sie nicht das Filmen entdeckt, so erweckte Fincher eher den Eindruck, er hätte sich irgendwann erbittert und enttäuscht an einem Fensterkreuz erhängt, weil die Welt seinen Ansprüchen nicht genügte. Doch in „Fight Club“ ist ein Erwachsenwerden zu spüren, eine Ablösung von dieser spätpubertären Rigidität und Kälte. Zum ersten Mal sympathisiert Fincher verstohlen mit seinem verunsicherten, lächerlichen Helden, zum ersten Mal ist auch bei Nebenfiguren zu spüren, dass er sie betrachtet, ohne sie gleich zu verdammen. Und zum ersten Mal steht am Ende ein Liebespaar Hand in Hand vor der Apokalypse, zwei Menschen, die lieber leben als sterben wollen. An Ideen und Bildern waren Finchers Filme immer reich – vielleicht wächst ihnen jetzt auch eine Seele. ™ d e r

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Kultur

S TÄ D T E B AU

„Der Schatten meines Vaters“ Der Stadtplaner und Hochschullehrer Albert Speer, 65, über die Verschönerung der Innenstädte, das teure Projekt Expo 2000 und sein Schicksal als Sohn von Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister Speer: Ja, große Firmen ziehen sich in letzter Zeit aus riesigen Gebieten zurück, wie zum Beispiel Opel aus Rüsselsheim. Auch viele andere Firmen haben früher Flächen gehortet, weil sie an Expansionen dachten, nun geben sie sie frei. Deswegen können wir plötzlich wieder Boulevards und attraktive Plätze bauen. Investoren haben die Auswahl, ob sie sich in München ansiedeln oder in Paris oder eben in Frankfurt. Da müssen sich Städteplaner anstrengen, um sie dahin zu lotsen, wo sie sie Diktator Hitler, Architekt Speer senior (1937)* haben wollen. „Ihr seid ja alle verrückt geworden“

SÜDD. VERLAG

SPIEGEL: Herr Professor Speer, mit Ihrem Konzept für das Frankfurter Europaviertel, das Sie zwischen Hauptbahnhof und Messegelände bauen wollen, lassen Sie Moden der Jahrhundertwende wieder aufleben. So soll die Innenstadt einen großen PrachtBoulevard bekommen. Ist das ein Akt der Wiedergutmachung nach Jahrzehnten städtebaulicher Sünden? Speer: Vielleicht. In der Stadtplanung sind tatsächlich viele Fehler gemacht worden. Aber Sie müssen auch bedenken: Man hat den Ausbau der Innenstädte lange nicht vorantreiben können, weil es einfach keinen Platz gab. SPIEGEL: Und das hat sich jetzt geändert?

G. GERSTER

SPIEGEL: Dennoch werden die In-

Stadtplaner Speer, Speer-Modell für Frankfurt: „Meine Familie ist ein Sonderfall“ d e r

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nenstädte meist halbherzig verschönert. Auch bei Ihrem Boulevard gibt es berechtigte Sorgen, dass daraus wieder nur eine Stadtautobahn wird. Speer: Das wollen wir verhindern. Man muss unseren Boulevard an vielen Stellen überqueren können. Wir brauchen mehr Zebrastreifen als üblich und für die Straßenbahn ein begrüntes Gleisbett, über das Fußgänger laufen dürfen. SPIEGEL: Die Straßenbahn ist ein Verkehrsmittel aus alten Zeiten. Warum gibt es sie auf einmal überall wieder? Speer: Der Bau einer Straßenbahn ist nur ein Zehntel so teuer wie der Bau einer U-Bahn. Außerdem mögen die Leute lieber überirdisch fahren, weil sie da etwas zu sehen haben. SPIEGEL: Trotz Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr – die Autos bleiben das größte Problem der Städte. Über Ihren Boulevard, das haben Verkehrsplaner schon ausgerechnet, werden voraussichtlich 40 000 Autos täglich donnern. Ist das für eine Flaniermeile nicht viel zu viel? Speer: Ich gebe zu, das ist eine Horrorzahl. Die muss man allerdings differenziert betrach* Vor dem Modell für das Deutsche Haus der Pariser Weltausstellung.

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Londoner. Das Gelände besteht aus Straßen, Parks und ist so groß, dass es später ein Stück Stadt wird. 800 Millionen sind für längerfristige Investitionen ausgegeben worden, auch für S-Bahn-Stationen und einen neuen Bahnhof. Dies alles amortisiert sich nicht in fünf Monaten, aber im Lauf der Jahre auf jeden Fall. SPIEGEL: Bei der Expo sind Sie, wie bei den meisten Projekten, vor allem Moderator, Vermittler zwischen den Interessen von Bauherren, Stadt und Land. Sie propagieren überdies den Abschied vom Architekturbüro alter Schule. Was haben Sie gegen aufrechte Entwerfer? Speer: Nichts. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es geht nicht mehr vor allem darum, schöne Häuser zu bauen, sonSpeer-Modell für das Frankfurter Europaviertel: „Investoren lieben Spaßmeilen“ dern darum, wuchernde Städten. Unter den Linden in Berlin fahren Menschen wollen nun mal alles auf einmal te zu organisieren. Was ich hier mit einem auch 40 000 Autos in 24 Stunden, und dort bekommen, ohne sich anzustrengen. Stadt- sehr schlagkräftigen und sich stetig verjünkönnen Sie ohne weiteres über die Straße planung muss mit solchen Entwicklungen genden Team zu schaffen versuche, ist ein verantwortungsvoll umgehen. Dienstleistungsbüro im allerweitesten Singehen. SPIEGEL: Die Leute ziehen, auch wegen der SPIEGEL: Während Ihr Europaviertel bis- ne. Wir sind ein Architekturbüro mit Spevielen Autos, aus der Stadt aufs Land. Das lang weitgehend gute Kritiken bekommt, zialisten – zu denen ich mich selbst nicht Einfamilienhaus gilt als beliebteste Wohn- beziehen Sie als einer der wichtigsten Ge- zähle –, dazu gehören auch Verkehrs- und form. Sie sehen aber für Ihr Europaviertel stalter der Expo 2000 laufend Prügel. Was konventionelle Stadtplaner. Und dann gibt es einen Bereich, der alle diese Dinge zuWohnblöcke mit insgesamt 4100 Wohnun- läuft schief? gen vor. Wie wollen Sie gerade die Besser- Speer: Sie müssen beachten: Deutschland sammendenkt. Der wird immer wichtiger, verdienenden in die Innenstadt locken? hat sich für die Expo entschieden, als die und dort liegen vor allem meine Stärken. Speer: Einfamilienhäuser sind beliebt, weil Mauer noch stand. Hannover sollte Schau- SPIEGEL: Sie übernehmen Aufgaben von es keine echte Alternative gibt. Unser fenster zum Osten sein, sonst hätte man Regional- und Kommunalpolitikern. ÜberWohnviertel soll aber eine Alternative sein. wohl einen anderen Standort gewählt. Zu- schreiten Sie damit nicht Ihre KompeEs kommt in einen Park, ausgewiesene dem: Wenn man gewusst hätte, wie teuer tenzen? Wohnungsbauarchitekten aus europäi- der Aufbau der neuen Bundesländer wird, Speer: Die Komplexität der Aufgaben ist schen Ländern sollen dort etwas Besonde- hätten wir die Expo wahrscheinlich gar heutzutage so groß, dass die Kommunen, nicht gemacht. Nun hat man sich aber ent- Firmen wie BASF oder Preussag jemanres zaubern. SPIEGEL: Zum Europaviertel gehört auch schlossen, eine zu machen, und eine halbe den brauchen, der Moderationen überdas so genannte Urban Entertainment Cen- wäre peinlich, also wird es teuer.Völlig klar. nimmt. Überlegen Sie mal: In München lieter – eine Ansammlung von Hochhäusern, SPIEGEL: Immens teuer. Eine Milliarde gen zwischen Hauptbahnhof und Pasing in denen auf geballtem Raum lauter Ver- Mark fließen allein in die Baumaßnahmen. 160 Hektar Bahnfläche brach. Die Stadt gnügungsstätten entstehen, Theater, Kinos, Wie konnte es zu diesen horrenden Kosten und die Bahn konnten sich zehn Jahre lang nicht einigen, was hier geschehen soll. Uns Cafés. Warum werden überall in Deutsch- kommen? land monströse Spaßviertel errichtet? Speer: Wir bauen ganz bewusst eine Expo- ist es in einem strikt organisierten DiskusSpeer: Die Investoren lieben diese Viertel, Stadt und keinen Millenniumsdom wie die sionsprozess gelungen, in einem Jahr einen Rahmenplan zu erstellen, sie stürzen sich geradezu darauf. Und das der zu einem Vertrag zwinicht ganz zu Unrecht. Innenstädte haben schen Bahn und Stadt geführt an Attraktion verloren, weil die Shoppinghat, der überdies einstimmig und Kino-Center sich oft draußen auf der durch den Münchner Stadtrat grünen Wiese befinden. Gleichzeitig entgegangen ist. wickeln wir uns hin zu einer Erlebnisgesellschaft. Durch immer mehr Heimarbeit SPIEGEL: Der Architekt, der wird die Routine nach Hause geholt, und Stadtplaner soll also in Zudann entsteht der Wunsch, draußen etwas kunft Berater der Mächtigen erleben zu wollen. sein, nicht mehr eigenständiger Künstler? SPIEGEL: Um die Innenstadt insgesamt wieder attraktiver zu machen, wäre es doch Speer: Nicht ganz. Das eigensinnvoller, die Vergnügungsstätten zu verständige Kunstwerk kann teilen, nicht zusammenzuballen. heutzutage erst nach einer langwierigen Beratungsphase Speer: Ich schätze diesen Trend auch nicht entstehen, das übersehen viesehr, und er entspricht zudem nicht der Speer-Häuser für saudische Beamte in Riad (1984) le Architekten häufig. Die Tradition der europäischen Stadt. Doch die „Geradezu versessen aufs Ausland“ 240

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verteidigen immer noch das, was nicht funktioniert, reden nicht mit den Investoren, weil das angeblich böse Menschen sind, die die Stadt kaputtmachen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Nur mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam ist überhaupt noch etwas zu bewegen. SPIEGEL: Drei Generationen Speer waren in diesem Jahrhundert als Architekten tätig, alle drei auf völlig unterschiedliche, kaum zu vergleichende Art und Weise. Neigt Ihre Berufsgruppe mehr als andere dazu, sich gesellschaftlichem Wandel total zu unterwerfen? Speer: Die Familie Speer ist sicherlich – bedauerlicherweise – ein Sonderfall. Dennoch ist die Architektur immer in hohem Maße Ausdruck der Gesellschaft. Mein Großvater war ein typischer Architekt der Jahrhundertwende. Er hat im Südwesten Deutschlands prächtige Bürgerhäuser, aber auch viele erste Industriebauten entworfen, das Benzwerk in Mannheim etwa. Die denkmalgeschützten Hallen stehen noch – mit der fünften Generation Maschinen drin. SPIEGEL: Ihr Großvater, heißt es, war von den elefantösen Entwürfen, die sein Sohn, Hitlers Lieblingsarchitekt, zeichnete, nicht besonders angetan. Speer: Mein Vater hat meinem Großvater einmal seine Pläne für Berlin gezeigt. Mein Großvater hat nur mit dem Kopf geschüt-

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Kultur

Familienvater Speer senior, Ehepaar Speer*: „Selbstverständlich zusammen und doch

telt und gesagt: „Ihr seid ja alle verrückt geworden.“ SPIEGEL: Ihr Vater ist der Dämon Ihres Berufsstandes. Hatten Sie gar keine Scheu, im gleichen Bereich tätig zu werden? Speer: Schwierig zu sagen. Ich hatte einen relativ schweren Start in das Leben. Ich habe nämlich mit fünf oder sechs Jahren

das Stottern begonnen, und zwar so heftig, dass ich in der Schule nicht mehr drangenommen wurde. Das hat dazu geführt, dass ich die Schule gerade noch so geschafft habe, wenn auch ziemlich schlecht, bis zur mittleren Reife. Dann wusste ich nicht, was tun. Durch die Vermittlung meines Großvaters, der bis in die dreißiger Jahre eine

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irgendwie fremd“

Schreinerei hatte, bekam ich eine Lehrstelle in Heidelberg. Die Ausbildung kam mir sehr entgegen, denn handwerklich war ich begabt, und ich musste nicht viel reden. SPIEGEL: Dabei ist es aber offensichtlich nicht geblieben. Hat Sie doch noch der Ehrgeiz gepackt? Speer: Glauben Sie mir, so eine Schreinerlehre war damals sehr hart. Natürlich wollte ich aus meinem Leben mehr machen. Ich bin in die Abendschule gegangen, habe fürs Abitur gelernt und habe es beim zweiten Anlauf gerade so geschafft. Das war 1955. Danach habe ich mich für ein Architekturstudium in München entschieden. SPIEGEL: Sie bekamen als junger Architekt schnell Preise. Hat sich das Stottern durch die Erfolgserlebnisse gebessert? Speer: Wenn ich aufgeregt bin, taucht es wieder auf. Das ist ein Handicap, das sich derjenige, der es nicht kennt, nicht vorstellen kann. Man ist sich seiner Sprache nie sicher. Ich habe mit großer Energie versucht, es zu beherrschen. SPIEGEL: Wie? Speer: Sehr geholfen hat mir ein Aufenthalt in Amerika. Da gehen die Leute freier mit einem um, also habe ich erste Hemmungen abbauen können. Ich lernte zum Beispiel den Stadtplaner Edmund Bacon kennen, der hatte gerade einen Film gemacht über neueste Stadtsanierungen. Damit bin ich in Frankfurt ins Amerikahaus gegangen und habe gesagt, sie sollten sich doch mal den Film bestellen. Da haben die gesagt, ja, machen sie, aber nur, wenn ich dazu einen Vortrag halte. Ich habe zugestimmt, aber die ganzen Wochen vorher Angst vorm Versagen gehabt. Aber es ging ganz gut. Anschließend tourte ich durch sämtliche * Links: mit den Kindern Margret, Fritz, Hilde, Arnold und Albert am Haus auf dem Obersalzberg (1943); rechts: am Tag ihrer Hochzeit in Berlin am 28. August 1928. d e r

Amerikahäuser Deutschlands, jedes Mal wurde ich freier und besser. SPIEGEL: Wissen Sie denn, warum Sie plötzlich begonnen haben zu stottern? Speer: Ein Freund sagte einmal: „Dir haben die letzten Kriegsjahre die Sprache verschlagen.“ Ich weiß nicht genau, wo der Bruch liegt. SPIEGEL: Welche Erinnerungen haben Sie an das Kriegsende? Speer: Wir lebten in ziemlich ärmlichen Verhältnissen. Sehr beengt, in einer kleinen Wohnung, die uns die Stadt Heidelberg zugewiesen hatte. SPIEGEL: Das Leben nach dem Krieg stand wahrscheinlich in krassem Gegensatz zu jenem im Dritten Reich, als es für Sie doch sicher sehr komfortabel zuging? Speer: Das stimmt nicht. Mein Vater hat die Familie völlig rausgehalten. Wir lebten auf dem Obersalzberg zwar in einem großen Haus, aber ich musste jeden Tag zu Fuß in die Volksschule nach Berchtesgaden gehen. Eine Stunde den Berg hinab, eineinhalb Stunden hinauf, im Winter noch länger. Nein, wir lebten nicht herausgehoben. Wir sind streng erzogen worden. SPIEGEL: Aber am Obersalzberg waren Sie und Ihre Familie in unmittelbarer Nähe Hitlers. Das muss doch Ihr Leben geprägt haben. Speer: Hat es auch, aber ich weiß nie, was Erinnerung ist oder Erzählung. Dass wir zu Hitlers Geburtstag eingeladen waren, das weiß ich schon, und dass wir auf seinem Berghof freier herumlaufen durften als zu Hause, weiß ich auch noch. SPIEGEL: Da gab es also eine Diskrepanz zwischen strenger Erziehung einerseits und andererseits der Nähe zum mächtigsten Mann Europas? Speer: Ach, das wusste ich ja nicht, dass der so mächtig ist. Aus meiner Perspektive war er ein Onkel wie jeder andere auch. SPIEGEL: Der Publizist Joachim Fest vertritt in seiner neuen Biografie über Ihren Vater die These, Hitler habe die einzig wirklich intensive emotionale Beziehung seines Lebens ausgerechnet zu Ihrem Vater gehabt. Was empfinden Sie bei dem Gedanken, dass das größte Monstrum dieses Jahrhunderts ausgerechnet Ihren Vater verehrte? Speer: Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich glaube aber, dass da was dran ist. Für Hitler war mein Vater der hoch begabte junge Mann, der er selbst hätte sein wollen. Das ist bestimmt ein wesentliches Motiv, das die gegenseitige Abhängigkeit erklärt. Ich kann aber nur sagen, dass ich meinen Vater nicht als emotionalen Menschen erlebt habe – ich habe ihn überhaupt kaum erlebt. Der war ständig weg, und wenn er zu Hause war, hieß es immer, wir sollten alle still sein, um ihn nicht zu stören. Und dann kam die Zeit, in der er im Spandauer Gefängnis saß, 20 Jahre. SPIEGEL: Wie oft haben Sie da Ihren Vater gesehen?

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Kultur SPIEGEL: Was halten Sie denn vom neuen

Bundeskanzleramt?

Speer-Erweiterungsplan für Chongqing (China): Wuchernde Städte organisieren Speer: Es gab jährlich einen Besuch von zweimal einer halben Stunde. Es war jedes Mal eine Anstrengung, ihn zu unterhalten. Sie können sich nicht vorstellen, wie lang eine halbe Stunde sein kann. SPIEGEL: 1966 wurde Ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen. Er starb 15 Jahre später. Zeit, sich mit ihm auseinander zu setzen? Speer: Eigentlich nicht. Ich war mit dem Aufbau meines Büros beschäftigt, habe ihn zwar ab und zu gesehen, habe aber nicht die Diskussion gesucht. Er wurde ja von allen Seiten beansprucht. Ich bin auf Distanz geblieben, so wie das vorher auch der Fall war. SPIEGEL: Sie haben sich also ein Leben lang zum Kontakt zu Ihrem Vater gezwungen? Speer: Nein, wir haben schon zu ihm gestanden, das war selbstverständlich, aber nicht ganz leicht. In der Spandauer Zeit durften wir jede Woche einen Brief schreiben, und unsere Mutter hat peinlich darauf geachtet, dass wir das auch taten. Jeder von uns hatte eine Anzahl von Worten, die er erfüllen musste. Wir durften insgesamt 1500 Worte schreiben. Meine Mutter sagte dann immer: „Albert, du bist dran, du machst 500 Worte und Fritz 300“, und so weiter. SPIEGEL: In der Fest-Biografie bleibt eines rätselhaft: Es wird nicht klar, was für ein Verhältnis Ihr Vater und Ihre Mutter zueinander hatten. War es eine Ehe ohne Liebe? Speer: In meiner Familie sind Emotionen vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen. Die drückte man nicht aus. Meine Mutter war eine ungeheuer tapfere Frau, die aus sechs Kindern etwas gemacht hat. Aber sie war auch herb. Das einzige Mal, dass ich Tränen in ihren Augen gesehen habe, das war, als ich das erste Mal durchs Abitur gefallen bin. Was meine Eltern betrifft: Es gibt ein Foto nach ihrer Hochzeit, das alles sagt. Da laufen beide über den Ku’damm, * Mit den Redakteuren Susanne Beyer und Dietmar Pieper in seinem Frankfurter Büro.

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nicht Arm in Arm, sondern richtig schön auf Distanz. Genauso war es zwischen den beiden. Selbstverständlich zusammen und doch irgendwie fremd. SPIEGEL: Haben Sie sich mit der Architektur Ihres Vaters befasst? Speer: Ein bisschen, nicht intensiv. Wenn Sie die Gesamtplanung von Berlin – ich meine nicht die große Achse und nicht den abstrusen Germania-Dom – mal vergleichen mit dem, was Le Corbusier zur gleichen Zeit für Paris geplant hat, Infrastrukturen mit Ober- und Unterführungen und so, dann ist das sehr ähnlich. Die Arbeit meines Vaters war also in dieser Hinsicht offenbar zeitgemäß. Auch seine Idee, die Bahnhöfe herauszulegen, die Bahn in Berlin nur noch auf dem S-Bahn-Ring verlaufen zu lassen und die Innenstadt frei von Schienen zu halten, finde ich sinnvoll. Nach der Wende 1989 hat man die Schienen über den Lehrter Bahnhof wieder in die Stadt hineingezogen – ob das gut war oder nicht, dazu möchte ich nichts sagen. SPIEGEL: Sie schätzen also die Pläne Ihres Vaters? Speer: Nein, die Riesen-Achse war verrückt. Aber als Architekt hat er teilweise schöne Sachen gemacht. Wenn Sie die Rückseite der Neuen Reichskanzlei nehmen: ein gelungener klassizistischer Bau. Speer (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*

Dienstleistung im allerweitesten Sinne

mensionen. Das ist ja riesig. Man muss aber seine Fertigstellung abwarten, um es beurteilen zu können. SPIEGEL: Hatten Sie eigentlich jemals in Ihrem Leben die Möglichkeit, ganz aus dem Schatten Ihres Vaters herauszutreten? Speer: Den Schatten gibt es leider bis heute. Mit dem Phantom meines Vaters muss ich leben. Die letzte Geschichte ist keine 14 Tage her. Ich war im Frankfurter Presseclub eingeladen, um das Europaviertel vorzustellen. Der Präsident des Clubs hatte ein Fax bekommen, das er erst nach der Veranstaltung gelesen hat. Da forderte ein Mitglied, man solle den Speer entweder ausladen oder zur Zwangsarbeiterfrage während der Nazi-Zeit befragen. Absurd. SPIEGEL: Hatten Sie berufliche Nachteile durch Ihren belasteten Namen? Speer: Ja sicher. In Berlin habe ich Projekte nicht durchgekriegt – dafür gibt es eindeutige Hinweise – wegen meines Namens. Ich verstehe auch, dass es nicht in aller Welt heißen soll, Albert Speer baut in Berlin. Insgesamt muss ich jedoch sagen: Es grenzt oft an Sippenhaft, was mir passiert. Vieles läuft zwar hinter meinem Rücken, aber mir hat auch schon jemand in einer fachlichen Diskussion vorgeworfen: „Ich verzeihe Ihnen Ihren Vater nicht.“ SPIEGEL: Es klingt zynisch, aber hat Ihnen Ihr bekannter Name nicht auch Vorteile gebracht? Größere Neugierde auf Ihre Projekte? Speer: Ich bilde mir ein, ich habe mir meinen Namen aus eigener Kraft gemacht. Der ganze Start in meine Selbständigkeit lief ausschließlich über anonyme Wettbewerbe. SPIEGEL: Wie haben Sie versucht, sich beruflich von Ihrem Vater abzugrenzen? Speer: Mein Büro hat sich immer bemüht, international tätig zu sein, wir sind geradezu versessen aufs Ausland, planten und planen für Saudi-Arabien, Afrika, Nepal, China. Das ist mir sehr wichtig. SPIEGEL: Sie haben sich für die Stadtplanung entschieden, Ihre Arbeit ist unsichtbarer als die des Architekten, der Häuser entwirft. Hängt der Wunsch nach Unsichtbarkeit auch mit Ihrem Vater zusammen? Speer: Das glaube ich nicht. Ich wäre nie ein hervorragender Architekt geworden. Dafür habe ich exzellente Leute. Wie gesagt, meine Fähigkeiten liegen in der Moderation, in der Planung, und ich glaube, wenn Sie sich umhören, welches das wichtigste Planungsbüro in Deutschland ist, dann ist das wahrscheinlich ASP, also Albert Speer und Partner. Darauf darf ich, glaube ich, schon stolz sein. SPIEGEL: Herr Professor Speer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. G. GERSTER

U. DETTMAR

Speer: Das überrascht mich in seinen Di-

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Kultur

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Das Märchen vom Pop-Aschenputtel Mariah Carey, die Königin des Süßstoff-Souls, legt ein neues Album vor. Nach überstandener Scheidung will sie sich nun auch musikalisch emanzipieren.

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USA verkauft – mehr als von den 13 Vorgängern. Das dazugehörige Album „Rainbow“ ist in der vergangenen Woche weltweit auf den Markt gekommen. In Deutschland wurden in den ersten vier Tagen 185 000 Stück verkauft. Pop, Rhythm & Blues, HipHop und Schmalz, dazu die mit artistischer Brillanz vorgetragenen Melodien – das ist die gefällige Erfolgsmischung der Carey-Platten. Die Zutaten sind über Jahre dieselben geblieben, das Mischungsverhältnis allerdings hat sich mit „Rainbow“ deutlich verändert: weniger Schmalz, mehr HipHop. „Heute kann ich tun, was ich will“, sagt Carey, „ich liefere bei der Plattenfirma nur das fertige Album ab.“ Deshalb sind auf „Rainbow“ auch harte Rapper wie Jay-Z, Snoop Doggy Dog und Missy Elliott zu hören. Das Duett mit dem wild-verrückten

Ehepaar Carey, Mottola (1994)

Trauriger Kanarienvogel im Platinkäfig

RETNA / INTER-TOPICS

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st das eine menschliche Stimme? Oder doch ein alter jammernder Synthesizer? „Aahahaahahaahahaa“, quiekt es aus dem Lautsprecher, in Quarten auf- und abschwingend, und zwar so hoch, dass Fledermäuse den Ton mit dem Leidensschrei eines verzweifelten Artgenossen verwechseln könnten. Aber es ist eine Frauenstimme – dieselbe, die im Chor mit sich selbst einige Oktaven tiefer im Vordergrund „My love goes on and on and on“ säuselt, dann an Volumen gewinnt, sich im kontrollierten Salto in die Höhe wirbelt, sanft in die Tiefe gleitet und samtig-rauh verklingt. Eindrucksvoll ist dieser Stimmumfang, fünf Oktaven oder vielleicht sogar sieben, auch wenn die Hochtöne sich schmerzvoll durchs Trommelfell bohren. „Du machst dich lächerlich, und du wirst deine Stimme ruinieren“, hat Patricia Carey vor vielen Jahren zu ihrer Tochter gesagt, als diese übte, immer höher und höher zu fiepsen. Aber Mariah Carey, 29, hat die Stimmbänder nicht ruiniert, sondern trainiert und ihrer totalen Kontrolle unterworfen – und ist die erfolgreichste Popsängerin der neunziger Jahre geworden. Carey hat in den vergangenen Jahren mehr Platten verkauft als Whitney Houston oder Celine Dion, die beiden anderen amerikanischen Diven: 115 Millionen Stück weltweit, 7,5 Millionen davon in Deutschland. Sie platzierte 14 Singles auf Platz eins der amerikanischen Hitparade – nur die Beatles und Elvis hatten mehr Hits. Aber Careys Titel standen insgesamt länger an der Spitze der Charts als die BeatlesSongs. Und noch ein Rekord, wenn auch nur ein persönlicher: 271 000 Stück wurden in der Startwoche Anfang September von Careys neuer Single „Heartbreaker“ in den

Rapper Ol’ Dirty Bastard dagegen war 1995 auf eine Remix-Platte verbannt. Doch das war früher, vor 1997 und damit vor Careys Scheidung vom Sony-MusicChef Tommy Mottola, 49. Er hatte sie 1988 auf einer Party entdeckt und unter Vertrag genommen, und seitdem galt Carey als sein Produkt: ein romantisch-lieblicher PopEngel mit langen blonden Locken, elegant daherschwebend in Gucci und Armani, mit überirdischer Stimme gesegnet. Das Märchen dieser Begegnung lautet: Carey war 18 Jahre alt, hatte gerade in Long Island die High School und 500 Stunden Kosmetikschule hinter sich und war nach New York umgezogen. Sie schlug sich als miserable Kellnerin, Garderobenfrau und geniale Background-Sängerin durch – unter anderem für die Soul-Künstlerin Brenda Starr. Diese wollte sie eines Abends auf eine Party der Plattenindustrie schleppen. Doch Carey fand zunächst nichts Passendes im Kleiderschrank. Starr gab ihr einen Minirock, eine Cheerleader-Jacke, dazu trug Carey Turnschuhe. Kein Wunder, dass sie bei der Party auffiel und Mottola, der mit zwei anderen Plattenbossen zusammenstand, sie herbeiwinkte. Carey zog ihr unbeschriftetes Demo-Band aus der Tasche, und Mottola griff es, bevor einer der beiden Konkurrenten die Hand danach ausstrecken konnte. Er hörte die Kassette später im Auto, fuhr sofort zur Party zurück und suchte das unbekannte Jungtalent, vergeblich. Erst eine Woche später trieb er sie auf. Die Wahrheit klingt etwas anders als die Aschenputtel-Geschichte vom Traumprinzen, der New York nach seiner Prinzessin absuchte: Carey hatte 1988 schon einen Manager und Co-Songwriter. Ben Margulies, ein Freund ihres älteren Bruders, Sängerin Carey

Pop-Engel mit überirdischer Stimme

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Kultur

N. PRESTON / DREAMWORKS

schickte Mariahs Demo-Tape herum. deten auf Platz eins der US-Hitparade, Ca- Außen- und einen Innenpool, einen SchießZunächst erfolglos, aber schließlich wollte rey bekam zwei Grammys. Sony zahlte an Übungsraum, ein Tonstudio, zwei PizzaWarner einen der Songs als Filmmusik kau- Mottola einen Bonus von drei Millionen Öfen, 14 Bäder und so viele Zimmer, dass fen und bot Carey außerdem ein Solo- Dollar. Und Carey brachte von da an jedes Carey ihre genaue Zahl nie kannte. Ihre Album an – und einen Vertrag über 300 000 Jahr eine neue, sensationell erfolgreiche Kleider nummerierte sie, um den Überblick zu behalten. Dollar. Deshalb musste Brenda Starr sie Platte heraus. In schummrigen Ecken New Yorker LoZu Careys Aschenputtel-Geschichte passerst überreden, auf die Party der Musikkale wurden Mottola und Carey ein paar te, dass sie das dritte Kind einer Opernchefs zu gehen. Mottola war zu dieser Zeit dringend auf Mal knutschend erwischt. Für eine Abfin- sängerin aus Illinois war – die in New York der Suche nach der neuen Whitney Hou- dung in Millionenhöhe akzeptierte Lisa auf der Bühne nie den Durchbruch geston, sah und hörte sie in Carey und bot Mottola die Scheidung. 1993 richtete der schafft hatte und sich auf Long Island mit wechselnden Jobs durcheinfach 50 000 Dollar mehr schlug. Der Vater war Flugals Warner. Carey unterzeug-Ingenieur. Er fuhr, was schrieb bei Sony – und bei bei der Legendenbildung unMottolas eigener Manageterschlagen wurde, einen ment-Firma. Careys alter Porsche und verdiente als Manager Margulies war zehn Staatsangestellter sehr gut. Jahre lang an ihren EinnahAls Mariah drei Jahre alt men prozentual beteiligt. war, verließ er die Familie. „Ich hätte da leicht rausCareys Vater war der kommen können“, sagt CaSohn einer Schwarzen und rey, „aber ich wollte nicht. eines Venezolaners, ihre Ich hoffe, er hat ein schönes Mutter war irisch-ameriLeben.“ Auch das hört sich kanischer Herkunft. Wean wie ein Märchen. gen dieses Ahnen-Wirrwarrs Careys neuer Chef und fühlte sich Carey, wie sie Manager Mottola hatte einisagt, nie irgendwo zugehörig: ge Jahre zuvor selbst vernicht zu den Weißen, nicht sucht, Popstar zu werden, zu den Schwarzen, nicht war aber an mangelnder zu den Hispanics. „Ich hatStimme und mangelndem te kein Vorbild“, erzählt Talent gescheitert. Umso taCarey, „niemand sah so lentierter war er bei der Pla- Konkurrentinnen Carey, Houston (1998): Strahlende Diven im Duett aus wie ich.“ nung seines Aufstiegs in der Sie habe eine „beschädigte Kindheit“ Plattenindustrie – auch wenn über Verbin- Traumprinz für seine 20 Jahre jüngere Prindungen zur Mafia spekuliert wurde, die zessin eine Traumhochzeit aus – Carey hat- gehabt, sagt Carey und deutet an, dass sie te sich bei der Anmeldung ihrer Wünsche Gewalttätigkeit erlebt habe. Genauer will der Italo-Amerikaner jedes Mal bestritt. Umsichtig entwarf er Careys Karriere: von einer Videoaufzeichnung der Hoch- sie nicht werden, „aus rechtlichen GrünDen ersten großen öffentlichen Auftritt zeit von Prinz Charles und Diana inspirie- den“, wie sie erklärt. Nur dass Rassisten hatte sie, als sie 1990 bei der Eröffnung des ren lassen. Acht Meter lang war Careys die Hunde ihrer älteren Geschwister vergifteten, erzählt sie. So ein finsterer HinBasketball-Endspiels die heimliche Natio- Schleppe. Eine halbe Million Dollar ließen die bei- tergrund lässt die Aschenputtel-Geschichnalhymne „America the Beautiful“ sang. 800 000 Dollar investierte Sony Music in den sich das Spektakel kosten, das mehr ei- te noch schöner strahlen. Ganz so schlecht kann die Kindheit das Debütalbum, für das Mottola profi- ner Krönung als einer Hochzeit glich und lierte Soul-Produzenten engagierte. 500000 zu dem auch Robert De Niro und Barbra nicht gewesen sein, denn Mutter Patricia Dollar kostete das Video, und eine Million Streisand erschienen. Heute sagt Carey: förderte Mariahs Gesangstalent, seit die Dollar gab Sony für Promotion aus. Mehr „Es waren fast nur Leute da, die er kann- damals Dreijährige bei Opernproben eials elf Millionen Stück wurden bis heute te.“ Das Paar zog nach Bedford Corners ne Melodie besser nachsingen konnte von „Mariah Carey“, wie die Platte hieß, nördlich von New York in eine 6000 Qua- als sie selbst. „Meine Mutter war ein Boverkauft, vier Single-Auskopplungen lan- dratmeter große Villa: Sie hatte einen hemien-Typ“, sagt Carey. Patricia Carey

SIPA PRESS

gründete ein multikulturelles „Freedom Boss-Vater-Ehemann verlangte. Angeblich einem Interview über die Popdiva hergeCenter“, ihre Freunde waren Jazz-Sänger, hatte Carey vor der Trennung schon eine zogen hatte. Carey wollte und will unbedingt ein schwule Paare, Menschenrechtsaktivisten, Affäre mit Derek Jeter begonnen, einem und Mariah war oft der Star des Abends, Star des Baseballteams New York Yankees. Hollywood-Star werden, und spätestens der auf dem Küchentisch Lieder vor- Carey hat die meisten ihrer Stücke selbst diese Ambitionen ruinierten die Ehe. Motträllerte. „Ich bin sehr frei aufgewachsen geschrieben und mitproduziert – im Ge- tola war gegen die Pläne, nicht ohne guund konnte meine Persönlichkeit ent- gensatz zu ihrer Konkurrentin Whitney ten Grund: Kaum einem Popstar ist der wickeln.“ Houston (mit der sie 1998 ein Duett auf- Wechsel in die Schauspielerei geglückt; Mit 13 Jahren verdiente Carey schon nahm). Sie ist berüchtigt dafür, mit un- Madonnas Scheitern ist beispielhaft. CaGeld als Studio-Sängerin. Mit 16 kompo- berechenbaren Verschiebungen des Tag- rey beharrte aber auf ihren Plänen, nahm nierte sie gemeinsam mit Ben Margulies Nacht-Rhythmus ihre Umgebung zu ter- Schauspielunterricht und ist in den USA derzeit in „The Bachelor“ zu Songs. Einer davon, „Vision sehen – wenn auch nur in of Love“, wurde 1990 ihre einer winzigen Nebenrolle. erste Hitsingle, und sie geIm nächsten Jahr allerdings wann damit einen Grammy. wird sie im Achtziger-JahreEin trauriger KanarienvoMusikfilm „All that Glitters“ gel im Platinkäfig – so wurde die Hauptrolle spielen und die Geschichte ihrer Ehe mit singen. Mottola kolportiert. Er habe Der Schauspielunterricht, ihr Bodyguards hinterhergesagt Carey, sei für sie wie schickt, Miniröcke verboten Psychotherapie gewesen: und verhindert, dass sie nach „Ich habe meine blockierten den Aufnahmen im Studio Gefühle kennen gelernt.“ noch mit den anderen MusiDas hört sich an wie ein umkern zu Partys ging. Als „Leformulierter Werbeprospekt ben in einer Muschel“ beeiner Schauspielschule: Entzeichnet Carey die Zeit ihdecken Sie Ihr wahres Ich! rer Ehe: „Ich durfte nicht ich Finden Sie den Weg zu Ihren selbst sein.“ Gefühlen! Welche auch imAnfang 1997 trennte sich mer das sein mögen. das Paar. Kurz zuvor hatte Jedenfalls zieht Carey sich die Zeitschrift „Vanity Fair“ heute so provokativ an, wie über Mottolas mögliche Carey-Villa bei New York: Zwei Pizza-Öfen und vierzehn Bäder Mottola es offenbar nie erNähe zur Mafia berichtet. „Nun wusste die ganze Welt, wie unglück- rorisieren. Sie kommt gern zu spät und ließ tragen konnte: poknappe Miniröcke, lich ich war“, sagt Carey. Sie habe in der auch Prinz Albert von Monaco bei einem Metallic-Kleidchen, wurstpellenartige Capri-Hosen. Das Magazin „People“ nahm Ehe nur so lange ausgeharrt, weil sie ers- Gala-Dinner warten. tens einen autoritären Wochenend-Vater Und dann gibt es noch die Kleinskan- sie vor kurzem in die Liste der am schlechgehabt habe und sich dieses Muster wie- dale, die das Bild von der schüchternen testen angezogenen Frauen auf, aber derholt habe. Weil sie zweitens auf Grund Prinzessin zurechtrücken: Sie soll in ei- Carey besteht darauf, dass es Popstars ihrer chaotischen Kindheit „eine riesige nem Eifersuchtsanfall ihren Produzenten ihrem Publikum schuldig seien, sexy ausToleranz für Dysfunktionales“ entwickelt Walter Afanasieff vor einem Nachtclub zusehen. In ihrem Video zu „Heartbreaker“ trägt habe. Und drittens habe sie geglaubt, bei so lautstark beschimpft haben, weil der an viel beruflichem Glück habe sie kein Recht, der Gesangskarriere seiner schönen neu- Carey Jeans und einen riesigen Busen im auch noch privates Glück zu verlangen. en Freundin Samantha Cole bastelte. Bei winzigen Trägertop. Sie hat glatt geföhnte, Schluchz. einer anderen Gelegenheit soll sie Cole lange Haare und tritt eine Konkurrentin Das ist zu schön-traurig, um wahr zu mit Eiswürfeln beworfen haben. Tief in mit Karate-Kicks zusammen. Carey will nicht mehr Aschenputtel sein, sein. Und tatsächlich gibt es Widersprüche der Nacht im New Yorker Restaurant Blue zu dieser Darstellung vom armen, unter- Ribbon stellte Carey die Schauspiele- sondern die Heldin eines modernen Märdrückten Star, der tun musste, was der rin Cameron Diaz zur Rede, weil diese in chens: Lara Croft. Marianne Wellershoff

Kultur

D. OBERTREIS / BILDERBERG

Erstaunlicherweise gibt es selbst in diesen Zeiten doch noch Rühmenswertes aus der einst hehren Schweiz zu berichten. Ich bin soeben aus Peter Webers Roman „Silber und Salbader“ heraus, kann drum melden: Tauchgang überstanden, schwindelnd, atemlos. Schauplatz der Weberschen Hatz ist nebst dem heimatlichen Tal samt freihändig eingezogenen Nebentälern die, weitläufig definierte, Umgebung von Zürich – seit fast 500 Jahren offenbar heimliches Ziel der Toggenburger, ihr magischer Ort, seit es den Talgenossen Huldrych Zwingli, angeblich nach verunglückter Probepredigt in Rapperswil, seeabwärts dorthin verschlagen hat. Ich kenne die Zürichseegegend in- und auswendig, bin mittendrin aufgewachsen und noch lange nicht fertig mit ihr. Noch weiß man den See nicht recht zu Weber-Thema Schweiz: „Aus Alphörnern dünstet in Schwaden schwerer Alpenweihrauch“ überbauen, sonst aber ist da, so weit das Auge reicht, helvetische GeldAU T O R E N geschäftigkeit so flächendeckend mit neueidgenössischem Heimatstil intim geworden wie kaum anderswo in der Schweiz. Darüber weiß natürlich auch der Baumeisterssohn Peter Weber locker Bescheid. Der Schweizer Nachwuchsautor Peter Weber lässt in seinem zweiten Im Toggenburg kennt er ohnehin Stein und Roman die helvetischen Puppen tanzen und erzählt eine Bein und dreht erst noch jeden Brocken mit allen Wassern gewaschene Generationensaga. Von Gerold Späth um; findet er selbst da nicht, was er sucht, erfindet er’s im Handumdrehen selber. Drauf schüttet er Ozeane aus. Lässt FlüsSpäth, 60, lebt als Schriftsteller („Commeer Lack ist gründlich ab. Die so genannte Eidgenossenschaft ein ob- se tosen und versickern und hinter sieben dia“) in der Toskana und im irischen Rinskurer Winkel voll tumber Politiker, Bergen wieder hervorsprudeln. Aus Sagen naknock; soeben erschien von ihm in der Pfaffenweiler Presse die Prosasammlung gegängelt von polternden Populisten, ge- büschelt er uns leichthändig seine Grün„Ein Nobelpreis wird angekündigt“. Mit linkt von feist gemästeten Beamten. Eine dungssaga. Er lässt Badehöhlen dumpfen Weber, 31, der in Zürich lebt und 1993 verfolgungswahnsinnige Armee macht als und dampfen. Bäderhotels werden hochmit seinem Roman „Der Wettermacher“ Staat im Schnüffelstaat unentwegt auf geflaggt, gehen irgendwann verschütt. Texerfolgreich debütierte, verbindet Späth Ernstfall und Armageddon. Dummdreiste tilbuden schießen aus dem Boden, Baumnicht nur die Hassliebe zur Heimat Großbanken können es nicht lassen, im- wollbarone krachen pompös zusammen. Wer sich auf „Silber und Salbader“ einSchweiz, sondern auch die Lust an fun- mer mal wieder neue Unsäglichkeiten durchzuziehen. Man reibt sich die Augen … lässt, muss auf Ver-Rücktes gefasst sein: kelnden Formulierungen.

Hinter den sieben Bergen

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I. OHLBAUM

C. RUCKSTUHL / KEYSTONE PRESS ZÜRICH

Peter Weber: „Silber und Salbader“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 296 Seiten; 39,80 Mark.

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Kultur Der Roman beginnt hinterhältig still, hebt unverfänglich sanft ab. Leise rieselt der Schnee, allerdings schwerindustriell stark angereichert. Dann kommt nach und nach zunehmend Merkwürdigeres vor. Warmwasserheilige. Bassfallen. Quellenindianer. Maultrommelbäume. Kaisereicheln. Molasseböcke. Felsäpfel und die Vögel Mergelhopf und Gaster. Verenen und Nymphen tauchen auf. Man geht lärm- und lachbaden, tanzt scharfe Salpetertänze, kaut Lichtkiesel oder die andere Toggenburger Spezialität: Bloderkäse, von Weber als Plauderkäse gepriesen. Im bisher unbekannten Tal der Rasch wird der nicht weniger unbekannte Singdialekt Räss gesprochen. In verstecktem Abseits das noch einheimischere, sehr geheimnisträchtige Quelsch. Dem jungen Mann im Toggenburg gelingt es spielend, mit dem Schwung seines ersten Romans „Der Wettermacher“ (1993) durch die Landschaften seines zweiten zu jagen. Überall klopft seine flinke Phanta-

handle es sich um die geläufigsten Selbstverständlichkeiten der Welt. Es biegen sich die Schwarten, und es krachen die Balken. Oder umgekehrt: Aus Landes- und erst recht aus Lokalgeschichte, kaum dass Weber sie anritzt, schießen ihm die Einfälle schockweise hervor; „Silber und Salbader“

Die Tracht und das Verdauungsgejodel sind Pflicht sie Figuren aus dem Busch und scheucht scharenweise Geschichten auf. Peter Weber ist ein mit allen Wassern gewaschener Erzähler, ein in der Wolle gefärbter Storyteller. Was Wunder, dass in seinem Roman allenthalben Wasser durchdrückt. Es trieft in Kordeln, es orgelt in Schluchten, es schliert als Nebel, es baut Druck auf in finsterem Untergrund, es strömt davon, taut herab. Zum andern ist ausgiebig von Spinnern die Rede; sie weben und sticken und stricken ihre Macken und Maschen, sie raffen dank Falschzwirn und Kunstgeld dicke Vermögen. Sollte die schnelle Chose, was vorkommt, schief oder gar verschütt gehen, macht’s weiter nix; denn da sind die Frauen, die reißen ihre Männchen immer wieder so selbstlos wie bravourös aus allen Strudeln. In seinem Phantasiezirkus schwingt Weber sich als flickflackender Wortakrobat zügig auf und ab durch Zeiten, Geschichte und Geschichten. Eine Nummer jagt die andere. Lauter schillernde Kunststücke. Und wirklich alles, was er in entfesselter Sprache herbeizaubert, ist auch wirklich wahr, man kommt gleich dahinter. Und schon hat es einen beim Ärmel, schon wird man hineingewirbelt in Webers irrwitzig rotierende Show. Die Salbadergeschichten schwirren und flirren. Webers Figuren, eine wahre Streetparade, erleben Unerhörtes, palavern Phantastisches. In Zürich ist Hanfdampf in allen Gassen, da verwandeln sich simple Dinge in nie zuvor gesehene; die werden opulent und so unverfroren aufgetischt, als 254

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Bestseller Belletristik 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark

2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark

3 (4) Noah Gordon Der Medicus von Saragossa Blessing; 48 Mark 4 (3) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 5 (5) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark

6 (7) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 7 (6) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark

8 (8) Marianne Fredriksson Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 9 (10) Ken Follett Die Kinder von Eden Lübbe; 46 Mark

10 (9) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark

11 (–) Frank McCourt Ein rundherum tolles Land Luchterhand; 48 Mark 12 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark

13 (13) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark

14 (12) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 15 (–) Thomas Brussig Am kürzeren Ende der Sonnenallee Volk und Welt; 28 Mark

Der Roman zum Film: eine Jugend im Schatten der Berliner Mauer

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wird zum barocken Narrenspiegel. Und weil der Wundererzähler die scheinbar stabil geschichtete voralpine Welt als stark schwankendes Tollhaus begreift, mischt er sich demiurgisch ein. Versetzt Berge, baggert Täler, türmt neue Gebirge, reißt Höhlen auf und lässt alle Winde los – die Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“

Sachbücher 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark

2 (2) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 3 (3) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark

4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark

fegen als Fortschritt daher. Allenthalben wird geklotzt und geboomst. Die bislang nur hoch subventionierten Herren Geißenbauern haben ihre Chance genutzt und sich flugs zu dicken Profitbrüdern gemausert. Man sömmert Touristenherden, winters werden sie per Skilift zur goldscheißenden Sonne emporgebunkert. Sentimentale Hauptsache ist die Festerei. Aus Alphörnern dünstet in Schwaden schwerer Alpenweihrauch. Man jauchzt, frisst, schwitzt, steckt sich den patriotischen Stumpen an. Tracht und Verdauungsgejodel sind Pflicht. Drauf im schweren Schlitten auf zur nächsten Hundsverlocherei. Es ist trompetengoldige Zeit, breitspurig durchdröhnt sie das Land. Weber kann ein Lied davon singen, rauschhaft überschäumend, doch Ton um Ton und Satz um Satz exakt gesetzt. Dass so was nicht vom Himmel fällt, weiß ich gut genug. Solch erzählerische Lust erwächst aus tief gedüngtem Boden.

5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark

Da sprudeln die Quellen, da kommt unglaublich viel in Fluss

6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 7 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 8 (9) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 9 (8) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark

10 (10) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark

11 (11) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee

Europa; 39,80 Mark

12 (–) Dietrich Schwanitz Bildung Eichborn; 49,80 Mark

Der akademische Entertainer verrät im flapsigen Plauderton,was man alles wissen muss

13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark

14 (12) Günter Ogger Macher im Machtrausch Droemer; 39,90 Mark 15 (14) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark

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Der Roman „Silber und Salbader“ führt glanzvoll vor, was in frühen Jahren Erlebtes, Gehörtes, Aufgelesenes, Erahntes, kurz: was nächste Umgebung, scharf besehen und immer deutlicher durchschaut, hergeben kann, wenn sie dem sprachmächtigen Erzähler, Spieler, Erfinder in die Tastatur gerät. Da sprudeln die Quellen, da kommt unglaublich viel in Fluss, es springt eins aus dem andern. Mehr oder weniger fern von heimischen Fließwässern hingegen kann sich leicht etwas verwischen. Drum ist dann auch leicht beckmessern: Der getigerte Nachtfisch Lota lota schwimmt im Zürichsee als Trüsche und heißt wohl lieber nicht Treusche, zumal er, je nach Gegend, eh schon genug Namen hat: Aalraupe, Quappe oder Rutte. Und der große Platz zu Siena ist nun mal seit je sienesischer Campo, drum halt etwas anderes als eine Piazza. Item: Nach nur knapp 300 Seiten ist der schwirr kreiselnde Tanz aus; wir finden uns wieder dort, wo der Roman ganz unverfänglich sanft begonnen hat. (Könnte alles ein heftiger Traum gewesen sein? Fängt der eigentliche Roman am Ende erst wirklich an?) Vom Großvater des Erzählers wird im Buch behauptet, er sei der großartigste Schwindler gewesen, den man im Tal je gesehen habe. Ich kenne Peter Weber seit Jahren, weiß drum schon lange, was man jetzt wieder aus jeder Seite seines fulminanten neuen Romans lesen kann: dass noch einer im Tal ist, der in bisher nie gehörten Tönen ebenso großartig salbadert. ™

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Kultur

FOTOS: SENATOR

Klaus ist ein Träumer. Vorm Einschlafen beobachtet er einen Mann im Stasi-Gebäude und führt über dessen Schritte von einem Zimmer ins andere Buch. Im Geografieunterricht lernt er die politischen Farben der Erde kennen. Die kapitalistischen Länder sind blau, die sozialistischen rot, die Entwicklungsländer wie die Tomaten: „Erst sind sie grün, dann werden sie rot.“ Klaus’ Banknachbarin, die schöne Yvonne, möchte später nach Holland, ihr Hund heißt bereits „van Gogh“. Aber Holland ist blau. Klaus plant, es rot zu machen, das wäre eine Möglichkeit. Die einzige, die er sieht. Er ist nur Flachschwimmer, beim Weitpinkeln im Ferienlager hat er keine Chance, und es ist mehr als überraschend, dass sich Yvonne für ihn interessiert. Die Kamera fährt die Schulflure mit den Augen eines unsicheren Kindes ab, sie zeigt die Schwimmhalle als Ort der Folter und Pein. Ekliges, chloriges Wasser, hallende Kinderschreie und die Kommandos von fleischig-behaarten Schwimmlehrern. Klaus träumt von seinen sozialistischen Helden in Schwarzweiß. Teddy Thälmann ist ein dicker Bär, der durch den Hamburger Hafen marschiert, die Arbeiter mögen ihn, sein bester Freund ist der kleine Trompeter, später muss er gestreifte Häftlingskleidung tragen, aber der Aktivist Adolf Hennecke befreit ihn mit seinem Presslufthammer. Klaus findet die Schlagersängerin Dagmar Frederic erotisch und lacht mit, wenn sein Geschichtslehrer den Film von der Befreiung Berlins rückwärts laufen lässt. Das ist oft komisch, aber selbst dann beklemmend. Die orangefarbene Klatschkragenbluse von Yvonne, die braune Silastikhose der

„Helden wie wir“-Darsteller Borgwardt, Xenia Snagowski: Kein Glück bei den Frauen FILM

Eine Packung Ostpralinen Die Verfilmung des Thomas-Brussig-Romans „Helden wie wir“ erinnert an „Forrest Gump“ – nur in den Farben der DDR.

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inige Menschen im Osten der Republik glauben, dass am 9. November der zweite Teil von „Sonnenallee“ ins Kino kommt. Sie haben den „Helden wie wir“-Trailer gesehen und denken: Noch so was. Noch ein Genauso-wars-Film. Was mit „Cabinet“-Rauchern, alten Häusern, Wartburgs, Schrankwänden und braungelb gestreiften Ostsofas. Sie hoffen, dass dieser komische Wohnzimmertisch mit der Kurbel wieder mitspielt. Das wäre schau, wenn der Tisch wieder mitmachte. Der Tisch und auch Volkspolizist Buck. Die aufgeschlossenen Westler aber fragen interessiert: Welchen von beiden müssen wir uns denn nun ansehen? Beide Geschichten hat sich der Schriftsteller Thomas Brussig ausgedacht. Die Westler denken an „Manta – Der Film“ und „Manta, Manta“, und natürlich liegt der Gedanke nah. Wer sich „Helden wie wir“ ansieht, merkt, dass er mehr sein will als „Sonnenallee II“ und „Manta, Manta“. Er will „Forrest Gump“ sein. Ein Forrest Gump in den Farben der DDR. Forrest heißt diesmal Klaus Uhltzscht (Daniel Borgwardt). Er wird geboren, als ein Panzer der Sowjetarmee am Urlaubsquartier seiner Eltern vorbeirollt. „Kuda w Pragu?“, fragt der Panzerfahrer, und man weiß, dass der Atem der Geschichte unseren Helden vor sich her bläst. Wie Forrest wird auch Klaus 258

in große geschichtliche Szenen montiert. Allerdings ist es nicht Kennedy, dem er die Hand schütteln darf, sondern nur Egon Krenz, wenn auch ein Egon Krenz mit beachtlichen Koteletten. Doch erst mal zieht Klaus Uhltzscht mit seinen Eltern in eine Neubauwohnung, die an ein Gebäude der Staatssicherheit grenzt. Dort ist auch Klaus’ Vater beschäftigt.

Schauspieler Borgwardt: Blutspenden für Erich Honecker d e r

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Kultur wird er plötzlich zum Regimegegner, schlägt seinen Vorgesetzten, rennt in einen U-Bahn-Schacht, klettert aus einem Gulli, läuft zur Mauer und lässt seine Hosen herunter, worauf die Grenzoffiziere die Tore öffnen. Zwischendurch werden Dokumentarfilmschnipsel gezeigt, die man kennt, außerdem taucht kurz der volkstümliche Musikant Achim Mentzel auf, weil Achim Mentzel Kult ist, und es gibt das komplette Ostkultmusikprogramm. Gitarrentwist, Schwanenkönig, Gänselieschen und das Lied vom kleinen Trompeter. Das ist sehr fleißig, und man merkt auch, wohin die Reise gehen sollte. Aber der Film wirkt, als musste er zur Feierstunde noch schnell fertig werden. Es gibt keine Handlung, auch „Sonnenallee“ hat ja keine erwähnenswerte Handlung. Aber „Sonnenallee“ ist wenigstens Kino. Ein Popcorn-Film mit coolen Tanzszenen, den man sich auch drei-, viermal ansehen kann. Man bekommt gute Laune bei „Sonnenallee“; „Helden wie wir“ aber swingt nicht, der Film steht irgendwann auf der Stelle „Helden wie wir“-Darsteller Kirsten Block, Udo Kroschwald und langweilt. Uhltzscht marschiert durch Pendeln zwischen Sentimentalität und Grauen sein Leben wie eine HolzDie Kinder werfen sehnsuchtsvolle Blicke puppe. Er kann nicht weinen, er kann nicht auf Landkarten und verfolgen ungerührt lieben, er lebt nicht. In der zweiten Hälfte möchte man nur das Politikersterben in der UdSSR. Vor dem Fenster hängt ein hellblauer, sozialis- noch, dass endlich Schluss ist. Die Bilder tischer Papphimmel mit Wolken und Krä- zerren an den Nerven. Insofern ist der nen, der aus einem DDR-Lesebuch ge- Film wie die DDR in ihren letzten Tagen. Endlos, langsam, nervend, schmuddelig schnitten worden sein könnte. Der Zuschauer pendelt zwischen Senti- und eng. Die Frage ist, ob er das gewollt hat. Der Regisseur schleppt sich bis zum mentalität und Grauen. Als Klaus diese Kulisse verlässt, bleibt Ende durch, das ja schon in Brussigs Buch das Grauen übrig. Der kleine Klaus wird wie der Witz eines Kindes wirkt, das die zum großen Klaus und springt von nun an Pointe vergessen hat. Ein Mann öffnet wie ein Gummiball von einer Szene zur seine Hose, worauf die Berliner Mauer nächsten. Er geht zur Stasi und muss für umfällt. Und? Dazu läuft jetzt „What a Wonderden Rest des Films mit einer bescheuerten Windjacke und einem immer gleichen Ge- ful World“ von Louis Armstrong. Und? sichtsausdruck rumlaufen. Die Ostler sind in Amüsierlaune, sie Auch die anderen Darsteller dürfen nicht viel machen. Klaus fängt in einem wählen, was sie wollen, lassen die FDP Hinterhofbüro an, hat kein Glück bei den sterben, trinken süßen Sekt und denken Frauen, weil sein Schwanz zu kurz ist, an früher. Im Augenblick würde sogar ein rutscht auf seinem Samen aus, fällt eine Mix aus „Nicht schummeln, Liebling“, Treppe runter, bricht sich beide Arme und „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“, trifft zufällig Yvonne wieder, die jetzt im „Spuk unterm Riesenrad“ und den besten Widerstand arbeitet. Sie verliebt sich in Sportreportagen von Heinz Florian Oertel eine Million Zuschauer bekommen. Viel ihn, warum, ist schleierhaft. Er trägt die bescheuerte Jacke, und sein mehr ist „Helden wie wir“ auch nicht geHaar ist dünn. Allerdings fällt ihm der Satz worden. „Das Leben ist wie eine Pralinen„Jedes Blatt Papier ist ein potenzielles Flugblatt“ ein, der sowohl bei der Stasi als schachtel, man weiß nie, was drin ist“, sagt auch bei den Revolutionären gut an- Forrest Gumps Mutter. „Helden wie wir“ ist wie eine Packung kommt. Mit Yvonne ist erst mal Schluss, als Klaus gesteht, dass er bei der Stasi ist. Er mit Ostpralinen. Da wusste man immer, muss Blut für Erich Honecker spenden, was drin ist. Es war selten gut. woraufhin sein Gemächt schwillt. Dann Alexander Osang SENATOR

NVA mit den gelb-roten Offiziersstreifen am Bein von Klaus’ Vater, die Koteletten von Egon Krenz und die guten alten DDRHeftumschläge sorgen für den nötigen Wiedererkennungseffekt. Wie die VitaCola-Flasche und der Hosenkamm in „Sonnenallee“. Auch das Wohnzimmer sieht aus wie das Wohnzimmer in „Sonnenallee“. Aber es ist lange nicht so gemütlich. Es gibt keinen lustigen Kurbeltisch, und Klaus’ Vater, den Udo Kroschwald spielt, raucht und schwitzt und ist kein bisschen komisch. Er ist ein brutaler Spießer. Die Bockwürste glänzen kalt auf dem Abendbrottisch, die Mutter sorgt für Sauberkeit.

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M. SCHWARZ / ABS

Beschmierter, gereinigter Findling in Hamburg: „Auch die Existenz des Reichstags hat man SCHÖNHEIT

„Graffiti sind Menetekel“ Der Wuppertaler Ästhetik-Professor Bazon Brock, 63, über Sinn und Unsinn der Schmierereien im öffentlichen Raum

R. OBERHÄUSER / DAS FOTOARCHIV

SPIEGEL : Herr Professor Brock: Ja, und es ist viel Brock, 400 000 Jahre lag ein leichter, seine Wut bei den großer Findling auf dem Sprayern abzuladen, die am Grund der Elbe. Wenige TaRande der Gesellschaft stege nachdem er geborgen hen, als bei den Gruppen, und als Naturdenkmal ans die die Welt mit ihren offiFlussufer gehoben worden ziellen Logos hässlich mawar, sprühten Sprayer ihre chen. SPIEGEL: Die angeblich weit Logos auf den Granit. Nicht verbreitete Wut über Wernur die Hamburger sind belogos existiert womögempört über solche Barlich nur in Ihrem Kopf und barei. Können Sie die Wut nicht bei der Bevölkerung. teilen? Die ist empört, dass nicht Brock : Ich akzeptiere soleinmal ein Kulturdenkmal che Schmierereien nicht. wie ein Granitblock aus der Sie kotzen mich an. Kunsttheoretiker Brock Eiszeit geachtet wird. Aber … SPIEGEL: … aber jetzt kommt das berühm- Brock: Wir verstehen die Sprayer nicht. So te Verständnis für die verstörten Subkul- wie wir auch die Werbeleute nicht verstetur-Jugendlichen in der kalten, verwalte- hen. Auch Touristen treten als Schmierer ten Welt. auf. Schon in der Antike wurden MarBrock: Sie unterschätzen mich. Meine und morsäulen beschmiert, oder es wurde in auch die Wut der Bevölkerung resultieren sie mit scharfkantigen Metallen hineingeaus dem, was uns normalerweise nicht auf- ritzt. „Kilroy was here“ schmierten USSoldaten als Zeichen der Eroberung auf regt. europäische Kulturdenkmäler. Jeder, der SPIEGEL: Was wäre das? Brock: Die Verschandelung der Welt mit of- ein Kunstwerk verwurstet und durch fiziell genehmigten Werbelogos. Sie befin- Kitschpostkarten ästhetisch überformt, der den sich inzwischen überall, auf jeder Pla- tut letztlich genau das Gleiche, was die ne, auf jedem Brückenpfeiler, auf freiem Sprayer tun. Feld. Die Konsum- und Warenpropaganda SPIEGEL: Wieso? Das Kunstwerk wird doch macht doch die Welt unsichtbar. Jeder klei- durch Postkarten nicht überkritzelt. Jene Ladeninhaber beeinträchtigt mit seinen der weiß: Das Original hängt unversehrt Graffiti das Bild historischer Stadtensem- im Louvre. bles. Eigentlich müssten sich die Leute über Brock: Das wissen die Sprayer auch. so etwas aufregen beziehungsweise sich SPIEGEL: Wie bitte? aufregen, dass sie sich nicht aufregen. Brock: Erst durch das Verdecken enthüllt SPIEGEL: Sie meinen allen Ernstes, dass die man das Kunstwerk. Auch Beschmieren Gesellschaft das Gleiche betreibt wie die verhindert das Unsichtbarwerden. Das Sprayer? funktioniert nach ähnlichem Prinzip wie

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den mit Hotels zuzuknallen. Er stellt Lautsprecher auf, die lauthals die Stille verkünden. Er lockt die Massen mit den Verheißungen des Einsamkeitstourismus. Sprayer machen auf solche Widersprüche aufmerksam. SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie die Graffiti-Sprayer insgeheim bewundern? Was sagen Ihnen ihre Zeichen? Brock: Hinter der Aggressivität gibt es das Gefühl der Schwäche. Die Subkulturler benutzen ihre Zeichen wie einen Abwehrzauber gegen das, was ihnen blüht, wenn sie erwischt werden. Sie wehren ihre eigene Unterwerfung ab. Sie zaubern weg, was sie alle erwarten: Wir sind eigentlich doch die Unterlegenen. SPIEGEL: In den Graffiti drückt sich Ohnmachtserfahrung aus? Brock: Ja. Ohnmacht ist die Erfahrung eigener Beschränktheit und damit Antrieb für Selbstzerstörung. Und diese Selbstzerstörung muss camoufliert werden. Die Sprayerlogos sind ein Tarnnetz für die latente Selbstzerstörung, die sich so als Schmuck ausgibt. Mit Piercing und Tattoos verhält es sich nicht anders. SPIEGEL: Das klingt ergreifend. Aber warum wirkt die von Ihnen beschriebene Sprache der Selbstzerstörung so uniform, steril und humorlos? Brock: Die Graffiti zeugen von einer urheberlosen Gesellschaft. Die Kollektivität wird zum Autor. SPIEGEL: Die Sprayer entziehen sich vor allem der rechtlichen Verantwortung. Brock: Wenn Verursacher von schädlichen Emissionen nicht zur Verantwortung gezogen werden, warum sollen Sprayer sich zur Verantwortung ziehen lassen? SPIEGEL: Warum werben die Subkulturler nicht für ihre Positionen, bevor sie zur Farbdose greifen? Brock: Wenn Künstler solche Wege anbieten, ist das Interesse bekanntlich nicht sehr groß. Die Akzeptanz für das Zustandekommen von Normen wird als Zustimmung interpretiert, obwohl kein Mensch weiß, wie diese Zustimmung zu Stande gekommen ist. Ich habe noch keinen Bauherrn erlebt, der den Ordnungsvorstellungen der Ämter völliges Verständnis entgegenbrachte. Man spricht von kleinbürgerlichen Funktionärsdiktaturen, die ihren Geschmack der Mehrheit aufdrücken. SPIEGEL: Die Sprayer sollen die ästhetischen Erzieher der Gesellschaft sein? Brock: Ihre Zeichen halten das Erschrecken vor dem Nichtverstehen der normativen Ordnung fest. Sie sind Menetekel. Da sehen die Menschen wenigstens noch die Schrift an der Wand.

erst durch Christo bemerkt“

bei Christo. Im Verhüllen wird erst die Vorstellung von der wahren Ansichtigkeit hervorgelockt. Die Existenz dieses ekelhaften eklektizistischen Spielkastenbaus namens Reichstag hat man erst durch Christo bemerkt. SPIEGEL: Aber der arme Findling, warum darf er nicht unbearbeitet zu uns sprechen? Was kann er für verkorkste Stadtplanung? Brock: Der beschmierte Findling spricht zu uns, dass wir alle in der Gesellschaft keinerlei Respekt vor dem haben, was sich uns entgegensetzt, weder vor der Evolution noch vor der Natur. Das zeigen wir in der Genetik, das zeigen wir, wenn Autobahnen gewachsene Landschaften zerstören. SPIEGEL: Solche Botschaft könnte auch ein unversehrter Findling mitteilen. Brock: Da wäre er gar nicht bemerkbar. Die ganze Norddeutsche Tiefebene ist voller Findlinge. Heimatforscher haben ganze Bücher über solche Steine geschrieben, aber die Ehrfurcht vor der Natur hat sich dadurch kaum verbessert. SPIEGEL: Das hieße, die Behörden hätten den Stein ruhig so beschmiert belassen und nicht, wie sie es jetzt getan haben, seine Säuberung und dann eine Beschichtung anordnen sollen, von der man Graffiti leicht abwaschen kann? Brock: Bevor die allgemeine Zerstörung der Natur begann, hat kein Mensch über die Natur gesprochen. Erst durch den Verlust wird ihr Wert erkennbar. Die Überwältigung durch die Erhabenheit der Natur – das war ein philosophischer Anschauungsbegriff. Die Natur kennt keine Erhabenheit oder Ehrfurcht. Die von der Natur entlastete Leisure-Class kann sich erst solch ein ästhetisches Erleben leisten. SPIEGEL: Stimmt nicht. Menschen aller Schichten suchen die unverstellte Begegnung mit der Natur. Brock: Und begeben sich in die Paradoxien des Tourismus. Der wirbt mit dem Betreten noch nicht erschlossener Räume und tut nichts anderes, als solche Gegend e r

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Interview: Nikolaus von Festenberg 4 5 / 1 9 9 9

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Wissenschaft•Technik

Prisma TIERSCHUTZ

Neue Hoffnung für den Tiger ie Zahl der Tiger nimmt weltweit zu. Während Experten Anfang der neunziger Jahre noch das Aussterben des gestreiften Raubtieres bis zum Jahre 2000 voraussagten, äußern sie sich nun erstmals hoffnungsvoll zur Bestandsentwicklung des Tieres. „Wir schaffen es, den Tiger zu retten“, sagt Joshua Ginsberg, Direktor des asiatischen Programms der Wildlife Conservation Society. Sowohl in Ost-Sibirien als auch in Nepal sowie in einigen Gebieten Bhutans und Indiens hat sich die Situation des bis zu 300 Kilogramm schweren Raubtiers offenbar deutlich verbessert. Im Ranthambhore-Wald südlich von Delhi etwa waren 1993 höchstens noch 20 Tiger Tigerpaar in Indien übrig. Jetzt sollen es doppelt so viele sein. Selbst in Ländern wie Sumatra, Burma, Thailand und Kambodscha, wo Tigern oder Tigerprodukten etwa für die traditionelle chinesidas Tier bereits als ausgestorben galt, siedelt sich der Tiger of- sche Medizin dem Tier schwer zu schaffen. Problem Nummer fenbar wieder an. Inzwischen ist die Jagd auf die Raubkatze eins jedoch ist die sinkende Zahl möglicher Beutetiere. Wilde überall illegal. Viele asiatische Länder gehen entschiedener ge- Rinder, Hirsche und Wildschweine fresse das Tier „wie Hamgen Wilderer vor. Vollständige Entwarnung wollen die Exper- burger“, sagt der indische Zoologe Ullas Karanth. „Wenn wir ten trotzdem nicht geben. Auch heute noch macht die Zer- uns intensiv um den Erhalt der Beutetiere kümmern, werden störung geeigneten Lebensraumes und der illegale Handel mit die Tiger auf sich selbst aufpassen.“

Eierstöcke im Arm

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COMPUTER

Hellhöriger Rechner

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A. MOHIN / NYT

merikanische Chirurgen haben erstmals einer Frau die Eierstöcke vom Unterleib in den Arm verpflanzt. Die Mediziner um den New Yorker Chirurgen Kutluk Oktay entnahmen der krebskranken Patientin, deren Unterleib bestrahlt werden sollte, die Eierstöcke, schnitten diese in schmale Streifen und implantierten sie in ihren Arm. Dort soll das Eierstockgewebe nicht nur

den Strahlenschäden entgehen, sondern auch weiterhin Östrogen produzieren, um der Patientin ein vorzeitiges Einsetzen der Menopause zu ersparen. Unter Experten ist das Experiment umstritten. Die Reaktionen reichten von „großartig“ bis „grotesk“. Sollte die Transplantation erfolgreich sein, will Oktay sie bei krebskranken Frauen anwenden, die nach der Bestrahlung noch Kinder haben wollen. Aus dem Arm, so Oktay, könnten Eier „geerntet“ und anschließend im Labor befruchtet werden.

Operationsteam bei der Verpflanzung der Eierstöcke d e r

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in elektronisches Spracherkennungssystem, das gesprochene Worte besser versteht als menschliche Ohren, haben Forscher der University of Southern California, Los Angeles, entwickelt. Das neue Computersystem erkennt Kommandowörter wie „ja“, „nein“ oder „stopp“ selbst dann noch mit hoher Sicherheit, wenn das Tonsignal von bis zu tausendfach stärkeLiaw, Berger rem Rauschen überlagert ist. Menschliche Hörer können solche Sprachfetzen, die zum Beispiel von lauten Hintergrundgesprächen übertönt werden, bestenfalls erraten. Die Forscher Theodore Berger und Jim-Shih Liaw benutzen ein computersimuliertes „neuronales Netz“, das die Fähigkeit von menschlichen Nervenzellen nachahmt. Dieser Ansatz wird zur Sprach- und Bildverarbeitung schon lange genutzt. Erstmals programmierten Liaw und Berger ihr „neuronales Netz“ jetzt jedoch so, dass, ähnlich wie im Gehirn, auch der zeitliche Ablauf der Impulsfolgen an den Netzknoten berücksichtigt wird. Offenbar steckt darin das Geheimnis des Erfolgs: Den Sprachtest bestand das Berger-Liaw-Netz mit nur elf simulierten Neuronen. E. MANKIN

CHIRURGIE

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P. ARNOLD / SAVE BILD

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Prisma

Wissenschaft•Technik P S E U D OW I S S E N S C H A F T

Grönländisches Inlandeis AU T O I N D U S T R I E

Härtetest auf dem Eis

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tatt des Elchtests plant VW für seine neuen Fahrzeuge eine Art Eisbärenprobe. Der Wolfsburger Konzern hat mit der grönländischen Regierung einen Vertrag über den Bau einer Teststrecke im ewigen Eis abgeschlossen. Wie die Kopenhagener Zeitung „Berlingske Tidende“ berichtet, soll die rund 50 Kilometer große Anlage auf dem Inlandeis Grönlands in der Nähe des 600-Seelen-Ortes Kangerlussuaq entstehen. Ab Sommer 2000 will VW neben den eigenen Fahrzeugen offenbar auch Autos der Marken Audi, Seat, Skoda, Rolls-Royce und Lamborghini zum klimatischen Härtetest in das polare Gebiet verfrachten. Ein eigenes Hüttendorf für die VW-Mitarbeiter ist bereits geplant. Selbst zwei Köche sollen die VW-Leute schon angeheuert haben.

MEDIZINTECHNIK

Röntgenblick für Orthopäden

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etaillierten Durchblick bei schwierigen orthopädischen Operationen wie etwa Beckenbrüchen erlaubt ein neues Verfahren, das von dem US-Mediziner Anthony DiGioia entwickelt wurde. Mit Hilfe des Systems kann der Arzt während der Operation gleichsam per Röntgenblick in den Patienten hineinsehen. Ein Computer erzeugt aus vorher angefertigten Röntgenbildern ein dreidimensionales Bild des Infrarot-Kameras Patientenskeletts. Bei der Operation wird dieses virtuelle Skelett auf einen halb durchsichtigen Spiegel projiziert, durch den der Arzt auf den Patienten blickt. Infrarotkameras bestimmen millimetergenau die Positionen von 268

Patient, Operateur und Operationswerkzeugen. Anhand dieser Daten wird das Computerbild ständig mit der Wirklichkeit abgeglichen. Auch die Werkzeuge des Arztes werden in das Bild projiziert, so dass er gleichsam am offen liegenden Knochen operieren kann, ohne diesen wirklich zu sehen. „Bislang mussten wir oft viel Gewebe wegschneiden“, sagte DiGioia. „Mit der neuen Methode können wir viel schonender operieren.“

LCD-Monitor Referenzpunkt zur Positionsbestimmung Halb durchlässiger Spiegel zur Bildprojektion Operationswerkzeug

Der britische Esoterik-Star Rupert Sheldrake, 57, über sein neues Buch, in dem er Hunden und Katzen übernatürliche Fähigkeiten zuspricht* SPIEGEL: Herr Sheldrake, haben Sie ein

Haustier? Sheldrake: Ja, eine Katze. Auf mich rea-

giert sie kaum. Aber sie scheint vorauszuahnen, wann meine Kinder nach Hause kommen. SPIEGEL: Sie behaupten im Ernst, Tiere könnten hellsehen? Sheldrake: Ja. Wir haben 2200 Hundehalter befragt. Jeder zweite gab an, sein Hund spüre die Rückkehr von Familienmitgliedern lange im Voraus. Die Tiere sitzen erwartungsvoll am Fenster. SPIEGEL: Die Hunde könnten auch auf Bekanntes oder aus Routine reagieren.

J. GASTON / FSP

B. OERSTED / NORDFOTO / DANA PRESS

„Warten am Fenster“

Sheldrake mit Testhund Sheldrake: Das versuchen wir auszu-

schließen. In unseren Tests kommen die Besitzer im Taxi und zu einem zufälligen Zeitpunkt nach Hause. Trotzdem reagieren viele Hunde. Auch bei einem Unfall wissen sie gleich Bescheid. SPIEGEL: Ein unsichtbares Band der Sympathie zwischen Seelenverwandten? Sheldrake: Ich glaube tatsächlich, dass eine Verbindung zwischen Lebewesen besteht, die nicht an den Ort gebunden ist. Das ist wie in der Quantenmechanik. Dinge, die zum selben System gehören, bleiben in Kontakt. SPIEGEL: Eine sehr eigenwillige Interpretation der Quantentheorie. Sheldrake: Ich war auch erst skeptisch. Trotzdem: In China werden Tiere zur Erdbebenvorhersage genutzt. Viele Hunde finden von Orten, an denen sie nie zuvor waren, wieder nach Hause. Keine gängige Theorie kann dies erklären. SPIEGEL: Wie steht’s denn bei Ihnen mit dem Hellsehen? Sheldrake: Noch nicht sehr gut. Aber ich habe angefangen zu üben. * Rupert Sheldrake: „Der siebte Sinn der Tiere“. Scherz Verlag, Bern; 416 Seiten; 39,90 Mark.

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Wissenschaft

MEDIZIN

Das kalte Herz Unbegrenzt verfügbar, billig und frei von Komplikationen: Dämmert eine Ära neuer Ersatzorgane? Eine amerikanische Firma will im nächsten Frühjahr einem Patienten ein komplettes Herz aus Kunststoff und Titan einbauen.

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Wenn dieser Hohlmuskel aufhört zu pulsen, erlischt unabwendbar das Leben. Als einzig vollwertiger Ersatz für das Herz gilt bisher ein anderes. An Spenderherzen besteht deshalb weltweit ein enormer Bedarf. Allein in Deutschland werden derzeit pro Jahr rund 1000 Menschen für eine Transplantation angemeldet. Etwa jeder Dritte stirbt, bevor ein geeignetes Organ über die Transplantationszentren angeboten wird. Um dem Mangel abzuhelfen, investierten Industrie und Forschung Milliarden in den Versuch, neue Organe verfügbar zu machen: Sie manipulieren das Erbgut von Schweinen, damit ihr Gewebe für Menschen verträglich wird. Oder sie mühen sich ab, menschliche Herzmuskelzellen im Labor zu züchten in der vagen Hoffnung, dereinst einmal vollständige Pumpmuskel heranreifen zu lassen. Nun scheint es, als laufe herkömmliche Ingenieurskunst den Biotechniken den Rang ab. Abiocor kommt seinem organischen Vorbild verblüffend nahe, dessen erstaunliche mechanische Leistung bisher unerreicht ist. Ein echtes Herz, bei einem Gesunden rund 300 Gramm schwer und etwas größer

als eine geschlossene Faust, kontrahiert in 24 Stunden rund 100 000-mal, in einem 70-jährigen Leben drei Milliarden Mal. Über eine Reizleitung vom Gehirn überwacht, pulsiert der Herzmuskel. Die Antriebsenergie wird durch das Blut geliefert, welches das feine Geäst der Herzkranzgefäße durchströmt. Bei jedem Herzschlag stößt der Pumpmuskel nur 70 Milliliter Blut aus. Doch mit der Zeit summiert sich das: Jeden Tag vollbringt der kleine Muskel ein Arbeitspensum, das ausreichen würde, um ein Mittelklasseauto aufs Dach eines dreistöckigen Hauses zu hieven. Bisher war selbst raffinierteste Technik diesem natürlichen Wunderwerk unterlegen. Allenfalls konnten die Ärzte dem Zentralorgan mit Schrittmachern, künstlichen Klappen oder Unterstützungspumpen bei seiner unermüdlichen Schwerarbeit helfen. Das modernste Gerät aus dem Arsenal der Medizintechnik wurde vorletzte Woche in Bad Oeynhausen verpflanzt. Zwei Herzen, so war es den überschwänglich formulierten Meldungen der Nachrichtenagenturen zu entnehmen, schlagen nun im Körper eines 67-jährigen Patienten – sein

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as Gerät ist so groß wie eine Pampelmuse, es wiegt 900 Gramm. In seinem Innern surrt leise ein Elektromotor aus Titan. An den Außenseiten kleben zwei mit glasigem Gel gefüllte Kunststoffkammern, die an die Brötchenhälften eines Hamburgers erinnern. Vier daumendicke Schlauchenden ragen aus dem Gebilde – Anschluss-Stutzen für jene Gefäße, die den Lebenssaft durch den Organismus transportieren: Blut. Entwickelt wurde die Titanmaschine von Ingenieuren der Medizintechnikfirma Abiomed in Danvers bei Boston (US-Staat Massachusetts). Im Frühjahr nächsten Jahres soll das Gerät, wenn alles nach Plan läuft, erstmals in der Brust eines zum Tod verdammten Kranken den wichtigsten Muskel eines Menschen ersetzen – ein künstliches Herz, gesteuert und sekundengenau überwacht von ausgetüftelter Elektronik, betrieben von einer Batterie im Bauch. Schon üben Chirurgen an vier amerikanischen Herzzentren, Kälbern das Kunstherz einzupflanzen. In rund 100 Tieren hat das Ersatzteil bereits gepocht. Die jeweils 20-köpfigen OP-Teams arbeiten inzwischen so routiniert zusammen, dass „spätestens sechs Stunden nach Einleitung der Narkose das Kalb wieder auf den eigenen Beinen stakst“, berichtet David Lederman, Gründer und Präsident von Abiomed. Vier Wochen lang lassen die Mediziner die Maschine (Markenname: Abiocor) in den Rindviechern schlagen. Dann werden die Tiere eingeschläfert und die Herzen zur Prüfung wieder entnommen. Grund der laut Lederman „humanen Tötung“: „Die Kälber wachsen zu schnell, das künstliche Herz aber nicht, seine Pumpleistung ist auf rund zehn Liter pro Minute begrenzt.“ Für ein ausgewachsenes Rind ist das viel zu wenig, für einen Menschen allerdings reicht es allemal. Das kalte Herz aus Massachusetts könnte eine medizintechnische Revolution einläuten. Für Gelenke und Gefäße, sogar für ganze Gliedmaßen können Ingenieure inzwischen Ersatz aus Kunststoff und Metall schaffen. Ein ganzes inneres Organ gegen eine Maschine im Körper auszutauschen, gelang ihnen bisher jedoch nicht. Nun wagen sie sich ausgerechnet an das Herz heran, jenes Organ, das den Menschen wie wohl kein anderes fasziniert.

Abiomed-Chef Lederman (mit Kunstherz Abiocor): Ersatzorgan zum Schnäppchenpreis d e r

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Neuer Rhythmus

Wie das künstliche Herz „Abiocor“ arbeitet

Das Kunstherz arbeitet in zwei Zyklen. Im ersten wird sauerstoffreiches Blut aus den Lungen angesaugt und zugleich verbrauchtes Blut in die Lungen gepresst. Im zweiten LungenArbeitsgang drückt die Pumpe Kreislauf sauerstoffreiches Blut in den Körper und saugt sauerstoffarmes an. sauerstoffreiches Blut

Sensoren zum Beispiel zur Messung von Druck, Temperatur und Blutfluss Kunstherz

Klappen steuern den Wechsel von Lungen- zu Körper-Kreislauf. Die eigentliche Arbeit leistet ein Motor aus Titan. Er pumpt ein hydraulisches Gel hin und her, das von einer elastischen Membran umschlossen ist. sauerstoffarmes Blut

Antenne sendet Betriebsdaten in die Klinik

sauerstoffarmes Blut

Titan-Motor hydraulisches Gel

Induktionsspule im Bauchraum

Körper-Kreislauf

flexible Membran

Batterie Kontrolleinheit Ladegerät für die implantierte Batterie

natürliches und ein künstliches mit dem schlagzeilenträchtigen Namen „Lion Heart“: Löwenherz. Doch von einer „Weltpremiere für ein neuartiges Kunstherz“, die am Herz- und Diabeteszentrum in dem nordrhein-westfälischen Kurbad gelungen sei, konnte in Wahrheit keine Rede sein. Der Patient hatte lediglich ein mechanisches Kreislaufunterstützungssystem erhalten, das inzwischen zum Standardrepertoire der Herzchirurgie zählt. Neu an dem implantierten „Left Ventricular Assist System“ – so genannt, weil es die Schwerstarbeit verrichtende linke Herzkammer unterstützt – war nur eines: „Patient Löwenherz“ spazierte Mitte letzter Woche schon über den Klinikflur, wobei er sich mit der Batterie, die die 1,6 Kilogramm schwere Minipumpe antreibt, nicht herumplagen musste. Denn die Chirurgen hatten sie im Bauchraum platziert. Der Akku lässt sich mit Hilfe von Induktionsspulen von außen aufladen. Hauptvorteil dieser Methode ist die verringerte Infektionsgefahr. Denn bisher führten Kabel durch die Haut. Außerhalb des Körpers wurden diese an einen tragbaren Batteriepack gestöpselt. Für Bakterien waren die Öffnungen Portale, durch die sie in den Körper des Patienten gelangen konnten. Die nun in Bad Oeynhausen angewandte Induktionstechnik soll bald auch das Abiomed-Kunstherz mit Strom versorgen. Damit ist freilich jede Parallele erschöpft.

Klappen

Denn mit dem Abiocor-System wird eine Radikalkur angestrebt. Acht Stunden soll die Operation dauern: Die Chirurgen öffnen den Brustkorb des Patienten, zerren seinen Rippenkäfig mit schwerem Spreizgerät auseinander. Dann durchtrennen sie Arterien und Venen am natürlichen Herzen und verbinden sie mit der Herz-Lungenmaschine – das Herz liegt frei und wird herausgehoben. In die zwölf Zentimeter tiefe Leere zwischen Rückgrat und Vorderrippe wird dann die elektromechanische Pumpe platziert und die daumendicken Blutgefäße mit den Ein- und Austrittsstulpen des Kunstherzens verbunden. Auf der kunststoffumhüllten Antriebseinheit befinden sich ringförmig

angeordnete Sensoren. Sie erfühlen die wichtigsten Daten, die für den sicheren Betrieb des Kunstherzens ausschlaggebend sind: Fließgeschwindigkeit, Druckverhältnisse, Temperatur. Ihre Daten geben die Sensoren über ein Kabel an ein knapp handtellergroßes Kontroll- und Steuergerät weiter. Es sorgt unter anderem dafür, die Pumpleistung zu erhöhen, wenn der Abiocor-Patient Treppen steigt, Fahrrad fährt oder auch wenn er erschrickt. „Das kann zum Beispiel passieren, wenn plötzlich ein Hund vors Auto läuft“, erklärt Lederman. Ist die Stress-Situation bewältigt oder die physische Belastung verringert, so lässt die elektronische Automatik die Titan-

R. MEIER / BILD ZEITUNG

Induktionsspule auf der Haut

sauerstoffreiches Blut

„Patient Löwenherz“ in Bad Oeynhausen: Hilfe bei der Schwerarbeit d e r

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Wissenschaft

AP

pumpe wieder auf Normalbetrieb runtersurren. Anders als sein biologisches Vorbild hat das Titanherz nicht vier, sondern nur zwei Hohlräume. „Wir glauben, auf die zwar arbeitsintensiven, aber nicht übermäßig intelligenten Herzventrikel verzichten zu können, und haben nur die Funktion der so genannten Vorhöfe nachgebildet“, erläutert Lederman. Der natürliche Herzmuskel dreht sich in einer Schraubenbewegung zu- Kunstherzpatient Schroeder (1984): Schlimmer als der Tod sammen: Indem es sich gleichsam selbst auswringt, drückt das Was lag näher, als dass sich die Physiker Herz Blut durch die Klappen in die Lunge und Ingenieure herausgefordert fühlten? und den Körperkreislauf. Die äußere Ge- Schließlich hatten sie die größten Erfahstalt des nun entwickelten Kunstherzens rungen über das physikalische Verhalten hingegen ist starr. Stattdessen wölben sich von Körpern in flüssiger und gasförmiger in seinem Innern Gel-Kissen, die das Blut Umgebung gesammelt. 22 Firmen aus der aus der einen Kammer herauspressen und Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsbranche gleichzeitig in die andere hineinsaugen witterten lukrative Geschäfte. Doch die an(siehe Grafik Seite 271). visierte zehnjährige Entwicklungsphase für Durch diese Anordnung erreichen die ein Kunstherz erwies sich als zu optimisAbiomed-Techniker, dass in ihrem Kunst- tisch. Ein Team nach dem anderen gab auf, herzen das Blut pulsiert wie im natür- darunter auch Ledermans damaliger Arlichen Zentralmuskel; das Kardiogramm beitgeber, die Firma Avco. Dort war die zeigt die gewohnten regelmäßigen Zacken. Ummantelung von Atomsprengköpfen für Auf diese Weise bleiben die Arterien elas- den Wiedereintritt in die Atmosphäre enttisch. Flösse das Blut hingegen ruhig wickelt worden. und stetig, so würden sie verhärten. Als Avco seine medizintechnische AbGünstig wirkt sich der kontinuierliche teilung auflöste, wurde auch der gelernte Druckwechsel auch auf die biochemischen Luftfahrtingenieur Lederman arbeitslos. Er Abläufe in den Endothelzellen aus, mit gründete 1982 Abiomed, nach eigenen Andenen Venen und Arterien ausgekleidet gaben „mit dem einzigen Ziel, alles zu ersind. forschen und zu bauen, was kranken HerBesonders wichtig aber ist das An- und zen helfen kann“. Abschwellen des Blutflusses, weil sich daAbiomeds bislang erfolgreichstes Produrch die Gefahr verringert, dass bereits dukt ist das Kreislaufunterstützungssystem bestehende Ablagerungen in den Blutbah- BVS-5000. Die mit Luftdruck betriebene nen weiter aufgebaut werden. „Derartige Glaskolbenapparatur wird parallel zum Vorschäden dürften beim typischen Abio- menschlichen Herzen angeschlossen. Sie cor-Patienten mit Sicherheit vorhanden soll leicht geschädigten Herzen Zeit für die sein“, sagt Lederman. Selbstheilung verschaffen. In nahezu jeDer Medizin-Pionier will die künstlichen dem großen US-Herz- und TransplantaBlutpumpen rund um die Uhr überwachen. tionszentrum steht mittlerweile mindestens Dies soll eine Sendeantenne ermöglichen, eines dieser Geräte, an über 3000 Patienten die im Bauchraum des Patienten ausgelegt wurden sie bisher weltweit eingesetzt. ist. Sie übermittelt sämtliche Herzdaten an Sein „Traumziel eines kompletten Erdas OP-Team sowie in die Abiomed-Zen- satzherzens“ verlor Lederman unterdes trale. Lederman: „Wir werden für die Pati- nie aus den Augen. Doch Vorsicht war geenten die Rolle von Houston in der Zeit boten. Denn das Thema war just im Jahr des Apollo-Programms übernehmen: die der Abiomed-Gründung ungemein heikel einer Mission Control.“ geworden. Im Dezember 1982 hatte USLedermans ehrgeiziger Vergleich weist Herzchirurg William DeVries an der Uniauf den Ursprung der amerikanischen versity of Utah das erste von fünf KunstKunstherzentwicklung hin. 1964, drei Jah- herzen vom Typ Jarvik-7 dem Zahnarzt re vor der ersten Transplantation eines Barney Clark eingepflanzt. menschlichen Herzens durch den südafriClark lebte 112 Tage mit der Kunstpumkanischen Chirurgen Christiaan Barnard pe, zu deren Betrieb ein kühlschrankgroßes und inmitten der optimistischen Auf- Aggregat nötig war. Der zweite Jarvik-7bruchstimmung zum Mond, hatten die Na- Empfänger, William Schroeder, hielt imtional Institutes of Health das Kunstherz- merhin 620 Tage durch. Doch für beide war programm angeschoben. es ein Horrortrip: Nahtstellen platzten auf, 272

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Abiomed-Testlabor: Dutzende von Kunstherzen tuckern in ätzenden Lösungen

Blutgerinnsel bildeten sich und wanderten durchs Gefäßsystem. Die Nieren siechten dahin, die Immunabwehr brach zusammen, innere Blutungen mussten operativ gestoppt werden. Die Patienten litten unter Krämpfen, Bewusstseinsstörungen und Schlaganfällen. Von Schroeder ist die Aussage überliefert, es gebe Schlimmeres als den Tod – und das Kunstherz gehöre dazu. Zwar feierten die Medien DeVries anfangs als Skalpell-Virtuosen. Das Kunstherz wurde dennoch zum Inbegriff einer neuen, menschenverachtenden Gerätemedizin.

1990 stoppte die US-Aufsichtsbehörde FDA alle weiteren Menschenversuche mit dem Jarvik-7-Herz. Die Entwicklung alternativer Kunstherzprojekte wurde jedoch weiter finanziert. Von den ehemals 22 Firmen sind nur zwei Entwicklungsteams übrig geblieben: Forscher an der Penn State University in Philadelphia und die Abiomed-Techniker in Danvers. Jeweils insgesamt 13 Millionen Dollar hatten die beiden Gruppen bis dahin erhalten. Letztes Jahr glaubte Lederman dann, dass die Entwicklung reif sei für die Kommerzialisierung, und investierte zehn

Millionen Dollar Firmenkapital. Eine 9000 Quadratmeter große Fabrikhalle wurde vorletzten Monat fertig gestellt. In den Abiomed-Labors tuckern dutzende von Kunstherzen in Lösungen, die den zersetzenden Einfluss menschlicher Körperflüssigkeiten auf Metall und Plastik nachahmen. Knapp zwei Dutzend Exemplare müssen nach Vorgaben der FDA ein Jahr lang nahezu fehlerlos funktionieren, ehe die Implantation eines Abiocor in einen menschlichen Brustkorb versucht werden darf. „Unser Ziel ist es, dass die Membranen unseres Gerätes sich kontinuierlich 160 Millionen Mal bewegen, genug um in fünf Jahren ein Transportvolumen von elf Millionen Litern Blut durch die Adern eines Menschen zu pumpen“, sagt Lederman. Ein Fernziel, das beim ersten Empfänger wohl ebenso wenig erreicht werden könne wie die anvisierten Implantationskosten. Lederman: „Wenn wir 1000 Stück pro Jahr absetzen können, wird jede Operation etwa so teuer werden wie der Kauf eines Mittelklassewagens – 25 000 Dollar einschließlich der Batteriekosten von 5000 Dollar für fünf Jahre.“ Im Vergleich zu einer Herztransplantation nachgerade ein Schnäppchenpreis. Die nämlich kostet, je nach Verlauf und Aufwand für Medikamente, 10- bis 20-mal so viel. Rainer Paul

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Wissenschaft

HOCHSCHULEN

Professor Coca-Cola

R. SCHULTZ / MATRIX / AGENTUR FOCUS

In den USA gewinnen Firmen als Sponsoren von Universitäten immer mehr Einfluss auf die Forschung.

Legoforscher Resnick: Die Abhängigkeit beginnt mit subtiler Bestechung

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P. EFLAND / UNIVERSITIY OF GEORGIA

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lastiknoppen, so weit das Auge reicht: In der Halle türmen sich transparente Eimer mit Legosteinen in meterhohen Regalen, nach Farben sortiert, auf jeder Brettreihe eine: Gelb, Rot, Blau und Grün. In einer Ecke inszenieren ein Junge und ein Mädchen das Duell zwischen Darth Vader und Luke Skywalker inmitten eines Raumschiffhafens im Rohbau. Das Kinderparadies ist die Wirkungsstätte eines veritablen Professors. Der Computerwissenschaftler Mitchel Resnick führt stolz seine Erfindung vor: Mindstorms, einen Legoziegel mit integriertem Computer, den Lego letztes Jahr auf den Markt brachte. Zwei Rechner hat der vollbärtige Ingenieur in bunte Dinosaurier eingebaut, die, von Infrarotsensoren aktiviert, Purzelbaumtänze aufführen. Das Legolabor gehört zum Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT), der besten Technischen Hochschule Amerikas. Resnicks Arbeitsgruppe befasst sich mit dem „Spielzeug von morgen“. Spielwarenfabrikanten wie Hasbro, Mattel, Walt-Disney und Lego finanzieren die Forschungen mit je mehreren hunderttausend Dollar jährlich. Allianzen wie diese schließen Industrie und Hochschulen in den USA immer häufiger ab. Die einen kaufen so vergleichsweise günstig hochkarätiges Know-how, die anderen gewinnen finanziellen Freiraum. Doch welche Verpflichtungen die Akademiker damit eingehen, wird selten offen

Cola-Wappen an der University of Georgia

„Das ist eine Frage des Taktgefühls“

diskutiert. Die Bandbreite reicht von unauffälliger Selbstzensur bis zu massivem Druck auf die Forscher. „Seit den achtziger Jahren üben Unternehmen denselben Einfluss auf Universitäten aus wie einst die Regierung in den fünfziger und sechziger Jahren“, klagt Lawrence Soley, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Marquette Universität in Milwaukee. „Hochschulen dienen inzwischen den Konzerninteressen, nicht mehr der Öffentlichkeit – es ist der Ausverkauf akademischer Freiheit.“ Spielzeug-Professor Resnick wischt solche Vorbehalte vom Tisch: „Unser Projekt d e r

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ist zu erkunden, wie Kinder und Erwachsene mehr über die Welt lernen. Aber Lego bestimmt nicht, was wir erforschen.“ Resnick schweigt einen Augenblick, während der Junge einen X-Wing-Fighter in die Luft steigen lässt, und fügt hinzu: „Natürlich hören wir uns Legos Vorschläge genau an.“ Während der letzten zwei Jahrzehnte haben Unternehmen die US-Hochschulforschung als wichtigen Hebel im Räderwerk der Wirtschaft entdeckt – es locken Prestigegewinn, Patente und billige Laborarbeit. Unter dem Druck steigender Kosten und des Wettbewerbs der Unis untereinander lassen sich Forscher nur allzu gern vom Unternehmergeist anstecken. Die Abhängigkeit beginnt mit subtiler Bestechung. Bisweilen lassen Unternehmen für ein paar hunderttausend Dollar Lehrstühle auf ihren Namen taufen – so gibt es etwa einen IBM-Professor für Internationale Beziehungen in Princeton oder einen Taco-Bell-Lehrstuhl für Informationstechnik an der University of California, Irvine. Die Gelder stiften Firmen zur Förderung bestimmter Forschungsthemen, inhaltlicher Einfluss auf die Arbeit steht ihnen offiziell nicht zu. Doch der Coca-Cola-Professor Ellis Johnson für Industrie- und Systemtechnik an der Uni Georgia gibt durchaus zu, dass es ihm unangenehm wäre, eine Studie für den Erzrivalen Pepsi zu erstellen: „Das ist eine Frage des Taktgefühls.“ Sheldon Krimsky, Professor an der TuftsUniversity in Boston, der seit Jahren Interessenkonflikte in der Wissenschaft analysiert, versteht solche Zaghaftigkeit nicht als bloßen Ausdruck sittlicher Empfindsamkeit: „Professoren wollen Sponsoren nicht in die Quere kommen, da sie sonst ihre finanzielle Unterstützung verlieren könnten.“ Viele Fragen, die ihren Gönnern unangenehm sein könnten, meint Krimsky, würden gar nicht erst gestellt. Forschungsdaten, die mit Interessen der Sponsoren kollidieren, gelangten nie ans Licht der Öffentlichkeit. US-Firmen gaben 1997 rund 1,7 Milliarden Dollar für Forschung an höheren Lehranstalten aus, siebenmal so viel wie 20 Jahre zuvor. Über 90 Prozent aller US-Firmen, die in Biotechnik und Medizin tätig sind, pflegten 1996 den Kontakt mit Hochschulforschern. 60 Prozent wurden dafür mit Patenten oder neuen Produkten belohnt. Uni-Patente bescherten den Unternehmen 1997 einen geschätzten Umsatz von 30 Milliarden Dollar. Im Gegenzug nahmen die Universitäten über 600 Millionen Dollar an Gebühren ein. Daran sei nichts Schlechtes, rechtfertigt sich Gregory Gardiner, Direktor des Büros für Kooperative Forschung an der Universität Yale: „Die Zusammenarbeit mit der Industrie hat unter anderem zur Entwicklung des HIV-Medikaments Zerit geführt oder zu einer synthetischen Version des

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Wissenschaft Krebsmittels Taxol. Diese Mittel retten heute Leben.“ Doch ganz so makellos ist der Pakt nicht. David Blumenthal, Professor für Gesundheitswesen an der Universität Harvard, hat ermittelt, dass Forscher, die mit der Industrie kooperieren, die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse nicht selten im Interesse ihrer Geldgeber verschleppen. Außerdem zeigen sich Wissenschaftler vermehrt unwillig, Informationen mit ihren Kollegen zu teilen – umso stärker, je mehr sie für die Industrie tätig sind. „Das widerspricht der Vorstellung der Universität als einem Ort, an dem kreativ und kooperativ gearbeitet wird“, klagt Blumenthal. Mildred Cho und Lisa Bero, zwei Experten für biomedizinische Ethik, warnten in einer Analyse von universitären Forschungsberichten, dass 98 Prozent aller US-Wissenschaftler, die für Pharmafirmen Medikamente testen, ein positives Urteil über die Wirksamkeit der Mittel fällen. Fehlt die industrielle Unterstützung, äußern sich nur 79 Prozent vorteilhaft. Krimsky folgert daraus: „Forscher haben heute zwei Seelen in ihrer Brust: die des Wissenschaftlers und die des Produktentwicklers.“ Nur selten werden Konflikte zwischen Forschern und Geldgebern öffentlich. Einigen Wirbel verursachte eine Studie über die Wirksamkeit von Synthroid, ein

Medikament gegen Unterfunktionen der Schilddrüse, das acht Millionen Amerikaner Tag für Tag schlucken. Als der Hersteller Knoll Wind davon bekam, dass eine mit 250 000 Dollar geförderte Untersuchung an der University of California in San Francisco zu dem Ergebnis gelangt war, Synthroid sei billigeren Alternativen nicht überlegen, griff das Unternehmen ein. Es machte von seinem Vetorecht Gebrauch,

98 Prozent der Forscher, die für Pharmafirmen Medikamente testen, urteilen positiv das ihm der Vertrag mit der Uni einräumte: Die Studie blieb einige Jahr lang unter Verschluss. Gleichzeitig ließ Knoll eine der Firma wesentlich angenehmere Analyse veröffentlichen. Als dann die kritische Untersuchung doch noch aus der Versenkung auftauchte, strengten betroffene Patienten einen Prozess gegen den Synthroid-Hersteller an, weil sie sich wegen der überhöhten Preise des Medikaments geprellt fühlten. Der Konzern musste 69 Millionen Dollar Schadensersatz zahlen, auf 170 Millionen könnte die Summe in laufenden Verfahren noch anwachsen – ein Bruchteil des Gewinns, den die Firma durch Synthroid erwirtschaftet hatte.

Die Eingriffe in die akademische Freiheit sind nicht immer so augenfällig wie in diesem Fall – auch kleine Gefälligkeiten erhalten die Freundschaft. So erschien kürzlich im renommierten „Journal of the American Medical Association“ eine Studie, in der behauptet wurde, dass 43 Prozent aller Frauen und 31 Prozent aller Männer an „sexuellen Funktionsstörungen“ leiden. In dem Artikel blieb allerdings unerwähnt, dass zwei der Autoren dem Pfizer-Konzern als Berater zur Seite stehen, der mit der Wunderpille Viagra just solche Leiden auszurotten verspricht. Solche unschönen Details bremsen den Enthusiasmus der Universitäten nicht merklich. Im letzten Herbst verkündete der Chemiekonzern Novartis, er werde innerhalb der nächsten fünf Jahre den Fachbereich für Pflanzen- und Mikrobiologie der Eliteuniversität Berkeley mit 25 Millionen Dollar unterstützen. Das Unternehmen erhält dafür die Vorrechte an einem Drittel der Entdeckungen, die in den Labors gemacht werden. In der Kommission, die über Forschungsprojekte des Fachbereichs entscheidet, sitzen drei Mitarbeiter von Novartis drei Fakultätsmitgliedern aus Berkeley gegenüber; nur in dem Ausschuss, der das Geld verteilt, hat die Universität eine Stimme Mehrheit. Steven Briggs, der den Vertrag mit Berkeley für Novartis un-

Geplantes FedEx-Forschungszentrum in Memphis: „Ausverkauf der Freiheit“

terzeichnete, gab bei dem Abschluss freudig bekannt, für ihn sei das Abkommen der „wahre Ausdruck akademischer Freiheit“: Es eröffne nicht nur die Möglichkeit, sich zu wünschen, etwas zu tun; sondern auch die Ressourcen, diese Wünsche zu verwirklichen. Auch das lange Zeit einmalige Fördermodell des Media Lab am MIT, das sein ge-

samtes Budget aus Industrietöpfen finanziert, ist keine Ausnahme mehr. Seit 1993 gibt es an der Universität Memphis in Tennessee ein „FedEx-Institut für Zykluszeitforschung“, das sich mit der Beschleunigung von Arbeitsprozessen beschäftigt. Der Paketdienst entsandte zugleich Vertreter in die Universitätskommission, die über die Forschungsprojekte entscheidet.

Üblicherweise beschäftigt sich ein Drittel der Forschung mit dem Unternehmen FedEx, unter den übrigen untersuchten Firmen sind nicht selten FedEx-Kunden. Mit anderen Transportfirmen befasst sich das Institut nicht. „Das wäre ein klarer Interessenkonflikt“, erklärt Zeitzyklus-Professor Mark Frolick ganz offen. „Viele Wissenschaftler sind völlig auf die Unterstützung der Industrie angewiesen“, kritisiert Blumenthal. Der Mediziner fordert, der Staat müsse künftig genügend Geld für qualifizierte Wissenschaftler bereitstellen, die sich auch Fragen von weniger kommerziellem Interesse widmen können. Es geht aber auch umgekehrt: Frederick Winter, Direktor der Pittsburgher Katz School of Business, verfiel jüngst auf die Idee, das Prestige seiner Hochschule mit den Mechanismen des Börsenhandels zu messen. Er gab an seine Angestellten symbolische Aktien aus – pro Kopf 80 Stück zu einem Nennwert von je 20 Dollar. „So etwas motiviert die Leute“, meint Winter. Der Lehrkörper könne nun seinen Wert in Dollar und Cent ermessen. Weil die Kaderschmiede auf der Frühjahrshitliste der 50 besten Managementschulen ein paar Plätze nach oben kletterte, stieg der virtuelle Anteilschein um einen halben Dollar. Hubertus Breuer

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Wissenschaft TIERE

Kinderstube der Medusen Das Halten von Quallen gehört zu den großen Herausforderungen in der Aquaristik. Dem Berliner Zoo gelingt es sogar, die empfindlichen Tiere zu züchten.

N. WU / WILDLIFE

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Kompassqualle, Wurzelmundqualle: In Japan als

stellung stehen bleibt, ahnt kaum den Aufwand, der hinter Haltung und Aufzucht der fremdartigen Wesen steckt. Die transparenten Körper, höchst elegant im Wasser schwebend, üben eine seltsame Faszination auf den Betrachter aus. Vor knallblauem Hintergrund blähen tropische Wurzelmundquallen ihre gepunkteten Schirme, die an Fliegenpilze erinnern. Von handtellergroßen Exemplaren, die mit gleichmäßig pulsierendem Schirm durch das künstliche Meerwasser gleiten, bis hinunter zu aufgeregt pumpenden Winzlingen sind alle Größen vertreten. Aurelia aurita, die Ohrenqualle im Nachbarbecken, strahlt dagegen eine majestätische Ruhe aus. Minutenlang schwebt sie regungslos im Wasser, nur ab und zu zieht sich, unendlich langsam, ihr durchsichtiger Schirm zusammen. Aurelias Kinderstube liegt fernab des täglichen Besucherstroms in einem Keller-

N. MICHALKE

uallenversand im Berliner Zoo: Per Lufthansa-Cargo werden Jungtiere der Gattungen Aurelia und Phyllorhiza auf den Weg nach Italien geschickt. Empfängerin ist Isabella d’Ambra an der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel. Die Wissenschaftlerin will die Eigenschaften der beiden Gruppen vergleichen. Regelmäßig verlassen Pakete mit glibberigem Getier das Berliner Aquarium. Denn hier beherrschen Biologen und Tierpfleger eine Kunst, die weltweit nur wenige Zoos praktizieren: das Züchten von Quallen. Für Jürgen Lange, den Leiter der Berliner Unterwasser-Ausstellung, ist es die Aufgabe eines Großaquariums, „Rezepte zu entwickeln, nach denen man die Tiere, die man hält, auch selbst nachzüchten kann“. Bei verschiedenen Quallenarten ist das gelungen. Viele Aquarien mit Quallenschau beschränken sich darauf, ihren Nachschub aus dem Meer zu fischen. Eine etablierte Zuchtstation für mehrere Arten haben außer den Berlinern nur das Monterey Bay Aquarium in Kalifornien sowie die Aquarienhäuser von Toba und Enoschima in Japan. Dort widmen sich die Biologen mit besonderer Hingabe der Aufzucht von Kompassquallen – sie gelten in der japanischen Küche als schmackhaftes Gemüse. Wer als Besucher vor den bläulich beleuchteten Glaskästen am Beginn der Aus-

Quallenzüchter Lange: Licht und richtige Strömung wecken Frühlingsgefühle

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„Normalerweise tut sich dann innerhalb von zwei Wochen etwas.“ Nicht immer allerdings ist die Strobilation bereits Anlass zum Jubel. Ein Zuchtversuch mit Lungenquallen zum Beispiel scheiterte an der übermäßigen Teilungsfreudigkeit der Polypen – die Tiere strobilierten sich regelrecht zu Tode. „Irgendwann“, erinnert sich Lange, „wurden sie einfach zu winzig.“ Ist die Vermehrung ohne Pannen abgelaufen, übersiedeln die Zoologen die entstandenen Mini-Quallen in ein anderes Becken. Jetzt kommt es vor allem auf die richtige Wasserbewegung an: Allzu große Turbulenzen können die fragilen Tiere zerstören; ist keine ausreichende Strömung vorhanden, sinken die Quallen zu Boden und sterben. Bei den Larven genügen aufsteigende Luftblasen zur Strömungserzeugung.Wenn sie größer werden, brauchen sie eine ausgeklügeltere Strömungsanlage. Denn Blasen könnten sich unter dem Schirm größerer Tiere verfangen. „Der klappt dann um wie ein Regenschirm im Wind“, erzählt Lange. Deshalb werden die heranwachsenden Medusen in einem Becken mit Vförmigem Boden gehalten. An dessen tiefstem Punkt sitzt das Zuflussrohr und sorgt für gleichmäßige Zirkulation. Ausgewachsene Medusen haben wiederum sehr unterschiedliche Ansprüche an die Strömung. Die Ohrenqualle mit ihrem großen Schirm und dem relativ leichten Körper fühlt sich in einer horizontalen Zirkulation am wohlsten. Die Wurzelmundquallen hingegen, mit ihren Fliegenpilzschirmen eher Schwergewichte, benötigen eine vertikale Strömung. Einige Quallenarten sind zudem auf intensives Licht angewiesen. Sie leben in Symbiose mit bestimmten Algen, den Zooxanthellen, für die das Licht überlebenswichtig ist. Um ihre Symbionten mit Licht zu mästen, recken die Medusen ihre Schirme in Richtung der Lampe. Deswegen werden die Becken von oben beleuchtet. Fiele Licht von vorn hinein, würden die Quallen die Glasscheibe rammen. Quallen zu züchten, gehört im Berliner Aquarium inzwischen zum Standardprogramm. So routiniert sind Lange und seine Kollegen, dass sie regelmäßig Gastforscher aus aller Welt empfangen, um sie in die Methoden einzuweisen. Die Kandidaten für das nächste Projekt sind gleichwohl etwas handfester: In einer Kooperation mit israelischen Meeresforschern sollen Korallenfische gezüchtet werden. Julia Koch

schmackhaftes Gemüse begehrt

raum. An den Wänden sind kleine Becken bis auf Augenhöhe übereinander angebracht. Jedes von ihnen beherbergt eine Stufe im heiklen Prozess der Quallenvermehrung. So einfach der Bauplan der gallertigen Wesen ist – zwei Zellschichten, ein simpler Verdauungstrakt und eine schwabbelnde Füllmasse, die in erster Linie aus Wasser besteht –, so komplex ist ihre Fortpflanzung. Die meisten Quallenarten kennen zwei Formen der Vermehrung: Aus befruchteten Eiern schlüpfen winzige Larven, die sich am Meeresgrund festsetzen und zu Polypen werden. Diese bringen durch ungeschlechtliche Fortpflanzung die nächste Quallengeneration hervor. Dabei schnüren sie vom eigenen Körper kleine Scheibchen ab, die davonschwimmen und sich später zur ausgewachsenen Qualle, der Meduse, entwickeln. „In der Natur kann man das kaum beobachten“, erklärt Lange.Viel zu klein sind die Quallenlarven, um sie im offenen Meer überhaupt zu finden. Die Polypen im Aquarium dazu zu bringen, durch den als Strobilation bezeichneten Abschnürungsprozess Mini-Quallen zu produzieren, ist indes nicht weniger knifflig. Nur ganz bestimmte Bedingungen suggerieren den Polypen, der Frühling sei gekommen und mit ihm die Zeit der Strobilation. Eine Veränderung von Wassertemperatur und Lichtintensität, streng definierte Strömungsverhältnisse und ein erhöhter Jodgehalt im Wasser, so die Erkenntnisse der Berliner Quallenzüchter, wecken die Lust zur Knospung. „Dazu setzen wir ein paar Polypen, die besonders gut in Form sind, in ein anderes Becken um“, erklärt Lange. So wird vermieden, dass die ganze Polypenkultur stirbt, sollte das Experiment fehlschlagen. d e r

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GAMMA / STUDIO X

Wissenschaft

Felsmalereien in der Chauvet-Höhle: Selbst die anspruchsvollsten Gemälde gingen den Künstlern binnen Minuten von der Hand ARCHÄOLOGIE

Das Genie der Schamanen Wozu bemalten Menschen Felswände mit Nashörnern und Löwen? Eine neue Expedition in die Chauvet-Höhle erlaubte weitere Einblicke in das Leben während der Eiszeit. Aufschlussreich ist nicht nur die prächtige Bildergalerie. Auch der Höhlenboden gibt Geheimnisse preis.

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überwiegend rote Wandmalereien

überwiegend schwarze Wandmalereien

anche Rätsel sind unlösbar, soFußspuren bald ihre Schöpfer tot und vergessen sind. Jean Clottes weiß das Steinblock nur zu gut, aber es verdrießt ihn nicht: mit aufgelegSeit sieben Jahren ist Clottes, 66, der rangtem Bärenschädel höchste Prähistoriker Frankreichs und Feuerfischt dabei zwangsläufig meist im Trüben. stellen Nun aber hat er die Chance, heller zu sehen. Unter allen Prähistorikern der Welt ist Clottes der wohl meist beneidete Mann, Gravierter denn ihm ist etwas Einzigartiges anverUhu 20 Meter traut – ein Schatz, der vielleicht den Schlüssel zu bisher unlösbaren Rätseln birgt: la Grotte Chauvet, die sagenhafte von Menschen arrangierte Chauvet-Höhle. Steinformationen Gerade ging die letzte von bisher nur vier Grotten-Expeditionen zu Ende – seit Entdeckung der Höhle vor fünf JahGrundriss ren wurde die wissenschaftliche Unterder suchung immer wieder verschoben, weil Chauvetvor den Gerichten noch darüber gestritHöhle ten wird, wem die Höhle gehört. Über ein Dutzend For100 km scher durchforstete diesmal Lyon 14 Tage lang das SchaufensGrenoble ter in die Vorzeit. In Drilliche vermummt und mit Chauvet-Höhle Bergmannslampen auf dem èc Kopf krochen Archäolohe Einstieg gen, Geologen und Höhlenkunst-Experten durch die Toulouse Marseille Gesamtlänge: labyrinthischen Tropfstein490 Meter Mittelmeer räume. „Hier fasst niemand

etwas an“, hatte Clottes ihnen zuvor eingeschärft. Deshalb nähern sich die Wissenschaftler ihrem Forschungsgegenstand mit nichts als Fotoapparaten, Vermessungsgerät, Zeichenblöcken und scharfem Blick. Nicht einmal frei bewegen dürfen sie sich; sie tippeln auf schmalen Plastikbahnen herum, die zum Schutz des Bodens ausgelegt sind. Hier, tief im Fels an der Ardèche haben Menschen mit Kohle und rotem Ocker vor über 30 000 Jahren Wollnashörner gemalt. Und Mammuts, Bären, Löwen, Auerochsen, Pferde, Bisons, Hyänen, einen Panter, einen Moschus-Ochsen und eine Eule. Manche der mehr als 460 Zeichnungen sind simpel und kaum mehr als Kritzeleien. Andere sind wahre Meisterwerke: ineinander krachende Rhinozerosse, schnaubende Rösser, hungrige Wildkatzen, Bildnisse von unbändiger Kraft und technischer Brillanz. Es sind die ältesten bekannten Malereien der Welt, gefertigt von Menschen, die, in Anzug und Krawatte gesteckt, heute in keiner Werbeagentur auffallen würden. Clottes und seiner Forschertruppe sind die Schöpfer der Bildnisse von Chauvet nahe und unsagbar fern zugleich. Warum drangen die in Felle gepackten Vorväter tief in das dunkle Innere der Berge vor, um dort wilde Tiere an die Wände zu pin-

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Wissenschaft

Die Spur des Gefährten Ein seltsamer Pfotenabdruck in der Chauvet-Höhle gibt Rätsel auf. Muss die Geschichte des Hundes neu geschrieben werden?

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ief in der Höhle von Chauvet studierte Michel-Alain Garcia, Prähistoriker aus Paris, vorletzte Woche Tierfährten, über die sich der Calcitpanzer der Jahrtausende gelegt hatte. Er fand vor allem die Abdrücke vom Bären, aber auch die vom Löwen, vom Wolf und vom Hund. Vom Hund? Garcia konnte es kaum fassen. Doch die Konturen im Höhlenboden sind eindeutig: Die Hundepfote unterscheidet sich von der des Wolfs vor allem in der Position der Zehen. Der Abdruck, vermutlich rund 25 000 Jahre alt, ist hervorragend erhalten, sogar die Krallen des Tieres haben Spuren hinterlassen. Zweifel an der Identität des prähistorischen Tiers beseitigte Garcia in der Jugendherberge, die den Erforschern der Chauvet-Höhle als Stützpunkt dient. Er fotografierte die Fährte eines zufällig vorüberlaufenden Schäferhundes

Ältester Freund vor 135 000 Jahren Umstrittenen genetischen Studien zufolge wird der Wolf erstmalig domestiziert

– sie war fast identisch mit derjenigen aus der Höhle. „Ich habe hier einen Wolf aus der Vorzeit“, sagt Garcia so vorsichtig wie ratlos, „der aussieht wie ein Hund.“ Die Vorsicht des Forschers ist verständlich. Denn er weiß: Falls er Recht behalten sollte, müsste die Geschichte des Hundes umgeschrieben werden. Der Hund gilt zwar als ältester Freund des Menschen, doch bislang nehmen die Forscher an, dass die Wurzeln dieser Freundschaft nur 10 000 bis 14 000 Jahre zurückreichen. Erst als Menschen sesshaft wurden, so die Theorie, fingen sie an, Wölfe zu zähmen und später immer neue Varianten zu züchten – ob als Gefährte, Schoßtier, Jagdhelfer, Hüter von Vieh oder als wandelnde Fleischreserve. Archäologische Funde bestätigten bisher die Theorie der späten Domestikation. Die Höhlenmaler von Chauvet zeichneten zwar Hyänen und Raubkatzen, ein Hund jedoch findet sich nicht in

ihrer Galerie. Erst aus den vergangenen 14 000 Jahren finden sich eindeutig identifizierbare Hundeknochen in der Nähe menschlicher Siedlungen. Wölfe hingegen sind den Urmenschen seit 400 000 Jahren nah. In dieses Bild passt Garcias VorzeitPfote überhaupt nicht – in das der Genetiker aber schon. Vor zwei Jahren haben US-Forscher die Geburtsstunde des Hundes weit vordatiert: Schon vor 135 000 Jahren hätten Menschen angefangen, Wölfe zu domestizieren. Diesen Schluss jedenfalls ziehen Carles Vilà und Robert Wayne aus einem Erbgutvergleich an 162 Wölfen und 140 Hunden. Der Mensch hätte nach diesem Szenario Wölfe aufgegabelt, kaum dass er aus Afrika in den Nahen Osten kam. Mensch und Hund eroberten dann gemeinsam die Welt, gleichsam beim Gassigehen. Keinen Zweifel lassen die Genstudien im Übrigen daran, dass alle Hunderassen, ob handtaschengroßer Chihuahua oder bulimischer Windhund, vom Wolf abstammen. Kojoten und Schakale haben sich entgegen anderen Vermutungen genetisch nicht eingebracht.

Wie der Wolf zum Hund wurde

vor ca. 25 000 Jahren Fährten aus der ChauvetHöhle zeigen eindeutig den Abdruck einer Hundepfote

vor 14 000 Jahren Älteste Knochenfunde von Hunden

von 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. vom 13. bis 15. Jahrhundert Entwicklung der wichtigsten Zucht- Die modernen Hunderassen linien: Jagd-, Wach-, Hütehund entstehen

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seln? Falsch ist offenbar die Schulbuchlehre, wonach die Frühmenschen ihr Jagdglück steigern wollten, denn die meisten der dargestellten Tiere gehörten keineswegs auf den Speiseplan. Falsch ist auch die Idee, Menschen hätten in den Höhlen gelebt. Es finden sich keine verbrannten Knochen von Jagdtieren wie Wisent, Steinbock oder Pferd. Es gibt keine Hinweise auf Schlafstellen, keine Gräber. Wozu diente die Höhle dann? Warum malten die Höhlenkünstler nur Tiere und keine Bäume oder Landschaften? War hier nur ein Künstler tätig, oder waren es viele? Weshalb sind manche Bisons, Löwen und Pferde mit roten Nasen dargestellt? Das sind Fragen, die Clottes klären will. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Grotte mindestens zweimal von Menschen der Vorzeit entdeckt wurde. Clottes hat mit dem Skalpell aus den Gemälden ein paar Kohleproben entnommen und sie datieren lassen. Das Resultat: Die ersten Malereien sind etwa 32 000 Jahre alt. Danach wurde die Höhle über Jahrtausende nur von Bären bevölkert – bis rund 5000 Jahre später wieder Menschen vorbeikamen und die Tiergalerie ergänzten. Wahrscheinlich standen sie, wie Clottes heute, staunend vor den Bildern der alten Meister. Die Forscher aber sind nicht nur von den phantastischen Malereien in den Bann gezogen. Für sie ist die eigentliche Sensation der Höhlenboden: ein unversehrtes Vorzeitrelikt. Auf ihm liegen bis heute die Hinterlassenschaften der Höhlenkünstler, so deutlich, als hätten sie den Ort erst gestern verlassen. Dazwischen: Skelette von Höhlenbären und anderen Tieren, Fährten von Löwen und Wölfen. „Die Höhlenkünstler waren auf keinen Fall allein“, stellt der Prähistoriker

Hyänen-, Panter-Darstellung in der Chauvet-Höhle: Standen die Maler unter Drogen?

Jean Michel Geneste, 50, fest. Er entdeckte, dass die Maler Helfer und Begleiter gehabt haben müssen. Mindestens an drei Stellen hat Geneste große Steinformationen gefunden, die nicht auf natürliche Weise entstanden sein können. Es sind riesige Platten und mächtige Brocken, über 150 Kilogramm schwer. Mit enormem Kraftaufwand müssen die Menschen sie quer durch die Höhle geschleift haben; aus welchem Grund, das weiß niemand mehr. Geneste hat außerdem vier riesige Feuerstellen gefunden. Jede war so groß, dass leicht 25 Kilogramm Holz auf ihr brennen konnten. Auch das Brennmaterial, glaubt Geneste, musste von einer ganzen Gruppe in die Höhle transportiert werden. Um die Feuerstellen herum sind kleine weiße Steinchen ausgelegt – „Reflektoren“, sagt Geneste, die Steinchen sollten das Licht in der Höhle verteilen. Doch Licht zu geben war vielleicht nicht einmal der wichtigste Zweck dieser Feuer. Geneste meint, dass die Feuerstellen als Produktionsstätten für die Holzkohle der Maler dienten. Für ihre Bilder brauchten sie davon offenbar große Mengen. Ganz leicht brachen die armdicken Holzkohle-

Scheite ab. Am Fuß der Malereien liegen Halden von Holzkohle, manche sind, das zeigen Bruchstellen im Boden, bis zu 30 Zentimeter tief. Höhlen zu bemalen war wohl kein Spaß. „Es muss fürchterlich gewesen sein, diese Höhle zu betreten“, glaubt Geneste. Die Menschen mussten die Grotte mit Höhlenbären teilen – Monster mit Tatzen so groß wie zwei Hände, sie wogen 900 Kilogramm und überragten selbst Grizzlys. Die Tiere lebten, starben und verrotteten in der Höhle; der Boden ist über und über mit ihren Knochen übersät. Neben dem Gestank der lebenden und toten Tiere mussten die Höhlenmaler den Qualm ihrer eigenen Fackeln und Feuer ertragen – „nein, diese Höhle war ganz sicher kein schöner Ort“, meint Geneste. Das erklärt vielleicht auch, weshalb selbst die prächtigsten Höhlenmalereien in kürzester Zeit angebracht wurden. Für keines der Bilder, so glaubt Clottes, brauchten die Maler länger als wenige Minuten. Die Künstler waren schnell wie Graffiti-Sprayer, selbst die anspruchsvollsten Bildnisse, bei denen die Maler mit verwischter Kohle arbeiteten, den Untergrund vorbehandelten und die Umrisse

teilweise noch mit Gravuren herausarbei- lichtfressenden Ruß zu befreien. Einmal teten, gingen ihnen ruck, zuck von der stolperte er: Er rutschte mit dem linken Hand. Fuß auf dem glatten Lehmboden, aber er Womöglich nahmen die Menschen aus stürzte nicht. Erst nach etwa 70 Metern Furcht vor den Bären auch Waffen mit verliert sich die Spur. in die Höhle. Geneste hat eine SpeerspitKinder, das wissen die Forscher auch ze aus Mammut-Elfenbein gefunden. Der aus anderen Höhlen, liefen häufig in Höhdazugehörige Speer ist restlos verrottet. len herum. Spielten sie hier? Besuchten Die Speerspitze „sieht aus wie neu“ und sie die Höhle an der Hand von Erwachsesei vielleicht niemals benutzt worden. nen als Teil eines Initiationsritus? Wurden „Solche Speere“, so Geneste, „waren vor Ausgewählte hier unterrichtet in Spirituaallem in Osteuropa und Sibirien verbrei- lität und Höhlenmalerei? All dies sind Fratet.“ Ein derartiger Fund in Frankreich sei gen, die ungeklärt bleiben. ungewöhnlich und deute hin auf weitläufiNur in einem ist sich Clottes sicher: Die ge Handelsbeziehungen der damaligen Höhlen stellten für die Menschen damals Menschen. ein Heiligtum dar. Ziemlich selten kamen Beim sorgfältigen Absuchen des Bo- die Menschen in den Berg, vielleicht wadens hat Geneste vor zwei Wochen eine ren alle Besucher Auserwählte. Wären sie weitere Entdeckung gemacht. Er fand wie in Gips gegossen die perfekten Abdrücke von Hölzern, Stöcken und Samen aus der Vorzeit. Sehr rasch nach den menschlichen Besuchen in der Höhle ist kalkhaltiges Wasser eingeströmt. Eine Schicht aus Calcit, dem Baumaterial der Stalaktiten und Stalagmiten, hat den Boden überzogen. Organisches Material darin hat sich aufgelöst, aber der Abdruck vom Anmachholz der Frühmenschen zum Beispiel blieb erhalten. „Das ist absolut einzigartig“, findet Geneste; anhand dieser Abdrücke werde sich Höhlenforscher Clottes: „Hier fasst niemand etwas an“ womöglich die damalige Vegetation klären lassen. Bisher glauben die häufiger gekommen, hätten sie ihre SpuForscher, das Klima im Ardèche-Tal un- ren selbst zerstört. Im Berg wollten sie weit der großen europäischen Gletscher der Erde nahe sein, der nach ihrer Vorhabe dem im heutigen Südschweden stellung alles Leben entsprang. Auf einen geähnelt. solchen Glauben, so Clottes, weisen die Den spektakulärsten Fund aber hat wie- Bilder hin: Manche Mammuts, Löwen oder der Michel-Alain Garcia, 57, gemacht. Der Bisons sind in ihren Umrissen nicht vollHöhlen-Ichnologe, spezialisiert auf Fuß- endet. Ihre Form wird nicht vom Kohlespuren und Fährten, stieß auf die Pfoten- strich angedeutet, sondern vom natürliabdrücke von Hunden. Die Geschichte die- chen Relief des Felsens. „Es soll so ausseser Menschengefährten muss nach diesem hen, als käme das Tier aus dem Boden“, Fund womöglich neu geschrieben werden sagt Clottes. (siehe Kasten Seite 288). Die Höhlenmaler waren nach Clottes Bereits bei der letzten Höhlen-Kampa- Überzeugung Schamanen, eine Art von gne im Mai hatte Garcia ganz hinten in Priestern, die besonders ausgebildet wader Höhle eine Aufsehen erregende Ent- ren für den Kontakt mit Geistern und deckung gemacht: die ältesten je gefunde- Göttern. Tief im Berg malten sie „nicht nen Fußabdrücke des modernen Homo die natürliche, sondern die übernatürlisapiens. che Welt“. Deswegen verzichteten sie Einen winzigen Moment aus der Vor- auf die Darstellung von Landschaft oder zeit kann der Forscher jetzt im Detail re- Menschen, und womöglich, so Clottes, konstruieren. Vor etwa 26 000 Jahren lief haben sie unter Einfluss von Drogen gedemnach ein acht- bis zehnjähriger Junge malt. mit einer Fackel in der Hand durch den Das könne die Unförmigkeit eines der hinteren Höhlenbereich, der kaum einen seltsamsten Tiere von Chauvet erklären: Meter hoch und daher nur für Kinder zu- Es sieht aus wie ein indischer Tempelaffe gänglich war. Der Junge ging langsam. Im- mit dem Kopf eines Mammutbabys auf mer wieder streifte er seine Fackel wie überdimensionalen Rollschuhen. eine Zigarre an der Wand ab, um sie vom Marco Evers 290

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J.-P. BAJARD / EDITING

Wissenschaft

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Technik

F L U G Z E U G K ATA S T R O P H E

Trauer im Heartbreak Hotel

AP

Mit dem Absturz der ägyptischen B 767 nahe New York setzt sich eine Unglücksserie mit Boeing-Maschinen fort. Wie sicher sind die Langstrecken-Jets des weltgrößten Flugzeugherstellers?

Trümmer der abgestürzten Maschine entdeckten, orteten Sonare das charakteristische „Ping, Ping“, mit dem Flugdatenschreiber und Cockpit-Voicerecorder ihre Position im Wasser verraten. Schweres Wetter verhinderte bis Ende vergangener Woche die Bergung. Die hell orangefarbenen Boxen könnten die entscheidenden Hinweise liefern, ob bestimmte Flugzeugtypen des US-Herstellers Boeing besonders fehleranfällig sind. Mehrfach hatte die amerikanische Luftaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) Nachbesserungen und Inspektionen von Maschinen des Typs B 767 gefordert, die mit Pratt-&-Whitney-Turbinen der PW4000-Serie ausgerüstet sind. Schon die spärlichen Fakten, die über den Unglücksflug bislang bekannt wurden, liefern erste Hinweise, wie es zu dem Desaster gekommen sein könnte. Mit über zwei Stunden Verspätung war Flug 990 am Sonnabendabend in Los Angeles gestartet, weil zwei Reifen des Fahrwerks ausgewechselt werden mussten. Nach dem Flug quer über den Kontinent landete die Maschine in New York, nahm weitere Fluggäste für den Elf-Stunden-Flug nach Kairo auf – und raste ins Verderben. So rätselhaft der jähe Sturzflug von EgyptAir 990 zunächst erschien – er weist deutliche Parallelen zum Absturz einer Lauda-Air-Maschine im Mai 1991 in Thailand auf. Auch damals war die Unglücksmaschine ein Langstrecken-Jet vom Typ

Absturz der Boeing 767 Bergung von Wrackteilen der EgyptAir-Boeing: „Wir wollen wissen, warum!“

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m 1.49 Uhr und 52 Sekunden, 30 Minuten nach dem Start vom New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen, bahnte sich das Desaster an. EgyptAir-Flug 990 hatte gerade seine Reiseflughöhe von 10 000 Metern erreicht, Flugbegleiter servierten Drinks in der ersten und in der Business-Klasse, als der Jet abrupt in den Sturzflug ging. Innerhalb von 40 Sekunden, so ergab die Auswertung von Radardaten, sackte die Maschine um 5000 Meter ab. Gut 100-mal schneller, als gewöhnliche Aufzüge von höheren Stockwerken zur Lobby sinken, raste die Boeing 767-300ER („Extended Range“) der Meeresoberfläche entgegen. In etwa 5000 Meter Höhe zog der Jet wie auf einem Achterbahnkurs noch einmal bis auf 7300 Meter hoch, um dann endgültig atlantikwärts zu stürzen. Etwa 3000 Meter über dem Meer brachen Teile vom Aluminiumleib. Das Wrack riss 217 Menschen in den Tod. Mit dem Absturz der EgyptAir-Maschine am vorletzten Sonntag setzte sich eine unheimliche Unglücksserie fort. Zum dritten Mal innerhalb von nur drei Jahren war 294

1:49:52 Uhr Flughöhe 10 000 m 9000

ein Großraumflugzeug aus dem 8000 Boeing-Konzern kurz nach dem 7000 Start von New York abgestürzt: Im 6000 Juli 1996 hatte eine Explosion im 5000 fast leeren Rumpftank eines TWA- 4000 Jumbos zur Katastrophe geführt 3000 (230 Tote); im September letzten 2000 Jahres fiel die Swissair-Maschine SR 1000 0 111 nach einem Kabelbrand vor der Küste Neuschottlands mit 229 Menschen an Bord in die Fluten. Wie bei den vorangegangenen FlugzeugAbstürzen versammelten sich auch vergangene Woche verzweifelte Hinterbliebene im Ramada Plaza Hotel nahe dem Flughafen. Geistliche und Psychologen kümmerten sich um die Trauernden im „Heartbreak Hotel“, wie das Ramada inzwischen genannt wird. Was viele der Betroffenen neben dem Verlust ihrer Nächsten bewegt, umschrieb ein Mann aus Seattle, dessen Frau vier Angehörige verlor: „Wir wollen wissen, warum der Jet abstürzte!“ Die Antwort liegt etwa 100 Kilometer südlich der Insel Nantucket in 80 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund. In einem Gebiet, in dem Schiffe der U. S. Coast Guard d e r

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nach Auswertung von Radardaten

kurzer Steigflug auf 7300m

1:50:32 Uhr Sturz auf 5000 m

1:51:17 Uhr letztes Radarecho bei 3000 m, Teile lösen sich vom Jet

Boeing 767-300ER. Wie EgyptAir 990 war auch Lauda Air mit PW4000-Turbinen ausgerüstet. Die Todesjets waren sogar als Zwillinge mit den Produktionsnummern 282 (EgyptAir) und 283 (Lauda Air) aus dem Boeing-Werk in Everett gerollt. Was bisher über den EgyptAir-Absturz bekannt wurde, ähnelt in der Tat auf fatale Weise der Lauda-Air-Katastrophe vor acht Jahren. 15 Minuten nach dem Start in Bangkok – Lauda-Flug NG 004 war gerade auf 7500 Meter Höhe gestiegen – hatte sich die Schubumkehr (Thrust Reverser) des linken Triebwerks ruckartig geöffnet. Diese Bremshilfe darf eigentlich nur bei der Landung ausfahren und dient dann

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Technik

REUTERS

dazu, einen Teil der Schubleistung der Fahrtrichtung entgegenzulenken. Der jähe Bremsruck an der linken Fläche drehte den Lauda-Jet in Rückenlage. 29 Sekunden nach dem Reverser-Ruck, so ergaben später Auswertungen des Voicerecorders, zerbarst der Jet in der Luft. Nach dem Lauda-Absturz hatte die FAA mehrere Sicherheitsauflagen erlassen, um ein neuerliches Schubumkehr-Desaster auszuschließen. Alle mit PW4000-Trieb-

Trümmer der Lauda-Air-Boeing (1991)

Jäher Ruck beim Steigflug

werken bestückten Boeing-Muster, darunter auch 747-Jumbos, mussten mit einer zusätzlichen Schubumkehr-Sicherung versehen werden. Die EgyptAir-Maschine wurde 1993 mit einer solchen Reverser-Sicherung ausgestattet. Beim Abflug in Los Angeles hatte die Crew den Reverser des linken Triebwerks sogar deaktiviert, da er defekt war. Die Piloten durften nach internationalen Regularien dennoch starten, weil Landungen auf hinreichend langen Bahnen auch ohne Schubumkehr als sicher gelten. Trotz der von der FAA in den letzten Jahren erzwungenen Reverser-Modifikationen halten Experten es für plausibel, dass B-767-Jet Nummer 282 das Schicksal seines in Thailand zerborstenen Zwillings 283 teilte. Der jähe Sturzflug der EgyptAir-Maschine deutet auf eine abrupt aufgetretene, dramatische Lageveränderung des Jets. Beim Lauda-Air-Unglück war es besonders fatal, dass der Reverser-Ruck im Steigflug, also bei hoher Triebwerksleistung passierte. Diese sorgte für einen entsprechend starken Bremsstrom aus der Schubumkehr. Obwohl die Piloten durch ein Warnlicht minutenlang auf ein mögliches Schubumkehr-Problem vorbereitet waren, hatten sie, wie später Simulationen des Unglücks im Windkanal zeigten, keine Chance, die Maschine in der Luft zu halten. Die EgyptAir-Maschine hingegen hatte am vorletzten Sonntag bereits ihre Reiseflughöhe erreicht und flog ihren Ostkurs mit etwa 900 Kilometern pro Stunde – was die Absturzgefahr an sich verringerte: Die Ruder sprechen während des Reiseflugs 296

besonders gut an, und der reduzierte Schub müsste auch dem Reverser einen Teil seiner Wirkung genommen haben. Sollte sich aber etwa der intakte Reverser des rechten Triebwerks ohne jede Vorwarnung geöffnet haben, so könnte das die Crew gleichwohl so überrascht haben, dass mögliche Ruderkorrekturen zu spät kamen – und die Maschine über eine Tragfläche abkippte. Der eigenartige Berg-und-Tal-Kurs, den das Flugzeug laut Radardaten dann vollführte, wäre vermutlich dem verzweifelten Bemühen der Piloten zuzuschreiben, die Maschine abzufangen. Wie bei einer Achterbahn, wo die stärksten Kräfte beim Übergang aus der Tal- in die Bergauf-Fahrt wirken, hatte das Abfangmanöver ernorme Belastungen zur Folge, die womöglich zu dem Bruch von Teilen der Flugzeugstruktur geführt haben. Dass es auch nach der zusätzlichen Sicherung der Reverser als Konsequenz aus dem Lauda-Air-Unglück noch Probleme mit der Schubumkehr von PW4000-Turbinen gab, belegt eine im September erlassene FAA-Erklärung. Darin warnt die Luftfahrtbehörde vor einem möglichen Öffnen der Reverser im Flug, ausgelöst durch defekte Sicherungsstifte. In einem weiteren Schreiben zur Schubumkehr vom 19. Oktober weist die FAA auf Probleme mit Reverser-Führungsschienen an PW4000-Turbinen der Boeing-Modelle 747-400, 767-300 und 767-200 hin. Laut FAA können die Schienen, in denen die beweglichen Teile der Schubumkehr laufen, ausschlagen, was unter Umständen zur Folge hat, dass zwei metallene Halbschalen von etwa zwei Quadratmeter Größe aus dem Triebwerk herausbrechen. Das

wiederum könne zu „Schäden an der Flugzeugstruktur und möglicherweise raschem Druckverlust“ im Flugzeug führen. Auch sei „eingeschränkte Lenkfähigkeit“ zu befürchten, wenn das Leitwerk beschädigt wird. Ob das Desaster vor der US-Küste tatsächlich durch Kalamitäten mit der Schubumkehr verursacht wurde, werden die Ermittlungen der NTSB-Fahnder zeigen. Für Boeing, den größten Flugzeugbauer der Welt, bedeutet das Unglück in jedem Fall einen weiteren Imageverlust. Einen Tag bevor die EgyptAir-Maschine abstürzte, erregte die amerikanische Öffentlichkeit die Nachricht, dass Boeing 19 Jahre lang eine Studie unter Verschluss gehalten hatte, die vor Überhitzungsproblemen im Rumpftank von Jumbos warnte. Genau diese Schwäche wurde der TWA 800 zum Verhängnis, als sich Resttreibstoff im Rumpftank erhitzte und vermutlich durch Funkenschlag entzündete. Hätte Boeing die Tank-Studie nicht zurückgehalten, warfen Politiker dem Konzern daraufhin vor, könnten die Passagiere von TWA 800 noch leben. Einen Tag nach dem EgyptAir-Unglück musste Boeing zudem einräumen, dass Feuchtigkeitsabweiser im Cockpit von 747-, 757-, 767- und 777-Jets nicht den Feuerschutznormen entsprechen. Die Auslieferung von 34 Jets wurde sofort gestoppt, die Umrüstung hunderter bereits ausgelieferter Flugzeuge dürfte folgen. Boeing, so fasste der Herausgeber des US-Fachblatts „Commercial Aviation Report“ die jüngste Pannenserie zusammen, entpuppe sich als ein Unternehmen, „das nichts mehr auf die Reihe kriegt“. Ulrich Jaeger

Luftströmung an der Flugzeugtragfläche (Auftrieb)

Mantelstromtriebwerk bei normalem Schub... Mantelstrom Hauptluftstrom

Reverser geschlossen

Reverser geöffnet s p i e g e l

Mantelstromtriebwerke erzeugen einen Teil ihres Schubs, indem einströmende Luft um die heiße Brennkammer gelenkt und nach hinten gepresst wird.

Auftriebsverlust durch Schubumkehr

...und mit aktivierter Schubumkehr

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Fatale Bremskräfte

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Öffnet der Pilot nach der Landung die Schubumkehr, so wird der Mantelstrom gegen die Fahrtrichtung gelenkt und bremst den Jet ab. Im Flug führt die Öffnung der so genannten Reverser zu einer Drehung des Jets um seine Hochachse und einem schlagartigen Auftriebsverlust an der Tragfläche. Beide Momente zusammen drehen eine Maschine binnen Sekunden in Rückenlage.

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Sport

FUSSBALL

Häppchen in der Baracke Rosenborg Trondheim, Geheimfavorit in der Champions League und Bayern Münchens nächster Gegner, steht für den Aufschwung des norwegischen Fußballs. Am Sonntag spielt die deutsche Nationalelf in Oslo.

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er Tag, an dem für Nils Arne Eggen „das Unmögliche möglich“ wurde, war der 4. Dezember 1996. An diesem lausig kalten Mittwochabend gastiert der Trainer des norwegischen Fußballclubs Rosenborg Trondheim mit seinem Team im San Siro Stadion. Trondheim

verdreher klang so abschätzig, als wollte er ein für alle Mal klarstellen: Zwerge wie die von der Packeisgrenze haben im exklusiven Champions-League-Zirkel nichts verloren. Inzwischen hat der wendige FußballKaiser seine Meinung korrigiert. Rosen-

M. KIENZLER / BONGARTS

Norwegische Nationalspieler (nach dem 2:1 gegen

Rosenborg-Stürmer Carew (r.)*: „90 Minuten Vollgas und Spaß dabei“

muss beim AC Mailand gewinnen, um die nächste Runde der Champions League zu erreichen – die Buchmacher grinsen mitleidig jeden Wettnarren an, der sein Geld auf die Skandinavier setzt. Doch was passiert? Rosenborg siegt 2:1. „Rosenheim Trondborg“, höhnte der RTL-Sachverständige Franz Beckenbauer damals im Fernsehstudio, und sein Wort* Im Zweikampf mit dem Dortmunder Jürgen Kohler beim 3:0-Sieg am 19. Oktober im Westfalenstadion.

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borg, in der europäischen Edelliga Ende des Monats Gruppengegner des FC Bayern, wird von Beckenbauer längst als „Geheimfavorit“ geachtet. Schließlich haben nur wenige Mannschaften die zweite Runde der Champions League so souverän erreicht wie die Norweger. Prominentestes Opfer ihrer offensiven Spielkultur: der Titelträger von 1997, Borussia Dortmund. „Die ziehen das Visier runter, geben 90 Minuten Vollgas und haben auch noch Spaß dabei“, schwärmt d e r

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Michael Meier, Manager der Westfalen, über die Lehrstunde. Inmitten einer Gesellschaft, in der sich die reichen Clubs jedes Jahr eine neue Weltauswahl zusammenkaufen, wirkt Rosenborg Trondheim wie ein Relikt aus der Gründerzeit des Europapokals. Geradezu paradox mutet an, dass der norwegische Fußball ausgerechnet in jenem Jahrzehnt erstrahlt, in dem viele Experten weismachen wollen, dass internationale Konkurrenzfähigkeit den Erwerb millionenteurer Stars voraussetzt. In einer Zeit, in der Bayern Münchens Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge eine Verdopplung der TV-Gelder fordert, „um uns in den Top Five in Europa halten zu können“, lehrt Trondheim, dass ein Jahresbudget von rund 25 Millionen Mark (FC Bayern: rund 210 Millionen Mark) für Spitzenfußball ausreichen kann. Und das scheint andere Vereine zu beflügeln: Vizemeister Molde FK schaltete in der Qualifikation zur Champions League den spanischen Spitzenclub Real Mallorca aus. Auch die Nationalmannschaft hat sich Respekt verschafft: Zweimal haben die Norweger in den beiden vergangenen Jah-

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Brasilien bei der WM 1998): Überwintern auf dem mediterranen Stützpunkt

A. HASSENSTEIN / BONGARTS

ren Brasilien bezwungen. Und vor wenigen Wochen qualifizierte sich das Team ohne erkennbare Mühe zum ersten Mal für eine Europameisterschaft. Da kommt das Freundschaftsspiel am Sonntag gegen Titelverteidiger Deutschland gerade recht. Rune Bratseth, jahrelang Abwehrchef bei Werder Bremen und seit 1994 Manager von Rosenborg Trondheim, orakelt: „Ich wäre überrascht, wenn die Deutschen in Oslo gewinnen.“ Zwar leben in Norwegen deutlich weniger Menschen (4,4 Millionen), als der Deut-

Rosenborg-Manager Bratseth, Trainer Eggen

Ministeramt abgelehnt

sche Fußball-Bund Mitglieder zählt (6,2 Millionen), doch die Ressourcen werden optimal genutzt. Wie wohl in keinem anderen Land wurde die Ausbildung für Fußballer in den letzten zehn Jahren verbessert. Der Verband engagierte mehr als ein Dutzend hauptberuflicher Trainer, die sich zwischen Oslo und Hammerfest ausschließlich um die Förderung von Talenten kümmern. Der Plan geht auf. Von landesweit 300 000 Spielern sind mehr als zwei Drittel unter 15 Jahre alt. Selbst nördlich des Polarkreises können die Kicker das ganze Jahr trainieren – Norwegen leistet sich mittlerweile mehr als 60 Großfeldhallen mit Kunstrasen. Um den langen Wintern zu entfliehen, hat sich der Fußballverband gar einen mediterranen Stützpunkt errichtet. In La Manga bei Alicante entstand eines der größten und modernsten Trainingszentren Europas. Alle norwegischen Erstligisten können die Anlage nutzen. Auch ausländische Gäste sind gern gesehen. Alex Ferguson, der Coach von Champions-LeagueGewinner Manchester United, zeigte sich nach einem Trainingslager beeindruckt: „Wir kommen wieder.“ d e r

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Rosenborg Trondheim hat sich trotz aller Zugeständnisse an den Zeitgeist – im nächsten Jahr wird das Lerkendal-Stadion für 100 Millionen Mark in eine reine Fußballarena umgebaut – Erdnähe bewahrt. Die Geschäftsstelle ist in einer einstöckigen Baracke untergebracht, die von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg als Proviantlager errichtet worden war. Rune Bratseth schenkt Kaffee aus einer Thermoskanne nach und bedient sich am Büfett. Gereicht werden Roastbeefhäppchen und Obstsalat, übrig geblieben vom Vorabend beim Champions-League-Spiel gegen Boavista Porto. Der Manager hat sich an einem großen Tisch im Gemeinschaftsraum niedergelassen, dem Wohnzimmer des Vereins. Morgens um halb sieben wird der „husrom“ aufgeschlossen, gegen Mitternacht sperrt ihn der Hausmeister wieder zu. Hier hocken sie und reden über Fußball: Spieler, Vereinsbosse, Autogrammjäger, Schulkinder, Rentner und Journalisten. Bratseth deutet auf die Grüppchen. „Rosenborg-Denken“, sagt er knapp. Was er damit meint: sieben Tage in der Woche ein offenes Haus zu haben. Und sieben Tage in der Woche auf dem Boden zu blei301

Sport

FOTOS: A. HASSENSTEIN / BONGARTS

Eggen gilt als Sturkopf. Manager Bratseth flachst, der Trainer diskutiere nicht, sondern er beiße, was ihn auf den Beinamen „Pit Bull“ brachte. Doch Bratseths Sarkasmus wirkt leicht gekünstelt. Denn die wichtigsten Prinzipien Eggens vertritt der Manager wie seine eigenen. So wird das Vollprofitum in Trondheim als Irrweg der Evolution betrachtet. Ein Drittel ihrer freien Zeit sollen die Spieler ihren Studien oder erlernten Berufen nachgehen. „Fußballer“, nölt Eggen, „werfen sich doch sonst nach dem Training nur aufs Sofa und schauen schlechte Filme.“ Die Mehrheit der Mannschaft hält sich an den Ukas. Kapitän Erik Hoftun betätigt sich nebenher als Sozialarbeiter, Mittelfeldspieler Fredrik Winsnes studiert Medizin, und Stürmer Mini Jakobsen schafft bei einer TV-Produktionsgesellschaft. Noch auffälliger als die Teilzeitarbeit markiert den Trondheimer Sonderweg allerdings der weitgehende Verzicht auf Ausländer. 22 Spieler stehen momentan im Rosenborg-Kader – bis auf den isländischen Ersatztorhüter stammen alle aus Norwegen. Zum Vergleich: Glasgow Rangers lief Trondheimer Profis: Schuhe putzen und sich dazu bekennen vorige Woche in München mit nur einem ben. Wer für Rosenborg stürmt, putzt seischottischen Profi auf, ne Fußballschuhe selber und bekennt sich Chelsea London trat gedazu wie Torjäger John Carew: „Sonst gen Hertha BSC mit würde ich sie nicht tragen.“ zwei Engländern an. Die Autos, die die Spieler vor der BaEggen hebt seine racke abgestellt haben, könnten auch auf Schultern, als bitte er dem Personalparkplatz der Hafenpolizei um Verständnis: keine von Trondheim stehen: Golf, Passat,Vectra. andere Wahl. „AuslänZwar zahlt kein Fußballverein in Norder, die uns voranbrinwegen so gut wie Rosenborg, die Spiegen“, sagt er, „kommen ler kassieren im Schnitt ein Grundgehalt nicht nach Norwegen.“ von 200 000 Mark. Aber das entspricht in Sein bedachter Blick auf Deutschland der Gage von manchem Drittden Nachwuchs im eigeligakicker. „Gibt es einen vernünftigen nen Land ist deshalb so Grund“, fragt Nils Arne Eggen spitz, „waretwas wie der Sieg der um ein Fußballer doppelt so viel erhält wie Rosenborg-Clubheim: Sieben Tage ein offenes Haus Vernunft in einem Geder Ministerpräsident?“ Da kommt der Trainer in seinem kaum des früheren Premiers Thorbjörn Jagland, werbe, in dem sich Manager vermehrt über zehn Quadratmeter großen Büro so richtig ein Ministeramt zu übernehmen, hat ihn die „Söldnermentalität“ ihrer Profis beklagen. in Rage. Er senkt seinen Kopf, so dass sein fortlocken können. So lamentiert der Dortmunder Michael Kinn eine dicke Falte wirft, und schaut herEs ist diese Kontinuität, die den Stil und ausfordernd über den Rand seiner Lese- die Spielweise des Vereins geprägt haben. Meier: „Die Identifikation mit dem Verein brille. Ein „sozialer Demokrat“ sei er, Eggen ist ein Pedant. Beim täglichen Trai- hat gelitten.“ Und das habe Folgen: Die bekräftigt Eggen, und so ist es ihm ein ning triezt er seine Kicker mit einstudier- Mentalität sei entscheidend dafür, „ob Gräuel, wenn Vereine die Spieler mit Geld ten Angriffsvarianten wie ein Lateinlehrer man ganz großen Erfolg hat oder mittelzuschmeißen. seine Klasse mit dem Konjugieren unre- mäßigen“. Rosenborg hat ein anderes Problem. Ronaldo in Mailand? David Beckham in gelmäßiger Verben. Manchester? Nicolas Anelka in Madrid? „Schattentraining“ nennt er das. Auf die Denn immer wieder werden die Leis„Nein danke“, brummelt Eggen, „die ha- Idee hat ihn einst Hennes Weisweiler ge- tungsträger von ausländischen Vereinen abben doch die Motivation verloren, sich zu bracht. In den siebziger Jahren reiste Eggen geworben. Seit Anfang 1997 verließen siebewegen.“ zu Bildungszwecken nach Deutschland, um ben der wichtigsten Spieler den Club. Einer verabschiedete sich, typisch für Kürzlich klingelte bei ihm das Telefon. an Vorlesungen des Trainergurus teilzuDer FC Liverpool war dran. Eggen hörte nehmen. Und weil er von dessen Traktat Trondheimer Umgangsformen, mit eisich die Offerte an und lehnte dankend ab „Der Fußball“ so angetan war, übersetzte ner noblen Geste. Obwohl sein Wechsel – er ist nicht kompatibel. Denn er verach- er es ins Norwegische, genauso wie die zu Celtic Glasgow beschlossene Satet Clubs, die eine Mannschaft zusam- Schrift „Neue Fußball-Lehre“. Im Okto- che war, verlängerte Harald Brattbakk seimenkaufen. Er will eine Mannschaft zu- ber hat Eggen ein eigenes Buch herausge- nen Vertrag bei Rosenborg noch einmal sammenbauen. bracht: „Auf gutem Fuß“ erzählt die Er- um fünf Jahre. Der Stürmer verzichtete Mit zwei kurzen Unterbrechungen ar- folgsstory von Rosenborg. 25 000 Exem- auf ein Handgeld der Schotten – dafür erbeitet Eggen deshalb seit 1978 bei Rosen- plare seien schon verkauft, erwähnt er hielt Trondheim sechs Millionen Mark Ablöse. borg Trondheim – nicht mal das Angebot beiläufig, mithin ein Bestseller. Michael Wulzinger 302

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Sport

C. AUGUSTIN

die Nummer 45 der Weltrangliste, ein Weltmeister zweiter Klasse? Khalifman: Nein! Wieso auch? Das ist im Schach wie im Fußball: Vor, während und nach der letzten Weltmeisterschaft waren sich alle einig, dass Brasilien die stärkste Elf hat – aber Frankreich ist Weltmeister geworden. Zweifelt jemand daran? SPIEGEL: Frankreich und Brasilien haben aber gegeneinander gespielt. Sie mussten weder gegen Kasparow noch gegen Titelverteidiger Anatolij Karpow antreten. Khalifman: Ich kann doch niemanden zwingen, an der WM teilzunehmen. Es ist schade, dass sie nicht am Start waren, aber viele Spitzenspieler waren in Las Vegas dabei – und ich habe gewonnen. SPIEGEL: Trotzdem behaupten sowohl Kasparow als auch Karpow, der wahre Weltmeister zu sein. Sogar das amerikanische Schach-Phantom Bobby Fischer, dem 1975 der Titel abSchachspieler Khalifman: „Brasilien hat die stärkste Fußballelf, aber Weltmeister ist Frankreich“ erkannt wurde, weil er nicht zum Finale erschien, erhebt Anspruch auf die WM-Krone. S C H AC H Khalifman: Bobby Fischer ist ein Fall für die Ärzte – so leid es mir tut. Kasparow hat nie ein WM-Match verloren, das stimmt. Aber er hatte ja auch seit 1995 nie eine Chance dazu. Er hat seitdem an keiner offiziellen WM teilgenommen. Wenn er Der russische Weltmeister Alexander Khalifman über den meint, der Veranstalter sei nicht versportlichen Wert seines Titels, die schwache trauensvoll, dann ist das sein Problem. Kasparow … Zahlungsmoral des Verbands und die Bedeutung des Internets SPIEGEL: … der 1993 aus der Fide ausgeAlexander Khalifman, 33, gewann Ende die Weltmeisterschaften gewinnt. Und ich treten ist … August in Abwesenheit der beiden besten habe Ende August die Weltmeisterschaft Khalifman: … will seine eigene WeltmeisSchachprofis die Weltmeisterschaft in Las des Weltschachverbands Fide in Las Vegas terschaft organisieren und schafft es nicht. Vegas. Obwohl in der internationalen gewonnen. Und Karpow ist schon lange nicht mehr so Rangliste nur an Position 45 geführt, be- SPIEGEL: Bei der die zwei besten Profis der gut wie früher. Sein letztes Top-Ergebnis, siegte er bei dem vierwöchigen Turnier- Welt, Kasparow und der Inder Viswanathan der WM-Sieg über Gata Kamsky, ist bemarathon nacheinander sieben Spieler. In Anand, nicht mitgespielt haben. Sind Sie, reits über drei Jahre her. Danach hatte er seiner Heimat St. Petersburg keinen großen Erfolg mehr. Er unterhält Khalifman eine spielt nur noch auf einem sehr Schachschule, die vor allem moderaten Level. begabte Kinder fördern will. SPIEGEL: Karpow hat beim Internationalen Sportgericht in Lausanne Klage eingelegt geSPIEGEL: Herr Khalifman, wer gen die Wertung der Weltmeisist der beste Schachspieler? terschaft. Fürchten Sie, dass Khalifman: Garri Kasparow. Er Ihnen der Titel wieder abist ein Genie, der beste aller erkannt wird? Zeiten. SPIEGEL: Aber Sie sind WeltKhalifman: Karpows Gründe meister. sind lächerlich. Mehr will ich dazu nicht sagen, schließlich Khalifman: Natürlich. Im Lexiverfügt er über große juristikon steht: Weltmeister ist, wer sche Erfahrung. SPIEGEL: Sie könnten alle Kriti* Am 3. Mai 1997 im Spiel gegen den ker zum Schweigen bringen, IBM-Schachcomputer Deep Blue in New wenn Sie in den nächsten MoKonkurrent Kasparow*: „Hilfe von Mega-Pentium-Monstern“ York. AP

„Meine Chance genutzt“

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naten gegen Kasparow oder Karpow spie- ist arm. Niemand weiß so recht, woher das len. Werden Sie das tun? viele Geld stammt, das er in die Fide steckt. Khalifman: Das Problem im internationalen Stört Sie das? Schachsport ist derzeit, dass man nie si- Khalifman: Wenn es um viel Geld geht, cher sein kann, ob ein angekündigtes Tur- kann man doch nie richtig nachvollziehen, nier auch tatsächlich stattfindet. Oft fin- aus welchen Quellen es kommt. Und es ist den sich keine Sponsoren – und schon wird völlig kindisch von Kasparow, wenn er sagt, der Wettbewerb kurzfristig abgesagt. Mein er spiele nur für Geld, dessen Herkunft geTurnierplan fürs nächste Jahr ist deshalb klärt ist. Es ist Aufgabe des Staates hernoch nicht ganz fertig. Ich würde natür- auszufinden, ob da jemand das Gesetz lich gern gegen diese beiden Großen spielen, es wäre bestimmt interessant. SPIEGEL: In Las Vegas wurde nach einem Knock-out-System gespielt. Wo liegen die Unterschiede zum klassischen System, bei dem Titelverteidiger und Herausforderer 24 Partien spielen müssen? Khalifman: Es kommt auf Kondition an, Konzentration und Tempo. Khalifman in Las Vegas*: Kondition, Konzentration, Tempo Früher hatte es Kasparow leichter. Gemeinsam mit einem Bera- bricht. Für uns Schachspieler ist es nur gut, terteam nahm er sich ein halbes Jahr Zeit, dass nun Turniere gesponsert werden. um sich mit Hilfe von Mega-Pentium- SPIEGEL: Vielleicht bekommen Sie das restMonstern auf alle möglichen Eröffnungen liche Preisgeld in kalmückischem Öl oder des Gegners vorzubereiten. Da spielte in Kaviar ausgezahlt? nicht Mann gegen Mann. In Las Vegas war Khalifman: Das glaube ich kaum. Die Fide das anders. Man konnte anhand des Tur- ist eine internationale Organisation, die in nier-Tableaus nur vermuten, gegen wen Lausanne registriert und vom Internatioman in der dritten oder vierten Runde spie- nalen Olympischen Komitee anerkannt ist. len muss, man wusste es nicht. Das ist viel Ich bin optimistisch, dass ich zu meinem objektiver. Ich habe meine Chance genutzt. Preisgeld komme. SPIEGEL: Als WM-Sieger stehen Ihnen SPIEGEL: Im Veranstaltungssaal der WM in 482 705 Dollar an Preisgeld zu. Hat Fide- Las Vegas verloren sich selten mehr als Präsident und Multimillionär Kirsan 20 Zuschauer. Dagegen wurde auf die Iljumschinow Ihnen das Geld schon über- Homepage täglich fast zwei Millionen Mal wiesen? zugegriffen. Ist das die Zukunft des Khalifman: Bisher erst ungefähr zehn Pro- Schach? zent. Spieler wie Wladimir Kramnik oder Khalifman: Schach ist die Internet-Sportart Wladimir Akopian haben noch gar nichts schlechthin: Zwei Akteure, der eine, sagen gekriegt. Es heißt, Fide habe zurzeit tech- wir, in Hamburg und der andere in Sydney, können im Internet eine Schachpartie „In fünf Jahren wird nur noch ein gegeneinander austragen. Und auf der ganzen Welt können Leute das Spiel live Turnier gespielt wie bisher – verfolgen, sich in Chat-rooms darüber under Rest findet im Internet statt“ terhalten. So etwas ist im Tennis oder Fußball unmöglich. nische Probleme, aber wir bekämen das SPIEGEL: Was kann das für die internatioGeld so schnell wie möglich. Was immer nale Turnierszene bedeuten? das auch bedeutet. Khalifman: In fünf Jahren wird vielleicht SPIEGEL: Und nun? noch ein Turnier gespielt wie bisher, höchsKhalifman: Meine Kollegen und ich haben tens zwei – der Rest findet im Internet der Fide einen Brief geschrieben. Darin statt. steht: Wir haben alle Vertragspunkte er- SPIEGEL: Büßt das Schachspiel nicht dann füllt, jetzt seid ihr am Zug. Kriegen wir in eine Dimension ein: jene Spannung, die Kürze nicht unser Preisgeld, gehen wir vor entsteht, wenn sich die beiden KontrahenGericht. ten in die Augen blicken? SPIEGEL: Iljumschinow ist Staatschef der Khalifman: Ein Schachspieler sollte sich sorussischen Republik Kalmückien. Das Volk wieso auf das Brett konzentrieren und nicht auf sein Gegenüber. Schach ist ein Kampf der Gehirne. Nur darauf kommt * Bei seinem WM-Finalsieg gegen den Armenier Wladimir Akopian am 28. August. es an. Interview: Maik Großekathöfer 308

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AFP / DPA

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SAMSTAG, 30. 10. AUFRUHR In der Berliner Vollzugsanstalt

Tegel kommt es zu einer Messerstecherei, bei der fünf Insassen verletzt werden. SONNTAG, 31. 10. UNGLÜCK Ein Passagierflugzeug vom Typ Boeing 767 der EgyptAir stürzt nach dem Start vom New Yorker John-F.-KennedyFlughafen ab – keiner der 217 Insassen überlebt. FORMEL 1 Das letzte Rennen der Saison

und damit den Weltmeistertitel gewinnt der Finne Mika Häkkinen mit einem McLaren-Mercedes. KIRCHE Katholiken und Lutheraner unter-

zeichnen am Reformationstag eine gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die den alten Theologenstreit um die Vergebung der Sünden beenden soll. MONTAG, 1. 11. AMOKLAUF 1 Der 16 Jahre alte Martin

Peyerl erschießt im oberbayerischen Bad Reichenhall vier Menschen und verletzt fünf weitere zum Teil schwer, bevor er Selbstmord begeht. ATOMWAFFEN Russland und die USA

eröffnen in der Nähe von Moskau ein von den Amerikanern finanziertes Sicherheitszentrum, um russische Offiziere für eine wirksame Bewachung von Atomwaffenlagern auszubilden. DIENSTAG, 2. 11. URTEIL In einem Revisionsverfahren spricht das Kieler Landgericht den libanesischen Angeklagten Safwan Eid vom Vorwurf der schweren Brandstiftung frei – bei dem Feuer in einem Lübecker Asylbewerberheim waren 1996 zehn Menschen umgekommen.

20 Jahre nach Besetzung der USBotschaft in der iranischen Hauptstadt Teheran zerreißt ein islamischer Fanatiker die amerikanische Flagge mit seinen Zähnen.

30. Oktober bis 5. November AFFÄRE Der französische Wirtschafts- und

Finanzminister Dominique Strauss-Kahn tritt wegen Korruptionsverdachts zurück. AMOKLAUF 2 Im amerikanischen Honolulu

erschießt ein Mann aus Verärgerung über seine Kündigung sieben Arbeitskollegen.

SPIEGEL TV MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 SPIEGEL TV

REPORTAGE

Die Grenzer, die die Mauer öffneten Bornholmer Straße, 9. November 1989

MITTWOCH, 3. 11. WISSENSCHAFT Mainzer Forschern gelingt

es, den Nachweis der Rinderseuche BSE an einem lebenden Tier zu erbringen. VERBRECHEN Der designierte argentinische Präsident de la Rúa weigert sich, die internationalen Haftbefehle gegen 98 Mitglieder der ehemaligen Militärjunta vollstrecken zu lassen.

SPIEGEL TV

Chronik

Maueröffnung in Berlin DONNERSTAG, 4. 11. GESCHÄFT Vertreter der deutschen Wirt-

schaft unterzeichnen während des ChinaBesuchs von Bundeskanzler Schröder in Peking mit chinesischen Unternehmen Abkommen im Gesamtwert von 5,9 Milliarden Mark. GESUNDHEIT Der Bundestag verabschiedet

die Gesundheitsreform. FINANZEN Die Europäische Zentralbank in Frankfurt erhöht den Leitzins von 2,5 auf 3 Prozent, um einer möglichen Inflation vorzubeugen. GESCHICHTE Die umstrittene Wehrmachts-

ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung wird wegen diverser Fehler bei der Zuschreibung von Bildern vorerst nicht mehr gezeigt. FREITAG, 5. 11. INDIEN Papst Johannes Paul II. beginnt

trotz schwerer Hindu-Proteste einen viertägigen Besuch in Indien.

Als am Abend des 9. November 1989 ein eher untergeordneter Stasi-Offizier auf eigene Faust den Befehl zur Öffnung des Schlagbaums gab, konnte ein SPIEGELTV-Kamerateam die Vorgänge exklusiv dokumentieren. Was ist aus den Grenzern von damals geworden, wie leben sie heute, zehn Jahre danach? Wie haben sie jene Nacht in Erinnerung? Und: Was geschah damals wirklich? DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV

EXTRA

Traumschiff mit kleinen Fehlern

Vor kurzem startete das neue Flaggschiff der Reederei Hapag-Lloyd, die MS „Europa“, zu seiner ersten Kreuzfahrt. Ein schwimmendes Luxushotel für mehr als 400 Gäste. Doch die Werft in Helsinki hatte den Fünf-Sterne-Dampfer zu spät abgeliefert. Als die ersten Passagiere an Bord gingen, wurde noch gehämmert. SAMSTAG 22.15 – 0.20 UHR VOX SPIEGEL TV

SPECIAL

People's Century – Das Jahrhundert Der totale Krieg und die Folgen

Der Zweite Weltkrieg verwischt den Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten. SONNTAG 22.45 – 23.30 UHR RTL SPIEGEL TV

MAGAZIN

DPA

„Wie war ich, Deutschland?“ – eine Woche aus dem wahren Leben des Bundeskanzlers; Warum Kinder zu Killern werden – ein Psychogramm des Amokschützen aus Bad Reichenhall; Führerschein für Bakschisch – der florierende Fahrschulmarkt in Berlin. 313

Register Heinrich Seewald, 81. Der promovierte

Gestorben

Historiker brachte als einer der ersten Verleger zeitgeschichtliche Bücher in der Bundesrepublik heraus. Sein 1956 in Stuttgart gegründeter Verlag spezialisierte sich zunächst darauf, Erinnerungen und Visionen von Politikern wie Franz Josef Strauß, Erhard Eppler oder Helmut Schmidt zu veröffentlichen. Seewald wollte „das offizielle politische Leben um oppositionelle Denkanstöße bereichern“, stand aber bald auch für konservative bis reaktionäre Editionen deutschnationalen Schrifttums. Er gründete den rechten Verein „Konzentration Demokratischer Kräfte“. Heinrich Seewald starb am 28. Oktober in Stuttgart.

Martin Hellberg, 94. Der Schauspieler,

HIPP-FOTO

WESTFALEN BLATT

Filmregisseur, Theaterintendant und Schriftsteller konnte mehrere Klaviaturen bedienen. Der umtriebige Pastorensohn, der 1942 von den Nazis aus dem Dresdner Theater verjagt wurde, in den fünfziger Jahren in der DDR als einer der mächtigen Männer in Babelsberg galt, baute seine Karriere auf vielerlei Talente auf: So glänzte er in der Rolle des Goethe im Film „Lotte in Weimar“, schuf als Regisseur bei der Defa 15 Filme, vor allem Klassikeradaptionen („Emilia Galotti“, „Kabale und Liebe“), war Generalintendant der Dresdner Staatstheater und hinterließ der Nachwelt drei pathetische Memoirenbände. Martin Hellberg starb am 31. Oktober in Bad Berka bei Weimar.

großen Dichter, die das „Goldene Zeitalter“ der spanischen Lyrik prägten und Träume wie Tragödien ihrer Heimat in Poesie verwandelten. Der Sohn einer verarmten Weinbauernfamilie gewann seinen ersten Literaturpreis 1925, den letzten 1996. Wie sein Jugendfreund Federico García Lorca brachte Alberti eine neue Musikalität und Leichtigkeit in die spanische Dichtung. Als überzeugter Antifaschist trat er in jungen Jahren der Kommunistischen Partei bei und galt lange sogar als deren offizieller Dichter. Die Franco-Diktatur überlebte Alberti in Italien und Argentinien. Sein Rang unter den Lyrikern des Jahrhunderts erklärt sich ebenso wie die enorme Popularität, deren er sich nach der späten Heimkehr von 1977 in Spanien erfreute, aus der sprachlichen Erneuerungskraft und der emotionalen Intensität vor allem der frühen Lyrik. In seinem spanischen Geburtsort Puerto de Santa María starb Rafael Alberti am 29. Oktober.

Marianne Rosenbaum, 58. Umgeben von „blutenden und gequälten barocken Heiligenfiguren“ verbrachte Marianne Rosenbaum ihre Kindheit im Nachkriegsbayern. Aus diesen Erinnerungen heraus hat die Filmemacherin, die zunächst als Malerin begann und nach einem Filmstudium in Prag umsattelte, 1983 ihren ersten Kinofilm gemacht: „Peppermint Frieden“ mit Peter Fonda in der Hauptrolle, der in Schwarzweiß die Jahre bis 1950 nachzeichnet und mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde. Autobiografisch, von „Wende“-Erlebnissen inspiriert, war auch „Lilien auf der Bank“, den Rosenbaum 1996 mit ihrem Ehemann Gerard Samaan drehte. Marianne Rosenbaum, die an der Potsdamer Filmhochschule unterrichtete, starb am 29. Oktober in München.

Hans-Joachim Preil, 76. Als Komikerduo

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Daisy Bates, 84. Sie gehörte 1957 zu den

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waren Preil & Herricht in der DDR unschlagbar. Rolf Herricht gab den Liebenswürdig-Naiven, Preil dagegen durfte der ewig meckernde, besserwisserische Oberlehrer sein. Der Tod seines Partners vor 18 Jahren nahm Preil so mit, dass er nicht mehr als Komiker auftrat. Doch die auf CD gepressten Wortduelle (alle stammen aus Preils Feder) finden noch heute ihr dankbares Publikum. Preil schrieb Bühnenstücke, inszenierte Shows für den Friedrichstadtpalast und gehörte 30 Jahre lang dem Ensemble des DDR-Fernsehens an. Hans-Joachim Preil starb vergangenen Dienstag in Berlin.

ersten schwarzen Bürgerrechtlern, die versuchten, für Schwarze das Recht einzuklagen, eine bis dahin nur Weißen vorbehaltene Schule in Little Rock (Arkansas) zu besuchen. Um sie vor dem Hass der aufgebrachten Weißen zu schützen, schickte Präsident Eisenhower sogar Armeetruppen nach Little Rock. Die spätere Journalistin Bates wurde zum Symbol für schwarzen Widerstand und als Menschenrechtsaktivistin mehrfach ausgezeichnet (Präsident Clinton: „Eine Heldin“). Daisy Bates starb vergangenen Donnerstag in Little Rock.

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AP

Rafael Alberti, 96. Er war der Letzte der

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Personalien

FOTOS: AP ( li.); REUTERS ( re.)

Al Gore, 51, US-Vizepräsident und einer der beiden demokratischen Präsidentschaftsbewerber, musste vergangene Woche viel Spott einstecken. Durch einen Artikel des Magazins „Time“ war ruchbar geworden, dass der immer irgendwie steifleinern wirkende Vize sich von der sattsam bekannten Feministin und Bestsellerautorin Naomi Wolf („Promiscuities“) für ein saftiges Monatssalär von 15 000 Dollar in Image-Fragen beraten ließ. Die Dame diagnostizierte, der gehemmte Gore sei, in der Sprache der Verhaltensforschung gesagt, ein Beta-Männchen, also allenfalls ein Helfertyp. Um das Oval Office zu erobern, müsse er sich aggressiv wie ein „Alpha-Mann“ aufführen. So trat er denn auch zur Fernsehdiskussion mit seinem demokratischen Mitbewerber Bill Bradley am 27. Oktober in Cowboy-Stiefeln (Lieblingsschuhwerk des Alpha-Manns Bill Clinton) und olivgrünem Anzug an und blieb, als Bradley nach Ende der Debatte bereits nach Hause gegangen war. „Ich bleibe, solange es noch Fragen gibt“, versprach er dem Publikum, „auch wenn die Kameras abgeschaltet sind.“ Gores Verwandlung zum Leitwolf setzte sich fort zu Halloween am 31. Oktober: grotesk und sanft. Da empfing er die Gäste seiner Halloween-Party im Kostüm der Cartoon-Figur „Underdog“ und ließ die Muskeln spielen. Die Frau an seiner Seite, Tipper, 51, gab bescheiden die Comic-Partnerin „Polly Purebred“. Im vergangenen Jahr zu Halloween waren die Eheleute Gore noch wie Schwerstversehrte aufgetreten, Körper und Extremitäten vollständig mit Mullbinden bandagiert. Ehepaar Gore in Halloween-Kostümen

Henning Scherf, 61, Bür-

beiter tätig und neuerdings als Kolumnist des Kölner Boulevardblatts „Express“. Dort nimmt er unter der Überschrift „So sehe ich es“ Stellung zu aktuellen Themen wie 630-Mark-Jobs, Arbeitslosigkeit oder auch zu Schröders Position in der Partei. Jetzt komme es darauf an, so Lothar Vosseler in seiner ersten Kolumne am 29. Oktober, „dass die Partei hinter ihm steht“. Dazu drücke er seinem Bruder ganz fest die Daumen: „Zwischen den Gerd und mich passt nämlich wirklich kein Blatt Papier.“

J. SARBACH

germeister und Regierungschef des Stadtstaates Bremen, machte sich um das Gemeinwohl verdient. Zwei Stunden radelte der passionierte Pedalist für die TVVorabendserie „Aus gutem Hause“ durch die bremische Innenstadt, die Kameras stets dabei. Jetzt wurde der Laiendarsteller für seine Mühen belohnt. Mit 1500 Mark Gage zeigte sich das Produktionsteam erkenntlich. Den Zaster ließ der unScherf bestechliche Hanseat an die bremische Initiative „Zivilcourage“ überweisen – die will mit ihren Aktionen die Bremer ermutigen, in schwierigen, für andere bedrohlichen Situationen nicht einfach wegzusehen.

Lothar Vosseler, 52, Halbbruder des Bundeskanzlers, bemüht einen zweifelhaften Vergleich, um Nähe und Harmonie unter Brüdern zu betonen. Vosseler ist nach Jahren der Arbeitslosigkeit jetzt als Kanalar316

Vosseler im Kölner „Express“ (Ausriss) d e r

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Christian Ströbele, 60, Bundestagsabgeordneter der Bündnisgrünen, staunte nicht schlecht: Als er unlängst beim Wiesbadener Bundeskriminalamt (BKA) um Prüfung bat, ob in den Speichern auch sein Name zu finden sei, erhielt er Post vom Datenschutzbeauftragten des Amtes. Gleich in vier Dateien erfuhr Ströbele, liege er ein, darunter im Programm für Häftlingsüberwachung. Selbst Ströbeles Fingerabdrücke, die 1976 einmal genommen worden waren, weil damals gegen den Anwalt „wegen Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ ermittelt wurde, waren noch vorhanden. Das Amt aber vergaß, die Daten nach Ablauf der dafür vorgesehenen Zeit zu löschen. „Ich bedaure dieses Versäumnis sehr“, ließ der BKA-Datenschützer Ströbele wissen. Mittlerweile hat sich auch die Berliner Senatsverwaltung für Inneres bei dem Anwalt, der früher RAF-Terroristen verteidigte, entschuldigt.

Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler,

White Rabbit. Britney-Alice wird zu Beginn der Filmhandlung von einem VW Rabbit überfahren. MTV nennt die Produktion ein „zeitgemäßes Musical“, das sogar den Segen des Gründers und Vorsitzenden der Lewis Carroll Society hat. Kenn Oultram freut sich: „I’m amused.“ Er findet dieses Filmvorhaben gerade wegen seiner Distanz zum Original besonders gut: Frühere Filmversionen „floppten, weil sie sich ganz eng an den Text von Lewis hielten“.

wurde beim Staatsbesuch in Japan vergangene Woche mit Raritäten überhäuft. Gleich am ersten Tag brachte der Chef des Verbandes der Automobilindustrie, Bernd Gottschalk, dem Kanzler eine Autogrammkarte des Finnen Mika Häkkinen mit, der im Motodrom von Suzuka jetzt Weltmeister geworden war. Text: „All the best to Gerhard.“ Die Gastgeber landeten mit einem weiteren Unikat, einem Druck des Malers Hokusai, einen Volltreffer. Schöngeist Schröder hatte den Maler und Meister des Farbholzschnitts durch den Hamburger Maler Horst Janssen schätzen gelernt. Ohnehin präsentierte sich der Kanzler als Asien-Fan: „Konfuzius“, bekannte Schröder, „habe ich schon immer sehr geschätzt.“

Britney Spears, 17, amerikanischer TeePA / DPA

nie-Star, spielt demnächst die Hauptrolle in der Wiederverfilmung von „Alice in Wonderland“. Und wie es sich für eine Verfilmung durch einen Musikkanal wie MTV gehört, geht es schrill und kreischend zu. Da ist die Raupe ein haschrauchender Rastafari und die Teegesellschaft beim verrückten Hutmacher, den der Latino-Sänger Ricky Martin spielt, eine wilde Mixtur aus Rock’n’Roll-, HipHop- und Rapkonzert. Nach dem noch unvollständigen Drehbuch trifft sich Alice zu Beginn ihres Traumabenteuers nicht wie in Lewis Carrolls Werk mit dem Weißen Kaninchen, dem

MTV ( li.); MARY EVANS PICTURE LIBRARY ( re.)

Gormley mit „Quantum Cloud“-Modell

Antony Gormley, 49, britischer Bildhauer, fürchtet, er könnte mit einem Kunstwerk an der berühmten Unschärferelation des deutsche Physikers Werner Heisenberg scheitern. Der Brite arbeitet zur Zeit an einer 20 Meter hohen Skulptur für den so genannten Millennium Dome in London, eine gigantische Veranstaltungsarena, in der der Beginn des Jahres 2000 mit rekordverdächtigen Unternehmungen gefeiert werden soll. Gormleys Werk, die „Quantum Cloud“, soll einen Mann inmitten einer Wolke darstellen, fünf Stockwerke hoch, und aus 3500 Nadeln zusammengesetzt sein. „Wir könnten den Körper darin sichtbar machen, wenn es funktioniert“, gestand der Künstler jetzt der „Times“. Doch die Quantum Cloud sei nach „dem Heisenbergschen Prinzip der Unschärfe gebaut, so dass wir nicht wissen, ob wir den Körper in der Wolke tatsächlich zu Gesicht bekommen werden“. Den Bürgern von London, die mit Sponsorengeldern für das geplante Spektakel aufkommen, sei also vorsichtshalber gesagt: „Man kann nicht den Kuchen haben und ihn gleichzeitig essen; man kann nicht die Quantenrealität haben und noch einen Körper erkennen wollen.“ Gormley vertraut jetzt darauf, „dass der Glaube obsiegt“ – die Quantum Cloud existiert bislang nur als Modell.

Spears, zeitgenössische Alice-Darstellung

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Hohlspiegel

Rückspiegel

Aus dem „Schwäbischen Tagblatt“: „Durch die Umstellung bleibt es morgens länger hell, abends wird es hingegen früher dunkel.“

Zitat

Aus den „Ruhr-Nachrichten“

Aus der „Bild“-Zeitung

Aus der „Frankfurter Rundschau“ Aus der „Berliner Morgenpost“: „Besonders betroffen sind Untersuchungen zufolge Frauen und Menschen in nördlichen Ländern mit wenig Sonnenschein.“

Aus der „Rendsburger Tagespost“

Die „Zeit“ zum Kommentar von SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein zur Außenpolitik Joschka Fischers „Der Nationalstaat wird verabschiedet“ (Nr. 42/1999): Rudolf Augstein wirft Fischer – mit exorbitanter Heftigkeit – vor, er opfere die deutschen Interessen dem amerikanischen Vormachtstreben, und unterstellt ihm einen von menschenrechtlichem Missionarismus getriebenen deutschen Größenwahn. Er nennt ihn einen „Hasardeur“, der den „Nationalstaat abschaffen“ und an seine Stelle „die grenzübergreifende Polizeitruppe unter Führung der USA“ setzen wolle. Das ehemalige „größte Schimpfmaul gegen den verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam“ werfe jetzt „seine Vergangenheit hinter sich wie der Apostel Paulus. Er betet nun an, was er immer bekämpft hat, den Kriegskapitalismus“. In der publizistischen Kampagne gegen Fischer überlagern sich die ideologischen Fronten auf höchst verwirrende Weise. Der Generalverdacht gegen die USA, sie benutzten Menschenrechte nur als moralischen Vorwand für die Durchsetzung imperialistischer Ziele, und die Warnung vor einem neuen deutschen Militarismus im Windschatten der amerikanischen Führungsmacht sind traditionell Teil „linker“ politischer Deutungsmuster. Von Augstein und von konservativen Kommentatoren wie dem „FAZ“-Redakteur Konrad Adam werden diese Vorwürfe jetzt in einem anderen Begründungszusammenhang aufgegriffen.

Der SPIEGEL berichtete …

Aus der „Bild“-Zeitung

Aus dem Bad Kreuznacher „Öffentlichen Anzeiger“ Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Die gegerbte und gefärbte Lederhaut, naturgemäß selten makellos und besonders bei südamerikanischen Peccori-Fellen für die begehrten und unverwüstlichen Schweinsledernen von Schrotkugeln durchsiebt – sie sind gleichzeitig das Hauptnahrungsmittel der Indios –, wird zunächst in alle Richtungen gezogen und gedehnt, bis das Leder nicht mehr nachgibt.“ 318

… in Nr. 21/1999 Titelgeschichte von SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein „Was bleibt von Jesus Christus?“ über den Mythos, der die Welt prägte. In dieser Woche beginnt an der Universität Kassel eine Ringvorlesung mit dem Titel „Was bleibt von Jesus Christus?“. Bis Ende Januar berichten sieben Hochschullehrer aus Göttingen, Kassel und Marburg über ihre Arbeitsgebiete. „Anstoß gab“, so die Einladung der Fachgruppe Theologie/Religionspädagogik, „die gleichnamige Titelstory des SPIEGEL“ vom 24. Mai dieses Jahres, in der Rudolf Augstein „Forschungsergebnisse, Vermutungen, Meinungen und eigene Wertungen zusammengemischt“ habe. Die Titelgeschichte Rudolf Augsteins beruht auf der erweiterten und überarbeiteten Neuausgabe seines Buches „Jesus Menschensohn“, die jetzt bei Hoffmann und Campe erschienen ist (574 Seiten, 54 Mark). d e r

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