Das unredigierte Mayerling-Manuskript als *
April 25, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Lars Friedrich
alles abgethan Der Kriminalfall Mayerling ohne Mythos
Ein neuer Tatsachenbericht zum Tode von Kronprinz Erzherzog Rudolf von Österreich und Baroness Marie Alexandrine von Vetsera am 30. Januar 1889 in Mayerling/Niederösterreich
Das unredigierte MayerlingMayerlingManuskript von Lars Friedrich: Alle Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
VORBEMERKUNG 2015
Ab dem Jahr 1989 befasste ich mich intensiv mit der Geschichte des Ortes Mayerling und dem so eng mit diesem Namen verknüpften Drama, also dem Tod des Kronprinzen Rudolf von Habsburg und seiner minderjährigen Geliebten Marie Alexandrine Freiin von Vetsera 1889 ebendort. Am Freitag, 17. Oktober 2014, wurde dann das neue Besucherzentrum im Karmel Mayerling eröffnet. Mit diesem denkwürdigen Datum, 125 Jahre nach der Tragödie von Mayerling, habe ich die Arbeit für mein Mayerling-Archiv eingestellt.
Im Zeitraum von 1989 bis 2009 hatte ich Teile meiner Forschungsarbeit für ein Buchmanuskript zusammengefasst. Diesen Stand mache ich nun mit der Herausgabe dieses unredigierten Manuskriptes für alle Forscher und Interessierte öffentlich. Einige Passagen dieses Manuskriptes wurden bereits in meinen Mayerling-Büchern überarbeitet und aktualisiert; einige Passagen des geplanten Buches habe ich nicht fertiggestellt (sie sind im Inhaltverzeichnis gestrichen) und einige Passagen sind natürlich auch durch Ereignisse der Zeitgeschichte nicht mehr aktuell – so wurde in Mayerling ja selbst ein Museum eröffnet, die Abschiedsbriefe der Baroness Vetsera wurden im Original aufgefunden und zahlreiche Autoren meinten, sie müssen mehr oder weniger Neues zur Causa Mayerling publizieren.
Ich denke jedoch, dass die Zusammenstellung von Quellen, die mir zur Verfügung standen, für weitere Mayerling-Forscher von Interesse sein könnten und wünsche viel Freude an der Beschäftigung mit diesen bislang nicht redigierten oder lektorierten Manuskript. Wer findet die meisten Rechtschreibfehler?
Lars Friedrich Hattingen an der Ruhr im November 2015
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
VORBEMERKUNG 2009
„Nicht zuletzt dankte ich meiner Frau für ihre unermüdliche Mithilfe bei der Verfassung und Korrektur des Manuskriptes.“
Professor Dr. Fritz Judtmann Herbst 1968
Das vorliegende Buch folgt der Struktur des 1968 erschienenen Tatsachenberichtes „Mayerling ohne Mythos“ von Fritz Judtmann. Aus diesem bei „Kremayr & Scheriau1“ veröffentlichen Buch, das seit 1984 „out of print“ ist, wurden Abschnitte und Passagen übernommen und als Zitate gekennzeichnet.
Mit der Übernahme der Ausführung von Professor Dr. Fritz Judtmann würdigt der Autor dieses Buches die Arbeit des Wiener Schriftstellers und zeichnet auf Basis seines Forschungsstandes ein aktuelles Bild vom „Mythos Mayerling“.
Das Buch folgt in Schreibweise und Zeichensetzung bis auf eingefügte Zitate, historische Textpassagen und insbesondere der Wiedergabe des Textes von Professor Judtmann, der reformierten Rechtschreibung des Jahres 2007.
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Kremayr, Rudolf, geb. am 25.12.1905, gest. am 17.12.1989 und Scheriau, Wolfgang, geb. am 16.11.1916; beide gründeten 1950 die „Buchgemeinschaft Donauland“, die 1955 bereits 378.000 Mitglieder zählte; der Verlag „Kremayr & Scheriau“ wurde 1951 gegründet, um die Buchgemeinschaft mit eigenen Büchern zu versorgen; 1966 Beteiligung durch den BertelsmannBuchclub/Deutschland (Fusion 1969; seit 01.01.2001 besteht eine 75% Beteiligung durch die Bertelmanns Direct Group), 1989 Eingliederung der Dt. Buchgemeinschaft Alpenland und 1990 des Dt. Bücherbundes Österreich; die Buchgemeinschaft Donauland hatte im Jahr 2007 rund 470.000 Mitglieder. „Mayerling ohne Mythos“ erschien 1968 als Verlagsbuch bei K&S, 1969 als Buchgemeinschafts-Ausgabe, 1971 in England bei Georg G. Harrap & Co. Ltd, 1982 in überarbeiteter Form erneut bei K&S sowie 1984 wieder in der Buchgemeinschaft Donauland. 3
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
GELEITWORT 2009
„Ich möchte Ihnen für all Ihre Bemühungen guten Erfolg wünschen. 2“
+ Ruhrbischof Dr. Franz Kardinal Hengsbach Essen, 25.05.1990
„Am 4. Jänner 1957 starb in Wien Frau Ella Graf3, Witwe des Regierungsrates Rudolf Graf, einzige Tochter des Leibarztes Franz Josephs, Dr. Joseph Ritter von Kerzl4, im Alter von 81 Jahren. In ihrem Testament vermachte sie dem Ehepaar Judtmann die sogenannte Hubertusuhr, die nach dem Zeugnis eines Leibkammerdieners im Arbeitszimmer des Kaisers im Schloß Schönbrunn gestanden ist. Frau Graf hatte sie nach dem Tod des Kaisers von dessen Tochter, Erzherzogin Marie Valerie, erhalten, als Andenken an den Monarchen, dem Kerzl viele Jahre treu gedient hatte. 5“ Mit diesen Zeilen beginnt Fritz Judtmann6 sein 1968 erschienenes Buch über den Tod des Kronprinzen Rudolf von Österreich. Ich selbst habe diese Uhr, die bereits seit den 60-er Jahren nicht mehr lief, Mitte der 80-er Jahre in der Wiener Wohnung von Hermann Swistun-Schwanzer7 gesehen: dunkelbraunes Holz mit feinem, aber hier und dort abgebrochenem Zierrat8. Einige Monate vor Swistuns Tod war die Uhr aus seiner Wohnung an der Schönbrunner Straße verschwunden – er hatte sie wahrscheinlich an einen Sammler verkauft, der die dringend notwendige Reparatur des Werkes und die Restaurierung des aufwendigen Gehäuses finanzieren konnte9. Angehörige der Familien Vetsera, Baltazzi und Swistun hatte scheinbar keine Verwendung für diese Memorabilie. Mit der „Hubertusuhr“ verschwand ein weiterer Anker, der die Jetztzeit mit den Tagen der österreich-ungarischen Monarchie verband …
Für Fritz Judtmann hatte die Uhr angeblich eine ganz besondere Bedeutung: „Es war für mich von historischem Interesse, festzustellen, von wem und wann der Kaiser diese Uhr zum Geschenk erhalten hatte.“ Er recherchierte im Haus-, Hof- und Staatsarchiv und ließ sich „einen zweiten Karton mit der Bezeichnung `Briefe und Pakete von und an
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Dr. Franz Kardinal Hengsbach, Essen, 25.05.1990, an den Verfasser Ella Graf, gestorben 04.01.1957 in Wien im Alter von 81 Jahren 4 Kerzl, Dr. Joseph von, geb. 1842, gest. 1919, General-Oberstabsarzt, Hofarzt des Kaisers Franz Josef, beigesetzt auf dem Friedhof Hietzing, Gruppe 20, Gruft 58 (Grab auf Friedhofsdauer) 5 Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 6 Judtmann, Fritz, Dipl.-Ing., Dr. tech., Professor, geb. am 15.06.1899 in Wien, gest. am 10.12.1968 in Wien 7 Swistun-Schwanzer, Hermann, geb. am 23.04.1914, gest. am 26.06.1999 in Wien, beigesetzt am 05.07.1999 auf dem Zentralfriedhof Wien in der Gruft von Hector Baltazzi 8 Die Uhr war 1935 bei der „Kaiser Franz Joseph Ausstellung“ in Schönbrunn zu sehen, wo sie im Raum 53 (Thema: „Jagd“) gezeigt wurde 9 Ebenfalls im Nachlass Kerzl/Graf befand sich ein Medaillon mit getrockneten Blumen von der Bahre Kaiser Franz Josephs, das sich heute im Besitz von Frau Ingrid Fritz/Wien befindet. 3
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den Kronprinzen10´ ausheben“. In jenem Behältnis, das nicht dem damals nur 22 Kartons umfassenden Bestand des Kronprinz-Rudolf-Selektes angeschlossen und somit lange Jahre unbeachtet geblieben war, fand Judtmann einen „dünnen Aktenumschlag mit der Bezeichnung `Varia´“. Das Kuvert enthielt die Abschrift eines Protokolls11 das aussagte, dass Papier des ehemaligen Ministerpräsidenten Eduard Graf Taaffe zur Tragödie von Mayerling „unter mysteriösen Umständen bei einem Rechtsanwalt in Verlust geraten“ waren.
Das Auffinden dieses Kuverts war für Judtmann Anlass, „die Tragödie von Mayerling von Grund auf zu erforschen“. Mit seinem Buch legte er eine gewissenhafte Analyse zum Tod des Erzherzog Thronfolgers vor, die bis heute in vielen Aussagen nicht zu entkräften war. Ich selbst habe 1989, einhundert Jahre nach den Ereignissen von Mayerling, erstmals Judtmanns Buch gelesen. Es folgten seither hunderte weitere Bücher und unzählige Artikel, die sich dem gleichen Thema widmeten. Ebenso wie seinerzeit Fritz Judtmann kam ich zu der Erkenntnis, dass „die meisten der Bücher und Artikel (...) mehr oder weniger Kopien früherer Arbeiten oder romanhafte Erfindungen (waren), worin immer wieder die gleichen Legenden oder falschen Behauptungen nacherzählt“ wurden. Nicht zuletzt die Aussage eines Paters aus dem Stift Heiligenkreuz, dass „kein normal denkender Mensch (...) an der Aufklärung dieser Geschichte interessiert“ sei12, hat mich für das Thema eingenommen – vielleicht bin ja auch ich kein normal denkender Mensch. Auch die fehlende Bereitschaft weiter Teile der Familie Habsburg, sich mit neuen Erkenntnissen zum Tod des Thronfolgers zu befassen, machte mich neugierig: „Der Selbstmord des Kronprinzen ist die einzig und alleinig voll glaubhafte und den Tatsachen entsprechende Version seines Todes13“. Ist das wirklich so?
Ich begab mich auf den Spuren Fritz Judtmanns in eine mir fremde Welt und lernte deren letzte lebenden Augenzeugen, oftmals aber nur noch deren Kinder oder Enkelkinder, kennen. Ich konnte Fühlung nehmen mit Baronin Nancy Vetsera14, der Cousine jener jungen Frau, die tot an der Seite des Kronprinzen Tod in Mayerling aufgefunden wurde. Ich lernte den Archivar der Familie Vetsera, Hermann Swistun Schwanzer, wenige Jahre vor seinem Tod kennen und konnte mit den Erzherzogen der Salvatorischen Linie, Markus15 (Bad Ischl), Michael16 (Persenbeug) und Johann17 (Traunkirchen) von Österreich sprechen. Besonders freut es mich, auf Gut Persenbeug an der Donau IKH Rosemarie, Erzherzogin von Habsburg-Lothringen18, Gattin von Marie Valeries Sohn Hubert, kennengelernt zu haben. Ich sprach mit dem Erzabt von Pannonhalma19, dem resignierten Abt von Heiligenkreuz, Prälat Pater Gerhard Hradil20, und lernte in mehreren Begegnungen jenen Mann näher kennen, der die Gebeine der Mary Vetsera aus ihrem 10
Ministerium des königlichen Hauses und des Äußeren, Administrative Registratur, Karton Fach:76: 9: Briefe und Pakete von und an den Kronprinzen; Fach 76:5-6: Geschenke von und an den Kronprinzen 11 Protokoll, aufgenommen lt. Judtmann mit Heinrich Graf Taaffe, Sohn des einstigen Ministerpräsidenten, am 18.Oktober 1912 im Präsidium des k.k. Ministeriums des Inneren. 12 Pater Markus Rauchegger O.Cist., ehemaliger Kämmerer des Stiftes Heiligenkreuz, 28.12.1992, gegenüber dem Verfasser 13 Ghislaine Windisch-Graetz, Wien, 18.08.1989, gegenüber dem Verfasser 14 Ferdinande genannt „Nancy“ Baronin Vetsera, geb. 1904, gest. am 24.05.1990 15 SKH Ingenieur Markus Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog von Österreich, geb. am 02.04.1946 16 SKH Dr. Michael Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog von Österreich, geb. am 02.03.1949 17 SKH Johann Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog von Österreich, geb. am 18.09.1947 18 SKH Rosemarie von Habsburg-Lothringen, geb. Prinzessin zu Salm-Salm, Erzherzogin von Österreich, geb. am 13.04.1904 in Potsdam, gest. am 03.05.2001 in Persenbeug 19 Eminenz András József Szennay OSB, frei resignierter Erzabt von Pannonhalma/Ungarn; Erzabt von 1973 bis 1991; geb. 02.06.1921 in Budapest 20 Altabt Gerhard Karl Hradil OCist, frei resignierter Abt des Stiftes Heiligenkreuz, Abt von 1983 bis 1999, geb. am 28.10.1928 in Wien 5
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Grab in Heiligenkreuz raubte: Helmut Flatzelsteiner. In den Wiener Archiven halfen mir OR Dr. Elisabeth Springer, .... und wertvolle Hinweise erhielt ich von Hofrat Dr. Rudolf Neck21. Für ihre aufmerksame und Mut machende Fürsprache danke ich dem ehemaligen Bischof von Essen, Eminenz Dr. Franz Kardinal Hengstbach22, dem ehemaligen Wiener Kardinal, Eminenz Erzbischof Dr. Hans Hermann Kardinal Groër OSB23 und dem emeritierten Gründerprior des Zisterzienserklosters St. Marien in Bochum, Pater Beda Zilch OCist24.
Mein Dank gilt zudem Frau Ingrid Fritz/Wien, der Historikerin Dr. Mona N. Schubert/Kanada, Dr. Maria Tolnay-Kiss25 und Herrn Ingenieur Paul Tolnay/Budapest sowie Frau Elisabeth Koller-Glück und Frau Pai, beide Wien. Zudem wäre dieses Buch ohne die Unterstützung meiner Eltern sicher nie entstanden. Ferner gilt Dank und Anerkennung Herrn Reimer J. Grothusen26 und meiner Frau Stephanie. Jene brachte mich dazu, 1989 erstmals nach Mayerling zu fahren und jener half uns unbürokratisch, diese Fahrt möglich zu machen.
Hattingen an der Ruhr 2009 Lars Friedrich
INHALT
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Neck, Dr. Rudolf, Oberstaatsarchivar im Staatsarchiv Wien Eminenz Dr. Franz Kardinal Hengsbach, 1. Bischof von Essen, geb. am 19.09.1910 in Velmede, gest. am 24.06.1991 in Essen 23 Eminenz Alterzbischof Dr. Hans Hermann Kardinal Groër OSB, geb. am 13.10.1919 in Wien, gest. am 24.03.2003 in St. Pölten 24 Pater Beda Bernd Zilch O.Cist war 13 Jahre lang Prior der Heiligenkreuzer Neugründung in Bochum-Stiepel tätig, ehe er im Sommer 2001 überraschend von Abt Gregor wegen zu „seelsorgerischer“ und angeblich fehlender „monasterischer“ Arbeit abgesetzt wurde. Er ist seither als Pfarrer in Karlstadt-Wiesenfeld, Diözese Würzburg tätig. 25 Tolnay-Kiss, Dr. Maria und Kiss, Paul, Budapest 26 Gründer und bis 1981 Mitinhaber der GROTHUSEN Ges.m.b.H. in Wien 14 22
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Kapitel 1: „Unheimlich ist die Stille 1. Über 1000 Jahre Österreich: Babenberg und Habsburg 2. Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I. 3. Das Kronprinzen-Paar a) Rudolf von Österreich b) Stephanie von Belgien 4. Rudolf – Name, Hofstaat und Kammer 5. Der Kronprinz als Politiker 6. Der Kronprinz als Schriftsteller 7. Der Kronprinz als Ornithologe und Jäger 8. Der Kronprinz als Textdichter 9. Die Familie Vetsera a) Helene b) Albin c) Johanna d) Ladislaus e) Franz 10. Marie Alexandrine Freiin von Vetsera 11. Die Zeitzeugen a) Baltazzi b) Bombelles c) Bratfisch d) Caspar e) Coburg f) Ferenczy g) Hoyos h) Larisch i)
Loschek
j)
Püchel
k) Schuldes l)
Szögyény-Marich
m) Tobis n) Zwerger o) sonstige
Kapitel 2: Stichwort „Mayerling“ 1. Einladung zur Jagd 2. Die Zeit drängt – Sonntag, 27. Jänner 1889 3. Die letzte Wiener Audienz – Montag, 28. Januar 1889 7
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Kapitel 3: Die „Flucht“ nach Mayerling 1. Der Vorsprung a) Tabellarische Zeitübersicht 2. Der Zeitplan der Gräfin Larisch 3. Die Fahrt nach Mayerling
Kapitel 4: Vor der Entscheidung 1. Namensgebung und Namensmythos a) Legenden aus Mayerling b) Persönlichkeiten aus Mayerling 2. Die Geschichte Mayerlings 3. Die Geschichte der Laurentius-Wallfahrt 4. Mayerling zur Zeit des Kronprinzen 5. Das Jagdschloss Mayerling 6. Verdacht und Gewissheit 7. Der letzte Tag – Dienstag, 29. Januar 1889
Kapitel 5: Die Kerzen verlöschen 1. Die Auffindung der Toten – Mittwoch, 30. Januar 1889 2. Die Todesnachricht 3. Die Hofkommission 4. Die Abschiedsbriefe a) Tabellarische Übersicht
Kapitel 6: Die Hofbefehle 1. Die Geschichte des Friedhofes in Heiligenkreuz 2. Das Begräbnis der Baronesse – Freitag, 1. Februar 1889 3. Die Umbettung in die Gruft 4. Die Pressionen gegen die Baronin 5. Die Vetsera-Kapelle 6. Heiligenkreuz im II. Weltkrieg 7. 1959: Ein neuer Sarg a) Tabellarische Übersicht der Quellen 8. Das Watzl-Protokoll 9. Der juristische Aspekt der Beisetzung
Kapitel 7: Denkschriften und Erinnerungen 1.
Das Phänomen der Erinnerung
2.
Angehörige und Freunde erinnern sich
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3.
Persönliche Bedienstete sprechen
4.
Dienstleister und Tatortzeugen erzählen
5.
Angehörige von Tatortzeugen berichten
Kapitel 8: Amtliches und Nichtamtliches 1. Kommuniqués und Obduktionsbefund 2. Der Kampf der Polizei gegen die Presse 3. Der Kronprinz und der Adel 4. Geister, Gauner und Grotesken 5. Legenden um Mayerling a) Der gelbe Koffer b) Rudolf in Polen und an anderen Orten c) Die kanadische Kassette d) Weitere Erzählungen
Kapitel 9: Der „Kampf“ um das kirchliche Begräbnis 1. Die Telegramme Wien – Rom 2. Das Requiem 3. Der Botschafter
Kapitel 10: Vor und hinter den Kulissen 1. Mord oder Selbstmord? 2. Die Geschichte der Kapuzinergruft 3. Habsburgs Totenkult 4. Leichenöffnung Rudolfs 5. Einbalsamierung 6. Wachsmoulage und Totenmaske 7. Aufbahrung und Begräbnis 8. Leichenöffnung Marys 9. Der Widerstand des Klerus: Stellungnahmen der Diözesen 10. Stift Heiligenkreuz 11. Lanz von Liebenfels, Hitler und die Nationalsozialisten
Kapitel 11: Die Verlassenschaftsabhandlung 1. Die Testamente 2. Die Inventur 3. Die Auflösung des Hofstaates 4. György St. Imre 5. Lacroma
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6. Laxenburg 7. Das Erbe des Kronprinzen 8. Der Nachlass der Baroness
Kapitel 12: Das Sühnekloster 1. Die Vorgeschichte 2. Der Orden der Karmelitinnen in Wien 3. Der Bau des Klosters 4. Das Asyl und andere Gebäude 5. Der Karmel St. Josef bis zur Jahrtausendwende 6. Die Kirchen in Mayerling und ihre Kunstwerke
Kapitel 13: Die verschollenen Dokumente 1. Die Kronprinz-Rudolf-Dokumente 2. Graf Taaffe 3. Das Taaffe-Protokoll 4. Die Familie Taaffe heute 5. Das Wassilko-Protokoll 6. Der Krauss-Akt 7. Josef Fitzthum 8. Das Tagebuch der Gräfin Hoyos
Kapitel 14: Verwehte Spuren 1. Die „Mayerling-Papers“ 2. Die Mayerling-Autoren I a) Professor Dr. Ernst Edler von der Planitz/Berlin b) Dr. Oskar Freiherr von Mitis/Wien c) Egon Caesar Conte Corti/Wien d) Professor Dr. Fritz Judtmann/Wien e) Weitere Autoren 3. Der Griff nach der Stephanskrone a) Die Geheimehe b) Die Familie Pachmann c) Die ungarische Thronfolge
Kapitel 15: Die letzten 30 Jahre 1. Die Mayerling-Autoren II a) Dr. Brigitte Hamann/Wien b) Dr. med. Gerd Holler/Baden
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
c) Professor Clemens Maria Gruber/Wien d) Weitere Autoren 2. Heiligenkreuz im 21. Jahrhundert 3. Der Raub der Vetsera a) Zehn Tage im Dezember 1992 b) Helmut Flatzelsteiner 4. Die 3. Umbettung der Vetsera 5. Echte und „unechte“ Nachkommen 6. Mayerling im 21. Jahrhundert 7. Schaustelle Mayerling a) Die Imagothek b) Das Museum 8. Der Kronprinz in Ausstellungen und Museen 9. Stimmen und Zitate zu Mayerling 10. Mayerling im Internet 11. Erinnerungen an den Kronprinzen a) Plätze, Orte und Denkmäler des Kronprinzen b) Medaillen und Münzen c) Gemälde d) Die Kronprinzessin 12. Mayerling im Film und auf der Bühne 13. Musikalisches Mayerling 14. Übersicht zur Mayerling-Literatur
Nachwort 1. Anmerkungen 2. Literaturverzeichnis 3. Personenverzeichnis 4. Nekrolog 5. Bildquellenverzeichnis 6. Maße, Werte, Währung
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
1. Über 1000 Jahre Österreich: Babenberg und Habsburg
„Viribus unitis“
„Mit vereinten Kräften“ Wahlspruch Kaiser Franz Josephs
„Das erste staatliche Gebilde auf dem Gebiet des heutigen Österreichs war das keltische Königreich Noricum, das um 15 v. Chr. großteils in das Römische Reich integriert wurde. Unter der Herrschaft der Römer entstanden zahlreiche Siedlungen, so wie Vindobona (Wien), Iuvavum (Salzburg) oder Brigantium (Bregenz). Mit dem Einfall der Germanen zerbrach das Römische Reich. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts blieb der österreichische Raum Durchzugsgebiet der Wanderungsströme verschiedener Stämme - der Germanen, der Hunnen und Awaren. 800 nach Christi schuf der Frankenkönig Karl der Große zur Grenzsicherung zwischen den Flüssen Enns, Raab und Drau die Karolingische Mark. 976 wurde das Adelsgeschlecht der Babenberger mit der Verwaltung dieses Gebiets belehnt, das 1156 zum Herzogtum erhoben wurde. Der Name „Ostarrichi“ findet sich 996 erstmals in einer Schenkungsurkunde. Als die Babenberger um die Mitte des 13. Jahrhunderts ausstarben, wurden nach einem kurzen Interregnum des Böhmenkönigs Ottokar II. die aus der heutigen Schweiz stammenden Habsburger 1282 mit dem Herzogtum Österreich belehnt. Von diesem Zeitpunkt an ist die Geschichte Österreichs über 600 Jahre bis zum Jahr 1918 mit jener des Hauses Habsburg verbunden.27“ Diese Habsburger also kamen vom Rhein an die Donau und stellten 21 deutsche Könige und römische Kai28
ser . Im Westen begann ihr Aufstieg an die Macht, die mit der Herrschaft in Böhmen (erstmals 1438), Ungarn (erstmals 1526), Spanien (erstmals 1516) und in der Lombardei (erstmals 1815) die ganze europäische Vielfalt widerspiegelte. Und im Osten erfüllte sich 1914 mit den Schüssen von Sarajevo das Schicksal der Großdynastie. Im Kreise der europäischen Herrscherfamilien haben die Habsburger stets eine Sonderstellung eingenommen – auch wenn kein Mitglied der „Casa de Austria29“ heute eine Krone trägt.
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www.eu2006.at Fünf Habsburger herrschten als deutsche Könige, zwölf waren Römische Kaiser und deutsche Könige, sieben regierten als Könige Spanien, 17 herrschten über das Königreich Ungarn, 17 als Könige von Böhmen, vier Mitglieder des Hauses HabsburgLothringen stellten den Römisch-deutschen Kaiser, vier Habsburger beherrschten als Großherzog die Toskana und ebenfalls vier Mitglieder der Linie Habsburg-Este über Modena; vier weitere regierten als Kaiser von Österreich. 29 Casa de Austria (Domus Austriae, Casa d´Austria, Maison d´Autriche): 1306 erstmals nachgewiesene und seit dem 15. Jahrhundert übliche Bezeichnung des Herrschaftsbereichs und der Gesamtdynastie der Habsburger; wurde auch als Ersatz für einen Gesamttitel gebraucht (so noch 1804 bei der Proklamation des Kaisertums Österreich). 28
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Folgt man der zur Mitte des 12. Jahrhunderts gefälschten Gründungsurkunde des Schweizer Klosters Muri, der „Acta Murensia“, ist Guntram der Reiche30 der „Stammvater“ aller Habsburger. Er oder sein Sohn Lanzelin (Landolt) von Altenburg erwarben im Aargau das heutige Eigenamt und, durch einen damals nicht unüblichen Amtsmissbrauch, auch Grundbesitz in Muri. Die Fehde um den Besitz von Muri zwischen Lanzelins Söhnen Radbot, Graf im Klettgau, und Graf Rudolf I. führte 1027 zur Gründung des Klosters Muri – einer Sühne-Stiftung Radbots. In diesem Zusammenhang wurde um 1020/1030 von Radbot und seinem Verwandten, dem Bischof Werner von Straßburg31, auf dem Wülpersberg im Eigenamt eine Burg errichtet – die Habsburg32. Die Burg am Zusammenfluss von Reuß und Aare sowie der nach Rudolfs kinderlosem Tod wiedervereinigte Grundbesitz ging nach Radbots Tod an seine Söhne Otto I., Albrecht I. und Werner I. Werners Sohn, Otto II.33, nannte sich als Erster „Graf von Habsburg“ und seit 1108 wird der Beiname „von Habsburg“ durchgängig genutzt 34. An dieser Stelle weisen wir darauf hin, dass „die“ Habsburger weder zu den Reichsfürsten gehörten, noch mit auswärtigen Dynastien verwandt waren oder ein in sich geschlossenes Territorium beherrschten. Sie waren Grafen mit örtlichen Hoheitsrechten und mussten einen zähen aber letztlich erfolgreichen Kampf um den Ausbau ihrer Position führen, der vielfach durch das Aussterben mächtiger Dynastenfamilien begünstigt wurde. Mit Rudolf von Habsburg35 wurde am 1. Oktober 1273 in Frankfurt am Main ein Mitglied dieser gräflichen Familie zum römisch-deutschen König gewählt und am 24. Oktober in Aachen gekrönt. Rudolfs Besitz erstreckte sich über das obere linke Rheinufer vom Bodensee bis zu den Vogesen und er war bestrebt, diesen Machtbereich in Richtung Osten zu erweitern. Am 26. August 1278 verlor Rudolfs Konkurrent König Premysl Ottokar II. von Böhmen, Herrscher eines mächtigen Reiches zwischen Adria und Ostsee und als Gemahl der Babenbergerin Margarete seit 1252 Herzog von Österreich, in der Schlacht auf dem niederösterreichischen Marchfeld bei Dürnkrut und Jedenspeigen im Kampf gegen Rudolf und den ungarischen König Ladislaus IV. sein Leben. Fortan waren die Habsburger österreichische Landesherren. Rudolf belehnte 1282 seine Söhne, die Herzöge Albrecht I.36 und Rudolf II.37, mit den Besitzungen Österreich, Steiermark, Krain und Windische Mark in Kärnten und errichtete so eine Herrschaft, welche die Familie hier bis 1918 kontinuierlich ausüben konnte. Da die Königskrone nicht erblich dem Hause Habsburg gesichert werden konnte, mussten sich die Habsburger nach Rudolfs Tod 1291 auf den Ausbau ihrer Hausmacht konzentrieren: 1335 wurde Kärnten, 1363 Tirol, 1368 Freiburg im Breisgau und 1382 Trieste erworben. Gleichzeitig verloren die Habsburger nach dem Tode Rudolfs I. in ihren
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Er ist, nach Lesart der Gemeinde Habsburg, möglicherweise mit einem 952 bezeugten Grafen gleichen Namens im Elsass identisch ist. Stimmt dies, so stammen die Habsburger von den fränkischen Herzögen der Etichonen ab. 31 Werner von Straßburg, 1002-1028 32 Die Habsburg in der Schweiz ist der namensgebende Stammsitz der Herrscher-Dynastie, die in der frühen Neuzeit über ein Weltreich herrschte, das neben europäischen Ländern auch Kolonien in Afrika, Asien und Amerika umfasste. Namensgebung: Havichsberch (1108), Havekgesperch (1150); Habisbruch (1213), Habsburc (1238/39). Der Legende Nach der Legende gab Radbot der Burg den Namen „Habichtsburg“, als sich ein zur Familie der Habichte gehörender Falke bei einem Jagdausflug auf dem Schlossgemäuer niederließ. 33 Otto II. gest. 08.11.1111 34 Der spätere Kaiser Rudolf residierte aus geographischen Gründen allerdings schon nicht mehr auf der Habsburg und spätestens ab Mitte des 13. Jahrhunderts war die Burg auch für seine Nachkommen als Residenz ungeeignet und sie wurde von Dienstherren als Lehen genutzt. 1804, nach fast 300-jähriger Zugehörigkeit zum Kanton Bern, wurde die Habsburg vom jungen Kanton Aargau erworben und mehrfach restauriert. 35 Rudolf I., römisch-deutscher König, geb. 01.05.1218, gest. 15.07.1291 in Speyer, begraben im Dom zu Speyer. 36 Albrecht I., römisch-deutscher König, geb. 1255, ermordet 01.05.1308 bei Brugg an der Reuß, begraben zunächst im Zisterzienserkloster Wettingen und 1309 in den Dom zu Speyer überführt 37 Rudolf II., Herzog, geb. 1270, gest. 10.05.1290 in Prag, begraben in der Prager Burg und 1373 in den Veitsdom überführt. 13
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Schweizer Stammlanden den Kampf gegen die Eidgenossenschaft. Mit dem feierlichen Verzicht auf alle Ländereien, welche die Eidgenossen zwischenzeitlich erworben hatten, endete 1474 die Kraftprobe der Habsburg gegen den Eidgenössischen Bund in der Schweiz. 1356 fühlte sich Herzog Rudolf IV.38, genannt „der Stifter“, bei der Festlegung des Kurfürstenkollegs übergangen und reklamierte zwei Jahre später mit einem gefälschten Freiheitsbrief, dem „Privilegium majus“, seine Sonderstellung als Pfalzerzherzog. 1453 wurde diese angemaßten Würden – allen voran das Tragen des Titels eines „archidux“ (Erzherzogs) – durch den ein Jahr zuvor in Rom durch den Papst gekrönten römisch-deutschen Kaiser Friedrich III.39 zum Gesetz erklärt. Ab 1438 – ausgenommen die Regentschaft des Wittelsbacher Karl VII. 1742 bis 1745 – bis zur Aufhebung des Alten Reiches 1803/1806 stellte die Familie der Habsburger nun den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Eine durch Friedrich III. begründete geschickte Heiratspolitik garantierte den Nachkommen Macht über ein riesiges Reich: Philipp II.40 war in der Mitte des 16. Jahrhunderts so zum mächtigsten Herrscher in Europa geworden. 1804 folgte dem Alten Reich das österreichische Erbkaisertum, das Franz II. noch vor Niederlegung der römischen Kaiserkrone für sein Herrschaftsgebiet proklamierte. Die Macht der Familie, nach Aussterben der männlichen Linie 1740 mit Kaiser Karl VI. durch die „Pragmatischen Sanktionen“ als neu gegründetes Haus Habsburg-Lothringen auch in weiblicher Erbfolge gesichert, konnte jedoch auf Dauer nicht gehalten werden – es bröckelte ebenso wie die Stellung des Kaiser als Oberhaupt der Familie. Niemand zuvor musste den Niedergang des Erzhauses Habsburg so intensiv miterleben wie in seinen 68 Regierungsjahren Kaiser Franz Joseph41, zu dessen Gunsten 1848 sein Onkel Ferdinand „der Gütige“ abgedankt hatte. Zunächst noch konnte Franz Joseph I., überzeugt von seiner monarchischen Sendung und dem Gottesgnadentum seiner Herrschaft, mit Gewalt die revoltierenden Länder zusammenhalten, doch 1859 verlor sein Reich die Lombardei und die Großherzogtümer Toskana und Modena sowie 1866 Venetien. Mit der Niederlage gegen die Preußen 1866 bei Königgrätz bröckelte nicht nur das österreichische Selbst- und das kaiserliche Sendungsbewusstsein: durch den „Ausgleich“ mit Ungarn 1867 trat an die Stelle des „Kaisertums Österreich“ nun die Doppelmonarchie „Österreich-Ungarn“ als „k.u.k.“-Staat mit zwei Hauptstädten, einem komplizierten Regierungs- und Finanzsystem und vor allem einer Vorrechtstellung für Deutsche und Magyaren gegenüber den anderen Nationalitäten im Vielvölkerstaat. Der Imagegewinn, den sich Franz Joseph 1908 durch die Annexion der ehemals türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina erhoffte, trat nicht ein und brachte statt dessen eine akute Kriegsgefahr mit sich. Dieses „hausgemachte“ Nationalitätenproblem mündete in den Ersten Weltkrieg, den im Juli 1914 der 84jährige Kaiser mit einer Kriegserklärung an Serbien begann. Sein Nachfolger, der österreichische Kaiser Karl I.42, verzichtete am 11. November 1918 auf jede Beteiligung an der Regierung im verbleibenden „Deutsch-Österreich“ – nicht jedoch auf den Thron. Am 23. März 1919 verließ Karl auf Drängen der neuen österreichischen Regierung das Land und ging ins Exil – in die Schweiz, wo die Wurzeln der Familie lagen. Eine Rückkehr an die Macht – zumindest in Ungarn – scheiterte gleich zweifach und am 6. November 1921 beschloss die ungarische Nationalversammlung, dem 38
Rudolf IV., geb. 01.11.1339 in Wien, gest. 27.07.1365 in Mailand, begraben in der Fürstengruft von St. Stephan/Wien. Friedrich III., Kaiser (als deutscher König Friedrich IV., als Herzog Friedrich V.), geb. 21.09.1415 in Innsbruck, gest. 19.08.1493 in Linz, begraben im Wiener Stephansdom 40 Philipp II., spanisch Felipe II., geb. 21.05.1527 in Valadolid, gest. 13.09.1598 im Escorial, begraben im Pantheon der Könige im Kloster San Lorenzo im Escorial 41 Franz Joseph, Kaiser von Österreich, geb. 18.08.1830 in Wien, gest. 21.11.1916 in Wien, begraben in der Kapuzinergruft Wien. 42 Karl I., Kaiser von Österreich (als ungarische König Karl IV. und als böhmischer König Karl III.), geb. 17.08.1887 in Persenbeug/NÖ, gest. 01.04.1922 auf Madeira, begraben in Nossa Senhora do Monte auf Madeira. 39
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einstigen König Karl V. die Thronrechte zu entziehen. Karl starb 1922 mit 35 Jahren auf Madeira an einer Grippe. Zuvor jedoch hatte die Nationalversammlung am 3. April 1919 mit dem „Habsburgergesetzt“ für alle Zeiten der Familie das Herrschaftsrecht für verlustig erklärt. Als erster und einziger Kaiser aus dem Haus Habsburg wurde Karl von Österreich am 3. Oktober 2004 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen. Während Karls Gattin Zita43 zeitlebens den Thronanspruch aufrecht erhielt und erst 1982 als Einundneunzigjährige für einen privaten Besuch nach Österreich zurückkehren durfte, verzichtete der 1912 geborene Kronprinz und Thronfolger, Otto44, im Jahre 1961 auf seine Thronrechte. Die letzte Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn verstarb 1989 im St. Johannes-Stift45 in Zizers im Schweizer Kanton Graubünden – nahe jenem Ort, an dem rund 970 Jahre zuvor mit dem Bau der Habichtsburg ihre Familie ihren Namen fand. „Mit dem Ende des Kalten Krieges rückte Österreich von seiner Randlage im demokratischen Europa in das Zentrum eines größeren Europa mit neuen Formen partnerschaftlicher Koexistenz. Österreich reagierte darauf mit einer forcierten Nachbarschaftspolitik und intensiven Bemühungen um einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus (1989) intensivierten sich die Beziehungen zu den Ländern Ost- und Südosteuropas. Im Jugoslawien-Konflikt zu Beginn der neunziger Jahre drängte Österreich mit Deutschland 1991 auf eine rasche Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Enge wirtschaftliche und politische Beziehungen wurden zu den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien ebenso wie zu den Staaten Mittel- und Osteuropas aufgebaut. Vor diesem Hintergrund vollzog Österreich 1995 eine bedeutende Weichenstellung: Seit 1. Jänner ist Österreich Mitglied der Europäischen Union (EU) sowie Beobachter bei der Westeuropäischen Union (WEU).46“
43 Zita, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, geb. 09.05.1892 in Pianore, Lucca/Italien, gest. 1989 in Zizers/Schweiz, begraben in der Kapuzinergruft Wien 44 Otto, geb. 20.11.1912 in Reichenau/NÖ 45 Zita bewohnte seit 1962 einige Räume im St.-Johannes-Stift, einem kirchlich geführten Altenheim. Über ihrem Sterbebett hing jenes Kreuz, unter dem Kaiser Karl gestorben war; es befindet sich heute in Privatbesitz in Deutschland. 46 www.eu2006.at
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
2 Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I.
„Ihr lieben Völker im weiten Reich, So ganz in geheimen bewundre ich euch: Da nährt ihr mit eurem Schweisse und Blut Gutmütig diese verkommene Brut!“
Kaiserin Elisabeth Gedicht, Januar 1887 „Moral“, in „Eine wahre Geschichte“
„Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Monarchie schweren Erschütterungen ausgesetzt gewesen. Es begann mit der Revolution 1848, der 1849 der Kampf mit Ungarn folgte. Die Nationen des Vielvölkerstaates waren erwacht. Diplomatische und militärische Misserfolge erschütterten das Reich in den folgenden Jahren: Im Krimkrieg 1853-1856 machte sich Österreich Russland zum Feind, 1859 ging die Lombardei verloren, 1866 Venetien, und nach der Niederlage von Königgrätz im Kampf gegen Preußen büßte Österreich im gleichen Jahr die Vorherrschaft im Deutschen Bund ein. Für die Verdrängung aus Italien und Deutschland suchte Österreich in der Folge Kompensation auf dem Balkan.47“ Mit- und vielleicht sogar hauptverantwortlich für diese Politik der Niederlagen war Kaiser Franz Joseph I.48, der nach dem ungarischen Ausgleich von 186749 auch Apostolischer König des magyarischen Reiches geworden war. An dieser politischen Entscheidung, welche die Monarchie in eine österreichische und eine
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Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Franz Joseph I., geboren am 18.08.1830 in Wien-Schönbrunn, gestorben am 21.11.1916 in Wien-Schönbrunn, ältester Sohn von Erzherzog Franz Karl und Prinzessin Sophie von Bayern; ab 02.12.1848 Kaiser von Österreich. Nahm bei der Thronbesteigung den Doppelnamen Franz Joseph I. an (ursprünglicher Name Franz). In jungen Jahren stand er stark unter dem Einfluss seiner Mutter und anderer Ratgeber, hatte großes Pflicht-, aber auch Sendungsbewusstsein. Am 24.04.1854 heiratete er Prinzessin Elisabeth in Bayern. Der äußerst schwierigen Ehe entstammten 4 Kinder. Unter dem Einfluss seiner Frau stimmte er 1867 dem österreichisch-ungarischen Ausgleich mit Ungarn zu. Er begann als absoluter Monarch, respektierte später aber alle Verpflichtungen aus der Verfassung und regierte als konstitutioneller Herrscher. Durch viele politische Fehlentscheidungen vorsichtig geworden und durch persönliche Schicksalsschläge (Erschießung seines Bruders Maximilian in Mexiko 1867, Tod seines Sohnes Rudolf 1889, Ermordung seiner Gattin 1898) schwer geprüft, konzentrierte er sich auf seine Aufgaben und zog sich zurück. Er wurde zum Symbol der österreichisch-ungarischen Monarchie schlechthin. Nach dem Scheitern seiner Ehe ging er eine enge Beziehung mit der Schauspielerin Katharina Schratt ein. In den letzten 20 Jahren seines Lebens war er die politische Integrationsfigur des Vielvölkerstaates und wurde von vielen Zeitgenossen als einzige Stütze seines Zusammenhalts gesehen. Im Alter starrsinnig geworden, widersetzte er sich allen Reformen, unterschrieb aber 1914 doch das Ultimatum und die Kriegserklärung an Serbien. Er fühlte sich in erster Linie als Beamter und Soldat, war frommer Katholik, aber tolerant. Trotz der kulturellen Höhepunkte, die in seine Epoche fallen, war er wenig kunstinteressiert. 49 Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bildete ab 1867 einen Staatenbund unter der Führung eines Monarchen. Die gemeinsamen Angelegenheiten besorgten 3 Reichsministerien (Außen-, Kriegs- und Finanzministerium), aus jedem Parlament wurden 60 Mitglieder für die gemeinsamen Angelegenheiten und die Aufteilung der Beiträge (Quoten) gewählt. Jede Reichshälfte hatte eine Verfassung, ein aus 2 Kammern bestehendes Parlament, eine Regierung sowie eine eigene Verwaltungsstruktur. Die westliche Reichshälfte (Zisleithanien, offizielle Bezeichnung: "die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder") hatte bis 1879 libe48
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ungarische Reichshälfte teilte, war Elisabeth50, die Gattin der Erbkaisers, viertes Kind des Herzogs Maximilian in Bayern und der bayerischen Königstochter Maria Ludowika, maßgeblich beteiligt. Am 24. April 1854 war die Ehe zwischen dem „Ersten Beamtens eines Staates“ und seiner Cousine vor dem Hintergrund der revolutionären Krise gefeiert worden, um dem Haus und der Dynastie Habsburg mit der schnellen Geburt eines Thronfolgers „eine Zukunftsperspektive zu geben51“. Die Ehe zeichnete sich anfänglich durch große Leidenschaft aus, und vier Kinder erblickten das Licht der Welt: 1855 Sophie (gestorben 1857), 1856 Gisela, 1858 Rudolf und 1868 Marie Valerie. Doch schon bald verlor die Ehe der Wittelsbacherin Prinzessin mit dem Habsburger Kaiser ihr Traumhaftes und Elisabeth ging auf Distanz zu Franz Joseph und dem Wiener Hof. Sie suchte ihre Selbstverwirklichung als Person – nicht als Kaiserin – im Reitsport und der Dichtkunst und nahm ihre Pflichten als Kaiserin kaum zur Kenntnis. Nach Konflikten mit ihrer Schwiegermutter um Repräsentations- und Erziehungsfragen hielt sie sich fern vom Wiener Hof und lebte meist in ihrem ungarischen Schloss in Gödöllö52, einem Geschenk des magyarischen Volkes an seine Königin. Nach Rudolfs Tod entfernte sich die wandelnde „Schmerzensmutter“ noch weiter von Pflicht und Familie, erkrankte an Depressionen und litt unter Selbstmordfantasien. Der Dolchstoß, mit dem der Italiener Luigi Lucheni53 1898 in Genf ihrem Leben ein Ende bereitete, dürfte für die lebensüberdrüssige Kaiserin und Königin eine Erlösung gewesen sein. Auch die „engelsgleiche“ Kaiserin und Königin vermochte nicht die düsteren Wolken zu verjagen, die der Politik der Franzisko-josephinischen Ära54 erwuchsen, denn mit ihrem Einsatz für den ungarischen Ausgleich55 erschöpfrale Regierungen, die die Aufhebung des Konkordats von 1855, das Reichsvolksschulgesetz von 1869, eine neue Strafprozessordnung 1872 und die Einrichtung des Verwaltungsgerichtshofs 1875 durchsetzen 50 Elisabeth Amalie Eugenie, geboren am 24.12.1837 in München (Deutschland), gestorben am 10.09.1898 in Genf (Schweiz; ermordet), Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, Tochter von Herzog Max in Bayern; ab 1854 Gattin von Kaiser Franz Joseph I. Am Wiener Hof nie ganz glücklich, hatte sie große Sympathien für das ungarische Volk und setzte sich 1866/67 verstärkt für den Ausgleich mit Ungarn ein. Nach dem Selbstmord ihres Sohnes Kronprinz Rudolf 1889 dehnte sie ihre schon früher gepflegte Reisetätigkeit noch weiter aus. 51 Heimann, Heinz-Dieter, „Die Habsburger – Dynastie und Kaiserreiche“, C. H. Beck-Verlag, München, 2. Auflage 2004 52 Gödöllö liegt 30 Kilometer nord-östlich von Budapest, seit 1966 Stadt. Königliches Schloss: errichtet nach 1733 nach Plänen und unter Leitung von Andreas Mayerhofer (geb. 1690 in Salzburg, gest. 1771) durch Antal I. Graf Grassalkovich (geb. 1694, gest. 1771); kam nach Aussterben der Linie Grassalkovich 1850 in den Besitz des Bankiers Sina, der es 1864 an eine belgische Bank veräußerte. 1867 erwarb die ungarische Regierung das Schloss zurück und stellet es nach Parlamentsbeschluss dem jeweiligen König zur Verfügung; 1919 war Gödöllö Hauptquartier der Ungarischen Räte-Republik. Von 1920 bis 1944 Sommerresidenz des Reichsverwesers; 1944 verwüsteten deutsche Truppen das Schloss, in das später ein russisches Feldlazarett einzog. Ab 1950 waren sowjetische und ungarische Soldaten in den Gebäuden stationiert, später wurden dort ein Altenheim und Notwohnungen eingerichtet; 1981 Verabschiedung des Schlossprogramms des Landesaufsichtsamtes für Denkmalschutz, 1986 bis 1991 erste Sanierung; 1990 Auszug der letzten Soldaten der Sowjetarmee aus dem Südflügel und Schließung des Altenheimes; 1994 Räumung der Notwohnungen und Beginn umfangreicher Renovierungsarbeiten unter Leitung des Ingenieurbüros Mahill; 17.08.1996 Eröffnung des Hauptflügels mit den 23 Räumen des neuen Schlossmuseums; 1998 Eröffnung der Königin Elisabeth Gedächtnisausstellung und Start der Rekonstruktion des Barockgartens; 53 Lucheni, Luigi, (geb. am 22.04.1873 in Parigi/Italien, gest. am 19.10.1910 in Genfer Haft - Selbstmord) 54 Aufgrund der langen Regierungsdauer von Franz Joseph und der großen Veränderungen ist diese Ära sie in sechs Abschnitte zu gliedern: der Neoabsolutismus von 1848 bis 1860 (Niederwerfung Ungarns und der Lombardei, die Aufrechterhaltung der Führung im Deutschen Bund sowie die Ausschaltung des 1848 gewählten Parlaments), die Übergangsperiode von 1860 bis 1867 (erfolgloses Bemühungen, eine konstitutionelle Monarchie mit Einbeziehung Ungarns zu installieren), die liberale Epoche von 1867 bis 1879 (stürmische Wirtschaftsentwicklung mit Eisenbahnbau und Gründerzeit, die 1873 von einer Rezession abgelöst wurde. Im Zeichen des Liberalismus wandelte sich Österreich zum modernen Staat mit industrieller bürgerlicher Gesellschaft), die „Periode des Fortwurstelns" bzw. des politischen Aufbruchs des Volkes von 1879 bis 1893 (Ära Taaffe mit der Rückkehr der Tschechen in den Reichsrat, die Entstehung deutschnationaler Strömungen, die Ausdehnung der politischen Mitsprache und die politische Organisation niedrigerer Volksschichten wie Arbeiter, Bauern, Kleinbürger), die Zeit der heftigen Nationalitätenkämpfe und der Demokratisierung von 1893 bis 1914 (Ab 1893 erfolgte der Übergang zur Massendemokratie (Eintritt der Volksmassen in die Politik) mit starken nationalen und sozialen Gegensätzen. Stationen dieser Entwicklung waren die Wahlrechtsreformen 1897 und 1907, durch die die Sozialdemokraten zu einem staatspolitischen Faktor wurden und auch eine föderalistische Umgestaltung des Staates angestrebt werden sollte) sowie der 1. Weltkrieg und das Ende der Monarchie. 55 Mit dem am 15.03.1867 abgeschlossenen Vertrag über das staatsrechtliche Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn wurde das bisherige Kaisertum Österreich in die so genannte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt. 17
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te sich das politische Engagement der Kaiserin56, die in den 60-er Jahren als die „schönste Monarchin der Welt“ galt. „1878 besetzten österreichisch-ungarische Truppen Bosnien und die Herzegowina. 1879 wurde Eduard Graf Taaffe zum Ministerpräsident ernannt und mit Bildung einer Koalitionsregierung betraut, der er 14 Jahre lang führte. Mit ihm wurde die deutschliberale Ära durch eine eher slawenfreundliche Politik abgelöst. 1879 schloss Österreich-Ungarn mit Deutschland den Zweierbund, der 1882 durch Beitritt Italiens zum Dreierbund erweitert wurde.57“ Schon allein durch die Dauer seiner Regentschaft – der 1830 geborene Franz Joseph saß 68 Jahre auf dem österreichischen Thron – bescherte der Kaiser, aus heutiger Sicht DAS Symbol der Donaumonarchie, seinem Reich dynastische und politische Krisen. Auch familiär bröckelte das Haus Habsburg: Franz Joseph musste nicht nur das Ausscheiden der Erzherzöge Ferdinand Karl58, Johann Salvator59 und Leopold Ferdinand Salvator60 aus dem Familienverbund akzeptieren, sondern auch das Scheitern der eigenen Ehe anerkennen: als sich Elisabeth dem Regenten entfernte, näherte er sich anderen Frauen – wie Anna Nahowski und ab 1883 mit Billigung Elisabeths der Burgschauspielerin Katharina Schratt61, die – einzelnen Quellen folgend – nach Elisabeths Tod in einer Geheimehe die zweite Ehefrau des Kaisers wurde.
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Der volle Umfang von Elisabeths politischem Engagement kann man vermuten, wenn man ihren wichtigsten bisher bekannten politischen Brief vom 14. Juli 1866 an den ungarischen Hofkanzler Georg v. Mailáth in Wien liest: „Lieber Herr von Mailáth ...Vor allem eine Bitte, seien Sie mein Stellvertreter beim Kaiser, übernehmen Sie mein Amt, dem Kaiser die Augen zu öffnen über die Gefahr in die er sich unwiederbringlich stürzt, wenn Er noch immer keine Concessionen an Ungarn machen will, seien Sie unser Retter, darum beschwöre ich Sie jetzt im Namen unseres armen Vaterlandes und meines Sohnes - und zähle dabei auch auf die Freundschaft, die Sie, wie ich mir vielleicht einbilde, doch ein wenig für mich fühlen. Das Zugeständnis, zu dem ich den Kaiser zu bewegen trachtete, das er mir aber leider noch nicht machte, ist, die jetzigen Regierungs-Männer zu entlassen und als Minister des Äußeren Gf. Gyula Andrássy zu ernennen. Dies wäre eine Concession an Ungarn ohne sich durch Nachgeben jetzt zu compomittieren. Seine Popularität im Lande würde beruhigend und vertrauenserweckend wirken und das Königreich ruhig halten, bis endlich die Verhältnisse erlauben, dass die inneren Zustände geregelt werden. Was seine Tätigkeit für das Äußere betrifft, wird wohl ein Mann, der so lang im Ausland war, so viel durchgemacht hat, glücklichere Erfolge erzielen, als bisher Andere mit all ihrer Ehrlichkeit und guten Willen erlangten. Ist der Kaiser zu diesem durchaus nicht zu bewegen, so sollte Er wenigstens Andrássy zum Minister Ungarns machen. Für jetzt ist ja das größte Bedürfnis, dass das Land beruhigt und durch einen Mann, der ihm die Bürgschaft einer besseren Zukunft gibt, dahin gebracht wird, dass es alle Kräfte, über die es nur zu gebieten vermag, dem Kaiser stellt. Wenn solche Freiwilligen Corps auch keine Armee wie die preußische schlagen können, so halten sie sie doch wenigstens für kurze Zeit auf, und sind so viele unruhige Elemente aus dem Land gezogen, dass dieses, sei nun das Ende des Krieges glücklich oder unglücklich, so geschwächt sein wird, dass der Landtag gewiss ruhiger und anstandsloser zu Ende geführt werden kann, als es selbst vor dem Krieg der Fall gewesen wäre. Das sind Zugeständnisse, zu denen in zwei kurzen Tagen den Kaiser vergeblich zu überreden trachtete. In Ihre Hände lege ich nun Alles, Ihr Verstand, Ihre Überredungskraft werden mehr nützen als meine Bitten und Thränen. Wären nur Sie allein immer gewesen, wie anders stünde jetzt Alles, aber da wir nun einmal so weit sind, so gehen Sie wenigstens nicht ohne den Einfluss des Grafen Esterházy gebrochen zu haben, ohne das Resultat erzielt zu haben, dass er vom Kaiser entfernt ist, dessen wohlgemeinter aber verderblicher Rath so viel Unglück über uns bringt. Ohne Rücksicht habe ich mich an Sie gewendet, mein Vertrauen kann ich nur ganz oder gar nicht geben. Bringen Sie das zu Wege, was mir nicht gelang, dann werden Millionen Sie segnen, mein Sohn aber täglich für Sie bethen, wie für seinen größten Wohltäter. ...“; dieser 7 ½seitige Brief der Kaiserin war bisher nicht bekannt und wurde am 21. Dezember 2005 im Wiener Palais Dorotheum versteigert. 57 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 58 Erzherzog Ferdinand Karl, geb. 27.12.1868 in Wien, gestorben 12.03.1915 München (Deutschland), Bruder des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und Neffe von Kaiser Franz Joseph I. Sein Interesse galt vor allem dem Theater, doch war er bis 1904 Offizier. Wegen eines Verhältnisses mit Berta Czuber, die er 1909 heimlich heiratete, veranlasste Kaiser Franz Joseph 1904 sein Ausscheiden aus dem Heeresdienst und 1911 seinen Austritt aus dem Haus Habsburg. Nach dem Reisepseudonym seines Vaters nannte er sich seither Ferdinand Burg und lebte auf ererbten Gütern in Südtirol. 59 Erzherzog Johann Salvator, geb. 25.11.1852 in Florenz (Italien), 1891 verschollen und 1911 für tot erklärt, jüngster Sohn von Großherzog Leopold II. von Toskana. Verzichtete 1889 freiwillig auf seinen Titel und nannte sich seither Johann Orth, heiratete 1889 in England die Balletttänzerin der Wiener Hofoper Milli Stubel. Unternahm 1890 mit einem Segelschiff eine Weltreise und kam wahrscheinlich vor der südamerikanischen Küste um. 60 Erzherzog Leopold Ferdinand Salvator, geb. 02.12.1868 in Salzburg, gest. 04.07.1935 Berlin (Deutschland), ältester Sohn von Großherzog Ferdinand IV. von Toskana. Verzichtete 1902 auf Titel und Rechte eines Erzherzogs und nannte sich seither Leopold Wölfling. 61 Schratt, Katharina, geb. 11.09.1853 in Baden (Niederösterreich), gest 17.04.1940 in Wien, Schauspielerin; ab 1873 am Wiener Stadttheater, 1883-1900 am Burgtheater, ab 1887 Hofschauspielerin, ab 1893 lebenslängliches Mitglied des Burgtheaters. 18
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Während Wirtschaft und Kultur in dieser Zeit eine Blüte erlebten und Industrie und Technik, Wissenschaft und Kunst aufblühten, trug die schrittweise Liberalisierung und Demokratisierung erste Früchte. Die allgemeine Lage schien hoffnungsvoll... Dennoch: Franz Joseph wollte kein Risiko eingehen – als hätte er Angst, sein Reich würde beim nächsten Schicksalsschlag zusammenbrechen.
Da es sowohl zu Kaiserin und Königin Elisabeth, als auch zu Kaiser und König Franz Joseph I. und seine Ära ausgezeichnete Literatur gibt – und beide Personen nicht Gegenstand unserer Forschung waren – werden wir an dieser Stelle nicht näher auf diese beiden sicher sehr interessanten historischen Persönlichkeiten eingehen und verweisen vielmehr auf in diesem Bereich berufenere Quellen.
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
3. A: Rudolf von Österreich
„Er ist noch ein sprudelndes Gemüt und hat das Herz leicht auf der Zunge“
Friedrich Baron Beck-Rzikowski, Generalstabschef über den Kronprinzen Gödöllö o.D.
„Am 30. Jänner 1889 wurde der einzige Sohn Kaiser Franz Josephs und Kronprinz von Österreich-Ungarn, Erzherzog Rudolf, in seinem Jagdschloss in Mayerling unter mysteriösen Umständen neben der Leiche der 18jährigen Baroness Mary Vetsera62 tot aufgefunden.63“ Er wurde „am 21. August 1858 [um 22.15 Uhr] als drittes Kind des Kaisers Franz Joseph und der Kaiserin Elisabeth im Schloß Laxenburg bei Wien geboren. Dem zarten, nervösen Kind wurde eine äußerst sorgfältige Erziehung zuteil, die ihm aber ein Übermaß an Arbeit und Anstrengung aufbürdete. Ausgewählte Lehrer erteilten ihm Unterricht in den verschiedensten Fächern; seine Tage waren so ausgefüllt, dass er kaum Zeit fand, seine Eltern zu sehen. Selbst das Familienleben war im Lehrplan eingebaut. So hieß es in den Stundenplänen: 10-11 Uhr: zu den Majestäten.64“ Nachdem die streng militärische Erziehung65 des kränklichen und zugleich hochsensiblen Kronprinzen im Jahre 1865 nach ultimativer Forderung seiner Mutter abgebrochen wurde, erzogen liberale und bürgerliche Lehrer wie Josef Zhisman66, Hyazinth von Rónay67, Anton Gindely68, Hermenegild Jirecek Ritter von Samokov69, Dionysius Grün70,
62 An dieser Stelle irrt Judtmann. Mary Vetsera wurde am 19.03.1871 geboren und war somit zum Zeitpunkt ihres Todes 17 Jahre alt. 63 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 64 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 65 u.a. durch Wagner, Carl, Oberstleutnant: Terrainlehre, Waffenlehre, Heeresorganisation; von Grünewald, Oberstleutnant: Reglement der Fußtruppen und Exerzieren; von Rößler, Oberstleutnant: Feldbefestigung, permanente Befestigung, Festungskrieg; Kraus, Anton, Major: Exerzieren im Bataillon; Kerchnawe, Hugo, Hauptmann: Pionierdienst; Rheinländer, Oberst: Taktik und Strategie; Ritter von Eschenbach, Hauptmann: Reglement für Artillerie und Exerzieren mit der Batterie; Flügeladjutant Freiherr von Gemmingen, Major: Kavallerie-Reglement. 66 Zhisman, Josef; Slowene, stammt aus ärmlichen Verhältnissen, Professor am Theresianum, ab 1871 Ordinarius für Kirchenrecht an der Uni Wien; unterrichtet den Kronprinzen in Geschichte und Latein. Veröffentlichungen: „Die Unionsverhandlungen zwischen der orientalischen und römischen Kirche seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts bis zum Kodizill von Ferrara“, Wien 1858. 67 Rónay, Hyazinth von; Benediktinermönch, Titularbischof, Freimaurer; unterrichtet den Kronprinzen in ungarischer Geschichte. 68 Gindely, Anton, Historiker, Landeshistograph, geb. 1829, gest. 1892; unterrichtet den Kronprinzen auf Forderung der Tschechen ab 1873 in böhmischer Geschichte, Werke: „Über die dogmatischen Ansichten der böhmisch-mährischen Brüder, nebst einigen Notizen zur Geschichte ihrer Entstehung“, Wien 1854, „Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für die unteren Klassen der Mittelschulen“, Prag 1877, „Geschichte des dreißigjährigen Krieges in drei Abteilungen“, Prag 1882, „Lehrbuch der Geschichte
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Matthias Wretschko71, Professor Dr. Josef Krist72, Ferdinand Hochstetter73, Adolf Exner74 und Karl Menger von Wolfensgrün75 den Erzherzog. Ob auch der deutsche Siegfried Marcus zu diesen Lehrern des jungen Kronprinzen gezählt werden kann, ist nicht eindeutig belegt76. Diese in seiner Jugend vermittelten liberalen Ansichten, denen er zeitlebens treu blieb, brachte Rudolf immer wieder in schwere Konflikte mit dem konservativen, vom Spanischen Zeremoniell geprägten Wiener Hof, der dem „ständige Drang nach Veränderung des Bestehenden, nach Fortschritt in allen Bereichen des menschlichen Lebens77“ fern stand. „Im Alter von 15 Jahren widmete [Rudolf] seinem Erzieher Latour ein Heft mit dem Titel „Einzelne Gedanken“, in dem sich erstaunliche Idee finden, die bezeugen, da0ß der Frühreife durch die auf ihn einstürmenden Probleme in einem gefährlichen Seelischen Aufruhr geraten war.78“ Als Beleg für die These der inneren Zerrüttung zitiert Judtmann den Erzherzog mit folgenden Worten: „Durch meinen Kopf streichen Gedanken aller Art, es sieht wüst
für Bürgerschulen. Ausgabe für Knabenschulen“, Prag 1886, „Waldstein während seines ersten Geralats im Lichte der gleichzeitigen Quellen 1625 – 1630“, 1886 69 Samokov, Hermenegild Jirecek Ritter von; geb. 1827, gest. 1909; unterrichtet den Kronprinzen in tschechischer Sprache. Veröffentlichungen: „Entstehen christlicher Reiche im Gebiete des heutigen österreichischen Kaiserstaates vom J. 500 bis 1000“, Wien 1865, „Über Eigenthumsverletzungen und deren Rechtsfolgen nach dem altböhmischen Rechte. Ein Beitrag zur Geschichte des Rechtes in Österreich“, Wien 1855, „Geographische Dichter – Bilder“, Wien 1881, „Unser Reich zur Zeit der Geburt Christi. Zweite Studie zum Historischen Atlas der Österreichisch-ungarischen Monarchie“, Wien 1896 70 Grün, Dionysius, geb. 1872, gest. 1875; in Mähren als Sohn jüdischer Eltern geboren, später Übertritt zum Katholizismus, Professor der Deutschen Universität Prag; unterrichtet den Kronprinzen in Geographie. 71 Wretschko, Matthias, geboren in der Steiermark; unterrichtet den Kronprinzen in Botanik. Werke: „Vorschule der Botanik für den Gebrauch an höheren Klassen d. Mittelschulen u. verwandter Lehranstalten“, Wien 1917. 72 Krist, Professor Dr. Josef, geb. 05.04.1830 in Altendorf/Stará Ves (Mähren), gest. 13.12.1899 in Graz; Realschullehrer; Wien, Schulreformer, Kustos am Physikalisch-astronomischen Hofkabinett, Landesschulinspektor für Niederösterreich und Oberösterreich, unterrichtete den Kronprinzen in Naturgeschichte und führte seine sexuelle Aufklärung von 1866 bis 1876 durch; Werke: „Über Telegraphie, speciel über den Typendruck-Telegraphen von Hughes. Ein populärer Vortrag“, Wien 1869; Teilnachlass in der Handschriftensammlung, ca. 35 Inventarnummern: Erinnerungen an Kronprinz Rudolf von Österreich. - Briefe an und Briefentwürfe von Krist (Verzeichnung: Zettelkatalog, Ankauf 1891). 73 Hochstetter, Ferdinand, geb. 05.02. 18461 in Schlesien, gest. 1954, beigesetzt am 20.11.1954 auf dem Grinzinger Friedhof in Wien (Gruppe MR/11); Universitätsprofessor, Hofrat, Geologe und Geophysiker, Präparator; studiert an der Wiener Universität und habilitierte sich als Privatdozent für Anatomie. 1896 bis 1908 wirkte er als 1. Dekan des Instituts für Anatomie der Universität Innsbruck, von wo er nach Wien berufen wurde. Im Studienjahr 1910/11 Dekan der medizinischen Fakultät, 1932 Emeritierung. Hochstetter, Mitglied der Österreichischen und Bayrischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Naturforscher in Halle und der Königlichen physiologischen Gesellschaft in Lund, verfasste Werke wie „Zur Entwicklungsgeschichte des Gehirns", „Über vergleichende Anatomie", „Entwicklungsgeschichte des Blutgefäßsystems" und zahlreiche Abhandlungen in Fachzeitschriften. Doktorvater u.a. von Konrad Lorenz. Vermittelt dem Kronprinzen den Kontakt zu Alfred Brehm und unterrichtet ihn ab 1872 in Geologie 74 Exner Adolf, geb. am 05.02.1841 in Prag (Tschechische Republik), gest. am 10.09.1894 in Kufstein (Tirol), beigesetzt am 13.09.1894 auf dem Dornbacher Friedhof in Wien (Gruppe 9/23 A); Jurist, Universitätsprofessor in Zürich, ab 1872 in Wien; Mitglied des Herrenhauses und des Reichsgerichts; unterrichtet den Kronprinzen in Staatsrecht 1875/76. Werke: „Die Lehre vom Rechtserwerb durch Tradition nach österreichischem und gemeinem Recht“, 1867, „Das österreichische Hypothekenrecht, 2 Bände, 1876/81“, „ Über politische Bildung“ (Rektoratsrede), 1891 75 Menger von Wolfensgrün, Karl, geb. am 23.02.1840 in Neusandez (Nowy Sacz, Polen), gest. am 26.02.1921 in Wien, Nationalökonom; Bruder von Anton Menger von Wolfensgrün und Max Menger von Wolfensgrün, Vater von Karl Menger. Studierte Jus in Prag, Wien und Krakau; ab 1867 mehrere Jahre im Pressebüro des Ministerratspräsidiums in Wien tätig, ab 1876 Lehrer des Kronprinzen Rudolf. Ab 1873 Universitätsprofessor für Politische Ökonomie in Wien. Erwarb als Mitwirkender in der Währungsenquete-Kommission 1892 zur Einführung der Goldwährung in Österreich-Ungarn besondere Verdienste. Ab 1900 Herrenhausmitglied auf Lebenszeit. Gilt als Schöpfer der Grenznutzentheorie und als Vater der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Werke: „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“ 1871, „Der Übergang zur Goldwährung“ 1883. 76 Marcus, Siegfried Samuel, geb. 18.09.1831 in Malchin (Deutschland), gest. 30.06.1898 in Wien, Mechaniker und Erfinder. Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof (dort „Siegfried Markus“) . Ab 1852 in Wien; betrieb ab 1860 eine Mechanikerwerkstätte und baute gleichzeitig mit N. Otto Verbrennungsmotoren und Automobile. Am 21.06.1864 erwarb er ein Privileg auf eine magnetelektrische Zündung, am 30.03.1865 auf einen Vergaser. Er montierte den ersten Benzinzweitaktmotor auf einem hölzernen Handwagen, der 1864 kurze Strecken fuhr. Ob sein zweiter Wagen 1872/75 oder 1888 fahrbereit war, ist unklar. Marcus erwarb mehr als 38 Patente für Verbrennungskraftmaschinen, Telegrafie, Gastechnik und Elektrotechnik. Die ihm vom österreichischen Kronprinzen Rudolf geschenkten Manschettenknöpfe und die Installation einer elektrischen Klingel im Schlafzimmer der Hofburg für Kaiserin Elisabeth belegen seine Verbindung zu Kaiserhaus. 77 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 21
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drinnen aus, und es kocht und arbeitet den ganzen Tag in meinem Gehirn; ist einer draußen, kommt der andere hinein, jeder beschäftigt mich, jeder sagt mir anderes, einmal fröhlich und heiter, einmal rabenschwarz, erfüllt von Wut.“ Aus heutiger Sicht dürfte dieses Zitat weit weniger den „seelischen Aufruhr“ des „Frühreifen“ wieder spiegeln als vermutet; wir meinen, dass es sich um verständliche Gedanken eines jungen Menschen am Ende der Pubertät handelt, denen nicht zu viel Wertung beigemessen werden sollte. Ganz den Ideen des Liberalismus hingegeben versuchte Rudolf, die Politik seines kaiserlichen Vaters vom Reaktionismus fortzuführen. Der Erzherzog verfasste zahlreiche Denkschriften zur Lage der Monarchie, die Nationalitätenprobleme und seine politische Zukunft, die jedoch von Franz Josef kaum beachtet oder ihm erst gar nicht bekannt wurden.
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
3. B: Stephanie von Belgien
„Durfte ich mich mit einem Manne auf ewig verbinden, den ich noch gar nicht kannte?“
Stefanie Gräfin Lónyay Lebenserinnerungen 1935
Stephanie Clothilde Louise Hermine Marie Charlotte wurde am 21. Mai 1864 als zweitälteste Tochter79 König Leopold II. von Belgien80 und dessen zweiter Gattin, Erzherzogin Maria Henriette81, auf Schloss Laeken bei Brüssel geboren82. Die Tochter König Leopolds II. von Belgien war durch ihre Mutter, einer Tochter des Erzherzogs Josef, selbst eine halbe Habsburgerin. Stephanie verbrachte eine „freudlose Jugend“: in Erinnerung blieb die christliche Erziehung durch ihre bewunderte und verehrte Mutter, einer wohltätigen Frau der würdigen Ergebung und des Leids, und durch den Vater, der den „Weg der Gleichgültigkeit, der Ungerechtigkeit, der Untreue“ einschlug. 1878 besuchte Erzherzogin Elisabeth Franziska Maria83 ihre Schwester, die belgische Königin MarieHenriette, anlässlich ihrer Silbernen Hochzeit in Brüssel. Zu diesem Zeitpunkt, glaubt Stephanie, sei die Hochzeit zwischen ihr und dem Thronfolger von Österreich erstmals besprochen worden. Zumindest machte Kaiserin Elisabeth im Winter 1878/79 auf ihrer Reise nach England und Irland in Laeken Station. „Nur wenige Eingeweihte wussten, dass … der Erzieher des jungen Kronprinzen, General von Latour, den kaiserlichen Eltern geraten hatte, ihren Sohn mög-
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Geschwister: Louise-Marie Amélie, Prinzessin von Belgien, Herzogin von Sachsen, Prinzessin von Sachsen-Coburg-Gotha, geb. 18.02.1858 in Brüssel, gest. 01.03.1924 in Wiesbaden, verheiratet mit Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha; Leopold Ferdinand Elie Victor Albert Marie, Prinz von Belgien, Herzog von Sachsen, Prinz von sachsen-Coburg-Gotha, Graf von Hennegau (1859-1865), Herzog von Brabant (1865-1869), geb. 12.06.1859 auf Schloss Laeken/Brüssel, gest. 22.01.1869 auf Schloss Laeken/Brüssel an den Folgen des Sturzes in einen Teich (Lungenentzündung); Clémentine Albertine Marie Léopoldine, Prinzessin von Belgien, Herzogin von Sachsen, Prinzessin von Sachsen-Coburg-Gotha, geb. 30.07.1872 auf Schloss Laeken/Brüssel, gest. 08.03.1955 in Nizza, Frankreich, heiratete das Oberhaupt der Bonapartes, Prinz Victor Napoléon Jérôme Frédéric Bonaparte (18.07.1862 – 03.05.1926) 80 Leopold II., Prinz von Belgien, Herzog von Sachsen, Prinz von Sachsen-Coburg-Gotha, Herzog von Brabant, seit 17.12.1865 König der Belgier, geb. am 09.04.1835 in Brüssel, gest. am 17.12.1909 auf Schloss Laeken/Brüssel; eigentlich Louis Philippe Marie Victor. Da durch den frühen Tod seines Sohnes Leopold kein männlicher Nachkomme existierte, ging die Königswürde am 23.12.1909 auf seinen Neffen, Albert I. (geb. 08.04.1875, gest. am 17.02.1934) über. 81 Marie Henriette, Erzherzogin von Österreich, Königin der Belgier; geb. am 23.08. 1836 in Pest/Österreich-Ungarn, gest. am 19. 09.1902 in Spa/Belgien 82 Berger, Günther: „Kronprinzessin-Stephanie-Denkmale in Wien“, in: „Wiener Geschichte – Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, Wien 1993 83 Erzherzogin Elisabeth Franziska Maria (geb. 1831 in Buda, gest. 1903), Witwe nach Ferdinand d´Este, verheiratet in 2. Ehe mit ihrem Cousin, Erzherzog Karl Ferdinand (geb. am 29.07.1818 in Wien, gest. am 20.11.1874 in Židlochovice) 23
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lichst bald zu verehelichen, um ihn an ein geordnetes und geregeltes Leben zu gewöhnen.84“ Schon eine Woche später erschien Herzog Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha in Brüssel – der Chef des herzoglichen Hauses. Er hatte von den Heiratsgerüchten gehört und wollte sich selbst ein Bild der 14-jährigen Prinzessin machen. So abgesichert, besuchte am 4. März 1880 der 22-jährige Kronprinz den belgischen Hof in Brüssel, lernte die belgische Prinzessin kennen und hielt bei den Eltern um ihre Hand an. Immerhin: Eine Nacht gaben der König und die Königin von Belgien ihrer Tochter Bedenkzeit: „Betend und erwägend verbrachte ich die Nacht. Eine neue Welt stand verlockend vor meinen Augen. (…) Wie im Träume erblickte ich eine Krone, Edelsteine schmückten den goldenen Reif. (…) Aber inmitten dieser erhabenen Vorstellung befiel mich ängstliche Unsicherheit. Würde ich die Kraft zu solcher Mission haben? (…) Und war ich nicht noch viel zu jung für die hohe Stellung, die ich ausfüllen sollte?! Durfte ich mich mit einem Manne auf ewig verbinden, den ich noch gar nicht kannte?85“ Doch allen bedenken trotzend, „in kindlicher Ehrfurcht fügte ich mich in das Unvermeidliche, mit innerem Zagen, aber vollkommenem Vertrauen auf die Weisheit meines Vaters. Ich ahnte nicht, wie schwer ich an den Ketten, an die er mich schmiedete, zu tragen haben würde.86“ Über die erste Begegnung mit dem Kronprinzen nach ihrem „Ja“ schrieb Stephanie: „Der Kronprinz trat (in einen Empfangssalon der Kaiserin, Anm. d. Verf.) ein. Er trug die Uniform eines österreichischen Obersten mit dem Großkreuz des Stephansordens und das goldene Vlies. Mein Herz schlug zum Zerspringen. (…) Das Auftreten des Kronprinzen war vollendet und sicher. Er küsste mir die Hand (…) Dann sagte er mir einige schmeichelhafte, aber sehr förmliche Worte, und schon nach einigen Minuten stellte er die große Frage, die über unsere Zukunft entscheiden sollte. Hierauf reichte er mit den Arm, und so näherten wie uns meinen Eltern und baten sie, die Verlobung zu seg87
nen. “ Am folgenden Tag – Sonntag, dem 7. März – fand nach der Heiligen Messe die offizielle Verlobung statt und in den folgenden tagen, so erinnert sich die Kronprinzessin, fanden zahlreiche Feste am Hofe statt. „Da ich noch nicht sechzehn Jahre alt war, wurde meine Trauung erst für das Ende des Jahres festgesetzt. Bald darauf verließ der Kronprinz Brüssel; er versprach im Juli wiederzukommen.88“ Doch die Hochzeit musste verschoben werden, da die Prinzessin körperlich noch nicht voll entwickelt war. Als das Jahr 1880 zu Ende ging und Wien auf eine baldige Hochzeit drängte, wurde der 10. Mai 1881 festgelegt „ – ein unbegreiflicher Entschluss89“. Der Kronprinz hatte die gleiche Körpergröße wie Stephanie. „Man konnte nicht sagen, dass er schön war, jedoch war er mir nicht unsympathisch. Der Ausdruck seiner kleinen hellbraunen Augen war intelligent, aber sein Blick
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Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 85 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 86 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 87 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 88 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 24
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unstet und hart; er vertrug nicht, dass man ihm in die Augen sah. Um den von einem schwachen Schnurrbart überschatteten breiten Mund hatte er einen seltsamen, schwer zu deutenden Zug“, erinnerte sich Stephanie über 40 Jahre danach. Am 2. Mai 1881 bestieg Stephanie, gerade 17 Jahre alt geworden, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und verabschiedet von politischen und geistlichen Würdenträgern des Landes, den Zug nach Österreich. Am Folgetag empfing sie Rudolf in Salzburg, verbrachte mit seiner Verlobten den Tag und reiste nachts zurück nach Wien. Stephanie und ihr Gefolgte übernachteten in einer Villa am Salzburger Stadtrand bei Anif. „Am Morgen des 6. Mai 18812 trafen wir in Wien ein“, erinnert sich die Gräfin. Sie bezog bis zur Hochzeit Quartier im Schönbrunner Schloss und eine wahre Festwoche begann ihren Lauf zu nehmen, an deren Ende am 10. Mai 1881 die von Kardinal Schwarzenberg zelebrierte Hochzeit in der Wiener Augustinerkirche stand. Über die Hochzeitsnacht, die Stephanie und Rudolf in den modrigen, kalten, unbehaglichen Gemächern des Blauen Hofes im Laxenburger Schloss verbrachten, berichtet die Kronprinzessin: „Welche Nacht! Welche Qual, welcher Abscheu! Ich hatte nichts gewusst, man hatte mich als ein ahnungsloses Kind zum Altar geführt. Meine Illusionen, meine jugendlichen Träumereien waren vernichtet. Ich glaubte, an meiner Enttäuschung sterben zu müssen.90“ Im Spätsommer des Jahres 1881 dürfte Stephanie erstmals schwanger gewesen sein – die Geburt war für Februar 1882 angesagt. Im Oktober, dem vierten Schwangerschaftsmonat, erlitt sie jedoch eine Fehlgeburt. In späteren Jahren wurde die Schwangerschaft oftmals als Fehldiagnose des behandelnden Gynäkologen, Dr. Carl Ritter von Braun-Fernwald91, abgewertet. In einem Brief vom Spätsommer 1881 an ihre Schwester Louise schreibt Stephanie jedoch auf Französisch, sie habe an sich „mouvements“ – also Veränderungen – feststellen können92. Wir vermuteten, dass der Briefwechsel zwischen Stephanie und ihrer Mutter, der belgischen Königin Marie-Henriette, Auskunft über jene Schwangerschaft geben könnte. Die Korrespondenz der Frauen bricht jedoch im Oktober 1881 ab und fängt erst im September 1882 wieder an. Wahrscheinlich hat Stephanie die Briefe vernichtet93. Die zumindest in Grundzügen anfänglich glückliche Ehe entwickelte sich jedoch auf Grund der unterschiedlichen Interessen und gegensätzlichen Wertvorstellungen des Ehepartner ungünstig: Beide suchten und fanden ihre sexuelle Erfüllung außerhalb des Ehebundes. Stephanie: „Meine Ansichten, meine Gewohnheiten, mein Geschmack zählten nicht, ich musste sie begraben. Ich hatte nur das Zu tun, was mir vorgeschrieben wurde und was der Kronprinz anordnete. Es hieß, zu folgen und sich zu beugen.94“ Oft wurde Stephanie von ihren Zeitzeugen als wenig attraktiv dargestellt, was jedoch sicher subjektive Wahrnehmung ist95. Am 2. September 1883 wurde Stephanie in Laxenburg von einer Tochter entbunden, die drei Tage später auf den Namen Elisabeth Marie getauft wurde. Die Hoffnung, bald darauf auch einem Thronfolger das Leben zu 89
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 90 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 91 Der Mediziner betreute auch Königin Marie-Henriette von Belgien und Stephanies Schwester, Louise von Coburg. 92 freundliche Mitteilung von Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien , 21.05.2005 93 freundliche Mitteilung von Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien , 21.05.2005 94 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 95 Hellblonde Haare der belgischen Prinzessin finden sich in einem kleinen Umschlag im Nachlass der Louise von Coburg, Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Bündel 4 25
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schenken, verflogen im Jahre 1886: Zu Beginn des Jahres erkrankte Rudolf und die Ärzte rieten ihm, im Süden auszuspannen. Gemeinsam mit Stephanie reiste er auf der Jacht „Miramar“ auf die Mittelmeerinsel Lacroma. Kaum dort angekommen, erkrankte auch die Kronprinzessin und lag „mit namlosen Schmerzen“ zu Bett. „Die herbeigerufenen Ärzte aus Wien und Triest konstatierten Bauchfellentzündung. Auf hohen Befehl wurde das jedoch verheimlicht; die Ärzte wurden eidlich zum Schweigen verpflichtet.96“ Was war geschehen? „Durch die haltlose Lebensweise wurde Rudolfs Gesundheit erschüttert“, schreibt Judtmann und räumt mit vielen Vermutungen auf, die in über 70 Jahren Mayerling-Literatur – von Corti bis Zerzawy – angehäuft worden waren: nach einer gonorrhoischen Infektion durch Rudolf erlitt die Kronprinzessin eine von den Eierstöcken oder Eileitern ausgehende Beckenbauchfellentzündung, in deren Folge sich eine Sterilität einstellte. Rudolf hatte Stephanie mit dem Tripper infiziert97! In der Urfassung ihrer Lebenserinnerungen hatte Stephanie dies auch publizieren wollen: „Ich selbst ahnte den Grund meines Leidens nicht. Auf hohen Befehl wurde alles vertuscht, die Ärzte auf Schweigen beeidigt. Erst später entdeckte ich und erfuhr ich, dass der Kronprinz an meinem Leiden schuld war. Auch ihn hatte die furchtbare Seuche erfasst, die noch vor niemandem … Halt macht, sofern ihr Leichtsinn oder fluchwürdiges Erbe Tür und Tor öffnet98“ – doch dies verschwieg sie in der späteren Druckfassung. Juliane von Stockhausen jedoch bestätigte Fritz Judtmann gegenüber, „Rudolf habe sie angesteckt! Erinnere ich mich richtig, so schwankte sie zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu sagen (wobei gewisse Antriebe bei ihr zweifellos im Spiel waren) und der Scheu vor der Öffentlichkeit. Da die Wirkung eben auf die österreichische Gesellschaft nur zu genau vorzustellen war, legten wir ihr nahe, sich mit einer Andeutung zu begnügen.99“ Eine ähnliche Andeutung hatte die Gräfin selbst in ihren Erinnerungen an Stephanie gewählt: „Nach der Geburt meiner Tochter hat man mir vorgeworfen, ich sei nicht fähig, noch einmal ein Kind zu tragen. Der Hof wusste nur zu gut, wer daran Schuld hatte.100“ Während Judtmann auf Stephanies Erkrankung nur am Rande eingeht, widmet er sich ausführlich dem Krankheitsbild des Kronprinzen. Trotz aller Gegensätze, die Rudolf und Stephanie nicht zu überwinden vermochten, trat die belgische Prinzessin stets loyal ihrem Gatten gegenüber in der Öffentlichkeit auf. Ende 1888 versuchte sie – leider vergeblich – das Augenmerk des Kaisers auf die Veränderungen seines Sohnes zu richten. Doch der „Untergang des Kronprinzen“ schien sie nicht aufzuhalten zu sein… Zu Stephanies Hofstab zählten im Jahre 1889 insgesamt 18 Personen101. Nach dem Tode des Kronprinzen erhielt Stephanie offiziellen den Titel „Ihre k. u. k. Hoheit, die durchlauchtigste Frau Kronprinzessin-Witwe, Erzherzo96
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig 1935 97 Gonorrhoe (Tripper) gehört zu den sexuell übertragbare Krankheiten, die durch die Bakterien Neisseria gonorrhoeae, auch Gonokokken genannt, ausgelöst wird. Gonorrhoe wird in erster Linie durch Geschlechtsverkehr übertragen. Ungefähr die Hälfte aller infizierten Frauen haben keine Beschwerden. Bei den Männern ist nur etwa ein Viertel beschwerdefrei. Diese Menschen wissen auch nicht, dass sie eine ansteckende Krankheit haben, die sie weitergeben können. Beschwerden bei Männern: brennende Schmerzen beim Wasserlassen und zunächst schleimiger, später cremiger Ausfluss aus der Harnröhre; Beschwerden bei Frauen: Möglicherweise übel riechendem Ausfluss aus der Scheide, aufsteigende Entzündung der Gebärmutter, der Eileiter und Eierstöcke, die mit Fieber, Unterbauchbeschwerden, Ausfluss und einer Schmierblutung einhergehen können. Je nach Infektionsweg kann es zu eitrige Bindehautentzündung oder unspezifische Symptome im Hals/Rachen (Halsschmerzen, übler Geschmack) kommen. Wird eine Gonorrhoe nicht behandelt, kann es zu chronische Entzündungen der inneren Geschlechtsorgane mit anhaltenden Schmerzen, Verklebungen der Eileiter oder Samenleiter mit Unfruchtbarkeit oder Gelenkentzündungen kommen. 98 in Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 99 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 100 Stockhausen, Juliana von: „Im Schatten der Hofburg. Gestalten, Puppen und Gespenster. Aus meinen Gesprächen mit Prinzessin Stephanie von Belgien Fürstin Lónyay, der letzten Kronprinzessin von Österreich Ungarn“ Kerle, Heidelberg 1952 101 Zum Hofstaat zählten die Obersthofmeisterin Helene Gräfin Sylva-Tarouca geb. Gräfin Kálnoky, die Hofdamen Therese Gräfin Pálffy, Sidonie Gräfin Chotek, Melanie Gräfin Széchényi, der Adjutant Anton Perko und der Kanzlist Johann Riedl im Sekre26
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gin Stephanie“ und rund 2150.000 Gulden Witwenbezüge102. Die Stellung der Kronprinzessin jedoch wurde ihr verwehrt, eine andere Erzherzogin vertrat die Kaiserin bei offiziellen Anlässen. Die Witwe reiste fortan viel, übernahm die weitere Herausgabe des „Kronprinzenwerkes“, bereicherte mit zahlreichen Affären den Tratsch der Wiener Gesellschaft und entschied sich zehn Jahre nach Rudolfs Tod, erneut zu heiraten. Am 22. März 1900 schloss Stephanie in der Kapelle von Schloss Miramar bei Triest eine zweite, jedoch nicht standesgemäßer Ehe103: sie heiratete den ungarischen Grafen und k.k. Kämmerer Elemér Lónyay von Nagy-Lónyay und Vásáros-Namény104. In Folge verlor sie alle Rechte einer österreichischen Erzherzogin und belgischen Prinzessin – ihr Vater enterbte sie. Den Standesunterschied zwischen der einstigen Kronprinzessin und dem Grafen glich Kaiser Karl I. am 9. Februar 1917 aus, als er ihn in den erblichen Fürstenstand erhob. Ihren neuen Lebensmittelpunkt fand das Ehepaar Lónyay 1906 im wuchtigen, neugotischen Schloss105 des kleines Ortes Oroszvár 106 an der Donau, nur wenige Kilometer von Pressburg/Bratislava entfernt. Österreich hatte seine letzte Kronprinzessin nach dem Ende der Monarchie nahezu vergessen, bis 1935 bekannt wurde, dass Stephanie ihre Lebenserinnerungen veröffentlichen wollte. Das Buch „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“ wurde dann auch prompt in der jungen Alpenrepublik verboten – auf Antrag ihrer Tochter, Elisabeth Windisch-Graetz. Jedoch: Bei den Memoiren von Lebenserinnerungen der Kronprinzessin zu sprechen, ist an dieser Stelle falsch. Das 1935 im Leipziger Verlag von Hase, Koehler und Amelang erschienenen Buch wurde von Juliane und Ferdinand Gatterburg herausgegeben107. Der Graf und die als „Juliane von Stockhausen“ bekannte Gräfin hatten den Spagat geschafft, Stephanies Manuskript so redaktionell zu bearbeiten, dass es den Anforderungen eines Verlages gerecht wurde. Wie schwer und aufreibend diese Arbeit war, belegen die Erinnerungen des Herausgeberpaares an die Redaktionsarbeit108. Zuvor war bereits Graf Conte Corti daran gescheitert, eine Struktur in die Aufzeichnungen der Gräfin Lónyay zu bringen.
tariat, die Kammerdienerinnen Fräulein Sophie von Plancker-Klaps (sie heiratete den Hofjäger Wodiczka und schied im Dezember 1889 mit einer Gnadenpension von 1.000 Gulden jährlich freiwillig aus dem Dienst aus) und Ida Haas, die Kammermädchen Marie Nehammer und Pauline Drtina, der Kammerdiener Andreas Löw, der Saal-Türhüter Heinrich Wunderbaldinger, die Leiblakaien Joseph Feichter, Eduard Reiner, Johann Christof und Leander Lorenz, der Hausdiener Johann Patzelt und das Kammerweib Rosa Dornhauser; Quelle: Hof- und Staatshandbuch der österr.-ung. Monarchie für 1889, gedruckt 05.12.1888. Am 08.02.1899 wurde der geheime Rat und Kämmerer Franz Graf Bellegarde zum Obersthofmeister der Witwe ernannt. 102 Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Sep. Bill. Protocolle 1888-1889 103 Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, OMaA 482 III/B 153 104 Lónyay von Nagy-Lónya und Vásáros-Namény, Elemér, geboren am 24.08.1863 in Bodrog-Olaszi/Komitat Zemplén, gest. am 29.07.1946 in Pannonhalma (H), beigesetzt in der Krypta der Stiftskirche Pannonhalma (H); Sohn von Edmund Baron von NagyLónya und Vásáros-Namény und seiner Frau, Wilma Pazmandy. 105 Schloss Oroszvár, in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Grafen Zichy errichtet, von 1840-1850 Umbau des Herrensitzes im Tudor-Stil durch Emanuel Graf Zichy-Ferraris; 1872 verkauft an Hugo Graf von Henckel von Donnersmarck und Installation eines Gestüts. Die Lonyáys erwerben das Anwesen mit seinen 6.000 Joch Besitz nach dem Tode von Laura Gräfin Henckel von Donnersmarck im Januar 1906 für vier Millionen Gulden. 106 Oroszvár (ungarisch), Gerulata (römischer Name des dortigen Militärlagers), Karlburg (deutsch); bis 1947 war Oroszvár ungarisch, die Pariser Friedenkonferenz sprach die Gemeinde dann am 15. Oktober 1947 der Tschechoslowakei zu. Heutiger Name: Rusovce/Slowakei. Die Gemeinde im Dreiländereck Ungarn, Tschechien, Österreich gehört zum V. Bratislava Stadtteil, hat jedoch eine eigene Teilverwaltung. Schloss Rusovce, Eigentum der Slowakischen Regierung, steht heute leer und soll komplett restauriert werden. 107 Im Jahre 1937 folgte die erste und zweite Ausgabe der Memoiren auf Französisch unter dem Titel „Come non fui imperatrice“, vermutlich von Stephanie persönlich genehmigt. Das Buch wurde 1998 neu aufgelegt. 108 Das umfangreiche Material, das die Gatterburgs für das Buch zusammen getragen hatten, konnte einzig Dr. Irmgard Schiel für ihre Stephanie-Memoiren im März 1975 einsehen - jedoch ohne Kopien anfertigen zu lassen. In den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Gräfin Gatterburg dann den Entschluss gefasst, den Briefwechsel in Sachen Stephanie-Memoiren versteigern zu lassen. Den Plan konnte sie jedoch nicht verwirklichen, da sie die Unterlagen nicht mehr auffinden konnte. Heute müssen die Papiere als verloren angesehen werden. Joseph van Loon an den an der Verfasser, Arendonk/Belgien , 16.08.2004 27
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Stephanies Lebenskreis schloss sich mit 81 Jahren am 23. August 1945 in der ungarischen Benediktinerabtei Pannonhalma, in der sie auch beigesetzt wurde. Hochbetagt waren die Lónyay´ s waren im Mai 1945 aus ihrem Schloss in Oroszvár geflohen und fanden in der Abtei ihres Beichtvaters, einem Benediktinermönch, Zuflucht. Elemer Lónyay verstarb mit 83 Jahren am 29. Juli 1946 und wurde ebenfalls in der Krypta der Unterkirche auf dem Martinsberg beigesetzt109.
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In Pannonhalma verblieb der schriftliche und persönliche Nachlass der Fürstin Lonyay. Jene Briefe, die Stephanie an ihre Mutter, Königin Marie-Henriette von Belgien, gerichtet hatte, dürften bei einem Brand am Neujahrstag 1890 im königlichen Schloss von Laeken vernichtet worden sein, denn die Appartements der Königin im ersten Stock des Palastes brannten völlig aus. 28
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
4. Rudolf – Name, Hofstaat und Kammer
„Rudolph Franz Carl Joseph, des Kaiserthums Oesterreich Kronprinz und Thronfolger, königlicher Prinz von Ungarn, Böhmen, der Lombardei und Venedigs, von Dalmatien, Croatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien etc., Erzherzog von Österreich etc. etc.“
Hofschematismus 1888
Bis zum Ende der Monarchie im Jahr 1918 trugen acht männliche Mitglieder des Erzhauses Habsburg den Vornamen Rudolf. Ihr Leben und Wirken wird im biographischen Familienlexikon dokumentiert110: Rudolf I.111 Herzog Rudolf II.112 Herzog Rudolf III.113 von Österreich Rudolf IV.114 der „Stifter“ bzw. „Sinnreiche“ Kaiser Rudolf II.115 Kardinal-Erzbischof Rudolf von Olmütz116 Rudolph Franz117 Kronprinz Rudolf Nähren wir uns dem Vornamen: „Rudolf“ stammt aus dem germanischen beziehungsweise althochdeutschen Sprachraum und bedeutet in seiner männlichen Form „ruhmvoller Werwolfskrieger“. Zusammengesetzt ist der Name aus dem germanischen „hrod“ (Ruhm) und „wolf“ (Wolf). Nebenformen des Namens sind Rodolfo (italienisch), Rudolph, Rudolphe (französisch) und Rudolfo. Verkleinert werden kann der Name zu Rolf, Rollo, Rolof, Roluf (nieder110
Hamann, Brigitte (Herausgeberin): „Die Habsburger – Ein biographisches Lexikon“, Piper Verlag, München 1988 Rudolf I., römisch-deutscher König, geboren 01.05.1218, gestorben 15.07.1291 in Speyer, beigesetzt im Dom zu Speyer 112 Herzog Rudolf II., geboren 1270, gestorben 10.05.1290, ursprünglich beigesetzt in der Prager Burg, 1373 in den Prager Veitsdom überführt 113 Rudolf III., Herzog von Österreich und Steiermark, König von Böhmen und Polen, geboren um 1281, gestorben 03. oder 04.07.1307 an der Otava, begraben im Veitsdom zu Prag 114 Rudolf der IV., der Stifter, geboren 01.11.1339 in Wien, gestorben 27.07.1365 in Mailand, gegraben in der Fürstengruft von St. Stephan in Wien 115 Kaiser Rudolf II., geboren 18.07.1552 in Wien, gestorben 20.01.1612 in Prag, beigesetzt im Prager Veitsdom 116 Rudolf Johann Josef Rainer, Kardinal-Erzbischof von Olmütz, geboren 08.01.1788 in Florenz, gestorben 24.07.1831 in Baden bei Wien, beigesetzt in der Kapuzinergruft in Wien; sein Herz ruht in der Krypta des Doms von Olmütz 117 Rudolph Franz, geboren 25.09.1822 in Wien, gestorben 11.10.1822 in Wien, begraben in der Neuen Gruft des Wiener Kapuzinerklosters. Sohn des Erzherzogs Karl Ludwig und seiner Gattin, Henriette von Nassau-Weilburg 111
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deutsch), Rudi, Rudo, Ruedi (schweizerisch), Rul, Rulle, Rolph, Ralf, Ralph und Raoul. Die weibliche Form des Namens stammt aus dem althochdeutschen: Rudolfa mit den Nebenformen Rudolfina und Rudolfine118. Im katholischen Heiligenkalender werden Abt Rudolf von Hersfeld als Bischof von Paderborn119 und Rudolf von Bern120 genannt. Namenstag ist nach Rudolf von Bern der 17. April. Kronprinz Rudolf, einziger Sohn von Kaiser Franz Josef und Herzogin Elisabeth von Bayern, wurde am 21. August 1858 in Laxenburg bei Wien geboren und am 23. August durch den Fürsterzbischof von Wien, Kardinal Josef Othmar Rauscher, auf den Namen Rudolph Franz Carl Joseph121 getauft. Im Jahre 1888 verzeichnete der Hofschematismus folgende Titel122: „Rudolph (Franz Carl Joseph), des Kaiserthums Oesterreich Kronprinz und Thronfolger, königlicher Prinz von Ungarn, Böhmen, (der Lombardei und Venedigs, von Dalmatien, Croatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien). etc., Erzherzog von Österreich etc. etc., Ritter des goldenen Vliesses, (Träger des) Großkreuz des königlich-ungarischen St. Stephans-Ordens, (des) Grosskreuz des grossherzoglich toscanischen St. JosephOrdens, (des) Grosskreuz und Ehren-Bailli des souveränen Johanniter-Ordens, Ritter des russisch-kaiserlichen St. Andreas-, des St. Alexander-Newsky-, des weissen Adler- und des St. Annen-Ordens, dann des russischen Schwarzen Adler-Ordens, (des) Grosskreuz des kaiserlich mexikanischen Adler-Ordens, des französischen Ordens der Ehrenlegion, Besitzer des ottomanischen Osmanié-Ordens erster Classe, (des) Grosskreuz des kaiserlich brasilianischen Ordens vom südlichen Kreuze, Ritter des königlich italienischen Ordens der Annunciata, (des) Grosskreuz des königlich bayerischen St. Hubertus-Ordens (in Brillanten), Ritter des königlich sächsischen Haus-Ordens der Rautenkrone und des königlich dänischen Elephanten-Ordens, (des) Grosskreuz des königlich-spanischen Ordens Carl III., des königlichwürttembergischen Verdienst-Ordens der Krone, des königlich niederländischen Löwen-Ordens, des königlich belgischen Leopold-Ordens, des königlich portugiesischen Christus-Ordens und des königlich portugiesischen MilitärOrdens von St. Benedict d´ Aviz, des königlich schwedischen Seraphinen-Ordens, des königlich griechischen Ordens vom heil. Erlöser, des königlichen Ordens „Stern von Rumänien“, des königlich serbischen weissen Adler- und des Takowo-Ordens, des grossherzoglich badischen Haus-Ordens der Treue, des grossherzoglich sachsen-weimar´schen Ordens vom weissen Falken, des grossherzoglich hessischen Ludwig-Ordens, des grossherzoglich mecklenburgischen Ordens der wendischen Krone und des herzoglich sächsisch-Ernestinischen Haus-Ordens, Ritter des königlich grossbritannischen Hosenband-Ordens, Besitzer der goldenen Erinnerungs-Medaille an das fünfzigjährige RegierungsJubiläum Ihrer Majestät der Königin von Grossbritannien und Irland, Kaiserin von Indien, des königlich-peussischen Haus-Ordens von Hohenzollern, der Porträt-Decoration des Schah von Persien (in Brillanten), des fürstlich montenegrinischen Danilo-Ordens erster Classe, des kaiserlich japanischen Chrysanthem-Ordens, der ersten Classe des königlich siamesischen neuen weissen Elephanten-Ordens, des Ordens der Krone von Siam und der grossen Decoration des tunesischen Haus-Ordens vom Blute Nischan-Edden (in Brillanten), (des) Großkreuzes des Ritter-Ordens von San Marino, Feldmarschall-Lieutnant, Commandant der XXV. Infanterie-Truppen-Division und Vice-Admiral (extra statum), Inhaber des k.k. Infanterie-Regiments Nr. 19, des k.k. Uhlanen-Regiments Nr. 1 und des k.k. CorpsArtillerie-Regimets Nr. 10, Chef des kaiserlich russischen Infanterie-Regiments „Sevsky“ Nr. 34, des königlich preus-
118
www.urbia.de, Lexikon der Vornamen, 11.99 Rudolf von Hersfeld, Todestag: 06. November 1052, beigesetzt in Paderborn; Festdatum: 06. November. 120 Rudolf von Bern, Todestag: 17. April 1294; die Ermordung dieses Jungen, die fälschlicherweise den Juden untergeschoben wurde, war Anlass einer Judenverfolgung in Bern; Festdatum: 17. April. In der katholischen Kirche wird dieser Tag heute nicht mehr gefeiert. 121 Franz Karl nach seinem Großvater, Josef nach seinem Vater 122 „Genealogisches Verzeichnis des regierenden Kaiserhauses“, Wien 1888 (= Hof- und Staatshandbuch) 119
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sischen zweiten brandenburgischen Uhlanen-Regiments Nr. 11, à la suité des königlich preussischen Kaiser FranzGarde-Grenadier-Regiments Nr. 2, mit dem Rangabzeichen eines General-Majors, Inhaber des königlich bayerischen schweren Reiter-Regiments Nr. 2, Ehrendoctor der Philosophie der Wiener Universität, Ehrenmitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Lissabon“. Der Kronprinz war bei seinem Tode also Träger von insgesamt 45 Ordensauszeichnungen123. Der Kosename des Kronprinzen, den in den ersten Jahren nach der Hochzeit sowohl seine Gattin Stephanie als auch der Erzherzog in seinen Briefen benutzte, war „Coco“124. Wie den kaiserlichen Eltern, den Geschwistern und allen lebenden Erzherzoginnen und Erzherzögen war auch „Seiner kaiserl. u. königl. Hoheit dem durchlauchtigsten Prinzen und Herrn Rudolph, des Kaiserthumes Österreich Kronprinz und Thronfolger, königl. Prinzen von Ungarn, Böhmen, etc., etc.“ ein eigener Hofstaat zugeteilt. Im Jahre 1888 bestand dieser aus: -
dem Obersthofmeister, Seiner Excellenz Carl Graf Bombelles125,
-
diesem zugeteilten Kämmerer, Major und Flügeladjutant Seiner Majestät des Kaisers, Maximilian Graf Orsini und Rosenberg126
-
sowie dem zugeteilten Hauptmann und Ordonanzoffizier Seiner Majestät des Kaisers, Arthur Freiherr Giesl von Gieslingen127
-
und dem Leibarzt Dr. med. Franz Auchenthaler128;
-
dem Leiter des Sekretariats, dem Oberstleutnant und Oberst Heinrich Ritter von Spindler129,
-
diesem zugeteilt Oberstleutnant Victor Fritsche130
-
und dem Sekretariatskanzlisten Wenzel Cihlo131;
-
dem Verwalter von Lacroma, Kustos Franz Kukol132;
Der Kammer des Erzherzog-Thronfolgers Rudolf von Österreich gehörten an: -
die Kammerdiener Carl Nehammer133 und Carl Beck134
-
der Saaltürhüter Johann Loschek135
-
die Kammerbüchsenspanner Rudolph Püchel136, Franz Wodicka137 und Johann Walter138
123
OmaA III/B 108 1886-1910, 24/166 f 99-108 „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“; Katalog zur Ausstellung in der Hermesvilla, Wien 1988 125 Bombelles, siehe Kapitel 1, 11 b 126 Orsini und Rosenberg, Maximilian Graf, Kämmerer, Major und Flügeladjutant Sr. Majestät, seit 1885 dem Kronprinzen zugeteilt 127 Giesl von Gieslingen, Arthur Freiherr von, Hauptmann, Flügeladjutant Sr. Majestät, dem Kronprinzen zugeteilt 128 Auchenthaler, Franz, k.k. Leib- und Hofarzt Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen Rudolf; siehe Kapitel 10, 4 129 Spindler, Heinrich Ritter von, geb. 15.12.1822 in Rachen/Böhmen, gest. 02.03.1890 in Wien; Oberst, Oberleutnant der k.k. Trabantenleibgarde, Leiter des Sekretariats des Kronprinzen 130 Fritsche-Fritschen, Victor von, Oberleutnant, dem Sekretariat des Kronprinzen zugeteilt, später Major der Reserve, Schriftsteller; überbringt im Auftrag des Kronprinzessin Rudolfs Aktentasche und einen Brief an Szögyenyi und erhält Kenntnis des letzten Schreibens an den Sektionschef (Fritsche an Mitis, Wien, 22.03.1822) 131 Cihlo, Wenzel, Kanzlist im Sekretariat des Kronprinzen 132 Kukol, Franz, Kustos von Lacroma 133 Nehammer, Carl, geb. 21.04.1816 in Kettlasbrunn bei Wilfersdorf/NÖ, Kammerdiener Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen Rudolf 134 Beck, Carl, geb. 27.07.1931 in Garden/NÖ, Kammerdiener Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen Rudolf 135 Loschek, Johann, Kammerdiener Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen als Saaltürhüter Rudolf, siehe Kapitel 1, 11 i 136 Püchel, Rudolph, Kammerbüchsenspanner, siehe Kapitel 1, 11 j 137 Wodicka, Franz, Kammerbüchsenspanner, geb. 1857, gest. 1928 138 Walter, Johann, Kammerbüchsenspanner (provisorisch zugeteilt) 124
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
139
-
der Hausdiener Franz Thorand139 und
-
das Kammerweib Anna Schlandt140.
Thorand, Franz, Hausdiener, geb. 1832 in Allersdorf, Teplitz 32
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
7. Der Kronprinz als Ornithologe und Jäger
„Ich bin stolz darauf, mit diesem Werk... durch meinen Namen so eng verflochten zu sein.“
Dankbrief des Kronprinzen Rudolf an den Ornithologen Dr. Alfred E. Brehm anlässlich der Widmung von Brehms Tierleben 08.01.1877
Zweifelsohne werden die politischen Erfolge des Kronprinzen von seinen amateur-ornithologischen Forschungen in den Schatten gestellt. Der Kronprinz galt als hervorragender Beobachter und hatte „die Gabe, ökologische Zusammenhänge zu erfassen und zu beschreiben141“. Schon von klein auf war die Vogelkunde sein Steckenpferd gewesen142. Rudolf war nicht nur als Förderer, sondern auch als aktiver Freilandornithologe tätig – was jedoch seinerzeit und seinem Stand entsprechend meist mit dem Erlegen der Tiere verbunden war, die ihn interessierten. Allerdings: Rudolf distanzierte sich gelegentlich von der Art zu jagen, wie sie im Kaiserhaus üblich war und distanzierte sich so von den höfischen Trophäenjägern. Während der Wiener Weltausstellung 1873 lernte der Erzherzog durch Vermittlung des Geologen Ferdinand von Hochstetters den 29 Jahre älteren Alfred Edmund Brehm143 kennen, den Autoren des „Thierlebens“. Der Deutsche lehrte Rudolf die Methoden der wissenschaftlich fundierten Vermessung und Beschreibung von Tieren, übernahm Aufsätze des Kronprinzen144 in sein Standardwerk über Tiere und widmete ihm 1877 nicht wie stets kolportiert nur zwei Vogelbände, sondern die gesamte zweite Werkauflage: „Seiner Kaiserlich Königlichen Hoheit dem Kronprinzen Erzherzog Rudolf, ehrfurchtsvoll gewidmet vom Verfasser145“. Darüber hinaus erwähnt Brehm den Kronprinzen 140
Schlandt, Anna, Kammerweib Böck, Fritz: „Kronprinz Rudolf als Ornithologe“, in „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Katalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989 142 Bereits als 12-jähriger verfasste der Kronprinz den über 100 Seiten langen Aufsatz „Adlerjagden“ 143 Brehm, Dr. Alfred Edmund Brehm, geb. 02.02.1829 in Unter-Renthendorf bei Neustadt/Thüringen, gest. am 11.11.1884 in Unter-Renthendorf bei Neustadt/Thüringen, verheiratet seit 14.05.1861 mit seiner Cousine Mathilde Reiz, Vater von fünf Kindern; Schriftsteller, Ornithologe, Direktor des Zoos in Hamburg (1862 bis 1867), Leiter des Aquariums Berlin (1869-1874) 144 Es handelt sich um die Texte über den Schwarzmilan, den Uhu und den Schwarzmilan, die Wiesenweihe und die Rohrweihe ( Band 4/Vögel 1 von 1878), die Waldohreule (Band 5/Vögel 2 von 1879) und das Rackelhuhn (Band 6/Vögel 3 von 1879) 145 1. Säugetierband von 1876, zitiert nach Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“, Renthendorf 1989 141
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
mehrfach und übernimmt in den Bänden vier bis sechs auch Beobachtungen des Erzherzogs, wie jene über das Biotop der Wasseramsel oder die Mauerläufer in Budapest146. Rudolf indes danke die Widmung dem Deutschen mit Einladungen zu mehreren Reisen: mit dem damals bereits siebzigjährigen deutschen Ornithologen Eugen von Homeyer, dem Präparatoren Eduard Hodek und seinem Schwager, Prinz Leopold von Bayern, im Jahre 1878 an die Donau nach Ungarn und Slawonien sowie im April und Mai 1879 auf dem Dampfschiff „Miramar“ gemeinsam mit Leopold und dem Grafen Hans Wilczek von Venedig aus nach Barcelona147. In Folge versorgte Rudolf Brehm mit präparierten Stücken aus seiner Sammlung – meist als Geschenk, oft aber auch nur als Leihgabe. Die Freundschaft zwischen Rudolf und Brehm, der sich teilweise mehrere Wochen auf der Prager Burg in der Nähe des Thronfolgers aufhielt, war nicht unumstritten. Die Gegner des Kronprinzen – wie z.B. Erzherzog Albrecht – warfen diesem vor, sich mit einem Protestanten, Darwinisten, Bürgerlichen und bekennendem Freimaurer abzugeben. Zudem soll der Prager Kardinal und Erzbischof Schwarzenberg beim Kaiser interveniert haben, den Kontakt zwischen seinem Sohn und Brehm zu verbieten, da sich in dessen „Thierleben“ wohl „sittlich anstößige Stellen“ fänden. Brigitte Hamann schreibt in Folge dessen gar von einer „Brehm-Krise“, auf deren Höhepunkt Rudolf gar zur Auslandsreise nach Ägypten aufgefordert wurde, um den Kontakt zu Brehm – der in Folge tatsächlich nachließ – zu unterbinden. Über Jahre verband Brehm und Rudolf ein intensiver Briefwechsel. Theodor Billroth hatte hierzu in seiner Denkschrift vom 30. Jänner 1889 festgehalten: „Hoffentlich kommet auch einmal aus dieser schönen Zeit des hochbegabten Jünglings der Briefwechsel mit Brehm ans Tageslicht148“. Schon Freiherr von Mitis hatte nach den Briefen aus den Jahren 1877 bis 1884 gesucht und musste davon ausgehen, dass diese in den Autografenhandel gekommen und somit für die Forschung verloren waren, was noch in der Neuauflage seiner Kronprinzen-Biographie 1971 zu lesen war. Erst 1976 wurde ein Mikrofilm mit 53 von bisher 74 bekannten Briefen und drei Telegrammen Rudolfs an Brehm aufgefunden149. Sie behandeln vorwiegend ornithologische und zoologische Fragen, Reisen, das Verhältnis des Kronprinzen zur Natur und zu Brehm, seinen Militärdienst, Weltanschauliches, die Freimaurerei und die Politik und in einigen Fällen auch Familiäres. Die Antworten Brehm dürften bereits kurz nach Rudolfs Tod vernichtet worden sein, worüber es jedoch keine Aufzeichnungen gibt. Heute kann zusammengefasst werden, dass der Werkanteil des Kronprinzen an „Brehms Thierleben“ in zehn Bänden aus den Jahren 1876/79 umfangreicher als in bisherigen Würdigungen beschrieben ist. Über Rudolfs Spezial-
146
Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“, Renthendorf 1989 147 Vor Antritt dieser Reise verfasste Rudolf am 15.04.1879 als 20-jähriger sein erstes Testament 148 Zitiert nach Oskar Freiherr von Mitis: Das Leben des Kronprinzen Rudolf. Neu herausgegeben und eingeleitet von Adam Wandruszka, Herold Verlag, Wien 1971 149 Brehms Enkel, Hans-Renatus Brehm, hatte zwischen 1920 und 1922 aus finanziellen Gründen die Briefe des Kronprinzen an die Berliner Autographenhandlung Lippmanssohn verkauft. Freiherr von Mitis hatte diese Spur bereits recherchiert, doch scheiterte eine Einsichtnahme in die Papiere. 1938 wurden die 53 Briefe von der Preußischen Staatsbibliothek Berlin angekauft – sie befinden sich heute in der Staatsbibliothek Berlin/Preußischer Kulturbesitz, Sammlung Darmstaedter Lc 1880 (dort: 50 Briefe, 3 Zettel, 49 Umschläge); das Schicksal der in Verlust geratenen 25 Briefe ist unbekannt. Die Brehm-Gedenkschütte in Renthendorf/Deutschland besitzt die 1914/1915 gefertigten Abschriften der Briefe und stelle diese freundlichst dem Autoren zur Verfügung. Es kann als sicher angesehen werden, dass es sich bei den ursprünglich 77 Briefen auch nicht um den gesamten Briefwechsel zwischen Rudolf und Brehm gehandelt hat. Literatur: Buchda, Gerhard: „Im Jahre 1877 begann der Briefwechsel zwischen Kronprinz Rudolf von Österreich und Alfred Brehm“ in: Beiträge zur Vogelkunde, 24. Jahrgang, 3. Heft Leipzig 1978 und Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“, Renthendorf 1989 34
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gebiet – die Taxonomie und Biologie von Taggreifvögeln – hinaus forschte der Erzherzog vielseitig ornithologisch und zunehmend auch säugetierkundlich150. Einen zweiten, bedeutenden Briefwechsel ornithologischen Inhalts findet sich heute im Naturmuseum St. Gallen/Schweiz. Dort wurden 1991 insgesamt 45 handschriftliche Briefe und vier Telegramme des Kronprinzen an den Arzt und Naturforscher Dr. med. Georg Albert Girtanner151 wiederentdeckt. Die Fachkorrespondenz zwischen den zwei Briefpartnern dokumentiert heute in exemplarischer Weise Kontinuität und Wandel im wissenschaftlichen Geist Europas152. Jedoch auch hier sind die Gegenbriefe des Schweitzers bis auf eine Handschrift, die heute in Wien verwahrt wird153, unbekannt. Der Briefwechsel deckt die Jahre 1878 bis Januar 1889 ab, die Telegramme stammen aus der Zeit von 1879 bis 1883 bzw. 1889154. Ebenso wie bei Brehm scheinen die beiden Ornithologe im vertrauten, freundschaftlichen Umgang Präparate getauscht zu haben und Rudolf übersandte lebende Objekte in die Schweiz155. Während des 1. Ornithologischen Kongresses in Wien hatte Girtanner Rudolf im April 1884 persönlich getroffen, denn der Kronprinz dankte ihm Schriftlich für das persönliche Kennen lernen. Danach jedoch werden die Briefe an den Mediziner seltener und kürzer – Gesundheits- und Eheprobleme, gesellschaftliche Verpflichtungen und die Herausgabe des Kronprinzenwerkes werden Rudolf abgelenkt haben. 1876 übernahm Rudolf in Wien den Ehrenvorsitz des neu gegründeten Ornithologischen Vereins und veröffentlichte in den Mitteilungen des Vereins zwischen 1978 und 1886 19 Aufsätze aus seiner Feder und auch für die Jagdzeitschrift „Cabanis“ griff der Thronfolger zur Feder. Von nun an setzten vogelkundliche Institutionen im In- und Ausland ihren Stolz daran, den Erzherzog als Ehrenmitglied zu gewinnen156. 1884 übernahm der Kronprinz das Protektorat über den „1. Internationalen Ornithologen-Kongress“ in Wien, bei dessen Eröffnung er eine vielbeachtete, politische Rede hielt157. Zudem regte er mit den befreundeten Ornithologen Homeyer158, Finsch und Mayer die Gründung eines Komitees an, dass sich die Errichtung von VogelzugForschungsstationen auf dem ganzen Globus zur Aufgabe gemacht hatte. Auch für den zweiten Kongress wollte der Kronprinz das Protektorat übernehmen, doch als er nach vielen Verschiebungen 1891 in Budapest stattfand, war er nicht mehr am Leben. Der Kongress dürfte für den Erzherzog der Höhepunkt seiner ornithologischen Tätigkeit gewesen sein, wenn in Folge widmete er sich fast nur noch seinen politischen Schriften bzw. der Herausgabe des vielbändigen Werkes „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“. Rudolf erste ornithologische Veröffentlichung erschien 1878 und die folgenden bescherten Rudolf eine Fülle von Ehrungen159. „Diese Würdigungen der von ihm hoch geschätzten Gelehrtenwelt schmeichelte Rudolf sehr. Gleichzeitig war er sich aber bewusst, solche außergewöhnlichen Ehrungen in erster Linie seiner gesellschaftlichen 150
Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“, Renthendorf 1989 151 Girtanner, Dr. med. Georg Albert, geb. 25.09.1939 in St. Gallen/Schweiz, gest. 04.06.1907 in St. Gallen; Ornithologe, Mediziner am Bürgerspital St. Gallen, seit 12.11.1872 verheiratet mit Susanna Reisner, Vater von sechs Kindern 152 Bauernfeind, Ernst und Schneider, Bernhard: „Kronprinz Rudolf von Österreich – Sein Briefwechsel mit Dr. G. A. Girtanner“, Verlag Naturhistorisches Museum Wien, Wien, 1999 153 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton X/19 154 Telegramm 4, Wien, 31.01.1889, Dank Bombelles an Girtanner für dessen Beileidstelegramm an Stephanie 155 Bauernfeind, Ernst und Schneider, Bernhard: „Kronprinz Rudolf von Österreich – Sein Briefwechsel mit Dr. G. A. Girtanner“, Verlag Naturhistorisches Museum Wien, Wien, 1999 156 z.B. Ehrendiplom des Deutschen Vereins zum Schutz der Vogelwelt vom 06.12.1882 157 Der Kongress fand vom 7. bis 11. April 1884 in Wien statt 158 Eugen von Homeyer widmete dem Kronprinzen auch sein 1881 in Leipzig erschienenes Buch „Die Wanderungen der Vögel“ 159 Ehrenmitgliedschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vom 13.07.1878; Ehrenmitgliedschaft der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften vom 16.07.1878; Ehrendoktorat „Dr. h.c. phil.“ der Universität Budapest vom 13.05.1880; Ehrendoktorat der Alma Mater Rudolphina Wien vom 12.06.1884 35
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Stellung zu verdanken.160“ Als Fazit daraus publizierte Rudolf eine Vielzahl seiner vogelkundlichen Artikel meist ohne Namen, um die Anerkennung noch von Rang und Namen abhängig zu machen. Nach der ersten Reise mit Brehm veröffentlichte Rudolf 1878 anonym seine Reise- und Jagdgeschichte „Fünfzehn Tage auf der Donau“. Ob seiner Widmung „Meinem Schwager Leopold...“ war das Buch jedoch unschwer als ein Werk des Erzherzogs zu erkennen. Letztlich gab der deutsche Vogelforscher Otto Finsch dem prachtvollen, von ihm 1884/1885 im Südosten von Neu-Guinea entdeckten und beschriebenen Blauen Paradiesvogel zu Ehren des ornithologisch interessierten Kronprinzen den wissenschaftlichen Namen „Paradisatrnis Rudolphi“ (heute: „Paradisaea rudolphi“)161. Nur wenige Tage vor seinem Tod, am 22. Jänner 1889, besuchte Rudolf den Präparator Eduard Hodek162, den Mitbegründer des Ornithologischen Vereins Wien, in dessen Atelier auf der Marianhilferstraße, um sich dort seine zuletzt erlegten Adler anzusehen. Nach Rudolfs Tod wurde sein wissenschaftlicher Nachlass, der fast 7.000 Objekte – und darunter 1.948 Vögel – umfasste geteilt: die selbst angelegten Stücke der „Trophäensammlung“ kam an das Hofmuseum (heute: Naturhistorisches Museum Wien), die nahezu 1.000 Präparate der „Studiensammlung“ wurden an Schulen und Lehranstalten aufgeteilt. Allerdings wurde die wissenschaftliche und wissenschaftshistorische Bedeutung der Vogelsammlung seinerzeit von den Verantwortlichen nicht klar erkannt, so dass es in Folge zu unwiederbringlichen Verlusten kam163.
160
„Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Katalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989 161 Bauernfeind, Ernst in „Jagdzeit – Österreichs Jagdgeschichte – eine Pirsch“, Katalog zur 209. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 1996/1997 162 Hodek, Eduard, geb. 1827, gest. 1911 163 Von 600 Stopfpräparaten und 308 Bälgen sind im Naturhistorischen Museum heute noch 180 Stopfpräparate vorhanden, von denen 47 in der Schausammlung zu sehen sind. 36
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
8. Der Kronprinz als Textdichter
„Die Texte sind doch schon seit langem bekannt.“
Dr. Elisabeth Springer 18. Oktober 1995
Im März 1994 produzierte der Österreichische Rundfunk ORF im Casino Baumgarten gemeinsam mit Kammersänger Heinz Holecek und dem Wiener Schrammel-Ensemble die CD „Kronprinz Rudolfs letzte Lieder“164. Zwei dieser Lieder wurden bereits bei der Präsentation des Buches „Kriminalfall Mayerling“ am 29. März 1993 in den einstigen Privaträumen des Kronprinzen in der Wiener Hofburg uraufgeführt165. Sie stießen derzeit auf derart großes Interesse, dass der Hörfunk und die Firma Preiser-Records sich entschlossen, weitere Liedtexte des Kronprinzen zu vertonen. Insgesamt wurden fünf Lieder, die aus der Feder des Erzherzog Thronfolgers stammten, auf CD gepresst166. Zwei weitere Lieder hatte Brigitte Hamann bereits 1977 im Rahmen ihrer Doktorarbeit veröffentlicht167. Sie ordnete die Texte – Zusatzstrophen zu bekannten Wiener Couplets – jedoch einer falschen Provenienz zu. Zwar befanden sich die handschriftlich auf gedruckten Notenblättern verzeichneten Strophen im Selekt Kronprinz Rudolf, doch stammen sie ursprünglich aus dem Nachlass von Dr. Albin Schager-Eckartsau168. Schager-Eckartsau, Sektionschef in der General-Direktion der Privat- und Familienfonde, wurde nach Ende des I. Weltkrieges 1919 von Kaiser Karl zum stellvertretenden Interessenvertreter des allerhöchsten Hauses in hofärarischen Eigentumsfragen ernannt169. Der Autor Georg Markus irrt wenn er davon ausgeht, Schager-Eckartsau habe 1918 die von Karl erhaltenen Familienpapiere der Habsburger mit ins Exil nach Madeira genommen170. Denn während die Familie des Regenten Österreich verlassen musste, verblieb Schager-Eckartsau als Verwalter des habsburgischen Vermögens in Wien und siedelte erst 1919 in seine frühere Sommerwohnung in Wartholz/Reichenau über.
164
„Kronprinz Rudolfs letzte Lieder“, Preiser-Records und Radio Niederösterreich, Wien 1994 Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling - Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea-Verlag, Wien 1993 166 „Na, versteht sich“; „Verschiedene Begriffe“; „Gfrett-Gsangl“; „Ein eigener Zauber“; „Einst und jetzt“: Text: Kronprinz Rudolf; Musik: Herbert Prikopa 167 „Das hat kein Goethe g´schriebn“, Text und Musik: Johann Sioly, Zusatzstrophe von Kronprinz Rudolf; „Das waß nur a Weaner“, Text und Musik: Johann Sioly, Zusatzstrophe von Kronprinz Rudolf 168 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlaß Dozent Dr. Albin Schager-Eckartsau, 1 Karton 169 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Dozent Dr. Albin Schager-Eckartsau, 1 Karton 170 Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling - Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea-Verlag, Wien 1993 165
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1925 trat der damalige Dozent mit Bekenntnissen zum Rassenantisemitismus und zum Anschluss Österreichs an Deutschland an die Öffentlichkeit. Bereits ein Jahr später stellt er als Präsident der „Konservativen Volkspartei Österreichs“ der Ex-Kaiserin Zita als Chefin des Hauses Habsburg ein Ultimatum: Sie solle in Namen des Kronprinzen, Erzherzog Ottos, die übernationale altösterreichische Idee des Kaisertums aufgeben und sich zum Prinzip des nationalen Königtums bekennen171. Hierauf hin musste Schager-Eckartsau die Villa Wartholz auf Drängen der verärgerten Exil-Monarchin räumen. Zwischenzeitlich wurde bekannt, dass Dr. Albin Schager-Eckartsau – im 1. Weltkrieg Militärauditor im Heeresgruppenkommando Tirol und von dort der Kabinettskanzlei des Kaisers überstellt – im Oktober des Jahres 1921 den zweiten Reparationsversuch Karls verriet. Seine Agententätigkeit für die nationalistischen Kreise zahlte sich jedoch nicht aus: Als „Leiter der Verwaltung des Habsburg-Lothringischen Privatvermögens“ nutzte er zwar die Chance, sich persönlich daran zu bereichern. Doch dies führte zu stetiger Erpressbarkeit und Schager-Eckartsau landete schließlich wegen Betruges, Urkundenfälschung und falscher Zeugenaussage vor dem Landgericht172. Nach seinem Tode ging der Nachlass Schager-Eckartsau 1941 in die Verwaltung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs über173. Erst Anfang der 70-er Jahre wurde er dort von Hofrat Dr. Peter Broucek wieder entdeckt, der Material über den Bruder des Operettenkomponisten Franz Lehár, Generalmajor Anton von Lehár, recherchierte. Er war es auch, der Georg Markus bei der Arbeit zu seinem Mayerling-Buch auf die Existenz der Texte hinwies. Neben den Liedtexten des Kronprinzen finden sich im Nachlass Schager-Eckartsau Briefe von Frischauer, Szeps und Kalnoky an den Thronfolger sowie weitere Texte von Kaiser Franz Joseph, Kaiser Karl und dem jungen Kronprinzen Otto. Sechs der Kronprinzenlieder wurden von Herbert Prikopa174 neu vertont und arrangiert. Zwei weitere – nicht vertonte - Texte fanden sich im Entwurf im Nachlass des Kronprinzen175. Rudolf hatte die Texte wohl allesamt in den letzten beiden Jahren seines Lebens verfasst. Kunstpfeifer Joseph Bratfisch könnte sie interpretiert haben. Hauptadressat dieser Zeilen dürfte Rudolfs langjährige Geliebte, Maria Caspar, gewesen sein, die er zur idealen Freundin stilisierte. Vor diesem Hintergrund kann Georg Markus Behauptung, der habe die Lieder Rudolfs aufgefunden, nicht weiter gelten. Auf der CD von 1994 sind neben den Texten des Kronprinzen auch der „Kronprinz Rudolph Marsch“176 und der Walzer „Rudolfs Klänge“177 veröffentlicht. Nicht veröffentlicht sind die „Kronprinz Rudolf-Lieder“178.
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Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Dozent Dr. Albin Schager-Eckartsau, 1 Karton Feigl, Erich: „Kaiserin Zita – Von Österreich nach Österreich“, Amalthea, Wien 4. Auflage 1986 173 Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling - Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea-Verlag, Wien 1993 174 Prikopa, Herbert war mit 19 Jahren jüngster Korrepetitor an der Wiener Volksoper, Sänger an der Wiener Kammeroper, Solist und Dirigent an der Wiener Volksoper, Gründer der Konzertreihe „Für Kinder und Kenner“, Dirigent vieler Wiener Neujahrskonzerte und der Faschingskonzerte der Wiener Symphoniker 175 „Schwarzaugertes Dearndl“; „Feuerwehr-Polka“ von 1888 (siehe auch „Katalog „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, 119. Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla 1989/90 176 Instrumental, Musik: Johann Schrammel 177 Instrumental, Musik: Josef Strauß, Op. 283 178 Anonymus: „Kronprinz Rudolf Lieder“, Verlag von Georg Szelinski, Wien 1889 172
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
9. Die Familie Vetsera
večer = Abend = Abendland = der aus dem Westen stammende
Dem Ursprung her dürfte der Namen Vetsera aus dem slawischen Sprachschatz stammen – „Večera“, gesprochen wie „Wetschera“. Der Herkunft nach mag der Familienname jedoch keine Ableitung des slawischen Wortes „včera“, d.h. „gestern“ sein, sondern eher im Zusammenhang mit „večer“, d.h. „der Abend“ stehen. Wie es zur Namenswerdung kam, ist nicht belegt – vielleicht mag Vetsera von „večer = Abend = Abendland = der aus dem Westen stammende“ herkommen. In Pressburg179, wo die Familie rund 80 Jahre lang ansässig war, erscheint vor 1790 der Namen nirgends auf. Interessant ist jedoch die Art und Weise der Namensschreibung seither: in ungarischer Form als „Vecsera“, in slawischer Form als „Veczera“ oder „Wečzera“, in deutscher Form als „Wetschera“ und erstmals 1795 in der V-Form „Vetsera“180. In Pressburg scheint als Ahnherr ein um 1750/60 geborener und zwischen 1813 und 1828 gestorbene bürgerliche Schustermeister und Hausbesitzer auf. Dieser Josef Vetsera181 [wir werden wegen der besseren Lesbarkeit den Nachnamen durchgehend mit V schreiben] ist um 1791 nach Pressburg gezogen – vielleicht aus dem Dorf Uszor (deutsch: „Austern“, ungarisch: „Uszor“) auf der Großen Schüttinsel, 24 Kilometer südöstlich von Pressburg182. Er wird 1813 als Besitzer des Mietshauses Hummelgasse 6 in der inneren Stadt genannt. Nach seinem Tode verkauft die Witwe Elisabeth183 zwischen 1842 und 1850 das Haus. Josef und Elisabeth Vetsera hatte fünf Kinder184. Der jüngste Sohn, Bernhard, wird der Großvater der Baroness Mary Vetsera. Es selbst wird sein Leben in Pressburg verbringen und seinem Sohn Albin, Marys Vater, die Beamtenlaufbahn ebnen. So erhält Albin die Möglichkeit, Pressburg zu verlassen. Wir berichten an anderer Stelle, wie sich Albin Vetsera und Helene Baltazzi kennen gelernt haben. Nach der Hochzeit 1864 lebten sie zunächst in Konstantinopel-Pera, ab 1868 in St. Petersburg und seit 1869 in Lissabon. Ende
179
heute: Bratislava Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 181 Vetsera, Josef; geb. 1750/60, gest. zwischen 1813 und 1828 182 Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937, der sich auf den am 17.02.1925 im „Neuen Wiener Journal“ von Eugen Holly verfassten Aufsatz „Spuren der Familie Vetsera“ bezieht. 183 Vetsera, Elisabeth geb. Killer (oder Giller), geb. um 1754, gest. 18.02.1844 in Pressburg 184 Aus der Ehe von Tochter Anna mit dem Schustermeister Franz Rommer ging der nachmalige ungarische Benediktinermönch und bekannte Archäologe Franz Rommer (Ferenc Rómer) hervor, geb. 12.04.1815 in Pressburg, gest. 08.03.1889 in Großwardein 180
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1870 mietete Helene Vetsera in der Wiener Leopoldstadt185 ein Haus „Am Schüttel“ 11186 gegenüber der Weißgerberlände187. Dort zog sie zunächst nur mit den Kindern Hanna und Ladislaus ein. Ihr Bruder, Alexander, hatte das Haus mit Teppichen und orientalischer Kunstgegenständen aus der einstigen elterlichen Wohnung in Konstantinopel möbliert. Albin Vetsera lebt aus beruflichen Gründen zwischen 1870 und 1872 in Darmstadt. Im ersten Wiener Familiendomizil188 am Schüttel kamen in den folgenden Jahren die beiden Kinder Marie und Franz zur Welt. Helene Vetsera hielt sich während Albin Auslandsaufenthalt oft bei ihrem Bruder Heinrich Baltazzi auf, der zu Beginn der 80-er Jahre in Pardubitz in Garnison lag189. Im Frühjahr des Jahres 1880 mietet die Familie Vetsera im dritten Wiener Gemeindebezirk „Landstraße“ gegenüber der Zaunergasse ein Palais190 gegenüber mit der Anschrift Salesianergasse 11. Um 1882 pachtete die Familie Schloss Schwarzau191 am Steinfeld, wo sie bis 1891 viele Jahre die Sommermonate verbrachte. In der Salesianergasse 11 bleibt Helene Vetsera bis zum Beginn der Offizierslaufbahn ihres Soh185 1850 wurde die Wiener Vorstand Jägerzeile mit weiteren Vorstädten zum 2. Wiener Gemeindebezirk „Leopoldstadt“ zusammengefasst. Der Bezirk trägt seinen Namen nach Kaiser Leopold I. und entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum Wiener Vergnügungsviertel. Ein Teil des damals zur öffentlichen Nutzung freigegebenen kaiserlichen Jagdreviers in den Donauauen besteht heute noch unter dem Namen „Prater“. 186 Das zweistöckige, unterkellerte Haupthaus mit einem großen (heute noch teilweise erhaltenen) Garten am Donaukanalufer wurde 1816 als Landhaus im Stil des Klassizismus errichtet und lang nordwestlich der Wiener Zuckerraffinerie. An der Straßenfront befand sich das Einfahrtstor für Kutschen. Von dort führte eine geschwungene Steintreppe direkt in den ersten Stock, in dem sich ein Saal befand. Aus dem Saal trat man auf einen kleinen Balkon hinaus, der sich direkt über dem Eingangstor befand. In der zweiten Etage wiederholte sich die Zimmeraufteilung – jedoch ohne Balkon. In dem links zum Garten hin angebaute Seitenflügel befanden sich die Wirtschaftsräume, eine Wagenremise und Stallungen. Durch in Tor in der Mauer des rückseitigen Gartens war direkt das Pratergelände zu erreichen. Das Haus mit der Inschrift „Agrestia miscet gaudia urbanis“ wurde 1916 von Dr. Hugo Hassinger im, „Kunsthistorischen Atlas der K. K. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“ (Band 15 der Österreichischen Kunsttopographie) als „eines der hervorragendsten klassizistischen Bauten, ebenso erhaltenswert wie der zugehörige große Garten“ eingestuft. 187 Die heutige Schüttelstraße existiert seit 1876 als Teil der Kronprinzenstraße und „Am Schüttel“; vor der Donauregulierung war der angrenzende Prater eine sehr wasserreiche Gegend – so wurde eine Straße „angeschüttet“, die höher als die Umgebung lag. Das demolierte Geburtshaus von Mary Vetsera befand sich östlich der Franzensbrücke im Bereich der heutigen Schüttelstraße 7, einem 1937/38 errichteten Anbau an die seit 2001 unter Denkmalschutz stehenden Wohnhausanlage der Stadt Wien, den „FranzMair-Hof“ von 1931/1932 (Schüttelstraße 5-7). Der offene Durchgang zwischen den Häusern 7 und 9 gehörte zum Garten des Geburtshauses. 188 1908 ließ der damalige Hauseigentümer, Heinrich Fürst von Liechtenstein (…) das Fundament des Hauses aus Beton ersetzen – der zu nahe am Ufer des Donaukanals gelegene Baugrund der Au hatte die hölzernen Fundamente des Hauses faulen lassen. Dennoch war eine linksseitige Senkung des Gebäudes nicht aufzuhalten. 1928 wurde unter Therese Prinzessin von Liechtenstein die Fassade erneuert. Ein Jahr später verkaufte sie das Haus mit den sieben Wohnungen an die Gemeinde Wien. Auf Grund der starken Baumängel (Risse in den Gewölbegurten durch ungleichmäßige Fundamentsetzung, so dass Stiegenhaus und Gartenfront mit Holzstempeln abgestützt werden mussten) und der damit verbundenen Sanierungskosten von rund 7.500 Euro ließ die Gemeinde Wien das Haus 1936/1937 abreißen (Demolierungsauftrag vom 26.10.1936 mit der Frist, binnen drei Wochen fertig zu sein; Neubaubewilligung vom 19.05.1937; Bezugsbescheid vom 24.05.1938 für den 5-stöckigen Neubau mit 20 Wohnungen). Diese neuen Forschungen widerlegen Hermann Swistuns und Heinrich Baltazzi, die beide von einer Zerstörung durch Fliegerbomben im Zweiten Weltkrieg berichten. 189 Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 hatte auch Albin Vetsera für kurze Zeit einen kleinen Besitz in Pardubitz. 190 Bei dem Palais handelte es sich um einen freistehenden Barockbau aus dem Jahre 1794 an der ehemaligen „Waag Gasse“ (1840 bis zum Rennweg verlängert, seit ca. 1862 „Salesianergasse“; sie wurde nach dem 1717 bis 1719 errichteten nahen Kloster und der 1730 errichteten Kirche Mariä Heimsuchung der Salesianerinnen [Orden des hl. Franz von Sales, 1716 nach Wien berufen] benannt) im Wiener Aristokratenviertel in der Nähe des Modenapark (auch: Palais Salm); 1855 von Fürst Milos(ch) Obrenovitsch von Serbien erworben und um zwei Seitentrakte vergrößert; dreiseitig geschlossener Vorgarten; rückwärtig Garten mit linksseitigem Seitentrakt (Gesellschaftsräume; Spiegelgalerie; Stallungen) bis zum Park des Palais Modena; Stallungen im vorderen linken Seitentrakt. Der Mietzins betrug 1885 laut Häuserkataster 3.417 Gulden jährlich. 1902 Einzug der amerikanischen Gesandtschaft; 1911 japanische Gesandtschaft; 1916 beim Durchbruch der Neulinggasse durch den östlichen Teil des Modenaparks in Richtung Süden zur Zaunergasse demoliert. Im Haus Salesianergasse 12 wird am 01.02.1874 der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal ("Jedermann", "Rosenkavalier") geboren. 191 Das einst zum gräflich Wurmbrand´schen Fideikommiss gehörende Schloss wurde um 1867 an den ungarischen Grafen Koloman Nákó de Szent Miklos verkauft. Nach dem Tode seiner Frau vermietete er es an die Familie Vetsera. 1890 erwarb die Familie Bourbon-Parma das Schloss als Wohnsitz. Dort fand am 21. Oktober 1911 die Hochzeit zwischen dem nachmaligen Kaiser Karl I. und der Prinzessin Zita von Bourbon-Parma statt. Heute befindet sich in Schloss Schwarzau eine Justizanstalt für 160 Frauen.
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nes wohnen. Gemeinsam mit Tochter Johanna siedelte sie dann in eine Mietswohnung an der Technikerstraße 10 zwischen Karlsplatz und Schwarzenbergplatz um, wo sie bis zur Hochzeit ihrer Tochter Hanna 1897 wohnen blieb. „Dann bezog sie eine Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße 10192“, ebenfalls im vierten Wiener Gemeindebezirk193, wo auch zeitweise ihre Schwiegertochter mit den Enkelinnen wohnte und wo sie letztlich auch verstarb. Im Semmering-Gebiet kaufte Helene Vetsera zwei Jahre nach der Tragödie von Mayerling eine Villa – den „Mühlhof“ in Küb, einem Ortsteil von Payerbach194. Nicht nur die Nähe zu Schloss Schwarzau, auch zurückliegende Aufenthalte in Reichenau – wie z. B. 1883 im „Hotel Thalhof“ – erklären die Vorliege für die Semmering-Landschaft. Der „Mühlhof“ lag rund 200 Meter nördlich der nach dem 2. Weltkrieg demolierten „Villa Warrens“, in der Kaiserin Elisabeth 1873 dem Trubel der Wiener Weltausstellung zu entkommen hoffte. Am 21. April 1891 erwarb Helene Vetsera das seinerzeit „Villa Cary195“ genannte Gebäude und ließ es nach Plänen der französisch-italienischen Architekten Armand Banquè und Albert Pio196 durch die Firma der Wiener Stadtbaumeisters Heinrich und Franz Glaser197 umbauen und vergrößern198. Der Besucher betrat im „Mühlhof“ zunächst eine holzgetäfelte Halle, aus der nach britischem Vorbild eine Holztreppe hinauf in die Wohnräume und die gut bestückte Bibliothek führte. Ein kleiner, vorgelagerter Garten schmiegte sich an die Terrasse an. Hier stehen noch heute die von Helene Vetsera gepflanzten Mammutbäume, eine Winterlinde und eine Douglastanne. Helene Vetsera schien sich im „Mühlhof“ wohl zu fühlen, errichtete 1894 im Stil der Bahnwärterhäuser der Semmeringbahn ein Pförtnerhaus (Mühlhof 6) und ließ schon bald an der Villa einen nach Osten sich erstreckenden Zubau errichten. So entstand ein stattlicher Adelssitz, der jedoch im Aussehen kaum etwas mit den im Semmering üblichen Sommervillen gemein hatte. Am 7. September 1921 verkaufte Helene Vetsera – wohl aus finanziellen Gründen – den Mühlhof wieder199 und legte den Erlös in Wertpapieren an. Sie fühlte sich jedoch auch weiterhin dem Semmering-Ort verbunden und wurde nach ihrem Tode 1925 dort beigesetzt. Der „Mühlhof“ indes verfiel nach einer wechselvollen Geschichte200 und ist als Ruine heute nicht zugänglich. Das Areal steht unter Natur- und Denkmalschutz. Schwarzau deckt das gesamte Spektrum des österreichischen Strafvollzugsrechtes ab wie Normal-, Ernst- und Entlassungsvollzug, Freigängerabteilung, Vollzug an Strafgefangenen mit psychischen Besonderheiten, Maßnahmevollzug, Jugendvollzug und Mutter-Kind-Abteilung mit Kindergarten. Die weiblichen Insassen haben Arbeitsmöglichkeiten in der Wäscherei, Gärtnerei, Gefangenen- und Beamtenküche, Näherei, Fleischerei, Unternehmerbetrieb und Landwirtschaft. Darüber hinaus werden Ausbildungen zum land- und frostwirtschaftlichen Facharbeiter sowie für Köchinnen und Restaurantfachfrauen angeboten. 192 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 193 Heute befindet sich im Haus Nr. 10 an der Prinz-Eugen-Straße u.a. die Konsularabteilung der Schweizerischen Botschaft. 194 Die historischen Wurzeln des Anwesens gehen auf einen Wirtschafts- und Verwaltungshof des Zisterzienserstiftes Neuberg/Steiermark aus dem 14. Jahrhundert zurück, der später in einen kleinen Adelssitz umgestaltet wurde. 195 Der genaue Zeitraum der Errichtung der „Villa Cary“ ist nicht bekannt, da die Gloggnitzer Grundbücher erst 1880 beginnen. Bekannt ist nur, dass am 20.10.1877 Karoline von Friedel die Villa erwarb und am 16.11.1885 an Heinrich Prinz von Lichtenstein verkaufte. 196 Armand Banquè und Albert Pio hatten bereits in Reichenau 1884 das Schloss Rothschild erbaut 197 Glaser, Franz, (geb. 1822, gest. 1885), Bürgermeister von Dornberg 198 Mit dem Neubau eines Gesindehauses und der Anlage eines Parks mit exotischen Bäumen entstand ein einfacher, nicht zu kostspieliger Landsitz. 199 Neue Eigentümerin wurde Rosa Klinger, geb. Strache (geb. 29.06.1858 in Wien, gest. 18.07.1929 in Mühlhof 3, beigesetzt in St. Lorenzen/Steiermark am 22.07.1929), die dort eine Fremdenpension einrichtete. 200 Als Erbsache wurde das Anwesen nach dem Tode von Frau Klinger am 07.06.1935 an die Israelitische Kulturgemeinde Wien verkauft, die dort ein Kinderheim einrichtete und 1936 erste Umbaumaßnahmen u.a. mit einer biologischen Kläranlage durchführte. Als Träger des Heimes erwarb am 18.10.1937 die Eduard und Rosa Gottlieb ´sche Wohltätigkeitsstiftung den „Mühlhof“. 1939 wurde das Anwesen durch Spionageeinheiten der Deutschen Wehrmacht beschlagnahmt; das Stallgebäude wurde unter Baumeister Franz Darrer aus Payerbach zum neuen Kinderheim der NSDAP/Gau Niederdonau umgebaut, der Plan zur Einrichtung einer Kranken-Isolierstation durch Ingenieur Dutka/Wien wurde verworfen. Am 04.03.1939 ging der „Mühlhof“ offiziell in das Eigen41
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
9. Die Familie Baltazzi-Vetsera A: Helene Vetsera
„Liebe Mutter! Verzeih mir, was ich getan habe, ich konnte der Liebe nicht widerstehen.“
Mary Vetsera an ihre Mutter Jänner 1889
„Baronin Helene Vetsera stammt aus der Familie Baltazzi, die ihre Herkunft aus Venedig ableitet. Ihr Vater, Theodor Baltazzi, war als Bankier in Konstantinopel tätig, wo er durch die Pacht der Maut auf der Brücke zwischen Galata und Stambul ein großes Vermögen erworben hatte.201“ Sie galt seinerzeit als reichstes Mädchen von Konstantinopel – die Geschwister sollen nach dem Tode der Eltern 10 Millionen Gulden geerbt haben. Geboren wurde Helene Vetsera am 25. Mai 1847 als Tochter des Bankiers Theodor Baltazzi und seiner Gattin, Eliza geb. Sarell202 in Marseille. Über ihre Kindheit und Jugend mit neun Geschwistern wissen wir so gut wie kaum etwas. Sicher scheint, dass sie die größte Zeit ihres Lebens in Konstantinopel lebte, wo nach dem Tode des Vaters 1860 ihre Mutter Eliza ein zweites Mal heiratete. 1864 hielt der österreichische Diplomat und Beamte Albin Vetsera um ihre Hand an und erhielt von Kaiser Franz Joseph umgehend eine Heiratsbewilligung203. Helene Vetsera führte „ein großes Haus und hatte den Ehrgeiz, ihre Tochter Mary, die sie abgöttisch liebte und ihren drei anderen Kindern vorzog, durch eine Ehe in die höchsten Kreise einzuführen. Schon sprach man in den Salons der Wiener Gesellschaft davon, Mary werde den Herzog Miguel von Braganza heiraten, aus dessen Familie einst Könige von Portugal hervorgingen.204“ Das Ehepaar – bedingt durch die diplomatische Tätigkeit von Albin Vetsera im Außenamt – lebte die meiste Zeit getrennt und sah sich oft nur bei den kurzen Wien-Rapporten des Mannes. Mitte Oktober 1887 erhielt Helene
tum der NS-Volkswohlfahrt e.V./Berlin über. Als im April 1945 auch Payerbach Kriegsschauplatz wird, sprengen im Rahmen der sechswöchigen Kampfhandlungen die angreifenden russischen Truppen das Hauptgebäude des „Mühlhofes“. Nachdem die Ruine offiziell am 8. Mai 1945 in den Besitz Österreichs kam, wurde am 11.11.1952 die Israelitische Kultusgemeinde Wien Eigentümer des 52.000 Quadratmeter großen Anwesens. 1979 verließ der letzte Bewohner das Pförtnerhaus des Mühlhofes. 201 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 202 Sarell, Eliza, geb. um 1825 in Konstantinopel, gest. im Winter 1863/64 in Konstantinopel oder Teheran; Tochter des Konstantinopler Bankiers und Schatzmeister der britischen Levante-Company, Richard Sarell und der Griechin Euphrosyne Rhazis. In zweiter Ehe heiratete sie in Teheran den kgl. großbritannischen außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister Charles Alison. Ihr Schwager Richard, geb. 1829 in Konstantinopel, gest. 02.09.1900 in Kandili/Bosporus zählt zu den Pionieren der Chirurgie in der Türkei 203 In ihrem bei Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 erwähnten Trauschein wird als Konfession „evangelisch eingetragen, doch müsste es heißen „anglikanisch“. In späteren Jahren konvertierte sie offenbar zur römisch-katholischen Konfession. 204 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 42
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Vetsera in Schwarzau über das Außenministerium in Kairo ein Telegramm des Khedive-Club205, das ihr Mann schwer erkrankt sei. Über Brindisi reiste sie mit den Kindern sofort nach Ägypten, kam jedoch nicht mehr rechtzeitig in Kairo an – Baron Albin Vetsera war bereits am 14. November verstorben. Die Witwe und ihre drei Kinder nahmen an der Totenmesse und der anschließenden Beisetzung teil und reisten dann zurück nach Wien206. Dort fungierte als Testamentsexekutor der Anwalt Dr. Sterio, Salzgries 23, und der Anwalt Dr. Ferdinand Gnändinger, Spiegelgasse, als Helenes Vertreter in Sachen Verlassenschaftsangelegenheiten, Pension und Erziehungsbeiträge für die minderjährigen Kinder207. Aus den Schriftwechseln der beiden Anwälte geht hervor, dass Helene nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht schlecht gestellt war: neben einem höheren Betrag in Goldfrance hatte der Baron auch ein kleines Kapital in guten Obligationen bei einer Bank anlegen lassen. Hinzu kam als Erbe ein Teil des im Herbst 1895 auslaufenden Fruchtgenusses aus der Brückenmaut in Konstantinopel sowie die erst zwischen 1907 und 1917 veräußerten Liegenschaften der Geschwister am Bosporus. Mary schrieb ihrer Mutter aus Mayerling einen Abschiedsbrief – der jedoch wie andere Dokumente wahrscheinlich nach Helens Tod 1925 vernichtet wurde. So ist der Wortlaut nicht gesichert (siehe Kapitel 5.4): „Liebe Mutter! Verzeih mir, was ich getan habe, ich konnte der Liebe nicht widerstehen. In Übereinstimmung mit ihm will ich neben ihm im Friedhof zu Alland begraben sein. Ich bin glücklicher im Tode als im Leben. Deine Mary.208“ Für die Grabtafel in Heiligenkreuz suchte Helene den Bibelspruch selbst aus und kam auf die Zusammenziehung der Verse 1 und 2 des 14. Kapitels im Buch Hiob, in dem der Prophet über die Nichtigkeit des Menschen klagt und vergeblich Trost such: „Wie eine Blume sprosst der Mensch auf und wird gebrochen209“. Im Juni 1889 erschien als Denkschrift im Selbstverlag ein Manuskript der Baronin, das bei Johann N. Vernay210 im neunten Wiener Gemeindebezirk gedruckt wurde. Helene hat auf „Gedenkblättern“, wie sie sie nannte, in vielen einsamen Stunden die Berichte und Erlebnisse ihrer Brüder in Mayerling notiert und die Briefe ihrer Tochter an Gabriele Tobis abgeschrieben. Der Journalist Philipp Michael Ritter von Newlinsky verfasste aus den Skizzen der „Gedenkblätter“ eine Rechtfertigungsschrift, die zunächst ausschließlich im privaten Kreis verteilt werden sollte – daher wurden auch bei vielen Zeugen nur die Vornamen genannt, um sie vor der Öffentlichkeit zu schützen. Nach eigenen Worten war die Schrift „nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern geschrieben, um sie ihm zu übergeben.211“ So war sie nicht als Angriffspamphlet gedacht, sondern sollte den Ruf ihrer Kinder Johanna und Feri sowie den ihrigen wieder herstellen.
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Ob es sich bei diesem Club „nur“ um einen Herren-Club, oder um den Club des ägyptischen Vizekönigs handelte, konnten wir bislang nicht klären. 206 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 207 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 208 nach: Vetsera-Denkschrift, zitiert in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 209 Hiob, 14: Klage über die Nichtigkeit des Menschenlebens - Vergebliches Hoffen auf Trost nach dem Tod; „1. Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, 2. geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“ (Luther-Übersetzung 1984) 210 Johann N. Vernay Druckerei- und Verlags A.G, Canisiusgasse 8.10, Wien. Periodika u.a. „Der Tag“, „Die Börse“ und „ Die Bühne“. Der Verlag und das Druckhaus mit zeitweise mehr als 400 Mitarbeitern bestanden nach wechselvoller Geschichte bis zur Liquidation 1986. Das Haus in der Canisiusgasse 8-10 ist heute im Besitz der ÖBB Genossenschaften und wurde zum Wohnhaus umgestaltet. 211 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 43
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Rund 200 gedruckte Exemplare und die Druckstöcke wurden sofort von der Polizei beschlagnahmt und vernichtet, 25 Stück sollen der Zensur entgangen sein212. Der Pariser „Le Temps“ druckte am 26. August 1889 Teile der Denkschrift ab, der Pariser „L´Eclair“ brachte am 3. September 1889 den vollständigen Text. Judtmann berichtet, dass auch die Londoner „Times“ die Rechte erwarb, den Text jedoch nicht veröffentlichte. Vor der Vernichtung der beschlagnahmten Drucke schrieb Polizeipräsident Baron Krauß mit Hilfe von drei Polizeibeamten den kompletten Text ab und hinterlegte die Abschrift in seinem Geheimakt. Zu Beginn der 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts waren sieben händische Abschriften des Originaldruckes bekannt – davon befanden sich je eine im Besitz der mit Johanna befreundeten Geigerin Amalie Müller-Mollner sowie bei den Nachkommen der Firma Rodeck und Schöffels, des Retters des Wienerwaldes. Eine ebenfalls händische Abschrift befindet sich im Besitz der Galerie St. Etienne in New York sowie bei einem Privatsammler in Wien. Die von Johanna gefertigte „Denkschrift“ für Hermine Tobis befand sich bis zum Tode von Hermann Swistun-Schwanzer im Archiv Vetsera-Baltazzi und ist nur in einer Fotokopie erhalten. Ferner besitzt die Österreichische Nationalbibliothek eine händische Abschrift, deren Herkunft jedoch juristisch nicht geklärt ist213. Das Originalmanuskript der „Denkschrift“ von Newlinsky wurde ebenso wie die „Gedenkblätter“ von der Baronin vernichtet, so dass die Abschrift durch Hanna die einzige Wiedergabe des Originaltextes darstellen dürfte. Nachdem Planitz eine kommentierte Neuauflage der „Denkschrift“ in Erzählform auf den Markt brachte, kam 1921 der Verlag „Gebrüder Stiepel Gesellschaft m.b.H“ in Reichenberg mit einem Sonderdruck aus der „Reichenberger Zeitung“ heraus214. Diese so genannte „Reichenberger Fassung“ enthält jedoch viele Fehler und sinnstörende Änderungen. Dennoch zählen die Drucke der Denkschrift bis heute zu einer seltenen bibliophilen Kostbarkeit. Für Helene und ihre Tochter Hanna war das Palais an der Salesianergasse spätestens mit dem Beginn der Offizierslaufbahn von Feri Vetsera zu groß geworden, so dass sie eine geräumige Mietwohnung an der Technikerstraße 10 nahe dem Schwarzenbergplatz im vierten Wiener Gemeindebezirk Wieden bezogen. Als Kammerzofe war zu diesem Zeitpunkt Anna Ungar für sie tätig215. Wahrscheinlich bis zur Hochzeit Hannas 1897 blieb Helene dort wohnen, dann zog sie in eine kleinere Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße 10. „Sie hatte aber schon früher ein Haus mit einer Landwirtschaft, den Mühlhof in Küb bei Payerbach an der Semmeringbahn, angekauft. Nach dem Krieg lebte sie in bescheidenen Verhältnissen.216“ Ihr Enkel, Heinrich Baltazzi-Scharschmid, erinnerte sich: „Tante Helene ... war stets eine agile, geistig rege und ungemein interessierte Frau (...) Sie las oft bis zu sechs, sieben Zeitungen am Tag, hielt sich aber von oberflächlichem Tratsch fern und in Payerbach-Reichenau kannte man sie als eifrige Radfahrerin.“ Rund um die Rax kannte man sie „als eine umsorgende, verantwortungsbewusste Großmutter, die mit ihren dunklen, tiefliegenden Augen sowohl mit
212
Das Palais Dorotheum Wien versteigerte im Juni 2009 eine gedruckte Fassung der Denkschrift. Handschriftensammlung der ÖNB Wien, Inventar: Ser.n. 2849; das Objekt wurde 1941 einsigniert und es stammt wahrscheinlich aus einer von der GESTAPO beschlagnahmten Bibliothek eines jüdischen Wohnhauses. Aus diesem Grund hat die ÖNB das Objekt als „bedenkliche Erwerbung“ qualifiziert, für die das Österreichische Kunstrückgabegesetz (BGBL. 181/1998) die Übereignung an den Nationalfonds der Rep. Österreich für Opfer des Nationalsozialismus vorsieht. Zurzeit (06.2007) wird über die Kunstdatenbank ein ev. Vorbesitzer oder Erben gesucht; freundliche Mitteilung von Frau Mag. Margot Werner, Archiv/Provenienzforschung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Wien 11.06.2007 214 „Das Drama von Mayerling – Der Tod des Kronprinzen Rudolf u. der Baronesse Mary Vetsera. Gemeinsam verabredeter Tod. Die Denkschrift der Baronin-Mutter Helene Vetsera.“, Reichenberg 1921 215 Swistun, Hermann: „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus der Sich der Chronik Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Theiss-Druck/Wolfsberg, Selbstverlag des Autoren, Wien 1980 216 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 213
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Lorgnon als auch im Hause mit Brille sehr wachsam blickte.217“ Sie war als Wohltäterin der örtlichen Schule bekannt und in der so genannten „Barbarakapelle“ in Küb befindet sich ein läuferartiger Teppich, den die Vetsera der kleinen Kirche stiftete. Am 25. Dezember 1921 formulierte Sie in Wien ihr erstes Testament, in dem sie als Universalerben die Kinder von Franz Vetsera einsetzte und den Kindern von Johanna nur den Pflichtteil zuwies. Darüber hinaus legte sie fest: „Ich vermache der Kammerjungfrau Frl. Anna Leschanz eine lebenslängliche Rente von 120.000 Kronen, zahlbar halbjährlich im Vorhinein. Der Kinderfrau Frl. Minna Mayer eine lebenslängliche Jahresrente von 1.000 Kronen. Ich ernenne und bitte Herrn Richard von Schoeller es anzunehmen als Testaments Executor und Mit-Vormund mit meiner Schwiegertochter Margit Baronin Vetsera geb. Gräfin Bissingen.“ In einem „Kodizill“ vom 7. März 1922 fügte Helene ihrem letzten Willen hinzu: „Ich vermache der Alitschi meine Ringe, der Nora meine Rothe Uhr und der Nancy meine Toilette (silberne) und ein Armband. Anna Leschanz die vollkommene Einrichtung für ein Zimmer mit einem guten Kanapee und Lehnstuhl, meine zwei Pelzkrägen, meine alte Sealskinjacke und alle meine alten Kleider.“ Drei weitere Ergänzungen folgten in den kommenden Jahren: „Meine liebe Anna Leschanz muss auf jeden Fall genug zum Leben bekommen sobald sie nicht mehr im Hause ist. Wenigstens 80.000 (sage achtzig Tausend) monatlich außer das es nicht genügt“ (17.01.1923), „Anna Leschanz muss unbedingt genug bekommen, dass Sie leben kann wenn Sie nicht mehr im Dienst bleibt“ (30.04.1923) und „Anna Leschanz muss die eintausend Kronen die ich ihr vermacht habe valorisiert bekommen.“ (16.01.1924). Helene Vetsera starb 77-jährig am Donnerstag, 1. Februar 1925 – dem Jahrestag der Beisetzung ihrer Tochter Mary in Heiligenkreuz –, „an Gefäßverkalkung218“ in ihrer Wiener Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße219. Ihr Leichnam wurde mit Magistratsdekret 12/2363 am 3. Februar nach Payerbach überführt und auf dem dortigen Friedhof220 am 4. Februar in der Gruft ihres Sohnes221 beigesetzt222. Die Exekution des durch den Gerichtskommissar und Notar Dr. Richard Wagner „kundgemachte“ und durch die beiden Wiener Notare Dr. Richard Wagner und Emanuel Tannenberger eröffnete Testaments ergab indes, dass „mangels eines Nachlassvermögens“ eine „Verlassenschaftsabhandlung nicht stattfindet“. Die Finanzverhältnisse wurden wie folgt dargelegt: „Bis 1919 hatte [die] Verstorbene eine Pension von 2.400 Kronen. [Der Nachlass besteht aus einer] Barschaft ca. 15.000 Kronen, Pretiosen, Kleidung, Wäsche, Wohnungseinrichtung sowie [einem] Wertpapierdepot bei [der] N.Ö. Eskompte Gesellschaft, I., Am Hof, bei dem Bankhaus Schoeller & Co., Wien I., Wildbretmarkt, und bei der Anglobank, I., Strauchgasse 10.“. Diesem Vermögen stand ein Passivsaldo gegenüber von „bei [der] Anglobank per 2.000.000,00 Kronen, bei der N.Ö. Eskompte Gesellschaft per 175.000.000,00 Kronen, bei Bankhaus Schoeller & Co. per 300.000,00 Kronen“.
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Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 218 Sterbebuch Payerbach, Totenbeschauzettel Nr. 1495 219 Totenschauzettel Nr. 1495; Sterbeeintrag Karlkirche 220 Der Friedhof in Payerbach, 1823 auf dem "pfarrlichen Leithenacker" errichtet und ursprünglich Pfründengut des Pfarrers, war bis 1907 auch Friedhof für große Teile des Gemeindegebietes von Reichenau. 1880 entstand die Gruftkapelle des Barons Viktor von Erlanger nach einem Entwurf des Ringstraßenarchitekten Heinrich von Ferstel im Neurenaissancestil. 1901 entstand die Friedhofsmauer in der heutigen Gestalt. 1982 wurde gegenüber dem Pfarrfriedhof der neue Friedhofsteil, der von der Gemeinde Payerbach verwaltet wird, angelegt. Am Pfarrfriedhof haben einige bedeutende Persönlichkeiten sowie Ehrenbürger der Gemeinden Payerbach und Reichenau ihre letzte Ruhestätte gefunden. 221 Gruppe II, Gruft 5 222 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 45
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Um Helenes Vetsera und vor allen ihren Lebenswandel gab es in der Vergangenheit immer wieder Gerüchte – meist haltloser Art. Jedoch: Der Archivar der Familie, Hermann Swistun-Schwanzer, wiederholt gegenüber Zeugen mehrfach, dass Helene Vetsera ein Verhältnis mit einem österreichischen Erzherzog223 unterhalten habe. Dies bestätigte uns gegenüber auch der ungarische Prof. Dr. Kalmar Zoltan – ein möglicher Cousin von Mary Vetsera. Dass im November 1909 in Caracas/Venezuela ein Baron Luis Vetsera – angeblich ein weiteres Kind von Albin und Helene Vetsera – starb224, ist nur aus dem Briefwechsel zwischen dem Habsburg-Experten Conte Corti mit dem halb blinden Rudolf-Forscher Wildon Lloyd in den USA bekannt und in das Reich der Fabeln zu verweisen225. Als „Zeitungsente“ entlarvt Conte Corti den Bericht, Helene Vetsera habe eine ältere Schwester mit Namen Sophie gehabt, die 1865 oder 1869 tot bei Kaisermühlen in der Donau gefunden wurde. In den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts erneuerte der damals 36-jährige „österreichische Privathistoriker226“, der nachmalige Hofrat Dr. Peter Pötschner227, die These, Helene Vetsera habe ein Verhältnis mit Kaiser Franz Joseph unterhalten und der Kaiser sei Vater der Baroness Mary. Der spätere Landeskonservator von Wien griff damit ein Gerücht auf, über das bereits 1889 Ernst Edler von der Planitz berichtete, und erhärtete es mit einem Bildvergleich: „Die Ähnlichkeit zwischen Rudolf und der Vetsera geht aus einigen erhaltenen Photographien geradezu schlagend hervor.“ Als Beweis, dass Albin Vetsera nicht der Vater der Baroness war, führte er die im Staatsarchiv aufliegende Personalakte des Diplomaten an228: Albin seine Frau Helene hatten sich letztmalig zehn Monate und zwölf Tage vor der Geburt Maries gesehen. Zudem meinte Pötschner, eine Entfremdung der Eheleute daran festmachen zu können, dass der Baron seine Urlaube selten daheim in Wien verbrachte. Kern seiner These ist die Annahme, dass Helenes gesellschaftliche Karriere am Wiener Hof mit dem raschen Aufstieg ihres Mannes vom Schusterenkel zum kaiserlichen Diplomaten zusammen fiele – und gleichzeitig endete. Pötschner: „Vom Moment der Eheschließung an macht der kleine und scheinbar zukunftslose Gesandtschaftsbeamte die große Karriere.“ Begründung: der Aufstieg sei Lohn für delikate Diente der Gattin. Nur Helene könne es zu verdanken sein, dass Albin Vetsera innerhalb von nur zwei Jahren zweimal eine Standeserhöhung erfuhr. Pötschner’s Berechnung nach müsse die – schriftlich nirgends fixierte – Liaison des Kaisers mit Helene von Vetsera „für die Zeit von 1868 bis 1872 angesetzt werden.“ Franz Joseph habe die damals allein lebende Baronin im Haus am Schüttel 11 mehrfach besucht – seit ca. 1871 lebte sie ja dort. Und warum Mayerling? Nach Pötschner habe der Kaiser seinem Sohn am Morgen des 28. Jänner eröffnet, die junge Geliebte sei die Halbschwester des Kronprinzen. Einziger Ausweg dieser Geschwisterliebe: der Tod229!
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Freundliche Mitteilung von Ingrid Fritz an den Verfasser, Wien 21.08.1996 Die Wiener Tageszeitung „Die Stunde“ nennt in der Artikelserie „Die Tragödie von Mayerling“ vom 23.05.1923 einen „Baron Ludwig Vetsera, gestorben Denver/Colorado, USA, 1909, Bruder der Baroness Mary“ 225 Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 nennt die Wiener Tageszeitung „Die Stunde“ in der Artikelserie „Die Tragödie von Mayerling“ vom 23.05.1923 einen „Baron Ludwig Vetsera, gestorben Denver/Colorado, USA, 1909, als Bruder der Baroness Mary“ 226 „Bratfisch hat wunderbar gepfiffen – Eine neue Version des Dramas von Mayerling“, in : „Der Spiegel“, Ausgabe Nr. 32, Hamburg, 03.08.1960 227 Hofrat i. R. Dr. Peter Pötschner war viele Jahre als Kunsthistoriker und Gemäldereferent im Historischen Museum der Stadt Wien tätig, war von 1969 bis 1989 Landeskonservator von Wien, trat dann in den Ruhestand und lebt als Pensionist in Eltendorf/Österreich. Er veröffentlichte zahlreichre Bücher, u.a. „Genesis der Wiener Biedermeierlandschaft“ 1964, „Das Schwarzspanierhaus. Beethovens letzte Wohnstätte“ 1970, „Wien und die Wiener Landschaft“ 1978 und war als Landeskonservator Herausgeber der „Wiener Geschichtsbücher“ 228 damalige Zahl „F6 – k.u.k. Missionen im Ausland/Personalia“, HHStaA Wien 229 Auf unsere Nachfrage teilte uns Dr. Peter Pötschner mit, er habe um 1948 mit seinen Nachforschungen begonnen und sich nach dem „Spiegel“-Artikel nicht weiter dem Thema gewidmet. Alle Unterlagen seien zwischenzeitlich verloren gegangen. Freundliche Mitteilung von Dr. Peter Pötschner, Eltendorf, 01.07.2003 224
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Helene Vetsera, geborene Baltazzi hat in 77 Lebensjahren viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen: sie erlebte 1881 den tragischen Feuertod ihres Sohnes Ladislaus beim Wiener Ringtheaterbrand, 1887 den Schlaganfalltod ihres Mannes Albin im fernen Kairo, 1889 den gewaltsamen Tod ihrer Tochter Mary in Mayerling, 1901 den Typhustod ihrer Tochter Hanna in Rom und schließlich 1915 den Kriegstod ihres Sohnes Franz Albin in Russland – und nie konnte sie persönlich in der Stunde des Todes von ihren Lieben Abschied nehmen. Ihr Vater Theodor starb 1860, die Mutter Eliza 1863 oder 1864. Auch den Tod von drei ihrer vier Brüder erlebte sie mit: 1914 starben Alexander und Aristides, 1916b Hector. Helenes Schwester starben ebenfalls früh: 1869 Julia, 1901 Elisabeth und Eveline, 1929 Charlotte. Fünf Schwägerinnen und Schwager starben ebenfalls zu Lebzeiten der Baronin. Helene Vetsera – an ein großes gesellschaftliches Leben gewöhnt – war nach den Ereignissen von Mayerling nicht mehr Mitglied der Wiener Gesellschaft. Die Vereinsamung muss sie stark getroffen haben. Einen Ausgleich fand sie in der Bewirtschaftung des „Mühlhofes“, der Lektüre und in karitativem Engagement. Diese Eigenschaften eroberten schnell die Herzen des kleinen Kreises der Payerbacher Bevölkerung, die in großer Zahl an ihrer Beerdigung teilnahm230.
230
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 47
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
9. Die Familie Baltazzi-Vetsera B: Albin Johannes Vetsera
„Die Braut … gelte als eines der reichsten Mädchen…“
Albin Vetsera, Konstantinopel, 1864
„Marys Vater, Albin Freiherr von Vetsera, war im diplomatischen Dienst Österreich-Ungarns als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister tätig.231“ Geboren wurde Albin Johannes Vetsera als drittes Kindern des Georg Bernhard Vetsera232 und der Caroline geborene Ullmann233 1825 im ungarischen Poszony234, wo er am 28. Februar im Krönungsdom getauft wurde235. Albin hatte insgesamt sieben Geschwister – drei Schwestern236 und vier Brüder237. Nachdem sein Vater Bernhard sich vom Stadtschreiber (1820) zum Stadthauptmann (1839/49) und Hilfsamtsdirektor des k.k. Landgerichts (Ruhestand 1870) aufgearbeitet hatte, war für ihn – eigentlich ein eher musisch begabter Junge, der gerne Musik hörte und zeitlebens als überaus begabter Zeichner und Hobbymaler tätig war – die Amtslaufbahn vorgesehen. Bernhard Vetsera, der als Stadthauptmann 1848/49 mit großer Härte gegen die aufständischen Ungarn vorgegangen und die Hinrichtung des evangelischen Predigers Paul Rázga am 16. Juni 1849 betrieben hatte, wurde von Kaiser Franz Josef mit Orden und Auszeichnungen bedacht – der Überlieferung nach soll ihm der junge Kaiser auch das Adelsprädikat angetragen haben, was Vetsera jedoch ablehnte, um die Pressburger Bürger nicht noch mehr gegen ihn aufzuwiegeln; statt dessen erbat er sich vom Hof, dass sein Sohn Albin die Beamtenlaufbahn einschlagen konnte238.
231
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Vetsera, Georg Bernhard; geb. um den 23.04.1796 in Pressburg, gest. 08.01.1870 in Pressburg, beigesetzt auf dem Sr. AndreasFriedhof in Pressburg; die Vita findet sich bei Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 233 Vetsera, Caroline, geb. Ullmann; getauft 31.12.1792 in Pressburg, gest. vor 1870; Hochzeit mit Bernhard Vetsera am 11.07.1820 in Pressburg. Ihr Vater, Johannes Joseph Ullmann (getauft 12.05.1761 in Kamnitz, Sterbedatum unbekannt. Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 ist die Familie Ullmann bis 1602 im böhmischen Kamnitz nachweisbar 234 Poszony/Ungarn = Pressburg = Bratislava/Slowakei 235 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 236 Bernhardine Therese, Serafine Anna und Caroline Maria 237 Karl Johann Victor, Bernhard, Bernhard Theodor und Ladislaus Karl Maria 238 Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 232
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Albin schloss zunächst die k.k. Orient-Akademie in Wien mit Auszeichnung ab, begann am 27. November 1849 seine diplomatische Laufbahn als Dolmetschergehilfe („ Internuntiusdolmetscheradjunkt“) an der Agentie in Bukarest und wurde bereits nach einem Jahr 1850 in gleicher Funktion an die Agentie in Konstantinopel versetzt. Am 22. April 1855 wird er zum k.k. Honorar-Legationssekretär, am 23. Mai 1858 zum Wirklichen Legationssekretär und am 21. September 1864 zum Honorar-Legationsrat in Konstantinopel ernannt239. Dort hatte er den Bankier Theodor Baltazzi kennen gelernt und hielt – nach dessen plötzlichem Tod 1860 – mit 36 Jahren bei dessen Witwe Eliza um die Hand der zweitältesten Tochter, der 16-jährigen Helene, an. Im Gegenzug verpflichtete er sich der Mutter gegenüber, die Vormundschaft über die neun minderjährigen Kinder zwischen 16 und 3 Jahren zu übernehmen240. Am 17. Februar 1864 genehmigte Kaiser Franz Joseph das ihm unterbreitete Heiratsgesuch241 seines Beamten Albin Vetsera242. Am 2. April 1864 heiratete der Diplomat dann in der römisch-katholischen Kirche von PeraKonstantinopel sein Mündel, die Bankierstochter Helene Baltazzi. Das Paar bekommt in Folge vier Kinder: 1865 während einer Beurlaubung in Paris243 Ladislaus, 1868 in Konstantinopel Johanna, 1871 in Wien Mary und 1872 ebenfalls in Wien Franz Albin. Als Träger des Ritterordens des österreichischen kaiserlichen Leopoldsordens244 wird Albin Vetsera auf eigenes Ansuchen „am 24. März 1867 durch Franz Joseph in den erblichen Ritterstand und nach der am 2. Oktober 1869 erfolgten Verleihung des Kleinkreuzes des königlich-ungarischen St. Stefansordens [durch Diplom] am 30. Jänner 1870 in den erblichen Freiherrenstand245 erhoben.“246 Gleichzeitig erhält er das Recht, ein Familienwappen247 zu führen. Das Hochzeitsansuchen von 1864 dürfte den fleißig und korrekte und von seinem Vorgesetzten, dem Gesandten Anton Baron von Prokesch-Osten248 stets belobten Gesandtschaftsbeamten im Wiener Außenministerium aus der Vergessenheit gerissen zu haben, denn am 14. April 1868 wird er zum Wirklicher Legationsrat und Geschäftsträger in St. Petersburg ernannt. Am 10. Dezember 1869 erfolgt die Berufung zum außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister in Lissabon und zum 7. Mai 1870 wird er in gleicher Eigenschaft zur „K.u.k. Österreichisch-
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Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983. Die Vormundschaft teilte er sich mit Helenes verheirateter Schwester Elisabeth Baronin Nugent. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem britischen Seeoffizier Albert Llewelly Baron Nugent, erzogen sie im Wechsel die Geschwister und schickten sie in England zur Schule; dies führte nach Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 dazu, dass keines der Kinder fehlerfrei die deutsche Sprache beherrschte. 241 Die „Normen, betreffend Ehebewilligungen für diplomatische Beamte“ lauteten: §1 Diplomatische Beamte bedürfen zur Eingehung einer Ehe der fallweise einzuholenden Bewilligung seiner k.u.k. Apostolischen Majestät“; nach: Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 242 Der Inhalt des Gesuches wurde in den 20-er oder 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts von Dr. Paul Diamant in einer Wiener Zeitung veröffentlicht – mit der Bemerkung, der Kaiser habe so unwissend das Todesurteil für seinen Sohn unterschreiben (nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937) 243 Das Ehepaar besuchte damals die in Paris lebenden Verwandten von Helene und lernte dort auf Vermittlung von ProschekOsten den damaligen österreichischen Botschafter, Fürst Richard Metternich und seine Gattin Pauline kennen. 244 Das Verleihungsdiplom anlässlich der verdienstvollen Arbeit in St. Peterburg, wo die Gesandtschaft neu zu organisieren war, befindet sich im Besitz von Frau Ingrid Fritz, Wien. 245 Das großformatige, aufwendig gestaltete Diplom befindet sich im Besitz von Frau Ingrid Fritz, Wien. 246 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 247 Das Wappen der Familie Vetsera: goldener Schild, durchzogen von einem schrägrechten schwarzen, rechts oben mit einem Stern durchbrochenen Balken; auf dem Hauptrand des Schildes ruht die Freiherrenkrone mit drei gekrönten Turnierhelmen, von welchen schwarze mit Gold unterlegte Decken herabhängen; die mittlere Helmkrone trägt einen offenen, rechts von schwarz über Gold und links abgewechselt quer geteilten Adlerflügel, welchem ein goldener Stern eingestellt ist; aus der Helmkrone zur Rechten wächst ein goldener Lindwurm mit ausgestreckter roter Stachelzunge einwärts gekehrt und aus jener zur Linken ein goldenes Einhorn hervor. Das Familienwappen ist in die Marmorplatte der Familiengruft in Payerbach eingemeißelt. 248 von Prokesch-Osten, Anton Baron; später Graf, langjähriger Vertreter Österreichs am Hofe des Sultans in Konstantinopel 240
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Ungarischen Gesandtschaft in Darmstadt249“ versetzt250. Die Familie indes zieht nach Wien. Zur Geburt und Taufe von Tochter Mary 1871 lässt er sich beurlauben, so dass er in die Residenzstadt reisen kann. Marys Vater wird als gutmütiger Mensch beschrieben, der seine Freizeit jedoch mehr unter seinen bevorzugten Bekannten aus dem diplomatischen Dienst als auf der Rennbahn verbrachte. Das einzige von ihm erhaltene Bild zeigt den Beamten zusammen mit seiner Frau in St. Petersburg: „mit etwas bleichem, von einem dunklen Vollbart umrahmten Gesicht, schütterem Haar, sehr schönen Händen sowie anscheinend einer guten Figur.251“ Schon am 10. Januar 1872 wurde die österreichische Gesandtschaft am Großherzoglichen Hof aufgelassen – und Albin Vetsera wurde, vom Großherzog mit dem Orden Philipp von Hessen dekoriert und lobend verabschiedet, nach Wien abberufen252. Durch die Anstrengungen im diplomatischen Dienst kränkelnd, ließ sich der 53-jährige am 10. Januar 1872 mit Wohnort Wien in den zeitweiligen Ruhrstand versetzen, blieb als Diplomat zur Disposition stehen. Um seine angegriffene Gesundheit wieder in den Griff zu bekommen – der Hausarzt und zugleich kaiserliche Leibarzt Dr. Widerhofer diagnostizierte eine seit der Studienzeit angegriffene Lunge – reiste Baron Vetsera in der ersten Jahreshälfte 1875 gemeinsam mit seinem Butler über Süditalien nach Ägypten253. Ende April 1880 fällt die dienstliche Reaktivierung von Baron Vetsera nach Kairo zur „dette publique égyptienne“ – als „Österr.-ung. Delegierter bei der internationalen Kommission zur Verwaltung der ägyptischen Staatsschulden“. Nachdem der Khedive gegen den Baron nichts einzuwenden hatte – Vetsera sollte in Kairo den österreichischen Anteil an den u.a. durch den Suezkanal entstandenen Staatsschulden ermitteln – , entsandte das Ministerium des kaiserlichen Hauses und des Äußeren den Baron nach Ägypten. Anfang Mai 1880 schiffte er sich in Triest ein254. Im Dezember 1881 kehrte er außerhalb der Sommerurlaube ein weiteres Mal für einige Tage nach Wien zurück – zur Trauerfeier für seinen beim Ringtheaterbrand umgekommenen Sohn Ladislaus. Weitere Besuche aus Kairo in Wien – meist in Zusammenhang mit Rapporte im Außenministerium – sind für den Frühlingsbeginn 1885 und Sommer 1887. Die Familie traf sich in Paris und reiste gemeinsam für einen Besuch bei den Nugents nach London, um dort einen Teil der Feierlichkeiten zum Regierungsjubiläum der Queen Victoria zu erleben. Zurück aus England verbringt die Familie den Sommer auf Schloß Schwarzau im Steinfeld und im August nimmt der Baron nebst Familie an einem Volksfest in Reichenau teil. Danach reiste er zurück nach Ägypten255. Im Oktober erkrankte der Baron, diesmal schwer und erlitt am Freitag, 28. Oktober, nachts einen Schlaganfall. Die Lähmung der Lunge führte am 14. November 1887 im Spital der Diakonissen in Kairo zum Tode – seine Familie sah er nicht mehr, da Helene und die Töchter nach einem Zwangsaufenthalt wegen falsch gebuchter Schiffsplätze in Brindisi erst verspätet in Kairo eintraf. Nach der Trauerfeier in „l´Église de la Terre Sainte, au Mousky“ wurde der Leichnam des österreichisch-ungarischen Beamten und Diplomaten am Freitag, 18. November 1887, in einer feierli-
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Nach Errichtung einer unter der Leitung von Geschäftsträgern Abi. stehende Gesandtschaftskanzleien im Jahre 1830 waren ab diesem Jahr bis 1849 die k.k. Gesandten in Karlsruhe (Großherzogtum Baden) beim Großherzog von Hessen mitbeglaubigt. Albin von Vetsera war nach Ladislaus Graf Hoyos Karl Freiherr von Bruck (im Dienst 19.09.1868-04.05.1870) der siebte Gesandte in Darmstadt (nach: Agstner, Rudolf: „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin, Philo-Verlag, Berlin 2003) 250 Aus dieser Zeit findet sich einzig in der Bayerischen Staatsbibliothek München ein Brief von Baron Albin Vetsera, und zwar an Professor an den Himalaja- Und Indienforscher und Reiseschriftsteller Robert von Schlagintweit in Gießen vom 13.11.1870, 251 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 252 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 253 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 254 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 255 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 50
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chen Prozession, an der neben dem Zeremonienmeister des Khediven, S. E. Zulfikar Pascha, mehr als 2.000 Trauergäste teilnahmen, zum katholischen Friedhof von Kairo überführt und dort in einer Gruft beigesetzt256. Die drei Vetsera-Damen blieben fast zwei Monate in Kairo, wo sie das Land und die Leute kennen lernen und sich einen Eindruck von den Arbeitsverhältnissen des Barons machen konnten257.
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Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 257 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 51
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
9. Die Familie Baltazzi-Vetsera C: Johanna „Hanna“ Carolina Elisabeth Vetsera
„Sei glücklich und heirate nur aus Liebe“
Mary Vetseras an ihre Schwester Mayerling, 29.01.1889
Johanna Carolina Elisabeth Vetsera wird als zweites Kind von Helene und Franz Vetsera am 25. Mai 1868 in Konstantinopel geboren. Die häusliche Erziehung im Palais der Familie Vetsera erfolgte für Hanna, ihre Brüder und später auch für Mary durch eine eigene Erzieherin sowie verschiedene Hauslehrer, die zu den Unterweisungen in das Palais im 3. Wiener Gemeindebezirk kamen. Der Unterricht umfasste das Pensum der Volksschule sowie teilweise der damaligen Bürgerschule, also Lesen, Schreiben, Rechnen, Geschichte, Geographie und Religion. Dazu kamen, dass die Kinder zweisprachig aufwuchsen: vom Vater – sofern er anwesend war – lernten sie akzentfreies Deutsch und von der Mutter und durch die Konversation mit den Verwandten Englisch. Um in der Gesellschaft jedoch brillieren zu können, wurden sie auch in französischer Konversation unterrichtet – durch den Hauslehrer Gabriele Dubray. Gesang unterrichtete im Palais Vetsera Gabriele Tobis, mit der Mary auch nach deren Weggang aus Wien enge briefliche Kontakte pflegte. Nach Abschluss der häuslichen Erziehung mit 13 Jahren kam Johanna während des zweiten Semesters des Schuljahres 1880/1881 als Schülerin in das „Pensionat religieus du Sacre Coeur à Vienne“ der Schwesterngemeinschaft Sacré-Coeur258 am Wiener Rennweg259. Dort wird sie in Deutsch, Französisch, Englisch, Arithmetik, Religion und Geschichte unterrichtet, erhält fast durchgehend in den meisten Fächern die Note „très bien“ (sehr gut) und wird zu jedem Halbjahr – der französischen Klassifikation folgend – mit Auszeichnungen hervorgehoben. Als Resultat der Examina des 1. Schulsemesters 1881/1882 erreicht sie von insgesamt elf Schülerinnen mit 185 die höchste Note der Klasse 4 und bekleidet das Ehrenamt der Tisch-Vizepräsidentin260.
258 Sacré-Coeur, Rennweg 31, Wien 3; Klosterkirche und Erziehungsanstalt der Ordensfrauen vom Heiligsten Herzen Jesu. Die Kirche wurde 1875-77 von Ferdinand Zehengruber in neuromanisch-gotischer Mischform erbaut. Am Hochaltar Darstellung des Herzen Jesu von Anna Maria von Oer; die Seitenaltäre sind Maria und dem Hl. Josef gewidmet. In der linken Seitenkapelle befindet sich die Grabstelle des geistigen Vaters der „Religieuses du Sacré-Coeur“, P. Léonor Francois de Tournély. 259 Die erste Erwähnung der Schülerin ist im Juli 1881; freundliche Mitteilung Sr. Christl Öhlinger, Schwesterngemeinschaft Sacré-Coeur, Wien 15.06.2003 260 Provinzarchiv Sacré-Coeur, Wien
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Mit einem großen Kostümfest in der Spiegelgalerie des Palais wurde Johanna im Jahre 1885 der Gesellschaft als „volljährig“ vorgestellt. Hanna erschien als Linzerin kostümiert, Mary als Slowakin und Feri als Spanier. Unter den Gästen waren der deutsche Botschafter, Prinz Reuß nebst Gattin, Fürstin und Fürst Thurn und Taxis, die gräflichen Familien Clam, Bombelles, Robilant, Harrach, Zichy, Kinsky, Trautmannsdorf, Attems, Berchtold, Bellegarde, Széchényi, Bourgoing u.v.m261. Im Palais wohnten die Schwestern in der Belletage in zwei nebeneinander liegenden Räumen – jedoch musste jeder Besucher bei Mary zunächst das Zimmer ihrer Schwester Johanna durchschreiten. Marys letzten Abend in Wien, den Abend des 27. Jänners, verbrachte ihr Mutter mit ihr und Johanna auf dem Empfang mit anschließendem Ball im Palais des deutschen Botschafters, Heinrich VII. Prinz von Reuß, im dritten Wiener Gemeindebezirk in der Metternichgasse. Der Anlass war der Geburtstag des deutschen Kaisers Wilhelm II. Anwesend war neben dem Kaiser auch ab 22 Uhr das Kronprinzenpaar. Am folgenden Morgen verließ Mary das Palais Vetsera ein letztes Mal. Johanna erhielt von Mary aus Mayerling einen Abschiedsbrief. Sollte der Brief nicht im Besitz der Familie Bylandt-Rheyd sein, so dürfte er nach Helenes Tod 1925 vernichtet worden sein. So ist auch der Wortlaut nicht genau bekannt. In den Schreiben hießt es u.a. (siehe Kapitel 5.4): „„Liebe Hanna, wir gehen beide selig in das ungewisse Jenseits. Denke hie und da an mich. Sei glücklich und heirate nur aus Liebe. Ich konnte es nicht tun, da ich der Liebe nicht widerstehen konnte, so gehe ich mit ihm. Deine Mary. Weine nicht um mich, ich gehe fidel hinüber. Bratfisch hat wunderbar gepfiffen. Es ist wunderschön hier draußen, man denkt an Schwarzau, Denke an die Lebenslinie meiner Hand. Jetzt nochmals: Lebe wohl.“ Nach diesen Zeilen fällt ihr anscheinend Dubray ein, und sie fügt für ihn herzliche Grüße an bedauert, ihn nicht mehr im Bräuhaus262 zu sehen. Sie bittet noch Hanna, jährlich am 13. Jänner und an ihrem Todestag eine Gardenie aufs Grab zu senden oder zu bringen, und ihre vertraute Agnes fällt ihr noch ein: „Als letzten Wunsch einer Sterbenden bitte ich die Mama, für die Familie von Agnes Jahoda auch fernhin zu sorgen damit sie nicht durch meine Schuld leide.263“ Nach den dramatischen Ereignissen in Mayerling machte sich Johanna im Juli 1889 handschriftlich Notizen zu den Vorgängen und zitiert dabei auch aus dem Briefwechsel ihrer Schwester mit Hermine Tobis und die Geständnisse von Marys Zofe, Agnes Jahoda. Nach Hermann Swistuns Mitteilung sind diese Aufzeichnungen nicht zu verwechseln mit der Mitte 1889 bei Vernay in Wien gedruckten „Denkschrift“ von Helene Vetsera. Die handschriftlichen Aufzeichnungen von Johanna – an manchen Quellen ebenfalls als „Denkschrift“ bezeichnet – enthielt u.a. Hermine Tobis als Zusatz zur gedruckten „Denkschrift“. Diese bis vor wenigen Jahren im Original noch einsehbare Quelle ist als wichtige Ergänzung zu den gedruckten Erinnerungen der Baronin Vetsera zu betrachten. In den Monaten nach der Tragödie fertigte Hanna den künstlerischen Entwurf für die Gruft ihrer Schwester in Heiligenkreuz an – den Bibelvers des Steines formulierte ihre Mutter – und bezahlte aus ihrem Erbteil die Kosten für die gemauerte Grablege, das schmiedeeiserne Gitter und das Kreuz. 1896 lernte Johanna bei einem Aufenthalt im holländischen Seebad Scheveningen den niederländischen Grafen Hendrik van Bylandt264, kennen. Bereits am 26. Mai 1897 heiratete Johanna265 den holländischen Aristokraten. 261
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 Das „Bräuhaus“ war ein beliebtes Brauereigasthaus im 3. Wiener Gemeindebezirk auf der Hauptstraße. 263 nach: Vetsera-Denkschrift, zitiert in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 264 Bylandt-Rheyd, Hendrik Graf von; geb am 07.09.1863 in Zoeterwoude auf „Huize Rhijnvreugd“, gest. 15.04.1932 ebenda. Vater: Alfred Edouard Agenor von Bylandt-Rheyd, geb. 14.10.1829 in Brüssel, gest. 08.06.1890 in Haag; verheiratet seit 27.11.1862 in zweiter Ehe mit Petronella Adriana van Massow (geb. 25.11.1835 in Leiden, gest. 16.06.1909 in Zoeterwoude, begraben auf dem dortigen Friedhof) 262
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Lebensmittelpunkt des jungen Paares wurde das 1791 an einem Fluss errichtete „Huize Rhijnvreugd“ in der niederländische Gemeinde Zoeterwoude266 bei Leiden. Nach Familienberichten soll sich die Ehe zwischen der künstlerisch veranlagten Hanna und dem rüden Grafen nicht die glücklichste gewesen sein und es soll mehr ein nebeneinander, als ein Miteinander zwischen den Eheleuten gegeben haben267. Johanna wird von Zeitgenossen als nicht so hübsch wie Mary beschrieben und sie soll auf ihren Vater herausgekommen sein. Sie war jedoch hilfsbereit und gutmütig und besonders ihre schönen, großen blauen Augen fielen auf268. 1898 kam die gemeinsame Tochter Maria-Elisabeth269 zur Welt, 1900 Sohn Eduard270. Im Winter 1900/1901 hielten sich die Eheleute Bylandt-Rheyd in Rom auf, denn der Graf sollte dort mit der Würde eines päpstlichen Geheimen Kämmerers ausgezeichnet werden. Schon bald jedoch gab es besorgniserregende Nachrichten über Hanna. Die gerade 33 Jahre alte Gräfin erwartete ihr drittes Kind, erlitt jedoch eine Fehlgeburt. Noch in Rekonvaleszenz, trat unerwartet hohes Fieber auf und die Ärzte stellten eine Typhuserkrankung fest. Helene Vetsera reiste sofort nach Rom – kam jedoch zu spät. Johanna verstarb dort am 28. Februar 1901271. Wo sie beigesetzt wurde konnte bislang nicht geklärt werden – nach der Dokumentation des Kirchenbuches in Zoeterwoude, das uns ihr Enkel als Grabstätte nannte, jedoch nicht272. Graf Hendrik von Bylandt-Rheyd heiratete in zweiter Ehe am 10. Mai 1922 im niederländischen Gorinchem Johanna Cornelia Wisboom273. Der Geheime Kämmerer verstarb am 15. April 1932 auf „Huize Rhijnvreugd“ und wurde am 19. April auf dem örtlichen Friedhof „Meerburg“ im Grab seiner Mutter beigesetzt274. „Huize Rhijnvreugd“ stand danach einige Jahre leer und wurde am 31. Januar 1939 abgerissen.
265
Wir sind uns nicht sicher, ob der von Swistun-Schwanzer und Baltazzi für die Hochzeit genannte Ort, nämlich „London“, nicht ein Übertragungsfehler ist und Leiden heißen müsste. 266 bei Baltazzi-Scharschmid/Swistun Zoeterwoude statt Zoeterwoude 267 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 268 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 269 Bylandt-Rheyd, Maria-Elisabeth Adrienne Helene Gräfin von (geb. 09.04.1898 in Zoeterwoude, gest. 27.10.1985 in Bak Kom Zala), zum Zeitpunkt des Todes ihrer Großmutter Helene Vetsera wird sie als „Private“ in Wiesbaden, Uhlandstraße 5 geführt; heiratet am 03.07.1922 in Bonn Edgar von Stryk, Herr auf Helmet. Kinder: Gregor, Schweden (Tochter: Ilona, verheiratete Gräfin von Stryk-Aulin, Schweden); Georg (Ungarn), Alexander (Ungarn) 270 Bylandt-Rheyd, Eduard Albin Franz Graf von (geb. 19.02.1900 in Zoeterwoude, gest. 20.07.1989 in Ostende), cand. jur., zuvor Beamter der kgl. niederländischen Petroleum-Gesellschaft und königlicher Gesandtschafts-Attaché in Sydney; zum Zeitpunkt des Todes seiner Großmutter Helene Vetsera wird er als Beamter der Ariatic Petrol Co. in Singapur geführt; heiratet am 02.05.1925 in Penang in erster Ehe Murkje Abma (geb. 21.031887 in Hoorn, gest. 28.03.1965 in Amersfoort), keine Kinder. Im Jahr 1937 lebt das Paar in Amsterdam. In zweiter Ehe verheiratet mit Anna Maria Wilhelmina Bondam (geb. 27.06.1900 in Haag, gest. 16.11.1986 in Ostende) 271 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980. Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 verstarb Hanna bereits am 20. Februar 1901. 272 freundliche Mitteilung von Joop van der Ploeg, Zoeterwoude, 06.09.2004 273 Johanna Cornelia von Bylandt, geb. Wisboom, geb. 02.06.1890 in Noordeloos bei Gorinchem, gest. 16.11.1948 in Leiden 274 Der Grabstein der Familie „Bijlandt“ befindet sich noch immer auf dem Friedhof Hege Ryndyk 16 in Zoeterwoude. Unter dem Wappen der Familie Bylandt steht die Einschrift: „HIER RUSTEN VFOUWE DOUAIRIERE GRAVON VAN BIJLANDT GEBOREN VAN MASSOW OVERLEDEN 16 JUNI 1909 ** HENDRIK GRAAF VAN BIJLANDT GEHEIM KAMERHEER VAN Z.H. DEN PAUS GEBOREN / SEPT 1863 OVERLEDEN 15 APRIL 1932 *** DOUARIERE J.C. VAN BIJLANDT GEBOREN WISBOOM GEBOREN 2 JUNI 1890 OVERLEDEN 16 NOVEMBER 1948“, freundliche Mitteilung von Joop van der Ploeg, Zoeterwoude, 25.08.2004 54
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
9. Die Familie Baltazzi-Vetsera D: Ladislaus „Lazy“ Vetsera
„Alles gerettet!“
Polizeirat Anton Landsteiner Wien, 08. Dezember 1881
Vor den Weihnachtstagen des Jahres 1865 wird Helene und Albin Vetsera – sie weilten für einen Monat zu Besuch bei Baltazzi-Verwandten in Frankreich, da sich Helene bei der Geburt ihres ersten Kindes nicht den Ärzten in Konstantinopel aussetzen wollte – in Paris das erste Kind geboren: der Sohn Ladislaus – auch „Lazi“ oder „Laszlo“ gerufen. Das genaue Geburtsdatum ist heute nicht mehr feststellbar, schon Herbert Fuhst konnte es bereits 1937 nicht ermitteln275. Da Planitz kurz erwähnt, Ladislaus sei mit 14 Jahren gestorben, müsste er erst 1867 geboren sein – und das Pariser Kind wäre ein früh verstorbenes, namenloses Kind der Eheleute Vetsera. 1878 ließ sich Ladislaus in Kalksburg zwei Zähne von Dr. Thomas richten und erhielt eine Gold- und eine Zementplombe276. Ladislaus Vetsera erhielt seine Erziehung und Schulbildung in Internaten in Kalksburg und später in Koloscar und wurde von Zeitgenossen als „hoffnungsvoller, liebenswürdiger Sprössling“ der Familie Vetsera charakterisiert277. Zur militärischen Vorerziehung – für Ladislaus hatte der Vater eine Karriere beim Militär vorgesehen – trat er in Wien in das Institut des Major Frieß auf der Schottenbastei 4 ein. Der Tod des ältesten Vetsera-Sohnes steht in Zusammenhang mit dem Brand des Wiener Ringtheaters278 am Schottenring. Am Donnerstag, 8. Dezember 1881, stand nach der Wiener Uraufführung am Vortag die zweite, ausverkaufte Vorstellung von Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ auf dem Programm der einstigen „Komischen Oper“, wie das Ringtheater zunächst hieß. Als vor Beginn der Vorstellung die Saalbeleuchtung erlosch, war dies das Zeichen zum pneumatisch-elektrischem Anzünden der Gasbeleuchtung im Bereich der Bühne. Da die Zündapparatur beim ersten Versuch versagte, das Gas aber weiter ausströmte, kam es beim zweiten Zündversuch zu einer Explosion. Das Feuer griff direkt auf die 30 Prospektzüge über. Zeitgleich setzte die Stichflamme den Vorhang in Brand, der nach dem Öffnen einer Seitentür im Bühnenbereich durch den Luftzug explosionsartig in den Zuschauerraum schlägt. In nur sieben Minuten stehen Bühne, Schnürboden und Versenkung in Flammen. Nach 11 Minuten wurde die Feuer-
275
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 Neues Wiener Tagblatt, 14.12.1881 277 Wiener Salonblatt, Nr. 51, 18.12.1881 276
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wehr verständigt, nach 20 Minuten waren die meisten Opfer am Rauchgas erstickt – rund 500 Besucher konnten sich ins Freie retten, 120 durch einen Sprung von Balkonen und aus Fenstern. Da aus dem Haus keine Hilferufe drangen und die Feuerwehr keine Ausrüstung zum Betreten des Brandortes besaß, kam es zur legendären Falschmeldung des Polizeirates Anton Landsteiner an den anwesenden Erzherzog Albrecht: „Alles gerettet!“. Auf Grund fehlender Sicherheitsvorschriften279 kamen im Inferno des Ringtheaterbrandes 386 - nach anderen Angaben bis zu 448 bzw. 600 – Menschen ums Leben – darunter der 16-jährige Ladislaus Vetsera. Seine Anwesenheit in dem Theater resultierte aus einem Zufall: Fünf Zöglinge der Major-Frieß´schen-Militärschule waren für besondere Leistungen mit einer Eintrittskarte belohnt worden280 und durften mit dem Sohn des Schulleiters und Buchhalter des Internats, Rudolf Frieß, die Oper besuchen. Da jedoch einer der Schüler erkranke, erhielt Ladislaus als Nächstbester seines Jahrganges das Billett281. Helene Vetsera und ihrer Schwester Marie-Virginie Gräfin Stockau war es nicht vergönnt, unter den geborgenen Opfern im Hof der nahe gelegenen Polizeidirektion am Schottenring und im Terrain des Allgemeinen Krankenhauses die Leiche des Jungen zu identifizieren. Zum feierlichen Requiem in der Kapelle des Sacre Coeur am Rennweg am Samstag, 17. Dezember, reisten Vater Albin Vetsera aus Kairo und Onkel Alexander Baltazzi aus Konstantinopel an, Kaiser Franz Josef und Kaiserin Elisabeth kondolierten telegrafisch282. Wenige Tage nach dem Brandunglück überbrachte man der Familie zwei Manschettenknöpfe283, die in der Ruine des Theaters gefunden worden waren – Helene erkannte sie als jene ihres Sohnes284. Insgesamt konnten nur 250 Toten zweifelsfrei identifiziert werden, für die in Folge auch ein Totenschein ausgestellt wurden. So kam es bei unzähligen Erbschaftsangelegenheiten zu Problemen, die erst 1883 durch das „Ringtheatergesetzt … zum Zwecke der Todeserklärung und der Beweisführung des Todes“ gelöst werden konnten. Am 12. Dezember wurden die Überreste jener 386 Toten, die nicht vollständig verbrannt und nicht zusammen mit dem Brandschutt entsorgt worden waren, auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt285. Für die Opfer des Ringtheaterbrandes entstand ein Ehrenmal, auf dem alle Namen der Toten – soweit bekannt – verzeichnet waren. Nach schwerer Beschädigung im Zweiten Weltkrieg ist nach der Renovierung heute nur noch der Mittelteil des Denkmales erhalten. Es trägt den Spruch: „Dem Andenken der beim Brande des Ringtheaters am 8. Dezember 1881 Verunglückten. Die Gemeinde Wien.“ Ein bleibenderes Andenken setzte Helene Vetsera ihrem verunglückten Sohn in der von ihr „zum frommen Gedenken an Ladislaus und Maria“ als Einlösung eines Gelübdes gestifteten Kapelle des Friedhofes von Heiligenkreuz. Der linke betende Engel, der auf dem Glasfenster oberhalb des Altares zu den Füßen der Muttergottes kniet, trägt die Gesichtszüge des Jungen.
278
1873/74 nach Plänen von Emil von Förster erbaut und am 17.01.1874 als Gegenpol zur k.k. Hofoper mit Rossinis „Barbier von Sevilla“ unter dem Namen „Komische Oper“ eröffnet; seit 1878 mit Änderung des Repertoires „Ringtheater“ genannt. 279 U.a. waren die Notbeleuchtung durch Öllampen nicht angezündet, fehlte ein Eiserner Vorhang, gingen die Ausgangstüren im Zuschauerraum nach Innen auf 280 neben Ladislaus kamen aus der Militärschule beim Ringtheaterbrand ums Leben: Fritz Feix, Sigmund Graf von Festetics de Tolna (geb. 1866), Anton Ritter von Kaczkowski-Pomian und Emil Schirnhofer (nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937) 281 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 282 Wiener Salonblatt, Nr. 51, 18.12.1881 283 1913 – 32 Jahre nach dem Brand – wurden im Wiener Palais Dorotheum die von Angehörigen nicht abgeholten Wertsachen versteigert. 284 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 285 Der Gedenkstein befindet sich hinter der Aufbahrungshalle (Gruppe 30a, R 1 1-3) am Tor 2 links am Beginn der Gräberreihe. 56
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An der Stelle des Ringtheaters entstand auf dem Stadterweiterungsfond gehörigen Baugrund des Theaters am Schottenring 7/Ecke Heßgasse aus Privatmitteln des Kaisers – um seiner Anteilnahme „an dem traurigen Schicksale der bei dem Brande des Ringtheaters Verunglückten einen dauernden Ausdruck zu verleihen“286 – nach Plänen des Architekten Friedrich Schmidt das so genannte „Sühnhaus“ bzw. der „Sühnhof“ – ein Zinshaus mit Gedächtniskapelle „Zur Unbefleckten Empfängnis“ im zweiten Stock, dessen Ertrag wohltätigen Zwecken zufloss. Nach fünf Jahren Bauzeit wurde am 26. Januar 1886 das Gebäude im Beisein des Kaisers – und der Familie Vetsera – mit einer Heiligen Messe eingeweiht. Im Zuge der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges brannte das Haus am 11. April 1945 vollständig aus; die Ruine wurde 1951 abgetragen. In den Jahren 1969 bis 1974 wurde auf dem Areal die neue Bundespolizeidirektion errichtet. An der Fassade erinnert eine Gedenktafel an das Inferno von 1881. Letzte Spuren des Ringtheaters finden sich auch heute noch in Wien und Niederösterreich: Vier Attikastatuen des Theaters stehen am Hauptweg des Pötzleinsdorfer Parks im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing. Ein Portal des Theaters wurde im Haus Pezzlgasse 24/26 im 17. Wiener Gemeindebezirk Hernals verbaut. Die Fensterrahmen im dritten Stock des gleichen Hauses auch aus der Brandruine287. Eine fast drei Meter hohe, zweiflügelige Eingangstür aus Eiche mit den geschnitzten Halbreliefs von Komödie und Tragödie befindet sich ebenso wie eine angebrannte Krawatte samt Krawattennadel und zwei Eintrittskarten zur letzten Vorstellung im Bezirksmuseum Innere Stadt288. Eine Säule aus der Theaterfassade wurde im Jahre 1884 in die von Paul und Marianne Wasserburger gestiftete Mariensäule in der Weilburgstraße in Baden bei Wien verbaut. Der verkohlte Kopf eines namenlosen Opfers wird im Wiener Kriminalmuseum289 gezeigt.
286
Handschreiben Seiner Majestät des Kaisers, Wien 24.12.1881 freundliche Mitteilung von Herrn Michael Steindl, Kustos des Bezirksmuseums Wieden, Wien 25.01.1996 288 freundliche Mitteilung von Prof. MA A. R. Mucnjak, Leiter des Bezirksmuseum Innere Stadt, Wien 10.01.1996 289 Wiener Kriminalmuseum, Große Sperlgasse 24, A-1020 Wien, Tel.: +43-1-214 46 78, +43 664 300 56 77 287
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
9. Die Familie Baltazzi-Vetsera E: Franz Albin „Feri“ Vetsera
„Eine größere Liebe gibt es nicht, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde.“
Pate für Franz Freiherr von Vetsera Dezember 1915
Das jüngste Kind von Helene und Albin Vetsera, Franz Albin, kam am 29. November 1872 im elterlichen Wohnhaus an der Schüttelstraße 11 in Wien zur Welt. Getauft wurde es in St. Johann Nepomuk, in deren Matrikel Albin nach dem Vater, davor jedoch aber Franz nach dem Patenonkel, Franz Graf von Coudehove290, eingetragen wurde. Mit der Familie des Paten – besonders aber mit Gräfin Marie – waren die Baltazzis und zuletzt auch Baron Vetsera lange Jahre befreundet291. Bei einem Reitkarussel, das 1880 vom Grafen Török in der Hofreitschule zu Gunsten der Not leidenden Provinzen des Reiches organisiert wurde, wirkte neben Helene Vetsera auch Feri mit: In einer Jagdszene führte er eine große Dogge in die Arena. Allein die Kostüme von Mutter und Sohn – von Hans Makart entworfen – kosteten im Salon der Madame Spitzer über 1.000 Gulden292. Schulisch wurde Feri im Theresianum, einem Wiener Internat, ausgebildet. Nach dem Obergymnasium mit Matura hatte er sich 1892 als Einjährig-Freiwilliger gemeldet und sich verpflichtet, zehn Jahre plus zwei weitere Landwehrjahre in der Armee Dienst zu tun. Nach Absolvierung aller Offiziersprüfungen kam er zur Kavallerie, wo er als Husarenleutnant vorwiegend in ungarischen Garnisonsstädten stationiert war293. Zu seinen militärischen Stationen zählen nach den Untersuchungen von Herbert Fuhst u.a. •
Leutnant in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 11 in Szombathely/Ungarn (ab 01.01.1894)
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aktiver Leutnant im Husaren-Regiment Nr. 11 in Szombathely/Ungarn (an 01.12.1895)
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aktiver Leutnant im Husaren-Regiment Nr. 1 in Kronstadt/Rumänien (1900)
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aktiver Oberleutnant im Husaren-Regiment Nr. 9 in Sopron/Ungarn (ab 01.11.1900)
290
Coudenhove, Franz Graf von, geb. 1825, gest. 1893, k.u.k. Kämmerer, verheiratet seit 1857 mit Marie von Kalegri, geb. 1840, gest. 1877; Großvater von Richard Graf von Coudehove-Kalegri, dem Begründer der Paneuropa-Bewegung. 291 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 292 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 293 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 58
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Oberleutnant in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 9 in Sopron/Ungarn (1906)
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Rittmeister in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 9 in Sopron/Ungarn (1915)
Im Jahre 1891 war Franz Baron Vetsera noch bei seiner Mutter polizeilich gemeldet, wohnte zwischenzeitlich jedoch mit seiner Familie auch bei seiner Mutter in Wien und Payerbach und war zuletzt bis zum 09. Juni 1914 in der Plößlgasse 13 im vierten Wiener Gemeindebezirk polizeilich gemeldet, von wo er sich nach Ungarn abmeldete294. Am 12. Juli 1904 hatte er die Tochter eines seiner höheren Vorgesetzten geheiratet, Margit Marie Gräfin von Bissingen und Nippenburg295. Das Paar bekam drei Töchter: die 1905 in Salzburg geborene Ferdinandine („Nancy“), die am 31. Juli 1906 in Payerbach geborene Alexandrine („Alitschi“ oder „Alice“) und die am 27. August 1907 in Szentkereszt (Heiligenkreuz im Lafnitztal) am Gyöngyös im ungarischen Komitat Eisenberg geborene Eleonora („Nora“). Feri war als fürsorglicher Kamerad und Mannschaftsführer bekannt und fand als Offizier Aufnahme im Jockeyclub. In Wien wohnte die Familie bis 1919 am Rennweg 5, 1. Stock, Tür 16 bis 17. Neben ihrer Mutter Helene und der Schwester Johanna ist auch Franz Empfänger eines vermutlich am 29. Jänner 1889 geschriebenen Abschiedsbriefes von Mary aus Mayerling. In dem wahrscheinlich nach Helenes Tod 1925 vernichteten Brief hieß es: „Lebe wohl, ich werde über dich wachen – von der anderen Welt, da ich Dich sehr liebe. Deine treue Schwester296“. Franz Freiherr von Vetsera stand im Ersten Weltkrieg schon bald im Frontdienst: Als k.u.k. Rittmeister in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 9 und Führer einer 1. Eskadron stürmte er in Wolhynien297 gegen die feindlichen Linien. In der Schlacht bei Kolki298 am Styr an der Ostfront wurde er zunächst durch einen Streifzug am Bein leicht verwundet, kämpfte weiter und fiel durch eine Kugel ins Herz getroffen am 22. Oktober 1915 im feindlichen Feuer299. Auf seinem Patenzettel hieß es: „Auf dem Schlachtfeld hat er dem Tod unerschrocken ins Auge geblickt, er war bereit, als dieser Kam.“ Nachdem seine Leiche zunächst provisorisch auf dem Friedhof in Rozyscze in Wolhynien beigesetzt worden war, wurde sie auf Wunsch der Angehörigen exhumiert und nach Payerbach überführt. Am 18. Dezember 1915 trafen die sterblichen Überreste von Franz Vetsera dort ein. Die neuerliche Beisetzung in einem Erdgrab nahe der Gruft von Onkel Alexander durch Pfarrer Stefan von Kulesár fand als vorletzte des Jahres 1915 statt – jedoch ohne Trauerfeier. Das Grab erhielt zunächst ein einfaches braunes Holzkreuz, auf dem eine Tafel mit der Aufschrift angebracht war „Hier ruht Rittmeister Franz Freiherr von Vetsera – k.u.k. Husaren Reg. 9 1. RSK – gefallen 22.10.1915 bei Kukli“. Nach Fertigstellung der neu errichteten Familiengruft wurde sein Leichnam ein weiteres Mal umgebettet300. Die Inschrift auf dem Kreuzsockel lautet: „Hier ruht Rittmeister Franz Freiherr von Vetsera – k.u.k. Husaren Reg. 9 1. RSK – geboren 20.XI 1872 gefallen 22.X.1915 bei Kukli301“. Auch Helene Vetsera fand 1925 dort ihre letzte Ruhe.
294
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 Bissingen und Nippenburg, Margit Marie Gräfin von, geb. 22.02.1883 in Jám als Tochter des k.u.k. Kämmerers Maria Ferdinand Anton Grafen von Bissingen und Nippenburg und der Irma, geb. Adamovich de Csepin 296 Vetsera-Denkschrift, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 297 Wolhynien liegt im Nordwesten der heutigen Ukraine; Nord-Süd-Ausdehnung rund 200 km, Ost-West-Ausdehnung rund 450 km. 298 Kolki, Ort ca. 50 km nordöstlich von Luzk (Luzk liegt rund 300 km nördlich von Shitomir); freundliche Mitteilung von Nikolaus Arndt, 04.07.2003 299 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 300 4 Stellen in Gruppe II, Gruft 5 auf Friedhofsdauer 301 ein Ort namens Kukli ist den Kennern von Wolhynien nicht bekannt (siehe oben). 295
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Um 1969 wurde die Gruft von Alexander Baltazzi an die Familie Michelfeit verkauft und der Leichnam des 1914 verstorbenen Onkels von Franz Vetsera wurde ebenfalls in die Familiengruft überführt. Das letzte Pferd des Offiziers wurde – auf eigene Kosten der Familie – von der Front ebenfalls nach Österreich gebracht und bekam in den Stallungen von Schloß Leesdorf sein Gnadenbrot. Nach einigen Monaten erhielt die Witwe Margit für ihren gefallenen Mann den Orden der Eisernen Krone als letzte Kriegsdekoration – „posthum und taxfrei“302. Margit Gräfin von Vetsera-Bissingen lebte nach dem Tode ihres Gatten zusammen mit ihren Kindern meist in Wien, so zum Beispiel 1925 am Rennweg 10 im dritten Wiener Gemeindebezirk und nach dem Tode ihrer Schwiegermutter in deren Wohnung an der Prinz-Eugen-Straße 10, wo sie bis zum 03. Oktober 1927 gemeldet war und dann nach Salzburg verzog303. Margit von Vetsera verstarb 1945. Es gelang uns, Kontakt aufzunehmen mit den Nachkommen der Ankleidefrau von Nora, Nancy und Alitschi, Rosa „Roserl“ Wümmer304. Im Familienbesitz befinden sich neben einer Pate von Franz von Vetsera auch eine Fotografie von Margit Vetsera-Bissingen, das handschriftliche Dienstzeugnis der Baronin vom 12. November 1919 sowie ein Monatsnotizbüchlein der Ankleidefrau aus dem Jahre 1916.
302
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 303 Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 304 Wümmer, Rosa; geb. 09.12.1891 in Eferdingen/OÖ als 13. von 16 Kindern der Bindermeister-Familie Wümmer; von April 1914 bis November 1919 bei Gräfin Margit Vetsera in Dienst, d.h. in Payerbach und in Wien. Sie beendete das Dienstverhältnis, als sie im Februar 1920 Anton Leib, einen Chauffeur von Kaiser Karl, heirateten. Sie bezogen zusammen eine Wohnung am Rennweg, wo die gemeinsame Tochter, Maria Leib, zur Welt kam. Freundliche Mitteilung des Enkels Robert Schoppe, Wien, an den Verfasser, 30.11.2003 60
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
10. Marie Alexandrine Freiin von Vetsera
„Ein Wunsch an Dich, Geliebter! Wenn endet mein Geschick, Dann weih´ mir eine Thräne! – ´s war nur – ein Augenblick!“
Mary Vetsera Herbst 1888305
Als 72. Eintrag des Jahres 1871 vermerkt Cooperator306 Eduard Audersky im Geburts- und Taufbuch des römisch-katholischen Pfarramtes St. Johann Nepomuk im II. Wiener Gemeindebezirk die Geburt und Taufe eines Mädchens, das den Vornamen „Marie Alexandrine“ erhielt. Als Geburtsdatum wird der 19. (ein Sonntag) und als Taufdatum der 27. März 1871 notiert. Der Vater: „Vetsera, Albin, Freiherr von, kath. Rel., k.k. Gesandter, gebürtig von Pressburg, ehel. Sohn des Bernhard … [nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 „Freiherrn“ von] Vetsera“. Die Mutter: „Helene geb. Baltazzi, evangelischer307 Rel., Tochter des Theodor Baltazzi, von Constantinopel gebürtig“. Die Patin: Maries Tante „Marie St. Julien, Marie Komtesse St. Julien308“. Und unter Anmerkungen verzeichnete der Eintragende: „ Kruschinek Barbara, gepr. Hebamme, Wien I. B., Renngasse Nro. 2. Getraut laut … römisch-kath. Pfarre in Pera-Constantinopel“. Als Adresse des Täuflings wird „Am Schüttel 11“ in Wien angegeben. Die Taufzeremonie durch den Priester Eduard Audersky fand am 27. März, einem Montag, in der Pfarrkirche St. Johann Nepomuk309 statt. Als Taufgäste werden neben den Eltern, dem sechsjährigen Bruder Ladislaus und der dreijährigen Johanna, das Ehepaar Marie Virginie und Albert Graf St. Julien, sowie Alexander, Charlotte und Eveline Baltazzi mit ihrem Verehrer Georg Graf Stockau310 vermerkt. Allerdings: Getauft wurde damals nicht über dem heute noch erhaltenen Taufbecken von 1846, sondern in der Sakristei der Pfarrkirche. 305
Zwei Gedichte von Mary Vetsera – wahrscheinlich von ihrem Eislaufpartner Gundakar Wurmbrand weiter geleitet – erschienen „Grazer Illustriertes Wochenblatt (?)“, 2. Februarnummer 1889. 306 vicarius cooperator = Vikar oder Hilfspriester 307 Der Eintrag „evangelischer Religion“ ist falsch, es muss zu diesem Zeitpunkt „anglikanischer“ heißen 308 Baltazzi, Marie Virginie; geb. 01.12.1848 in Konstantinopel, gest. 22.11.1927 in Wien; 1. Ehe am 19.11.1866 in Wien geschlossen mit Johannes Albert von Saint-Julien Graf von Walsee, geb. 1811, gest. 10.02.1897 in Wien; geschieden 04.03.1875; 2. Ehe am 05.09.1875 in Baden-Baden mit Otto Graf von Stockau, geb. 1835, gest. am 01.03.1890 in Napajedl 309 St. Johann Nepomuk, Praterstraße, 1020 Wien. Ab 1780 unter Baumeister Franz Duschinger als Nachfolgebau der hölzernen Johannes Nepomuk-Kapelle erbaut, am 17.03.1782 geweiht und 1786 zur Pfarrkirche erhoben. 1841 aus Kapazitätsgründen abgerissen und unter Professor Carl Rösner (1804-1869) Neubau einer größeren Kirche, 18.10.1846 Weihe der neuen Kirche. Der von Josef von Führich von 1844 bis 1846 gemalte Kreuzwegzyklus ist das wohl bedeutendste Werk der Kirche und besteht aus 14 240 x 185 cm großen Freskobildern. Diesen Kreuzweg findet man als Kopie in hunderten Kirchen in aller Welt. 310 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 61
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Neben ihrer Geburt sind nur ihr letztes Lebensjahr und ihr Tod besser dokumentiert. Doch was lag in den siebzehn Jahren dazwischen? Zusammenfassend kann gesagt werden, dass fast ausschließlich Alltägliches das Leben der Marie Alexandrine Freiin von Vetsera bestimmte. Die ersten neun Jahre wuchs das Mädchen im elterlichen Haus Am Schüttel 11 in der Umgebung der Wiener Praterauen auf. Drei Jahre lang fährt die Familie im Sommer nach Gmunden ins Salzkammergut311, ehe die vierjährige Mary zusammen mit ihrem Bruder Feri die Sommermonate bei ihrem Onkel auf dessen Gestüt Napajedl verbringen darf312. Nach dem Tode ihres Bruders313 wird sie im Trauerjahr für eineinhalb Jahre zur Erziehung bei den Salesianerinnen angemeldet314. Da die Familie ab 1882 das Schloss Schwarzau gemietet hatte, gehen künftig die Sommeraufenthalte ins Steinfeld – auch wenn diese nicht alle belegt werden konnten315. Im Herbst 1884 wird der Sommerurlaub unterbrochen und Mary ist als Blumenmädchen bei der Hochzeit ihres Onkels zu sehen316. Sie tritt, ebenfalls im Herbst, dem Wiener Eislaufverein317 bei, erlebt am 20. Februar 1886 zu Fasching den ersten Ball im elterlichen Palais und im April wird sie als Gast der Weißen-Kreuz-Revue im Palais Schwarzenberg genannt318. 1887 reist sie mit Familie nach London – und nach dem Tod des Vaters im Herbst gleichen Jahres mit der Schwester und Mutter für drei Monate nach Kairo. Ab November 1888 – nach dem ersten gemeinsamen Fototermin mit Marie Gräfin Larisch im Wiener Atelier Adele – ist Marys Leben nahezu komplett rekonstruierbar: Aktivitäten in Wien319, ihre Reisen320, ihre Besuche beim Kronprinzen321 und ihre Fahrt nach Mayerling322. Und ihr Wesen, ihre Art, ihr Aussehen?
… Hartnäckig hält sich auch heute noch das Gerücht, Mary Vetsera habe den Witwe Michael von Braganza323 heiraten sollen.
Natürlich ranken sich auch um Mary Vetsera unzählige Legenden, von denen wir an dieser Stelle der Vollständigkeit halber einige wiedergeben. Der Schauspieler Jack Trevor324, als Anthony Cedric Sebastian Steane am 14.
311
Sommerfrische in Gmunden, Salzkammergut: 1872, 1873, 1874 Sommerfrische in Napajedl mit Feri: 1875 313 Ringtheaterbrand, Wien, 08.12.1881 314 Salesianerinnen, Wien, ab 1882 für 18 Monate 315 Sommerfrische auf Schloss Schwarzau am Steinfeld, Niederösterreich: 1882, 1883, 1887, 1888 (auch Bad Homburg) 316 Hochzeit Aristides Baltazzi, Wien, 08.08.1884 317 Der „Wiener Eislaufverein“ wurde 1867 gegründet und eröffnete 1913 seine neue KUNSTEISBAHN, um von schwankenden winterlichen Temperaturen unabhängig zu sein. 318 Weißes Kreuz Revue, Palais Schwarzenberg, April 1886 319 Renntage in der Freudenau/Wien: 12.04., 06.05. und 23.09.1888; Diner mit dem Herzog von Braganza und Graf und Gräfin Larisch im Palais Vetsera mit nachfolgendem Opernbesuch: 01.12.1888; Erster Wiener Abend-Korso auf der Ringstraße, 27.10.1888; Eröffnung des neuen Hofburgtheaters Wien: 14.10.1888; Verfassen eines Testaments: 18.01.1889; Besuch bei einer Wahrsagerin in Wien: 25.01.1889; Französischunterricht im Palais Vetsera, Wien: 26.01.1889; Nachmittagsspaziergang mit der Mutter in Wien und Aussprache (Auffinden des Testaments): 26.01.1889; Flucht aus dem Palais und Besuch bei der Gräfin Larisch im „Grand Hotel“, Wien: 26.01.1889; Praterausfahrt mit der Gräfin Larisch: 27.01.1889; Ball in der Deutschen Botschaft Wien: 27.01.1889 320 Venedig: Februar 1888; Paris und London: Juli 1888; Reichenau: Oktober 1888 321 Besuche beim Kronprinzen in den Hofburg: 05.11., 11.12., 17.12., 21.12.1888 sowie 13.01., 19.01., 24.01. und 28.01.1889. Treffen mit dem Kronprinzen im Prater: 19.01.1889 322 28.01.1889, 10:30 Uhr – Abfahrt Salesianergasse und spätere Fahrt nach Mayerling 323 Dom Miguel de Braganza, geb. 19.09.1853, gestorben am 11.10.1927 auf Schloss Seebenstein 312
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Dezember 1893 in London geboren, hatte in erster Ehe eine Frau namens Alma geheiratet, die der Liaison zwischen dem Kronprinzen und der Baroness entstammen soll – und sich ein Jahr nach der Hochzeit das Leben nahm. In Texas gibt es noch heute zwei Gräber, in denen auch eine Marie Vetsera bestattet wurde: In Plum, wo auf dem alten katholischen St. Peter und Paul Friedhof im Jahre 1906 die am 12. September 1873 geborene Marie Vecera beigesetzt ist und im nur wenige Kilometer entfernten La Grange in Fayette Country, wo sich das Grab der Familie Vecera befindet325.
324
Trevor, Jack; eigentlich Anthony Cedric Sebastian Steane, geb. 14.12.1893 in London, gest. 19.12.1976 in Deal/UK. In zweiter Ehe soll er mit der Witwe eines des reichsten Landbesitzers Englands verheiratet gewesen sein. In den 20-er Jahren kam Trevor zum Film, siedelte 1925 nach Berlin über und spielte in Stummfilmen meist Adelige und Offiziere, später auch Nebenrollen im Tonfilm. Bei Kriegsausbruch wurde er in seinem Wohnort Oberammergau in Deutschland von der Gestapo verhaftet und zur Mitwirkung in antienglischen Propagandafilmen wie „Carl Peters“ und „Ohm Krüger“ (beide 1941) gezwungen. Nach Kriegsende wurde er wegen Mitwirkung in diesen Filmen in England zu drei Jahren Haft verurteilt, nach drei Monaten jedoch begnadigt. Filme drehte er keine mehr. 325 Die noch heute existierenden Gräber waren bereits dem Kronprinz Rudolf-Forscher Hermann Zerzawy in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bekannt. 63
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen A: Die Baltazzis
„Der Prinz of Wales … hatte vor allen Mitgliedern des Clubs den Brüdern Baltazzi seine Achtung erbracht und damit die letzten Schatten, die der Tod Marys auf ihre Onkel geworfen hatte, vertrieben.“
Heinrich Baltazzi-Scharschmid Wien, 1980
Neben fünf Schwestern326 hatte „Helene Vetsera vier Brüder: Alexander, Hector, Aristide und Henry, die alle vorzügliche Reiter und Sportsmänner waren.327“ Da alle vier in der Causa Mayerling mehr oder weniger eng eingebunden sind, stellen wir an dieser Stelle kurz ihre Biographien zusammen. Alexander, Hector und zuletzt Aristides Baltazzi verbrachten ihre Erziehung abwechselnd in England und im ungarischen Poszony (Pressburg, heute: Bratislava), wo sie um 1871 für einige Jahre eine große Wohnung in einem in italienischem Stil erbauten Haus des Prinzen Arthur Rohan an der Ivan Simonyi-Lände Nr. 1 bezogen hatten328. Freiherr Alexander329 war Besitzer des sagenhaften Rennpferdes Kisbèr330, das 1876 das Derby von England gewann. In den Tagen der Katastrophe stand Alexander seiner Schwester Helene hilfreich zur Seite.331“ 1874 wurde er
326 Elisabeth „Lizzi“ (geb. 1845, gest. 1901), Marie-Virginie „Bibi“ (geb. 1848, gest. 1927), Eveline (geb. 1854, gest. 1901) und Julia (geb. 1861, gest. 1869) 327 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 328 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 329 Baltazzi, Alexander Freiherr von, (geb. 16.05.1850, gest. 29.11.1914 in Wien) unverheiratet; beigesetzt in einer „Gruft mit 3 Stellen auf Friedhofsdauer“ auf dem kath. Friedhof von Payerbach/Rax. Das Sterbebuch der Pfarre Payerbach enthält keinen Eintrag über eine Beisetzung von Alexander Baltazzi in 1914. Nach einer Zeichnung von Fritz Judtmann im HHStaA erhielt die Gruft einen Grabstein mit Kreuz und Tafel (Inschrift: Alexander Baltazzi geb. 16. Mai 1850 gest. 29. Nov. 1914“), der sehr stark an das Grab der Baroness Vetsera in Heiligenkreuz erinnert. Die Grabstätte wurde am 22. März 1969 von der Familie Michelfeit nach dem Tode von Josef Michelfeit für die Zeitdauer von 1970 bis 1980 um 1.500,00 Schilling eingelöst. Die Nutzungsrechte der zuletzt Nora Hoyos gehörenden Gruft verkaufte (unberechtigt) Heinrich Baltazzi-Scharschmid für 20 bis 22.000 Schilling. Daraufhin wurden die sterblichen Überreste von Alexander Baltazzi in einen Kindersarg gebettet und in der Gruft seiner Schwester Helene erneut beigesetzt. Eine kuriose Erzählung kursiert in Payerbach: Im Bereich der Gruppe3, Reihe 6, Grab 4 (Gruft Lenneis, jetzt Fasching) befand sich ein Sammelgrab mit den sterblichen Überresten aus 14 Adelsgrüften, die in einer viertägigen Aktion, bei welcher der Friedhof u.a. wg. Geruchsbelästigung geschlossen blieb, ausgegraben und umgebettet wurden – darunter auch Alexander Baltazzi; der für die Aktion zuständige Pfarrer Ritter verstarb nach Parkinsonerkrankung im Jahre 1986. Bestätigung für diese Geschichte haben wir bisher offiziell nicht erhalten. Es stimmt jedoch, dass 1945 russische Soldaten in das Mausoleum der freiherrlichen Familie Erlanger eindrangen, die Gruft öffneten und nach Wertgegenständen suchten. 330 Kisbér war der erste Deckhengst in Napajedl. Als Jährling wurde er für 5.160 Forint von den Brüdern Aristide und Alexander Baltazzi ersteigert und ins englische Training gegeben. Auf den britischen Inseln zählte er schon als zweijähriger zur Elite seines Jahrgangs, als er die Dewhurst-Stakes gewann. Ein Jahr später siegte er im Derby Stakes und später auch im Grand Prix de Paris. Nach einem vierten Platz im Saint Leger ging er in die Zucht des Gestütes Park Paddock in Newmarket. Im Jahre 1886 kam
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zusammen mit seinem Bruder Hector anlässlich einer Fuchsjagd bei Schloss Belvoir in England durch die Ex-Königin von Neapel, Sisis jüngerer Schwester Marie, der Kaiserin vorgestellt. Mit seinen Brüdern Hector und Aristides zählt er zu den Gründungmitgliedern des Jockeyclubs für Österreich332. Alexander hatte unter den Baltazzi-Geschwistern die Stellung eines Wirtschafts- und Finanzexperten inne und kümmerte sich zur Zeit des Aufstandes in der Herzegowina 1875 um die Einnahmen aus dem Erbe von Theodor Baltazzi, hauptsächlich Ländereien und der Mautpacht der Brücke zwischen Galata und Stambul333. 1881 lebte Alexander Baltazzi in Konstantinopel334. 1887, nach dem Tode von Marys Vater Albin Vetsera in Kairo, wurde Alexander Baltazzi zum Vormund der Minderjährigen Halbwaisen Johanna und Marie Ladislaus bestellt. Nach der Schreckensmeldung aus Mayerling fuhr er gemeinsam mit Georg Graf Stockau ins Jagdschloss, musste dort die Tote identifizieren und überführte schließlich seine Nicht nach Heiligenkreuz, wo er bei ihrer Beisetzung mithelfen musste. Im März begleitete Alexander seine Schwester Helene erstmals zum Grab nach Heiligenkreuz. Alexander Baltazzi dürfte nach den Ereignissen einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass neben den Mitglieder des Jockeyclubs auch Wiener Adelige durch Einsicht in Marys Briefe, ihre tagebuchähnlich geführten Kalender und die Denkschrift ihrer Mutter eine andere Sicht auf die Ereignisse bekamen335. Im Herbst 1889 traf er im Club mit dem Prince of Wales zusammen, sprach mit diesem über die Affäre und beseitigte so „die letzten Schatten, die der Tod Marys auf ihre Onkel geworfen hatte336“. Ebenso wie Hector Baltazzi wurde auch Alexander bis in den Herbst des Jahres 1889 von Konfidenten der Polizei bespitzelt. Alexander Baltazzi starb am 24. November 1914 im Wiener Sanatorium von Dr. Anton Löw337 trotz Notoperation an einem Blinddarmdurchbruch. Er wurde in der griechisch-orthodoxen Kirche zur hl. Dreifaltigkeit am Wiener Fleischmarkt eingesegnet und auf Wunsch seiner Schwester Helene in Payerbach beigesetzt. Freiherr „Hector Baltazzi338 war ein waghalsiger Reiter und Spieler.339“ Bereits als 12-jähriger gewann er in England ein Ponyreiten und mit 16 Jahren auf der Pressburger Bahn 1867 sein erster Turnier340. „Er war Herrenreiter, Sport- und Pferdemann und Amateurjockey, der auch Pferde fremder Eigentümer ritt“ und zuletzt Trainer. Seine Vita verzeichnet von über 568 Ritten auf 57 Rennplätzen in vier Königreichen insgesamt 184 Siege.341 In der Herrenreiterelite hatte er 1873 sowie in den Jahren 1881 bis 1886 den ersten Platz inne und gewann gleich drei Mal in den großen Wiener Steeplchasen sowie 1881, 1883 und 1887 das Steeplechase von Pardubice. Als Liebling des Publikums
Kisbér nach Napajedl, wo er für zwei Jahre verblieb. Danach ging er nach Bad Harzburg/Deutschland, wo er als Vater von drei Siegern des Deutschen Derby einen guten Ruf hatte 331 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 332 Kaiserliches Wien… 333 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 334 Wiener Salonblatt, Nr. 51 vom 18.12.1881 335 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 336 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 337 Wien, 9. Mariannengasse 20 338 Baltazzi, Freiherr Hector von (lt. Judtmann „Hektor“), (geb. am 21.09.1851 in Theraphia bei Konstantinopel, gest. 02.01.1916 in Wien) verheiratet mit Anna Gräfin Ugarte (geb. 1855, Selbstmord im Mai 1901 in London), geschieden 1890; mit der minderjährigen Clementine Krauss (geb. 1876, gest. 1938) hatte er einen unehelichen 1 Sohn, den er jedoch gerichtlich anerkannte: Clemens Krauss, Dirigent und Operndirektor (geb. 1893, gest. 1954), 2 Enkel: Oktavian (geb. 1923) und Oliver Hector (geb. 1926, gest. 2001); beigesetzt auf dem Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 82A, Reihe 7, Nr. 15. Hermann Swistun-Schwanzer kaufte um 8.000,00 Schilling von Heinrich Baltazzi-Scharschmid das der Familie Baltazzi-Stockau gehörende Gruftbegräbnis ab, um dort beigesetzt zu werden. 339 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 340 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 341 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 65
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und der Presse war er bis 1893 aktiv. Am 26. Dezember 1874 heiratete er im mährischen Jaispitz bei Znaim mit 23 Jahren Anna Gräfin Ugarte, eine Halbwaise, die bei der Hochzeit selbst erst 19 Jahre alt war. Hector verwaltete zunächst die Güter der Familie Ugarte, brachte das beträchtliche Kapital jedoch mehrfach durch leichtsinniges Glücksspiel durch und ließ sich 1890 scheiden. Um finanziell festen Boden zu bekommen, nahm er ein Angebot des Geldgebers des toten Kronprinzen Rudolf, des bayerischen Bankier Baron Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth, an und übernahm einen Posten in der obersten Leitung seiner Rennställe in Franzreich und Belgien. Zunächst pendelte er mehrmals jährlich zwischen Wien und Paris, löste jedoch nach dem Tode des Barons 1896 sein Wiener Junggesellendomizil in der Lothringerstraße 5 auf und übersiedelte 1897 nach Paris, wo er bis 1914 lebte und sich zuletzt als Kunst- und Antiquitätenhändler über Wasser hielt342. Nach dem Eintritt Frankreichs in den Ersten Weltkrieg flüchtete Hector über Spanien und Italien nach Österreich und quartierte sich zunächst im Wiener „Hotel Erzherzog Karl“ in der Kärntnerstraße ein. Hector Baltazzi starb am 2. Januar 1916 im Lesezimmer des Jockeyclubs. 1903 erschien bereits in Leipzig das Büchlein343 „Ungeschminkte Wahrheit über das Liebesdrama des Kronprinzen Rudolf und der Baronesse Mary Vetsera“, in dem der Autor Stephan Maroszy behauptete, Hector Baltazzi sei von seiner Schwester Helene nach Mayerling geschickt worden, habe dort den Kronprinzen als Liebhaber seiner Nichte zur Rede gestellt und sei von diesem erschossen worden. Weiteres behauptet der Autor, in der Gruft in Heiligenkreuz sei Hector Baltazzi beerdigt, während Mary in Venedig oder Pardubitz beigesetzt worden sei344. Freiherr „Aristides Baltazzi345 war der bedeutendste der vier Brüder, da er die Liebe zum Pferdesport mit Genialität und Fleiß verband. Er war Besitzer des berühmten Gestüts Napajedl346 in Mähren.347“ Durch seine Heirat mit 342
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 343 Maroszy, Stephan: „Ungeschminkte Wahrheit über das Liebesdrama des Kronprinzen Rudolf und der Baronesse Mary Vetsera“, Leipziger Verlags-Comptoir, Leipzig 1903 344 Tatsächlich gibt es noch heute in Pardubice das Gerücht, dass kurz nach der Tragödie von Mayerling dort eine Kiste ausgeladen wurde, vor der Marie Gräfin Larisch kniete und betete – Maries Sarg! 345 Aristides, Freiherr von, (geb. 1853, gest. 24.10.1914 in Wien)m seit 1887 Bürger von Napajedl, zuvor Bürger von Pressburg/Bratislava verheiratet seit 08.08.1884 mit Maria Theresia Gräfin Stockau (geb. 1859, gest. um 1931), 1 Tochter: May (geb. 1885), verheiratet seit 1909 mit Ferdinand Graf Wurmbrand (geb. 1879), 2 Enkeltöchter: Maria (geb. 1914), Sophia (geb. 1917) 346 heute: Napajedla bei Zlin/Tschechien. Die Blütezeit von Napajedl endete mit dem Tod von Aristide Baltazzi 1914. Das Gestüt konnte zwar noch Erfolge erzielen, dann aber kam die Krise. Der Grund dafür war nicht nur die schwere Nachkriegszeit, sondern auch absichtlich verbreitete Gerüchte, dass sich im Gelände des Gestütes wertvolle Ölquellen befinden (Noch in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden in der Umgebung Probebohrungen durchgeführt, doch es kamen nur geringe Ölmengen zu Tage). Noch zu Lebzeiten veräußerte Aristides die Zuckerfabrik und für einen Aktienanteil er die Brauerei der Bierbrauerfamilie Braun aus Ungarisch Hradisch. Diese Aktien wurden im 1. Weltkrieg gegen Kriegsanleihen getauscht. Nach dem Krieg konnte ein Drittel des Wertes gerettet werden. Zudem besaßen Marie und Aristides Aktien der Britisch-ungarischen Aktiengesellschaft, Wien. Nach dem Zerfall der Monarchie wurden die Aktien erst nach der Begleichung des Kredits in der Höhe von 210.000 österreichischer Kronen sowie 5.000 Kronen Zinsen zum Verkauf freigegeben. Dazu war es notwendig, einen neuen Privatkredit bei Helene Neubert in Wien aufzunehmen. 1919 kam es in der Tschechoslowakei zu Bodenreform, Marie Baltazzi verlor rund 1000 Hektar Grund. So gehörten 1935 zum Großgut nur noch 360 Hektar Wald, Feld, Wiesen, Gärten und Grundstücken. 1921 betrug das Defizit 1.120.000 tschechoslowakischer Kronen, wobei die Summe Gnadenpensionen in der Höhe von 30.000 Kronen, Patronatsverpflichtugen gegenüber örtlichen Kirchen sowie Reparaturen, und Holzlieferungen in Höhe von 3.500 Kronen beinhaltete. Marie Baltazzi musste wegen Inflation die Anhebung der Pacht und Miete einklagen. Das Gericht gab ihr Recht, doch die Schulden wuchsen weiter. In diese Zeit fallen die Probebohrungen nach Ölvorkommen, die allerdings die Schulden noch vergrößerten. 1921 bewilligte die Cyril und Method-Sparkasse in Brünn einen weiteren Kredit in der Höhe von 1.650.000 tschechoslowakischer Kronen gegen den Versatz des Wertpapierdepots (2.500.000 tsch. Kronen) und eines Brilliantendiadem im Wert von 556.000 Kronen. 1923 wurden alle Schulden mit dem Betrag von 11.075.000 tsch. Kronen bewertet. Die Inneneinrichtung des Schlosses wurde zum Teil 1934 öffentlich versteigert, das Archiv im Rathaus für ein Museum deponiert. Die öffentliche Versteigerung des Gutes wurde dann von der Mährisch-schlesischen Hypobank am 11. September 1935 durchgeführt. Nur der enormen Hingabe des damaligen Gestütsleiters Eduard Gerscha ist es zu verdanken, dass Napajedl diese ernste Krise überstanden haben. Da eine große Gefahr bestand, dass das wertvolle Zuchtmaterial im Ausland verschwand, griff das Tschechoslowakische LandwirtschaftsMinisterium ein und die Pferde wurden zum Staatseigentum. Die Initiative zum Ankauf ging von einem Angestellten des Ministeriums, dem Herrenreiter Bohumil Tichota (1942 von der Gestapo verhaftet und hingerichtet) aus. Der Schätzwert betrug 4.204.825 tsch. Kronen 60 Heller, der Ausrufpreis 2.850.000 Kronen. Das Schloss wurde auf 91.081 Kronen geschätzt, das Gestüt 66
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Maria Theresia „Mizzi“ Gräfin Stockau am 8. August 1884 in der Prälatenkapelle bei den Schotten in Wien wurde er quasi Neffe seiner eigenen Schwestern Eveline und Bibi, die mit den Brüdern des Brautvaters Friedrich, Georg und Otto Stockau, verheiratet waren. 1884 gab er zunächst alle Funktionen im Direktorium des Jockeyclubs auf und begann aus Schloss Napajedl, dem Erbe seiner Frau, mit der Errichtung eines Gestüts und eigener Zucht348. Marie und Aristides bewohnten das im italienischen Barockstil zwischen 1764 und 1769 im Süden der Stadt errichtete Schloss Napajedl349. Bereits 1886 stellte er in Wien bei der Allgemeinen Pferdeausstellung seine ersten Hengste zum Verkauf vor. Besondere Popularität in Rennkreisen errang er durch den Hengst Kisbèr, der nach seiner Rückkehr aus England ab 1886 auf seinem Gestüt als Deckhengst eingesetzt wurde350. Aristides war um die Jahrhundertwende wieder als Obmann des Renndirektoriums im Jockeyclub für Österreich tätig. Aus gesundheitlichen Gründen erwarb er um 1914 eine Villa in Abbazia. Von dort sterbenskrank in seine letzte Wiener Wohnung in der Belvederegasse 34 zurückgekehrt, verstarb er am 24. Oktober 1914 an den Folgen des seit mehr als zwei Jahren quälenden Rückenmarksleiden im Restaurant des „Hotels Imperial“ in Wien.
auf 81.950, die Meierei in Prusinky auf 120.857, die Jagd auf 25.000 und die Fischerei auf 30.000 Kronen. Insgesamt wurde der Preis von 3.200.000 tsch. Kronen erzielt. Das Gut und das Schloß kamen in den Besitz der Schuhfabrik Bata. Erst 1937 gelang es dem Staat, die Grundstücke zu erwerben. Den zweiten Weltkrieg überlegte das Gestüt unter der Leitung von Dr. Ludvík Ambroz. 1945 wurde das Gestüt verstaatlicht und 1967 verwaltungstechnisch dem Gestüt Tlumacov (15 km von Napajedl entfernt) zugeschlagen. Bis 1989 war Napajedl die Nr.1 der tschechoslowakischen Vollblutzucht. Im Jahre 1976 wurde Dr. Lerche als Gestütsleiters durch Ing. Zdenek Hlacík abgelöst, der im Gestüt bis heute arbeitet. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Gestütes wurde ab dem 1.5. 1992 geschrieben, als Änderungen im Zusammenhang mit der Privatisierung die Existenz des Staatlichen Gestütes Napajedl beendeten. Das Gestüt wurde zur einer Aktiengesellschaft mit dem Namen „Hrebcin Napajedla a.s.“. Mit dieser Entscheidung konnte man einerseits Spekulationen verhindern, gleichzeitig gab man Züchtern und Galoppfreunden die Möglichkeit Aktien zu erwerben und sich somit an der weiteren Entwicklung des Gestütes zu beteiligen. Heute ist 75% der Aktien im Besitz von fünf Aktionären, deren Interessen im Bereich der Fortsetzung der Traditionen des Gestütes liegen. Das leer stehende SchlossGebäude befindet sich aktuell im Besitz der ALIACHEM AG, die zwischen 1997 und 1999 eine teilweise Renovierung der Fassade durchführte. Nach 1945 wurden große Teile der Einrichtung des Schlosses gestohlen bzw. die Reste vom späteren Nutzer, dem Volksbetrieb FATRA, verkauft. Noch heute finden sich in vielen Haushalten in Napajedla Einrichtungsgegenstände aus dem Schloss; freundliche Mitteilung von Frau Renata Fleischner, 19.05.2006 347 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 348 Bereits Aristides Schwiegervater, Friedrich Graf Stockau, erbte mit Napajedl, das dessen Mutter in ihre 2. Ehe einbrachte, ein mit 2.703.000 Gulden schwer belastetes Gut. Bei den Schulden machten Schenkungen, Apanagen, Stiftungen und Zuwendungen an Familienmitglieder, Freunde, Angestellte und karitative Zwecke etwa 1.060.000 aus. Auch durch den Verkauf zahlreicher Güter, die Modernisierung der Landwirtschaft und neuer Kredite gelang es nicht, den Schuldenberg zu verringern. Als Friedrich Graf Stockau 1884 ohne Testament verstarb, betrauten seine Töchter Marie und Pauline, verheiratete Gräfin Esterhazy, Maries Ehemann Aristides Baltazzi mit der Verwaltung von Napajedl. Aristides investierte zunächst 100.000 Gulden an Eigenmitteln. Bereits 1886 kaufte er seiner Schwägerin Pauline ihre Hälfte des unbeweglichen Besitzes um 1.460.000 Gulden sowie die Hälfte der beweglichen Erbschaft ab. Von der gesamten Erbmasse in der Höhe von 1.525.000 Gulden wurden verschiedene Schulden und Verpflichtungen abgezogen, die auf Gut Napajedl lasteten, vor allem die Hälfte der Schulden, deren Höhe sich insgesamt auf 1.188.000 Gulden belief, weiteres z. B. Stiftungen für die Pfarrer in Napajedla Tlumacov, für die Armen, Apanagen für Familienmitglieder etc. 349 Schloss Napajedl: Im Erdgeschoss befanden sich 15 Wohnräume, 2 Vorzimmer, 1 Pförtnerraum, 3 Zimmer für Dienstpersonal, 1 große Küche, Kaffeeküche, Tafelkammer, 2 Vorratsräume, 1 Hauptstiegenhaus, Nebentreppe und 4 Toiletten. Im 1. Stock befanden sich 16 Salons, großer Ovalsaal, der in der Höhe bis zum 2. Stock reichte, 1 Vorsaal, Gang, 1 Vorzimmer, 1 Zimmer für Adjutanten, Kapelle. Im 2. Stock 18 Zimmer, 2 Vorzimmer, Gang, 2 Bügelzimmer, 2 große Garderoben, 4 Toiletten. Zu den Nebengebäuden zählte: Pförtnerhaus an der Haupteinfahrt, Pförtnerhaus am hinteren Parktor, Orangerie und weitere Glashäuser, Wäscherei. Ursprünglich gehörte zum Schloss das Gestüt für acht Reit-, acht Zug- und zehn Zuchtpferde. Die Einnahmequellen lagen neben der Land- und Forstwirtschaft in Vermietung der verschiedenen zum Gut gehörigen Häuser, Verpachtung der Maut und vor allem in Betreiben der Zucker-, Ziegelfabrik und der Brauerei am Ort. Heute (2006) steht Schloss Napajedl für 3,5 Mio. Euro zum Verkauf (18 Räume, 240 qm Wohnfläche, 6.600 qm Grundstück) 350 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 67
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Freiherr „Henry351 (Heinrich) widmete sich der Offizierslaufbahn und hatte als einziger der vier Brüder einen Sohn, Heinrich, der heute352 in Baden bei Wien lebt.353“ Heinrich Baltazzi wurde 1858 in Theraphia bei Konstantinopel geboren und hatte zunächst Ambitionen, Architekt zu werden, doch bestimmte sein Vormund – Marys Vater Albin Vetsera – für ihn die Militärlaufbahn, so dass er den Gymnasialzug am Wiener Theresianum besuchen musste354. In den Jahren 1878 bis 1880 war er als Kadett Offiziersstellvertreter und Leutnant im Dragonerregiment Nr. 3 sowie im Husarenregiment 5 „Graf Radetzky“ in Pardubitz, wo er fortan an der Trida Miru wohnte. 1886 trat er aus der Armee aus und ließ sich in die Reserve versetzen, nahm 1888 an einer Waffenübung teil und wurde fortan als Oberleutnant in der Reserve geführt. 1891 wird er wieder aktiv, tritt jedoch nach der Heirat 1896 in die Reserve zurück. In diesem Jahr wird er in seiner Qualifikationsliste als „verschuldet“ bezeichnet. Ab der Hochzeit wohnt das Ehepaar in Wien im „Hotel Imperial“ oder in der Giselastraße 7 (heute: Bösendorferstraße), bis das durch die Gattin in die Ehe gekommene Gut Tannenmühle bei Alt-Lengbach bezogen werden konnte. 1907 kaufte der k.u.k. Rittmeister das Schloß Leesdorf in Baden und ließ es durch Walcher Ritter von Moltheim restaurieren. Im Jahre 1889 war Henry Baltazzi militärisch nicht aktiv, wohnte vermutlich in Wien355 und weilte Ende Januar gerade auf Madeira356. Der Herzog von Parma357 sowie der Mayerling-Forscher Professor Hermann Zerzawy358 vertraten die These, Heinrich Baltazzi habe den Kronprinzen in einem Raufhandel mit einer Champagnerflasche erschlagen. Letzterer berichtete gar, Heinrich Baltazzi habe nach dem Kampf schwer verwundet sechs Monate lang auf Gut Petershof bei Baden gelegen. Die Vita der vier Brüder Baltazzi belegt, dass Ihnen nach der Tragödie von Mayerling langfristig keine Nachteile entstanden sind. „Durch diese Einstellung eines großen Teils der adeligen Clubmitglieder (d.h. durch die Verurteilung von Rudolfs Verzweiflungstat, Anm. des Verfassers) gab es eben nur eine vorübergehende, kurz andauernde Erschütterung in der gesellschaftlichen Stellung der Brüder Baltazzi. So dachte mein Vater (d.i. Henry Baltazzi, Anm. des Verfassers) zum Beispiel auch nur im erste Schock der Situation, die er in Wien vorfand (…), als Blutsverwandter der Todesgefährtin des Prinzen werde seine Stellung als kaiserlicher Offizier in der Armee nun eine entwurzelte sein.“ Alle vier Brüder waren über das Jahr 1889 hinaus geachtete Sportler und Geschäftsleute, die augenscheinlich nicht mehr als Schuldige mit der Tat des Kronprinzen in Zusammenhang gebracht wurden, nachdem der Prinz of Wales halb öffentlich Ihnen die Hand gereicht hatte.
351 Baltazzi, Henry (Heinrich) Freiherr von, (geb. 05.08.1858 in Theraphia (Grabsteininschrift: Therapia) , gest. 17.02.1929 Schloß Leesdorf/Baden; beigesetzt auf dem Helenenfriedhof/Baden) verheiratet seit 1897 mit Paula Freiin Scharschmid von Adlertreu (geb. 19.08.1866/Dornbach, gest. 22.09.1945), 3 Kinder: Pauline (geb. 1898), verheiratet mit Otto Freiherr von Skrebensky (geb. 1887, gest. 1953), 4 Kinder; Heinrich (geb. am 01.06.1900 in Manzing, gest. am 15.03.1983 in Baden (NÖ), beigesetzt am 22.03.1983 auf dem Helenenfriedhof Baden), verheiratet mit Johanna geb. Kögl (geb. 02.05.1916 /Baden, gest. 21.03.1988), 1 Tochter: Christine (geb. 1944), verheiratet mit Bernhard Hollemann; Franziska (geb. 1903), verheiratet mit Constantin Bébis, 1 Tochter. 352 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich, ist am. am 15.03.1983 in Baden (NÖ) verstorben 353 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 354 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 355 Mitteilung von Hofrat Dr. Egger an Fritz Judtmann, Wien 27.03.1968; Nachlass Fritz Judtmann/HHStaA Wien 356 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 357 Wagemut, Karl: „Was ich im Elternhaus der Exkaiserin Zita von Österreich erlebte“, Dresden 1920
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeugen B: Bombelles
„ Er war der treueste Diener zweier Herren, die Oesterreich vermisst und bitter beweint hat.“
Wiener Salonblatt Nr. 31, Juli 1889
Carl Albert Maria Graf von Bombelles359, der am 17. August 1832 in Turin geboren wurde, entstammt einem nach der französischen Revolution von 1789 mit Marc Marie Marquis de Bombelles360 aus Frankreich nach Österreich geflohenen und von Kaiser Franz Joseph am 12. Dezember 1880 in den Grafenstand erhobenen Adelsgeschlecht361. Sein Vater, der von Fürst Metternich protegierte Heinrich „Heini“ Graf Bombelles, war Erzieher des künftigen Kaisers und fungierte ab dem sechsten Lebensjahr Franz Josefs als dessen oberste Aufsichtsperson, „Primo Ajo“. Sein Onkel Charles-René362, von Metternich als Obersthofmeister und Minister am Hof zu Parma vorgeschlagen, galt als Liebhaber der Erzherzogin Marie Ludovica363, als Erzherzogin Maria Louise seit 1810 als zweite Gattin Napoleon I. und vereidigte Regentin Kaiserin der Franzosen und Mutter des Herzogs von Reichstadt364. Carl Bombelles selbst war ab 1848 einer der engsten Spielgefährten des jungen Franz Joseph.
358
„Der Samstag“ 1967 Vater: Heinrich Franz Graf Bombelles (26.07.1789 Versailles – 31.03.1850 Savenstein/Unterkrain), Mutter: Sophia (Sophie) Maria Johanna Fraser (1804 England -07.02.1884), Hochzeit: 1828 in Lissabon. Geschwister: Markus Heinrich Wilhelm (18.10.1858, Opeka – 08.09.1912, Opeka), Maria Luise Sophia (29.07.1836; Hochzeit am 08.07.1860 in Laxenburg mit Richard Graf von Elam-Martinicz), Sophie (30.10.1843; Hochzeit am 17.08.1870 in Vinica/Kroatien mit Victor Freiherr von Puthon). Aus der ersten Ehe des k.k. Kämmerers Markus Graf Bombelles mit Maria zu Salm-Reifferscheidt-Raitz (05.06.1859, Wien – 29.06.1897, Opeka) entstammt der Sohn Joseph Hugo Markus Maria (26.05.1894 Opeka, 1942 oder 43 in kroatischer Gefangenschaft erschlagen. Mit seinem Tod erlöscht die Familie Bombelles im Mannesstamm; aus der zweiten Ehe von Markus Graf Bombelles entstammt die Tochter Ferdinandine (08.03.1904 Gries – 04.07.1984 Biot/Frankreich; Hochzeit mit Franz Graf von Marchant und Ansembourg, 20.10.1902 – 18.08.1982 Biot/Frankreich). Die Grafen Bombelles besaßen in einen Großgrundbesitz zwischen Vinica und Majerje, 10 km westlich von Varazdin. Auf Gut Zelendvor etablierte Graf Markus Bombelles einen Fasanenzucht und Fasanenjagd. Seit dem 2. Weltkrieg sind die Besitzungen jedoch nicht mehr im Familienbesitz. 360 Marc Marie Marquis de Bombelles, gestorben 1822 ; als französischer Resident am Reichstag erlebte er u.a. am 14.05.1782 die Regensburger Erstaufführung von Schillers „Räubern“ 361 Der Wahlspruch der Grafen Bombelles lautet „Pax decet“ 362 Charles-René de Bombelles (1784-1856) 363 Marie Louise, Kaiserin der Franzosen, seit dem Wiener Kongress auch Herzogin von Parma, Piacenza und Guastalla, erstes Kind des späteren Kaisers Franz II. (I.) und dessen zweiter Gemahlin Maria Theresia, Prinzessin beider Sizilien, geb. Wien 12.12.1791, gest. an einer „rheumatischen Brustfellentzündung“ in Parma 17.12.1847; beigesetzt in der Wiener Kapuzinergruft (nach Hamann, Brigitte Hrsg. „Die Habsburger – Ein biographisches Lexikon. Piper Verlag, München 1988) 364 Marie Louise heiratete Napoleon im März 1810 Napoleon; nach seinem Sturz residierte sie ab 1816 in Parma, wo sie zunächst mit ihrem verwitweten Reisebegleiter Adam Adalbert Graf Neipperg (1775-1829), den sie am 5. Mai 1821 heiratete, und nach 359
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Die Familie war in dieser Zeit in Kärnten ansässig, wo Carl sechs Klassen eines privaten Gymnasiums absolviert. Am 29. April 1849 tritt er dem 5. Husarenregiment „Graf Radetzky“ als Regimentskadett bei und wird am 25. Mai 1849 zum Unterleutnant befördert. Am 26. Januar 1850 erfolgt mit dem Wechsel zum 1. Husarenregiment „Kaiser“ die Beförderung zum Oberleutnant. In den Jahren 1852 und 53 fährt er als Oberleutnant auf der Fregatte „Bellena“, auf der er am 12. März 1854 zum Fregattenleutnant befördert wird. 1956 und 57 reist er als Linienschiffsleutnant und Ordonanzoffizier des Erzherzog Ferdinand Maximilian (bis 1860) auf der Fregatte „Radetzky“ nach England365. Bis 1862 dem Marinekommandanten Erzherzog Ferdinand Maximilian zugeteilt, folgte er als Dienstkämmerer dem Erzherzog nach Mexiko und tritt am 30. April in kaiserlich mexikanischen Dienst. Nach der Ermordung Maximilians wird Bombelles auf Grund seines Majestätsgesuches mit Wirkung zum 20. Juli 1867 als Linienschiffskapitän „ad honores“ in den vorzeitigen Pensionstand erhoben. Am 31. Juli erhält er das Eiserne Kreuz II. Klasse366. Bereits am 29. Mai 1869 wird Bombelles in den Präsenzstand der Kriegsmarine übersetzt und als Kommandant der Korvette „Minerva“ am 24. Oktober zum Linienschiffskapitän ernannt. In den Jahren 1870 und 71 findet er beim Militärhafenkommandant Pola Verwendung. 1872 erhält er nach der Fahrt mit dem Avisodampfer „Miramar“ von London nach Pola das Ritterkreuz des Leopold Ordens verliehen und wird am 28. Oktober zum Dienstkämmerer des Erzherzog Franz Karl ernannt, wo er bis zum 24. Juli 1877 in gleicher Anstellung verbleibt367. Am gleichen Tag wird er nach Rudolfs Volljährigkeitserklärung als Geheimrat zum Obersthofmeister des Kronprinzen ernannt und blieb in dieser Stellung bis zur Auflösung der Kammer368. Nach einer seinerzeit verbreiteten Meinung war diese Bestellung an die Spitze des kronprinzlichen Hofstaates keine gute Wahl, den Bombelles sei ein „ausgesprochene Lebemann und echter Höflingstyp“ gewesen369. Dennoch – oder gerade deswegen – scheint Rudolf den Grafen gemocht zu haben, was u.a. ein umfangreicher Briefwechsel belegt. In seinem Prager Testament vom 15. April 1879 bittet der Kronprinz Bombelles, „alle meine Schriften, Briefschaften und Papiere, die sich in meinen Schreibtischen in Wien und Prag befinden“, zu vernichten. Bombelles wird nach seiner Ernennung zum Vizeadmiral 1888 schon bald nach Rudolfs Tod am 1. März 1889 pensioniert und mit dem Großkreuz des Leopoldordens ausgezeichnet370. Aus dem Nachlass des Kronprinzen erhält er eine Uhrkette. Der k.k. Kämmerer a.D. und geheime Rat stirbt tief gezeichnet von seiner Krankheit und mit dem Segen der Kirche versehen am Montag, 29. Juli 1889, um 14:00 Uhr im Alter von 57 Jahren an „Lungenblähung“ bzw. „Lungenentzündung371“ in Rodaun im späteren 23. Wiener Stadtbezirk Liesing. Laut Clemens M. Gruber gibt es „unidentifizierte Quellen“, nach denen Bombelles Selbstmord begangen haben soll. Ein ehemaliger Leibgardist berichtete in der „Deutschösterreichischen Tageszeitung“ vom 2. Oktober 1927, dass Bombelles Tod eine „Affäre Redl Nr. 1“ gewesen sei, bei der man dem Grafen den Revolver auf den Tisch legte wie später bei Oberst Redl372. Der Verstorbene wurde vom Vormittag des 30. Juli an, in eine Admiralsuniform gekleidet, in der kleinen, schwarz ausgeschlagenen Totenkammer des Rodauner Friedhofes in einem offenen Metallsarg aufgebahrt. Am Fuße dessen Tod mit Bombelles, den sie 1834 heiratete, lebte. Neipperg gebar sie noch vor der Eheschließung drei Kinder: Albertine (1817), Mathilde (kurz nach der Geburt verstorben) und Wilhelm Albrecht (1819), den späteren Fürsten Montenuovo (ab 1864). 365 Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925 366 Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925 367 Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925 368 Außerhalb des Turnus wurde er bei Belassung seiner Anstellung im Dienste des Kronprinzen am 20. April 1879 zum Konteradmiral ernannt. 369 Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 370 Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925 371 „Wiener Salonblatt“ Nr. 31 372 Gruber, Clemens M:: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 70
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des einfachen Katafalks standen vier Kränze: ein gelber Rosenkranz der Kronprinzessin-Witwe Erzherzogin Stephanie sowie Kränze des Admirals Baron Sterneck, des Grafen Latour und des Grafen Hans Wilczek. Schriftlich kondolierten der kaiserliche Generaladjutant Graf Paar, der Außenminister Graf Kálnoky, Ministerpräsident Graf Taaffe, Kriegsminister Freiherr von Bauer, Generalstabschef Beck, Oberstleutnant Graf Rosenberg und andere373. Am 31. Juli wurde der Leichnam in Rodaun vom Ortspfarrer eingesegnet. An der Zeremonie nahmen Obersthofmeister Franz Graf Bellegarde mit Gattin, Admiral Baron Sterneck, Vizeadmiral von Eberan, Geheimrat Josef Hoyos, die Hofdame Gräfin Chotek, Graf Széchényi, Graf Dubsky, Oberst von Bertevizy, Generalmajor Kodolitsch, Linienschiffskapitän v. Littrow, Oberstleutnant Graf Rosenberg, Ordonanzoffizier Hauptmann Baron Giesl, Hofrat Ritter von Klaps, die Regierungsräte beim Obersthofmeisteramt Poliakovits und von Rauch sowie einige Freunde des Verstorbenen teil. Nach der Einsegnung bringt ein geschlossener Leichenwagen den Sarg zum Liesinger Bahnhof, von wo er nach Grünhof im Warasdiner Komitat (Kroatien) überführt wurde. Am 3. August um 11:00 Uhr wird der Tote in der Schlosskapelle abermals eingesegnet und im Anschluss in der Familiengruft beigesetzt374. Am Tage nach Bombelles Tod empfing Rudolfs Witwe, Erzherzogin Stephanie, am Vormittag den langjährigen Kammerdiener des Grafen, Dionisio Radoslavich375. Er erstattete Bericht über die letzten Stunden seines Herren und Stephanie entließ ihn mit den im „Wiener Salonblatt“ überlieferten Worten: „Sie haben einen guten Herrn verloren, ich begreife Ihren Schmerz.“ In der Sterbewohnung des Grafen hatte das Obersthofmeisteramt eine Nachlasssuchung vorgenommen und die aufgefundenen Papiere in drei Paketen sichergestellt376 und dem Bezirksgericht Neubau übergeben377. Aus diesem Verlassenschaftsakt stammen wahrscheinlich auch die Briefe des Kronprinzen an Bombelles aus den Jahren 1876 1888378 sowie die Qualifikationstabelle des Grafen. Aus dem Nachlass des Vizeadmirals stammen auch die vier Journale des Flügeladjutanten des Kronprinzen für die Zeit 24. Juli 1877 bis 30. September 1887 und 1. August 1884 bis 30. Januar 1889, die an eine Privatperson gelangen und von dieser durch das Obersthofmeisteramt käuflich erworbenen und dem Staatsarchiv übergeben wurden379. Ein Teil des Nachlasses soll an seine Schwester, Baronin von Puthon380, gegangen sein bzw. an seine Haushälterin, Maria Friedberg Deutsch.381 Nach weiteren Informationen war Bombelles auch als Verfasser und Komponist von Liedtexten, Lustspielen, Klavierstücken und Quartetten tätig, doch konnten bisher keine Stücke namentlich identifiziert werden.
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„Wiener Salonblatt“ Nr. 31 „Wiener Salonblatt“ Nr. 31 375 „Wiener Salonblatt“ Nr. 31 376 Wien, Bezirksgericht Neubau, 448 ex 1922 377 Heute befindet sich dieser Teil des Nachlasses wahrscheinlich unter der Signatur „Oberst-Marschall-Amt III b, Nr. 102 + 108“ im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien; HHStaA, Dr. Mraz an das Bezirksgericht Innere Stadt, Wien, 06.02.1996 378 Wien, HHStaA, KA 394 es 1899 379 Wien, HHStaA, KA 394 es 1899; dazu Kurrentakten Zl. 394/1889. Heute ist nur mehr der Band 3 für die Jahre 1884-1888 vorhanden, die übrigen Bände sind Kriegsverluste des II. Weltkrieges. 380 Sofie Bombelles (10.1843/Wien - 16.12.1828/Salzburg [Herzlähmung]) verheiratet mit dem Statthalter von Oberösterreich (Dienstzeit 24.06.1890-13.02.1902) Freiherr Viktor von Puthon (03.03.1842/Wien - 11.01.1919/Salzburg [Arteriensklerose]). Nach Ende der Amtszeit zog das Ehepaar von Graz nach Salzburg (bis 1902 Mirabellplatz 4, dann Haydnstraße 13). Das Ehepaar Puthon wurde auf dem Friedhof III von Lambach, Gruft 155, beigesetzt. Ca. 1997 wurde die Gruft an eine Frau Rödig verkauft. Die exhumierten Überreste wurden auf dem Friedhof I von Lambach links der Kirche an der Friedhofsmauer erneut beigesetzt und eine Tafel mit den Namen oberhalb angebracht. Mitteilung von Stiftspfarrer Pater Pius Hellmair, Lambach 09.09.2002. Im Besitz der Nachkommen von Viktor Puthon, die heute in England leben, befinden sich keine Aufzeichnungen oder anderen Gegenstände aus dem Besitz von Carl Bombelles, freundliche Mitteilung von Lady Marie Crostthwaite-Eyre, Bramshaw, 29.01.2003. Das Familienarchiv auf Burg Clam konnte zwischenzeitlich noch nicht ausgewertet werden. 381 Gruber, Clemens M:: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 374
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeugen C: Bratfisch
„Er ist ein Quartalstrinker.“
Franz Freiherr von Krauß 02.02.1889
Was auf die Überlieferung des sogenannten Dramas von Mayerling zutrifft, trifft auch auf die Biographie vieler Zeitgenossen und Augenzeugen zu: Im Laufe der Jahre entstanden Legenden, Ungenauigkeiten und Verfälschungen. So auch auf die Vita von Josef Bratfisch zutreffend, „Hauseigentümer und Leibfiaker Sr. K.k. Hoheit des Kronpr. Rudolf, Erzherzog von Österreich“382. An dieser Stelle wollen wir versuchen, den Lebensweg dieses Tatortzeugens möglichst genau zu rekonstruieren. Zeitgenössische Informationen aus dem Leben des Volkssängers und Fiakers sammelte der Lokalhistoriker Dr. Alfred Pick383, der am 16. Juni 1921 auch ein längeres Gespräch mit Bratfischs Adoptivtochter Antonia, Gattin des Textilkaufmanns Konhäuser, führte. 1957 nahm der Mayerling-Forscher Hermann Zerzawy mit der 86-jährigen „Toni“ Konhäuser ein Gedächtnisprotokoll auf. Darüber hinaus sind bislang wenige Details aus dem Leben des Kutschers, Sängers und „Wiener Originals“ bekannt. Josef Bratfisch wurde am 26. August 1847 in Wien384 als Sohn der Johanna385 und des k.k. Riemermeisters Franz Bratfisch386 geboren. Noch am gleichen Tag wurde seine Geburt in die Taufmatrikel der Pfarre Schottenfeld eingetragen387. Einzelheiten aus den Jugendjahren Bratfischs und seine Geschwister, den Bruder Heinrich und die
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Grabsteininschrift von Josef Bratfisch, Hernalser Friedhof/Wien, Gruppe K/130. Das auf seinem Grabstein montierte Bild wurde mindestens 1-mal von Touristen entwendet und von der Wiener Fiakergesellschaft ersetzt. 383 Pick, Dr. Alfred, Oberlandesgerichtsrat und Lokalhistoriker, Mitglied der „Kronprinz Rudolf-Arbeitsgemeinschaft“ in Wien; Pick hat nach Zerzawy, Hermann: „Vor 100 Jahren: Eine Welt ging auf – und bald unter“, Artikelserie in der „Neuen illustrierten Wochenschau“ ab 20. Juli 1958 in Mayerling noch blutige Scheiben und Tapeten mit Blutspritzern gesehen – jedoch nicht im Schlafzimmer 384 Apollogasse 14 (nach Zerzawy, Hermann: „Vor 100 Jahren: Eine Welt ging auf – und bald unter“. Artikelserie in der „Neuen illustrierten Wochenschau“, ab 20. Juli 1958, war es die Apollogasse 8), Wien Bezirk Neubau. Die Wohnung des Bratfischs lag im Parterre rechts des Haustores. 385 Johanna Bratfisch, geborene Rosenecker. geb. 1822 in Hausleiten, gest. 26.03.1865 mit 42 Jahren, beigesetzt am 28.03 auf dem Schmelzer Friedhof. Nach ihrem Tode heiratete Franz Bratfisch Josefa Kraus (1822-21.01.1892), beigesetzt auf dem Wiener Zentralfriedhof. 386 Franz Bratfisch, geb. 1820-16.08.1872, beigesetzt am 18.08. auf dem Schmelzer Friedhof, Sohn des Andreas Bratfisch aus Breitenlee (ca. 1785 – nach 1831); Großvater: Josef Bratfisch, Viertellehner aus Breitenlee. Der Bruder von Franz Bratfisch, Michael, lebte ebenfalls in Wien, seine Nachkommen in Schweden. 387 Nachlass Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Pick (Zettelkatalog); der Nachlass wurde nach Picks Tod im Jahre 1937 im Dorotheum angeboten und befindet sich heute im Besitz des Archivs der Stadt Wien 73
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Schwester Franziska „Fanni“388, sind bislang nicht überliefert. Erst ab Mitte der 80er Jahre – er lernte damals den Kronprinzen kennen – gibt es wieder sichere Quellen über sein Leben. Anlässlich einer Hofjagd hatte der Thronfolger im November 1887 das bekannte „Schrammel-Quartett“ nach Schloss Orth an die Donau eingeladen389. Hierzu brachte Johann Schrammel seinen Freund, Josef Bratfisch, mit ins Marchfeld, der als „Überraschungsgast“ den Abend musikalisch krönen sollte390. Rudolf soll über diese Gesangseinlage – und nicht zuletzt auch über die Natürlichkeit des Fiakerkutschers mit dem Spitznamen „Nockerl“391 – so begeistert gewesen sein, dass er ihm spontan das Du-Wort anbot und ihn in seinen Kreis aufnahm392. Fortan war Bratfisch der private Fiaker-Lenker393 des Kronprinzen. Zwei Besuche des Kronprinzen in der Parterre-Wohnung des Fiakers in der Loudongasse 52394 sind verbürgt. Rudolf, der Hofküche und den kulinarischen Angeboten des „Sachers“ überdrüssig, ließ sich dabei gerne von Bratfischs zweiter Frau Johanna bekochen395. Zu Bier und Wein aß Rudolf – beim zweiten Besuch in Begleitung von Maria Caspar, gerollten Rostbraten und garnierten Liptauer, während der Hausherr pfiff und sang396. Bereits beim ersten Besuch hatte Rudolf seinem Kutscher ein paar silbereingelegte Pistolen mitgebracht, die der Fiaker in seine kleine Waffen- und Trophäensammlung einreihte397. Wiederholt kutschierte Bratfisch den Kronprinzen in „privater Mission“ als dessen „Leibfiaker“, während Anton Pechtler für Hoffahrten sein „offizieller“ Kutscher blieb. Josef Bratfisch, der die Fiaker-Lizenznummer 104 hatte und der seine Standplätze mit Leopoldstadt, Aspernbrücke und Ferdinandsbrücke angab, fuhr „offiziell“ in Anstellung für den Fuhrwerksunternehmer Leopold Wollner398. Überliefert ist eine Episode, die von einer Ausfahrt des Thronfolgers mit seinem „Privatfiaker“ berichtet: Ein Sicherheitswachmann verlangte, Bratfisch solle wie andere Kutscher langsam und im Schritt eine Straßenkreuzung passieren, worauf der Fiaker entgegnete: „Halt die Gosch´n, sonst hat
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später verehelichte Ferdl Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling“, Amalthea Verlag, Wien 1993 390 Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64 391 Der Spitzname des Kutschers dürfte sich auf dessen Leibesfülle beziehen. 392 Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling“, Amalthea Verlag, Wien 1993 393 Fiaker, meist zweispännige Lohnwagen, wurden um 1670 in Wien heimisch, nachdem sie sich bereits in Paris und London bewährt hatten. Im Gegensatz zu den unnummerierten Stadtlohnwagen hatten die Fiaker auf drei Seiten deutlich eine weiße Nummer zu tragen und hatten fixe Standplätze zugewiesen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Fiaker bestimmten Ordnungen unterworfen und sollten sich an vorgeschriebene Taxen halten. Im Laufe der Zeit wiesen die Wagen verschiedene Varianten auf, von denen neben dem offenen und dem geschlossenen Fiaker, dem sogenannten „Coupé“, der „Einspänner“ oder „Comfortable“ oder der für Überlandfahrten bestimmte „Landauer“ besonders bekannt. Quelle: „Drei Jahrhunderte Straßenverkehr in Wien“, Katalog zur Sonderausstellung des Historischen Museums und des Archivs der Stadt Wien, Wien 1962 394 Heute Laudongasse, Wien VIII 395 Johanna Bratfisch, geborene Werli. Ihr erster Mann – aus dieser Verbindung brachte sie die Kinder Antonia und Johann mit in die Ehe – ein gewisser Linka (a.a.O. Linke) – hatte sich ertränkt. Antonia verstarb in den 60er Jahren, ebenso wie ihr Bruder Johann (er war zunächst als Sattlerlehrling, später als Kutscher führ Bratfisch tätig), kinderlos. 396 Nachlass Judtmann 397 Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 398 Wollners Stallung lag in der Breitenfelder Gasse 13/Ecke Bennogasse im VIII Bezirk. Zeitweise fuhren für Wollner vier nummerierte und zwei unnummerierten sowie zwei einspännige Wagen. Die Stallungen des Unternehmens lagen im Erdgeschoss eines 1811 errichteten Eckhauses (655 Quadratmeter Grundstück) mit insgesamt acht Wohneinheiten und zwei Geschäftslokalen. Das Gebäude wurde 1924 an Franz Wellner verkauft; Ende der 20er Jahre wurden die Stallungen zu Garagen umgebaut (Nachlass Judtmann). 389
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dir mei Gast `s Goldene Vlies um die Pappn“399. Über andere Fahrten – insbesondere jene mit der Vetsera – soll Bratfisch jedoch nie gesprochen haben400. Bratfisch soll unter den vielen Kutschern, die bei Wollner in Lohn standen, jener mit dem elegantesten „Zeugl“ und einer der feschesten Fiakerlenker seiner Zeit gewesen sein. Oft trug er eine lichte, quadrallierte Hose sowie einen Rock aus dunkelbraunem Samt und meist einen stets glatt gebügelten Zylinder. Bevor er auf den Kutschbock stieg, pflegte er Rock und Zylinder abzulegen und reinigte mit Bürste und Leder den Wagen und das Pferdegeschirr401. Am 28. Januar 1889 bracht Bratfisch in Wien mit seinem Gespann Richtung Mayerling auf. Das alte Kassenbuch seines Arbeitgebers, das dessen Schwester Theresia führte, hatte für den Tag den Vermerk „Bratfisch fährt nach Mayerling, 30 Gulden“402. In Mayerling hat Rudolf am Abend des 29. Jänner seinem Kutscher offenbar einen dickeren Brief mit der Anweisung gegeben, diesen zu vernichten, falls die Nacht nicht ohne Störung vorbeiginge. Nach dem Tod des Erzherzogs verbrannte Bratfisch den Inhalt des Umschlages, behielt jedoch den Begleitbrief mit dem Text „Fürst Hohenlohe sendet beifolgende Depesche und frägt an, ob dieselbe verständlich ist. Antwort ist sofort in die Burg zu senden, Rudolf“. Nach der Tragödie soll Bratfisch vier Tage lang nicht zu Hause gewesen sein403, möglicherweise tauchte er bei Bekannten in Salzburg unter. Nach seiner Rückkehr fand sich in seinem Besitz eine goldene Damenuhr mit Brillanten an einer perlenbesetzten Sportkette mit eingehängtem Goldring. Diese soll die Vetsera Bratfisch in Mayerling mit den Worten übergeben haben: „Nehmen Sie das zum Andenken, es ist ohnehin das letzte Mal“404. Die Uhr ging später gegen eine Ablöse an den Grafen Stockau, Marys Onkel. Zu Beginn des Februars 1889 wurde Bratfisch mehrfach durch den Wiener Polizeipräsidenten Franz Freiherr von Krauss einvernommen – ohne jedoch besondere Aussagen zum Tathergang zu machen; dies hatte er zuvor dem kaiserlichen Obersthofmeister, Fürst Montenuovo, versichert405. Bis zum 2. Februar verhörte Krauss den Fiaker und bot ihm an, einen anderen Aufenthalt zu nehmen. Zum Ende der Verhöre musste er jedoch dem Ministerpräsidenten melden, weder Geld noch gute Worte könnten Bratfisch zum Verlassen der Stadt bewegen. Einzige Schwachstelle bei dem aus Loyalität seinem toten Auftraggeber gegenüber so schweigsamen Kutscher war seine Leidenschaft: der Alkohol. Krauss: „Er ist Quartalstrinker"406. Aus diesem Grunde ließ ihn der Polizeichef auch zeitweise durch Agenten überwachen. Noch in den 50er versuchte seine hochbetagte Stieftochter Toni vergeblich, gegen den Ruf ihres Vaters, Alkoholiker zu sein, anzugehen407. Zeitgenossen berichteten, dass es nach der Tragödie von Mayerling „um Bratfisch
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zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968 nach Pick Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 401 Kunschak, Leopold: „Steinchen vom Wege“, Typographische Anstalt Wien, o.D. 402 Der Eintrag ist nicht überprüfbar, da das Wollner´sche Kassenbuch im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurde. 403 Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 404 Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 405 Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 406 Krauss, zitiert in Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64 407 „Große Österreichische Illustrierte“, 24.02.1951 400
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geschehen“ war: „Der einst so frohe und lebenslustige Mann wurde wortkarg wie ein Karthäusermönch, nie mehr hörte man ihn singen, nie mehr spielte ein frohes Lachen um seinen Mund.408“ Zum 14. März 1889 gab Bratfisch ein Angeld von 1.000 fl. für den Kauf eines Hauses409 der Maria Raidl in Hernals, damals Annagasse 8 – jetzt Lacknergasse 8 - und übersiedelte in den 17. Wiener Gemeindebezirk. Der Kauf selbst wurde am 18. März 1889 abgeschlossen410 und der restliche Kaufpreis bar beglichen. Josef und Johanna Bratfisch hinterlegten am 24. Juli ein gemeinsames Testament zu wechselseitigen Gunsten411; Hintergrund mag gewesen sein, dass sich Bratfisch zu dieser Zeit als Kutscher selbstständig machte. Wie schon zu Wollners Zeiten, ließ er auch weiterhin alle Reparaturen beim Sattler Czermak richten. Nach Meinung von Zeitgenossen hatte der Hof die Ausgaben für das Haus übernommen sowie aus den kaiserlichen Stallungen Pferde und Wagen bereitgestellt412. Ähnliches berichtet auch Wollners Sohn Egon413. Am 16. Dezember 1892 starb Josef Bratfisch mit 45 Jahren in seiner Wohnung in den Armen seines Freundes, des Fiakers Chochola, genannt Chocoladi414 und wurde in der Pfarrkirche „Zum heiligen Bartholomäus“ eingesegnet. Das Totenschauprotoll415 nennt „Luftröhrenentartung“, eine Art Kehlkopfkrebs, als Todesursache416. Bestattet wurde der Leibfiaker des Kronprinzen am Sonntag, 18. Dezember, „im eigenen Grabe417“ auf dem Hernalser Friedhof. Im Nachlass des Kronprinzen fanden sich Schmuckstücke im Wert von 20 Gulden, Kleidung und Wäsche für 95 Gulden, Mobiliar um 155 Gulden, Pferde und Kutschierwagen im Wert von 840 Gulden und Realitäten für 13.104 Gulden. Von der Gesamtsumme wurden Schulden in Höhe von 8.827,06 Gulden abgezogen – inklusive zweier Hypotheken auf das Haus mit insgesamt 6.200 Gulden418, so dass im Nachlass 5.386,94 Gulden verblieben419. Nach der Beisetzung mussten weitere offene Rechnungen – insgesamt 28 – für Arzt, Medikationen, Begräbnis und Grabstein beglichen werden. Bratfisch litt wahrscheinlich bereits seit längerer Zeit am Krebs, da allein für Medikamente Rechnungen von über 200 Gulden vorlagen420. Zwei Jahre nach dem Tode von Bratfisch wurden in der 69. Auktion der Firma A. Einsle421 unter dem Titel „Aus dem Nachlasse des Johann Schrammel, Volkssänger, und Josef Bratfisch, Natursänger und Fiaker“ Teile seines Nachlasses, darunter die Geschenke des Kronprinzen, versteigert. Der Erlös der Auktion kam der Witwe und den neun Kindern des Johann Schrammel422 zu Gute423.
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Kunschak, Leopold: „Steinchen vom Wege“, Typographische Anstalt Wien, o.D. Kaufpreis von 9.762 fl. und 74 kr. wurde in bar beglichen 410 Kaufvertrag zitiert in Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64 411 Archiv der Stadt Wien, Bezirksgericht Hernals, IV-1672/1892, Fol. 5u.6 412 Kunschak, Leopold: „Steinchen vom Wege“, Typographische Anstalt Wien, o.D. 413 Kommerzienrat Egon Wollner (gest. 09.05.1985 im 85. Lebensjahr) an Fritz Judtmann, Wien 07.01.1966, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968: „Dass Bratfisch von der Hofkanzlei einen größeren Geldbetrag als Schweigegeld erhielt, steht für mich fest, da er sich meines Wissens und nach Erzählungen meines Vaters bald danach selbstständig gemacht hat.“ 414 Nachlass Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Pick (Zettelkatalog), Archiv der Stadt Wien 415 Archiv der Stadt Wien, Totenschauprotokoll, 1892-B, Fol. 7957 416 Totenschauprotokoll, zitiert nach Hummelberger: „ 417 Totenbrief des Josef Bratfisch im Besitz der Familie 418 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968 419 Verlassenschaftsabhandlungen Bratfisch, zitiert bei Hummelberger 420 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968 421 Firma A. Einsle, Sonnenfeldgasse 21; Auktionsdatum: 22. Januar 1894 und folgende Tage 422 Johann Schrammel, gestorben am 17.06.1893 423 Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64 409
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Am 20. Juli 1923 verschenke dann Bratfischs Schwägerin, Amalia Bratfisch, das letzte Paar Handschuhe des Kutschers an Dr. Pick424. Ein Jugendbildnis des 16-jährigen Kronprinzen befand sich im Besitz von Toni Konhäuser. Heute finden sich im Heeresgeschichtlichen Museum „Arsenal“ in Wien zwei Geschenk Rudolfs an den Fiaker, eine Spazierstock und eine Peitsche425. Das Historische Museum der Stadt Wien besitzt einen Stösser aus schwarzem Haarfilz426 und das Bezirksmuseum Hernals je eine Meerschaumzigarren- und Zigarettenspitze mit Bernsteinmundstück und einen Galazylinder427. Darüber hinaus befinden sich in Familienbesitz: ein goldener Siegelring mit Blutstein und Waffen, Geschenke des Kronprinzen. Außerdem besitzt die Familie zwei Pfeifenköpfe428, einen bernsteinfarbenen Zigarettenhalter, ein Paar Lederhandschuhe und zwei Paar weißer Baumwollhandschuhe. Eine Krawattennadel des Fiakers wurde im April 2002 im Dorotheum versteigert429. Der Pferdeschlitten430 von Josef Bratfisch könnte sich im Besitz der Fahrzeug- und Schlittensammlung des Weinviertler Museumsdorfes in Niedersulz befinden. Am 19. September 1950 würdigte die Stadt Wien ihren wohl bekanntesten Kutscher mit einer Gedenkfeier: Am Hause Lacknergasse 60 wurde eine Gedenktafel für die drei Altwiener Fiaker Karl „Hungerl“ Mayerhofer, Franz „Schuster-Franz“ Reil und Josef „Nockerl“ Bratfisch enthüllt. Mit Josef Bratfisch starb 1892 ein äußerst einfacher, honoriger Mann, den der Kronprinz – vielleicht mit mehr Berechtigung als viele andere – seinen Freund nannte. Davon soll auch eine Uhr zeigen, in die der Erzherzog die Worte „Von Deinem Freund Rudolf“ gravieren ließ431. Welche Rolle Bratfisch in Mayerling spielte, wird an anderer Stelle beleuchtet.
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Nachlass Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Pick (Zettelkatalog), Archiv der Stadt Wien Heeresgeschichtliches Museum der Stadt Wien, Katalog zur ständigen Ausstellung des „Arsenals“ 426 Stösser (melonenartiger Hut), Weite 54,4 Zentimeter; der Hut stammt aus der Sammlung Otto H. Schick und wurde vom Verein für Kultur und Mode 1968 der Firma „Hut Schick“ abgekauft. Quelle: „Kultobjekte der Erinnerung“, 185. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 1994/95 427 Bezirksmuseum Hernals, Wien 17, Elterleinplatz. Der oben zitierte Brief unter der Überschrift „Bratfisch brach vor seinem Tod das Schweigen“, veröffentlicht im „Montagmorgen“, Wien 19.06.1950, und eine ebenfalls dort erwähnte Erinnerungsmedaille aus dem Besitz des Kutschers sind nicht mehr in den Hernalser Museumsbeständen nachweisbar, gelangte jedoch über einen Freund Bratfischs an den Gatten der langjährigen Museumsleiterin, Professor Stephanie Zabusch 428 Meerschaumpfeife mit Frauenkopf und Holzpfeifenkopf aus dem Jahre 1819 429 Dorotheum, Los 245 der Auktion „Kaiserhaus und Ballspenden“, Wien 09.04.2002: Silber, mit grünem Stein, Länge 8 cm, dazu Herkunftsbeschreibung: „Diese Krawatten Nadel war Eigentum des Leibfiakers Kronprinz Rudolfs (Bratfisch), der sie meinem Bruder Rudolf Schneider, Wr. Fiaker genannt „Papierene“ zum Präsent machte.“ 1948 wurde die Nadel von Schneiders Bruder einem Karl Finz zum 55. Geburtstag überreicht. 430 Hierbei handelt es sich um einen bürgerlichen, reich verzierten Schlitten aus dem Biedermeier mit der rückseitigen Jahreszahl 1838. Einen Beweis seiner Authentizität gibt es jedoch nicht. 425
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeugen D: Maria Caspar
„Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben“
Kronprinz Rudolf an Ladislaus von Szögyény-Marich Wien, 1889
Die letzte Nacht in Wien vom 27. auf den 28. Januar 1889 verbrachte Rudolf mit und bei seiner langjährigen Freundin Maria Caspar432, die er „Mizi“ nannte. Lange Zeit war die Beziehung des Kronprinzen zu Maria Caspar wenig bekannt – oder wurde von Biographen und Autoren als unwichtig angesehen. Mitis433 erwähnt sie 1928 kurz und ohne biographische Angaben, da sie in der Hoyos-Denkschrift erwähnt wird434. Viktor Bibl435 erwähnt Caspar 1938 im gleichen Zusammenhang und Carl Lónyay436 bezeichnet sie 1949 als „Rudolph´s girl friend“. Selbst Albert E. J. Hollaender437 erwähnt 1957 ihren Namen nur unter Zitierung des Kraus-Aktes, der 1955 als „Mayerling-Original“ veröffentlicht worden war. Erst die Veröffentlichung von Dr. Rudolf Neck438 1958 macht ihre wichtige Stellung im Leben des Kronprinzen deutlich – im Schreiben an Ladislaus Szögyény-Marich nennt der Kronprinz als Empfänger seiner vier Abschiedsbriefe an letzter Stelle Mizi Caspar. Der dritte Abschiedsbrief an Baron Hirsch war bis zu diesem Zeitpunkt sogar gänzlich unbekannt, steht aber in enger Verbindung zum Schreiben an die Caspar439. Dass Rudolfs
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Nach Florian Meißner, zitiert bei Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64 432 Caspar, Marie (eigene Schreibweise laut Testament) – auch Mizi oder Mitzi Caspar oder Maria Kaspar; der Polizeiinformant „Milarow“ nennt sie „Mizerl“. Marie Larisch macht aus ihr gar eine „Mizzi Hauser“, da die Legende des Findelkindes seinerzeit oft besprochen wurde (siehe auch Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch ... Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee - Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1988) 433 Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 434 „Fräulein Maria Kaspar wurde im letzten und vorletzten Lebensjahr vom Kronprinzen öfter gesehen und auch zu den in militärischen Angelegenheiten nothwendigen Reisen oft mitgenommen und in den betreffenden Nachtquartieren gesehen (Zeuge Oberstlieutenant Graf Orsini Rosenberg).“ zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, InselVerlag, Leipzig 1928Im Februar 1887 begleitete Maria Caspar den Kronprinzen bei einem Garnisonsaufenthalt nach Enns, Quelle: Franz Ferdinand an Rudolf, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 19, Enns 17.02.1887 435 Bibl, Viktor: „Kronprinz Rudolf“, Gladius-Verlag, Leipzig/Budapest 1938 436 Lonyay, Count Carl: “Rudolf – The tragedy of Mayerling”, Hamish Hamilton, London 1950 437 Hollaender, Albert E. J.: „Streiflichter auf die Kronprinzen-Tragödie von Mayerling“, Festschrift für Heinrich Benedikt, Wien 1957 438 Rudolf Neck, Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 439 Augenscheinlich hatte Rudolf nur mit seiner Hilfe erreichen können, dass Maria Caspar nach seinem Tode finanziell unabhängig blieb. 78
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Schwägerin, Louise von Coburg440, 1926 behauptete, „dass Rudolf mit der von der Polizei unablässig inviglierten Soubrette Mitzi Kaspar bis zum frühen Morgen vor seiner Abreise nach Mayerling Beziehungen unterhielt“ schien zu keiner Zeit einem Biographen von besonderer Wichtigkeit. Marie Caspar wurde am 28. September 1864 in Graz geboren, besuchte die Volksschule und spielte 1877 bis 1879 in ihrer Heimatstadt am Theater ein paar Kinderrollen441, ehe sie mit ihrer Mutter Anna442 nach Wien übersiedelte443. Sie war aber weder „ehemalige Tänzerin444“, eine „Tänzerin der Staatsoper445“ noch „Tanzsoubrette446“ oder „Malermodell447“, wie oft behauptet wurde. Judtmann nennt sie „eine Dame der Demimonde“, andere Autoren eine „Halbweltdame448“. „Sie war eine rassige Erscheinung mit dunklem Teint, von natürlichem Wesen, der Rudolf sehr offenherzig seine Ansichten mitteilte.449“ Auch Erzherzog Franz Ferdinand schwärmte von ihr als „eine[r] wunderschöne[n] Frau450“, während Erzherzogin Stephanie sie in ihren Memoiren lange nach Rudolfs Tod als „grande cocotte von Wien“ bezeichnete. Hierzu gibt es eine – nicht sicher verbürgte – Episode, nach welcher zur „Rushhour“ ein Hofwagen neben dem in der Nähe des Hauses in der Wieden wartenden Fiaker Bratfisch anhielt, die Kronprinzessin ausstieg und mit Bratfisch zurück in die Burg fuhr. Der nun vor dem Hause stehende Hofwagen lockte hunderte Schaulustige an, die den Kronprinzen dann beim Verlassen des Hauses stürmisch begrüßten451. Nach übereinstimmenden Berichten lernte Rudolf Marie Caspar 1886 kennen, „nachdem er aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgesperrt worden war.452“ Er dürfte sie im Wiener Etablissement der Kupplerin Wolf kennen gelernt haben.453 Auf jeden Fall war er 1887 und 1888 öfters mit Caspar gesehen worden. Salvendy454 vermutet, dass der Kronprinz in Marie Caspar nicht nur „eine angenehme Abwechslung von dem steifen und formellen Gehabe Stephanies und des ganzen Hofes“ fand, sondern auch sexuelle Befriedigung - sie blieb bis zu seinem Tode seine ständige Mätresse. Allerdings soll – nach Konfidentenberichten – Rudolf in jenen Jahren nur nach dem Genuss von reichlich
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Coburg, Luise von: „„Throne die ich stürzen sah“, Amalthea-Verlag, Wien 1926 Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 442 Caspar, Anna geb. Safran, Mutter der Marie Caspar 443 Weissensteiner, Friedrich: „Frauen um Kronprinz Rudolf“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1991 444 „Das Mayerling-Original – Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums - Facsimilia der Dokumente - Der authentische Bericht“, Wilhelm Frick-Verlag, München 1955 445 Andics, Helmuth: „Mayerling und kein Ende“, in: Neues Österreich, Wien 30.01.1949 446 „Das Mayerling-Original – Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums - Facsimilia der Dokumente - Der authentische Bericht“, Wilhelm Frick-Verlag, München 1955 447 Fugger, Fürstin Nora: „Im Glanz der Kaiserzeit“, Wien 1932: ein „auffallend hübsches Mädchen, das von Künstlern oft gemalt wurde“, zitiert bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 448 Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 449 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 450 zitiert in: „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Ausstellungskatalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989. Franz Ferdinand an Rudolf, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 19, Enns 17.02.1887 451 Hamann, Brigitte: „Kronprinz Rudolf – Der Weg nach Mayerling – Eine Biographie“, Goldmann Verlag, 2. Auflage, München 1983 452 Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 453 Brigitte Hamann nennt dieses extravagante Bordell den „vornehmsten Salon Wiens“, was jedoch übertrieben erscheint. Nachforschungen über Frau Wolf, die Peter Broucek für seinen Artikel „Kronprinz Rudolf und k.u.k. Oberstleutnant im Generalstab Steininger“ in den Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 26, 1973, im Allgemeinen Verwaltungsarchiv Wien, im Archiv der Polizeidirektion Wien, im Niederösterreichischen Landesarchiv sowie im Archiv des Landes und der Stadt Wien durchführte, brachten kein Ergebnis. Nach einem Brief Rudolfs an Steininger, Wien 09.04.1887, hatte neben seinem Schwager, Prinz Philipp von Coburg, auch der preußische Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm II., Kontakt zur Kupplerin Wolf und dieser auch einen handschriftlichen Brief zugesandt, den der Kronprinz seit ca. 1882 besaß. 454 Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 441
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Champagner zum Liebesakt fähig gewesen sein: „Mizi sagt, der K. R. war impotent und nur dann zum Coitus fähig, wenn er Champagner getrunken hatte.455“ Rudolf dürfte tiefes Vertrauen zu Maria Caspar gefasst haben. Im Krauss-Akt heißt es: „K. R. äußerte sich zu Mizzy: Er scheißt auf die Regierung und der Franzl [Franz Ferdinand] solle die Geschichte fortmachen.456“ Mit Marie Caspar war Rudolf auch bei der Familie seines Kutschers Josef Bratfisch zu Gast, wie dessen Tochter Antonia Konhäuser am 15. Juni 1921 zu Protokoll gab: „Kronprinz Rudolf war mit der Caspar sehr oft abends im Hause Bratfisch zu Gast und aß dort deftige Hausmannskost: am Dienstag Zwiebelrostbraten und am Freitag Blutwurst mit Sauerkraut457“. Seine Liebe drückte Rudolf u.a. in den für Mizi gedichteten Couplets zur Melodie „Das was nur a Weaner“ und „Das hat ka Goethe gschrieben, das hat ka Schiller dicht“ aus. Darin heißt es u.a. „Zur schwarzen Mitzi sagt a Herr ganz leis Mei Schatzerl `s Herz brennt für Dich gar so heiß. Sei mir mitsamm´ bekannt auch schon sehr lang, So ist uns doch für d´ Zukunft no nit bang, Denn wenn auch Eifersüchtige uns trennen woll´n Sag m´r höchstens arm Tschaperl´n, die ihr seid Denn mir kennen uns ja doch gar zu gut Wir zwei Echten vom Weanerblut.458“ Nach der Denkschrift des Grafen Hoyos fand das letzte Treffen der Beiden in der Hofburg statt. Er beruft sich auf eine Meldung des Burghauptmanns Kirschner, dass der Kronprinz „die letzte Nacht in Wien vom 27. auf den 28. Jänner in der Burg selbst mit der ihm längst bekannten Frl. Mitzi (Marie Kaspar) zugebracht459“ habe. Im Akt des Polizeipräsidenten Baron Krauß liegt jedoch ein Bericht des Polizeikonfidenten Dr. Florian Meißner460, der durch die „Kupplerin“ Wolf Informationen von Mitzi Caspar bezog461. Darin heißt es im Gegensatz zu Hoyos: „Montag den 28/1.1889 war E. R. [Erzherzog Rudolf, Verf.] bei Mizi bis 3 Uhr morgens, trank sehr viel Champagner und gab dem Hausmeister 10 f. Sperrgeld462. Als er sich von Mizi empfahl, machte er ganz gegen seine Gewohnheit ihr an der Stirn das Kreuzzeichen. Von Mizi fuhr er (direct?) nach Mayerling. (…) Vom Erschießen sprach K. R. seit Sommer 1888.
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Faksimile in Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Krauss-Akt, Folio 121, zitiert bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 457 Protokoll von Dr. Alfred Pick, zitiert bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 458 zitiert in Hamann, Brigitte: „Kronprinz Rudolf – Der Weg nach Mayerling – Eine Biographie“, Goldmann Verlag, 2. Auflage, München 1983 459 zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 460 Meissner, Leopold Florian, k.k. Regierungsrat, Hof- und Gerichtsadvokat, Ehrenbürger von Währing; geb. 10.06.1835/Wien, gest. 29.04.1895/Wien; verheiratet mit Fanny, geb. Diemer, Bundesvizepräsidentin der österr. Gesellschaft vom Roten Kreuz (gest. 06.1910); Erzähler, Polizeikommissär von 1870-1872, dann pensioniert und als Rechtsanwalt bzw. Informant des Polizeipräsidenten tätig. Veröffentlichungen: „Weihnachtsspiele“ (1896), „Aus den Papieren eines Polizeikommissars: Wiener Sittenbilder“, Verlag Philipp Reclam jun., 5 Bände, Leipzig 1892. Das Buch diente 1895 dem Komponisten Wilhelm Kienzle (geb. 17.01.1857 Waizenkirchen /Oberösterreich, gest. 03.10.1941/Wien) als Stoff seiner Oper „Der Evangelimann - Musikalisches Schauspiel in zwei Aufzügen. Nach einer in den Erzählungen `Aus den Papieren eines Polizeicommissärs` von Dr. Leopold Florian Meißner mitgeteilten Begebenheit“. Nach Meißner wurde im 19. Wiener Gemeindebezirk der Dr.-Meißner-Park an der Koschatgasse benannt. 461 Salvendy vermutet, dass der Kronprinz der Caspar voll vertraute; sicher war es ihr nicht bewusst, dass die Mitteilungen an die „Wolf“ direkt über den Agenten Meißner beim Polizeipräsidenten landen würden. 462 Der Hausmeister als Informant wurde später von Marie Caspar entlassen und schimpfte fortan über sie als „die Huren Bagage“; zitiert nach Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 456
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Er machte auch der Mizi den Vorschlag, sich mit ihm im Hußaren Tempel463 zu erschießen. Mitzi lachte darüber u. glaubte es auch nicht wahr als er ihr montags, den 28./1.1889 sagte, er werde sich in Mayerling erschießen … K.R. äußerte sich Mizi gegenüber wiederholt, aber immer erst seit dem Sommer 1888 – er erheische seine Ehe, dass er sich erschieße. Warum er seine Ehre erheische, detaillierte er nicht näher – also ist ein amerikanisches Duell nicht ausgeschlossen. Übrigens soll K.R. sehr verschuldet gewesen sein, die Möbel der Mizi sind nicht bezahlt und er soll bei Baron Hirsch bedeutende Summen geborgt haben.464“ Krauß übernahm Meißners Meldung und notierte, er habe diese am 3. Februar an den Ministerpräsidenten Graf Taaffe weitergeleitet465. Ob der Bericht der Hoyos-Denkschrift stimmt oder Meißner Recht hat, ist nicht klar – von Bedeutung ist nur, dass der Kronprinz die letzte Nacht vor der Abreise nach Mayerling mit Marie Caspar verbrachte. Das Wohnhaus der Dame lag im 4. Bezirk, Wieden, an der Heumühlgasse 10466. Auch nach seinem Tode hatte Rudolf für „Mizi“ gesorgt: An Szögyény-Marich schrieb er ins einem Kodizill, „Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben. Mein Kammerdiener Loschek weiß ihre Adresse genau.467“ Zudem hinterließ er ihr einen „letzten, von Liebe überströmenden Brief468“, den er über den Sektionschef zugestellt wissen wollte. Über die Summe, die der Caspar ausgefolgt wurden, gibt es verschiedene Angaben: Hoyos berichtet unter Bezug auf Erzherzog Otto, sie habe sich um 60.000 Gulden ein Haus auf der Wieden im 4. Bezirk gekauft469; Slatin erwähnt in seiner Denkschrift, dass die im Schreibtisch aufgefundenen 30.000 Gulden „einer Dame zweifelhaften Rufes“ ausgefolgt wurden; Krauß erwähnt, Taaffe habe bemerkt, „der Kronprinz habe Mizi 10.000 Gulden vermacht470“. Nach Spekulation von Hoyos war das Geld – der mit 100.000 Gulden beschriftete Umschlag soll nur 30.000 Gulden enthalten haben – durch den Prinzen Louis Eszterházy471 bei Baron Hirsch beschafft worden, damit das kronprinzliche Sekretariat davon nichts erfahre. In Maria Caspars Nachlass befand sich „einige Barschaft, Spareinlagen und Wertpapiere per ca. 100.000 Kronen, einige Pretiosen etc.472“ Und: „Das Secretariat des Kronprinzen war nicht wenig über[r]ascht, vor kurzem eine quittierte Rechnung per 1500 fl. von einem Juvelier zuge-
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Husarentempel, ältestes Kriegerdenkmal Österreichs, 1812/1813 als dorischer Tempel in der Brühl (Briel) auf dem 494 Meter hohen Kleinen Anninger von Josef Georg Kornhäusel (geb. 17.01.1857/Waizenkirchen/OÖ, gest. 03.10.1941/Wien) im Auftrag von Johann I. Joseph Fürst Liechtenstein (geb. 26.06.1760/Wien, gest. 20.04.1836/Wien) zur Erinnerung an die in den napoleonischen Kriegen gefallenen österreichischen Soldaten erbaut; Inschrift: „Für Kaiser und Vaterland. Den ausgezeichneten Völkern der österreichischen Monarchie gewidmet.“ 464 zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 sowie in originaler Diktion bei Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64 465 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Maria Caspar wohl bereits im Herbst 1888 von Rudolf gefragt worden war und sie dies – ggf. über den Umweg Wolf/Meißner – an den Polizeipräsidenten meldete – jedoch bis Ende Jänner 1889 nichts geschah. Vielleicht legte der Polizeipräsident doch keinen großen Wert auf die Aussage eine Dame aus der Halbwelt? 466 Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64. Im Haus Heumühlgasse 9, nach einer seit dem 13. Jahrhundert hier nachweisbaren erzbischöflichen Heumühle auch „Zur Heumühle“ genannt, starb 1925 der Salonkapellmeister Cal Wilhelm Drescher. Über den Erwerb des Caspar-Hauses spekulierte am 06.01.1957 die „Neue Illustrierte Wochenschau“ aus Wien, nach deren Bericht Rudolf in den Tagen vor der Tragödie von Mayerling 100.000 Gulden erhalten habe, weil er Baron Hirsch dem Prinzen von Wales vorgestellt haben soll – 60.000 Gulden von diesem Geld erhielt demnach Maria Caspar. Diese Darstellung ist falsch. Ab 1887 ist bei Anna Caspar, der Mutter von Maria, als Adresse Heumühlgasse 10 angegeben. Dort wohnt sie bis 1891. Der Kauf des Hauses dürfte im Jahre 1886 erfolgt sein, der Verkauf 1891. 467 Rudolf Neck, Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 468 Hoyos-Denkschrift, zitiert in Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 469 Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 470 zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 471 nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 war Eszterházy Legationsrat an der österreichischen Botschaft in London 472 Bezirksgericht Wieden, Gesch. Zahl A 151/1907/2 Todesfallaufnahme 81
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schickt zu erhalten, ohne eine Zahlung geleistet zu haben.473“ Hofbeamte machten sich gar Gedanken, welchen Titel die Caspar führen können: „k.k. Hofbusenschlange, k.k. Hofleibspitzel, k.k. Hofratte, Durchl. Leibbetthase, Durchl. Leibbetthupfel, Durchl. Kammermensch, Hofleibbereiterin, Hofleibk(n)utscherin“474. Glaubt man den Mitteilungen der Polizeispitzel, so führte die Caspar weiterhin ein angeregtes Leben: „Die Mizzy soll nach Paris reisen wollen und ihre Koffer gepackt haben. Sie soll dann beabsichtigen, nach König Humberto [Umberto I. von Italien] ihre Netze auszuwerfen.475“ Nach Rudolfs Beisetzung wurde Marie Caspar nicht polizeilich einvernommen, was sicher im akkurat geführten Akt des Polizeipräsidenten vermerkt gewesen wäre476. Die im Text des gedruckten „Mayerling-Originals477“ aufgestellte Behauptung, „der Akt bewahrt die Aussagen der Tänzerin Mitzi Kaspar und genaue Mitteilung über Rudolfs Schenkungen“, ist – so die Überprüfung durch Hummelberger – unrichtig. Dennoch soll es ein Protokoll mit ihr gegeben haben478, dass 1927 beim Brand des Wiener Justizpalastes vernichtet wurde479. Conte Corti erwähnt in seinem Elisabeth-Buch480, dass es einen Brief über den geplanten Selbstmord am Husarentempel gegeben habe, gibt jedoch über Verfasser und Aufbewahrungsort keine Informationen. Zeit ihres Lebens scheint Maria Caspar nicht in „Lehmann´s allgemeinen Wohnanzeiger“ für Wien und Umgebung auf, sondern ab 1880 bis zu ihrem Tode 1917 ihre Mutter, „Caspar Anna, Kaufm. Wwe.“ Marie Caspar erhielt am 7. November 1889 das Wiener Bürgerrecht und gab bei der für diesen Verwaltungsakt notwenigen Befragung am 13. Februar 1889 zu Protokoll: „Charakter oder Beschäftigung: Hauseigenthümerin, Wohnort: IV. Heumühlg. 10, Einkommen: Ertrag des Hauses und des Vermögens, Besonderes Vermögen und worin dasselbe besteht: ca. 10.000 fl. in Wertpap., Haus Nr. 10 Heumühlgasse im Wert von ca. 60.000 fl. unbelastet, Moralische und politische Haltung: unbeanständet, Anfang des Aufenthaltes in Wien: 1882481“. Von 1886 bis 1891 wohnte sie gemeinsam mit der Mutter in der Heumühlgasse, nach dem Verkauf des Hauses in der Paniglgasse 19, ebenfalls im 4. Bezirk482. Am 18. Januar 1902 verfasste Marie Caspar ihr Testament483 - wahrscheinlich in Anbetracht ihrer fortschreitenden Krankheit. Als Exekutor bestimmte sie den Wiener Hopf- und Gerichtsadvokaten Dr. Emil Kohn. Sie starb, unverheiratet und kinderlos484, am 29. Januar 1907 mit 42 Jahren an „Rückenmarksverhärtung485“, einer Folgeerkrankung der Syphilis, und wurde nach katholischem Ritus in Mödling beigesetzt486. Im Testament heißt
473 Hoyos unter Berufung auf Orsini Rosenberg, zitiert in zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 474 Judtmann-Nachlass im HHStaA 475 Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 476 Bibl ist der Meinung, im Akt des Polizeipräsidenten habe sich „das sehr aufschlussreiche Protokoll, das mit Mitzi Caspar aufgenommen worden war“, befunden; zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 477 Mayerling, Das Original - Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums - Facsimilia der Dokumente - Der authentische Bericht; Wilhelm Frick-Verlag, München 1955 478 Zur Zeit der Amtseinführung des Polizeipräsidenten Johann Schobers (11.06.1918-19.08.1932) war das Protokoll noch erhalten, wie Conte Corti mitteilte; zitiert in Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64 479 Nach Dr. Walter Hummelberger, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 480 Corti, Egon Cäsar Conte: „Elisabeth - Die seltsame Frau“, Pustet-Verlag, Salzburg 6. Auflage 1935 481 Archiv der Stadt Wien, Hauptregistratur P 11-36 132/1889, Magistrat Wien 482 Anna Caspar wohnt in der Paniglgasse 19 bis zu ihrem Tode 1917 483 Bezirksgericht Wieden, Gesch. Zahl A 151/1907/1; ebenda Todesfallaufnahme vom 04.02.1907 484 Die u.a. bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 erwähnte uneheliche Tochter „Maria“ ist uns in keinem Originaldokument – siehe das Testament, in dem sie sicher erwähnt worden wäre – aufgefallen; es handelt sich wohl um eine Verwechselung mit der Stiefschwester. 485 Archiv der Stadt Wien, Totenbeschauprotokoll, 1907-C.
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es dazu: „Mein Leichenbegängnis soll einfach sein, doch wünsche ich in einem eigenen Grabe beigesetzt zu werden.487“ Dass die Wahl des Friedhofes nicht zufällig war, vermutet Hummelberger mit Blick auf die nahe gelegenen Orte Heiligenkreuz und Alland488. Als gleichberechtigte Erben setzte Maria Caspar neben ihrer Mutter Anna489 ihre Halbschwester Anna Krüzner490 ein. Über ihren Bruder Rudolf491 heißt es im Testament: „Doch ist es nicht mein Wunsch, dass mein Bruder Rudolf Caspar irgendetwas aus meinem Nachlasse erhalte.“ Der Grund mag sich hinter der Formulierung verbergen, dass sie durch ihn „Kränkung“ erlitten habe. Der noch in der Todesfallaufnahme erwähnte Bruder Gottfried492 scheint im Testament nicht auf493. Zeit ihres Lebens gelang des Marie Caspar, dass ihre Beziehung zum Kronprinzen nicht ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. Das bei Conte Corti erwähnte Portrait einer Frau, das sich im Nachlass des Kronprinzen befand, konnte erst zu Beginn der 60-er Jahre durch Dr. Walter Hummelberger als jenes von Marie Caspar identifiziert werden494. Neben diesem Bild finden sich mehrere Fotografien von Maria Caspar im Bildarchiv der Nationalbibliothek495. Im Nachlass des Kronprinzen existierte zudem eine freizügige Marmorstatue der Caspar, die in diesem „versteckten Portrait“ (portrait historicé) als Lautenspielerin dargestellt ist. Lange Zeit wurde die Figur trotz fehlender Ähnlichkeit als „Mary Vetsera“ bezeichnet. Kurz nach dem Tode des Kronprinzen holte jedoch Maria Caspar das Gipsmodell der Statue bei dem Bildhauer Johannes Benk496 ab, was durch die Berichte des Advokaten Meißner dokumentiert ist497. Der Verbleib des Modells ist unbekannt.
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Eintrag Friedhofsbuch Mödling: „Zahl 123/II Kaspar Marie (14.07.1961 exhumiert auf Gruppe L, Grab 9)“, ein Grabstein existiert nicht mehr; nach Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64. Die Grabstelle existierte bis 1981 und wurde 1984 neu belegt. 487 Testament der Marie Caspar, Wien 18.01.1907 488 Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64 489 Caspar, Anna, geb. Safran, Kaufmannswitwe und „Private“, gest. 1917 490 Anna Krüzner, geb. Kaspar, Ingenieurswitwe; Tochter von Marias Vater und einer unbekannten Frau 491 Caspar, Rudolf, Opernsänger; war 1907 40 Jahre alt 492 Caspar, Gottfried 493 Friedrich Weissensteiner irrt, wenn er von einer unehelichen Tochter der Caspar berichtet – es handelt sich vielmehr um ihre Halbschwester Anna. 494 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf; das Bild wurde aufgenommen von Horváth Zsigmond, dem „Ersten amerikanischen Schnellphotographen“ im Budapester Stadtwäldchen auf der Margareteninsel. 495 Portraitsammlung und Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, u.a. Nr. 800.138 A(B) und Nr. Rv 3440 B(r)F 496 Benk, Johannes, geb. 27.07.1844 in Wien, gest. 12.03.1914 in Wien, Bildhauer. Wichtiger Vertreter der Ringstraßenkunst mit teilweise neobarockem Einschlag; tätig vor allem als Bauplastiker und Schöpfer von Denkmälern und Grabmonumenten. Atelier in Wien VII, Kaiserstraße 10 497 Im Vorfeld der Ausstellung „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“ konnte festgestellt werden, dass es sich bei dieser mit „Benk“ signierten, 70 Zentimeter hohen Marmorstatue der Lautenspielerin im Maria Caspar handelt. Das Original befindet sich im Legat Petznek, Bundesmobiliensammlung/ehemaliges Hofmobilien- und Materialdepot; abgebildet in: „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Ausstellungskatalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989 83
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen E: Coburg
„Bei dieser Sachlage ist es müßig, noch weiter über das Mayerling-Drama zu forschen.“
Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha 19. Juli 1990
Der Schwager des Kronprinzen, Ferdinand Philipp Maria August Raphael Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha, ist neben Johann Loschek und Josef Hoyos einer der wenigen, namentlich bekannten Tatortzeuge, die vom Auffinden der Toten in Mayerling an vieles aus nächster Nähe gesehen haben dürfte. Nach Aussagen der Familie hat er jedoch bis zu seinem Tod „absolutes Stillschweigen gegenüber jedermann“ gewahrt498. Prinz Coburgs Rolle im Drama von Mayerling ist nicht leicht zu durchschauen. War er tatsächlich der äußerst rationale Denker, als den ihn Ernst Edler von der Planitz würdigt? Ließ er gar das Personal unter Eid nehmen und das Schloss kurzerhand für die Öffentlichkeit absperren?499 Oder hat der damals fünfundvierzigjährige Adelige den Kopf verloren, wie sich Julius Schuldes erinnert? War er tatsächlich vom Geschehen so benommen, dass er keinen Entschluss hatte fassen können und kümmerte er sich schließlich nur um das Verschwindenlassen der Vetsera?500 Prinz Philipp, ältestes von fünf Kindern der Marie Clementine von Orleans und des August von SachsenCoburg und Gotha, erblickte am 28. März 1844 im Tuilerien-Palast in Paris das Licht der Welt. Sein Bruder Ferdinand wurde zum Zar von Bulgarien gekrönt, Bruder Ludwig August heiratete Leopoldine von Brasilien, Schwester Clothilde ehelichte Erzherzog Josef von Österreich und Schwester Amalie heiratete Maximilian Emanuel von Bayern501. Philipp selbst heiratete am 4. Februar 1875 in Brüssel seine erst 16-jährige Großkusine, Luise Prinzessin von Belgien, die älteste Tochter des belgischen Königs Leopold II. und Schwester der späteren österreichischen Kronprin-
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Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990. Die Prinzessin war mit dem 1945 ermordeten Großneffen des Coburgers verheiratet. 499 Planitz, Ernst Edler von der: „Die volle Wahrheit....“, München, 2. Auflage 1889 500 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, Halbritter-Abschrift, Rollett-Museums Baden 1990 501 Sokop, Brigitte: „Stammtafeln europäischer Herrscherhäuser“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1989 84
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zessin Stephanie502. Die junge Frau galt schon damals, zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung, als zeitweise Mätresse des Erzherzog-Thronfolgers Rudolf von Habsburg503. Trotz seines finanziellen ungarischen Koháry-Erbes galt Philipp als Geizhals, der Spaß daran fand, seine junge Gattin betrunken zu machen. Und auch sonst neigte er zu allerlei skandalträchtigen Geschichten und zu exzessivem Leben504. Mit seinem Nasenkneifer soll der Coburger, immerhin vierzig Jahre älter als seine belgische Frau, mehr dem Bild eines Oberschullehrers als eines Angehörigen der Adelsklasse entsprochen haben. Luise wird bei Ihrer Hochzeit besser als sein mäßiges Aussehen die gute Aussicht gefallen haben, an der Seite des Prinzen in Wien an einem der größten Höfe Europas ein mondänes Leben zu führen505. Mit Rudolf durch die Eheschließung verwandt und durch die Jagd als gemeinsame Passion mit ihm verbunden, fand Prinz Philipp von Coburg in der Villa Leiningen in Mayerling – nachmalig auch „Coburger-Schlössel“ genannt – einen permanenten Jagdsitz in Mayerling506. Die Güter des Prinzen lagen in Pohorella507, und in Wien lebte die Familie in einem feudalen Palais auf der ehemaligen Braunbastei an der Seilerstätte. Wegen der hohen, schlanken Säulen der 21-achsigen Gartenfront taufte der Volksmund das Palais „Spargel-Burg“508. Kaum war das Palais fertig gestellt, wurde es 1849 von Franz Neumann in ein Zinshaus umgewandelt. Noch drei Jahr zuvor hatte Baron Sina das Palais erwerben und dort die Börse sowie das Wechselgericht unterbringen wollen. Die Pläne zerschlugen sich jedoch und das Palais verblieb im Familienbesitz. Zum Ende des Jahres 1851 führte Johann Strauß hier auf Wunsch des Earl of Westmorland die Albert von Sachsen-Coburg und Gotha gewidmete „Albion Polka“ auf. Philipp von Coburg sammelte in seinem Palais, das von Friedrich Ittner mit prachtvollen Fresken ausgestattet worden war, neben vielen anderen Dingen auch ostasiatische Skulpturen in obszönen Posen509. Ebenso wie sein Schwager Rudolf war der Coburger literarisch tätig, verfasste Aufsätze für Hugo´s „Jagdzeitung“ und die „Deutsche Revue“ und publizierte sein Reise- und Jagdtagebuchskizzen der Jahre 1886 bis 1892 in Buchform510. Die eheliche Verbindung zwischen dem pervers scheinenden Coburger511 und dem „üppigen Rubensweib, das an Dekolletage das Unmöglichste leistete“512, gestaltete sich schnell als unglücklich513. Schon die Hochzeitsnacht 502
Gothaer Adelskalender, Band VIII, Abt. Sachsen, o.D. Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 504 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 505 Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990 506 Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990 507 Pohorella (heute: Pohorelà/Bezirk Brezno; 75 km östlich von Banska Bystrica, 290 km von Bratislava/Slowakei). Die 1616 entstandene Gemeinde an den Hängen des Berges Orlová im Bereich der Mikroregion Horehron im einst oberungarischen Grantal war Standort der „Herzoglich Philipp von Sachsen-Coburg-Gotha´schen Eisenwerke. 508 In den Vorgängerbauten des Palais Coburg starben 1766 Feldmarschall Leopold Josef Graf Daun und 1801 Feldmarschall Franz Moritz Graf Lacy. Danach kamen die beiden hier stehenden Häuser durch Heirat in den Besitz der herzoglichen Familie Coburg-Koháry und wurden ab 1839 von Karl Schleps, nach dessen Tode im Jahre 1840 von Baumeister Adolph Korompay umgebaut, jedoch bis 1849 nicht bewohnt. Als Auftraggeber ließ August von Sachsen-Coburg-Kohary, seit 1843 mit Prinzessin Clementine d´ Orleans (1817-27.02.1907/Palais Coburg), der Tochter des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe vermählt, an dem stadtseitigen Zugang zur einstigen Braunbastei das Palais als Wiener Familiensitz errichten. Bezogen wurde das prachtvoll ausgestattete Palais mit Prunkräumen im 1. Obergeschoss um 1849. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Palais lange Zeit von der Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahnen angemietet. 1978 gelangte das Anwesen aus dem Besitz der Sarah Aurelia Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha – die Teile des Palais bis 1994 bewohnte – an eine Liegenschaften-AG, später an eine Bank. 1999 erwarb die Privatstiftung des deutschen Investors Peter Pühringer für 54,5 Millionen Euro das Palais. Seit 2000 wird es einer Generalsanierung unterzogen, wobei eine Einkaufspassage, ein Konzertsaal sowie Wohnungen und Büroräume entstehen sollen. Mit der Familie Sachsen-Coburg und Gotha liefen Verhandlungen über die zur Verfügungstellung der Exponate aus der einstigen Bildergalerie. Auch das Palmenhaus im Garten und die Stadtmauer von 1560 sollen rekonstruiert werden. 509 Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990 510 Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990 511 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 512 Redwitz, zitiert bei Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 513 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Kremayr & Scheriau, Wien 1968 503
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wurde zum Fiasko: Luise, sexuell gänzlich unaufgeklärt, floh im Nachthemd aus dem ehelichen Schlafzimmer und versteckte sich im Gewächshaus. Und auch im Wiener Palais der Coburger konnte sich die Belgierin nie heimisch fühlen: überall standen ausgestopfte Vögel, grinsende Buddhas, fernöstliche Pagoden und schwere Waffen. Nirgends ein Anschein von Freundlichkeit, keine Blumen, kein Komfort514. Die Ehe mit dem „Dicken“, wie Rudolf seinen Schwager burschikos nannte, war für die junge belgische Prinzessin ein Graus. Dem Prinzen bald überdrüssig, flüchtete sie in die Arme des kroatischen Ulanenoberstleutnant Géza von Mattachi-Keglevich und floh mit ihm an die Riviera – ein gesellschaftlicher Skandal, der ein Duell zur Folge hatte515. Am 18. Februar 1898 standen sich Philipp von Coburg, sekundiert von Geza Freiherr Fejerváry de KomlosKeresztes und Hugo Graf Wurmbrand-Stuppach, und Mattachi gegenüber. Nach zweimaligem, erfolglosem Kugelwechsel wurde der Kampf mit Degen fortgesetzt, wobei sich der Coburger nach Durchtrennen der Daumensehne für kampfunfähig erklärte und das Duell beendete516. 16 Jahre nach der Mayerling-Affäre ließen sich Philipp und Luise von Sachsen-Coburg und Gotha am 15. Januar 1906 in Gotha scheiden. Die belgische Prinzessin nahm ihren Jugendnamen wieder an517. Doch nicht nur am Scheitern der eigenen Ehe, auch jener des Kronprinzen soll Luise nicht unschuldig gewesen sein. Alles, was sie vor ihrem Mann erfuhr – also auch mögliche amouröse Affären des Kronprinzen – berichtete sie sicher ihrer Schwester518. Amouröse Abenteuer, fast grenzenlose Verschwendungssucht und ein gefälschter Wechsel über 600.000 Gulden, den Luise mit dem Namen ihrer Schwester Stephanie unterzeichnet hatte – und für den Mattachi las Anstifter Adelstitel und Militärrang verlor und sechs Jahre Haft im Militärgefängnis Möllerdorf verbüßen musste - , machten aus Luise von Coburg „die verrufenste Frau des Kontinents“519. Insgesamt saß der kroatische Liebhaber der Coburgerin bis zu seiner Begnadigung im August 1902 vier Jahre lang im Kerker. Und Philipp von Coburg zahlte Luises Wechsel in Gesamthöhe von 3,5 Millionen Gulden zurück. Noch bis zum Ende des 1. Weltkrieges blieb Philipp von Coburg in seinem Familienpalais in Wien wohnen, ehe er nach Coburg übersiedelte. Im sogenannten Bürgerlaß-Schlösschen der bayerischen Stadt starb er am 4. Juli 1921. Der k.k. General der Kavallerie und Großkreuzträger des Souveränen Malteserordens wurde zwei Tage später in der Gruft der katholischen Stadtpfarrkirche St. Augustin beigesetzt. Luise, von Kaiser Franz Josef unter dem Vorwand der Unzurechnungsfähigkeit 1898 von Agram aus in das Sanatorium Oberstein in Döbling eingewiesen520, wurde als vermeintlich „Geisteskranke“ weiter in das Sanatorium nach Purkersdorf und dann – bis zum Jahr 1904 – in das Sanatorium Lindenhof bei Dresden abgeschoben521. Völlig verarmt und vergessen starb am 1. März 1924 „die Privatiere Prinzessin Luise Maria Amalie von Sachsen-CoburgGotha, geborene Prinzessin von Belgien, Herzogin von Sachen522“ im Hotel „Nassauer Hof“ am Kaiser Friedrich Platz 3-4 in Wiesbaden. 1940 übernahm Louises Tochter mit einer Abstandszahlung für 34 Jahre die gärtnerische und bauli-
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Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990 Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990 516 Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990 517 Gothaer Adelskalender, Band VIII, Abt. Sachsen, o.D. 518 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 519 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 520 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 521 Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990 522 Eintrag der Sterbeurkunde 353 vom 04.03.1924, Standesamt Wiesbaden (freundliche Mitteilung von Joseph van Loon, Arendonk/Belgien, 01.07.2006) 515
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che Pflege der Gruft auf dem Wiesbadener Südfriedhof523. Die Pflege ging dann an die belgische Botschaft über524, die 1994 die Grabnutzung bis ins Jahr 2024 verlängerte525. Luise und Philipps gemeinsame Tochter Dorothea erblickte am 30. April 1881 in Wien das Licht der Welt. Am 2. August 1898 heiratete sie in Coburg den königlich-preußischen Kavallerie-General Ernst Günther Herzog zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustusburg, der jedoch schon am 22. Januar 1922 auf dem schlesischen Schloss Primkenau verstarb526. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee floh die Herzogin aus Schlesien in die amerikanische Besatzungszone und fand im württembergischen Aalen Unterschlupf. Sie verstarb einsam und verarmt am 21. Januar 1967 aus Schloss Taxis bei Aalen. Finanziell hatten sie zuletzt die Fürsten Thurn und Taxis unter die Arme gegriffen. Herzogin Dorothea wurde 1967 neben ihrem Vater beigesetzt. Ein Sohn der Coburger – Dorotheas 1878 geborener Bruder Leopold Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha – soll 1916 bei einem Attentat den Tod gefunden haben527. Dorotheas Mann, Herzog Günther, hatte zwei Kinder des Prinzen Albert von Schleswig-Holstein-SonderburgGlücksburg adoptiert: Johann Georg und Marie Luise. Der Sohn fiel 1941, die Tochter – zweite Gattin des Prinzen Friedrich von Schaumburg-Lippe – verstarb 1969528. Nach nicht näher zu definierenden Quellen soll Philipp von Coburg Memoiren hinterlassen haben, die in der 30er Jahren publiziert werden sollten529. Angeblich habe man in einem Geheimfach seines Schreibtisches Notizen über Mayerling gefunden. Eine geplante Veröffentlichung in Deutschland, Ungarn und England erfolgte jedoch nie. Nachforschungen zeigen, dass sich der schriftliche Nachlass des Prinzen zusammen mit den Manuskripten seiner Zeitungs- und Buchpublikationen530 in dem ungarischen Archiv der Koháry-Linie des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha befanden. Reste dieses Archivs wurden Anfang der 90er Jahre in einem Müllcontainer gefunden und vom Coburger Staatsarchiv erworben531. Das eigentliche Hausarchiv der Koháry, das sämtliche Schriften zu den ungarischen Besitzungen der Familie aus dem 19. und 20. Jahrhundert erhielt, wurde beim sogenannten Ungarn-Aufstand 1956 fast vollständig vernichtet532. 24 Briefe des Philipp von Coburg an seine Frau aus den Jahren 1883 bis 1890, verfasst größtenteils in Schladming – darunter jedoch auch ein Schreiben mit Datum 27. Juni 1886 aus Alland – befinden sich im Nachlass der Luise von Coburg, verwahrt im Wiener Staatsarchiv. Der wenig umfangreiche Nachlass der Herzogin Dorothea, zur Zeit der Mayerling-Tragödie acht Jahre alt, ging an das Archiv des Schlosses Glücksburg über, das jedoch der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist533. 523
Wiesbaden, Südfriedhof, Abteilung C.2 Nr. 67 Grünflächenamt Wiesbaden an den Verfasser, 24.01.1994 525 Bedingt durch die politischen Veränderungen Ende des 20. Jahrhunderts in Europa wurden die belgischen Konsulate in Frankfurt und München geschlossen und die Botschaft siedelte von Bonn nach Berlin um. In dieser Zeit geriet das Grab in Wiesbaden in Vergessenheit und verwilderte. Im Jahre 2007 hat auf Initiative von Lars Friedrich das Büro des Belgischen Königs (Liste Civile du Roi, Brüssel) gemeinsam mit der Belgischen Botschaft Berlin ein Procedere zur Sicherung des Grabunterhalts erarbeitet und realisiert. 526 Ernst Günther Herzog von Schleswig-Holstein (1863-1921); diese im Sterbejahr abweichenden biographische Daten entstammen dem Buch „Coburg im 20. Jahrhundert“ von Harald Sandner 527 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 528 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 529 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 530 Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990 531 Staatsarchiv Coburg an den Verfasser, Coburg im Mai 1990. Das aus dem Antiquariatshandel erworbene Koháry-Archiv stellt den Rest der umfangreichen Zentralkanzlei-Registratur im Wiener Palais Coburg dar. Er umfasst u.a. persönlichen Schriftwechsel unter den Familienmitgliedern sowie Unterlagen der Verwaltung für den umfangreichen Grund- und Fabrikbesitz in Niederösterreich, der Steiermark sowie in Ungarn (heute z.T. Slowakei) (377 AE, 1,3 lfm, 1792–1914). 532 Ungarische Nationalbibliothek an den Verfasser, Budapest im November 1990 533 Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990 524
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Während Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha stets nur als Tatortzeuge im Mayerling-Drama erwähnt wird, fand seine Frau Luise auch im Kino Anerkennung. Schon Mitte der 20er Jahre erschien der IndraKinofilm „Luise von Coburg“, produziert von Rolf Raffé. Dieser hatte bereits 1921 mit Marie Larisch einen Film über Kaiserin Elisabeth gedreht, in dem die Gräfin sich selbst spielte534. Und auch als Literatin war die belgische Prinzessin tätig: 1926 veröffentlichte Sie im Züricher Amalthea-Verlag ihre Memoiren unter der Überschrift „Throne die ich stürzen sah“. Die Rolle des Coburger in Mayerling wird an anderer Stelle beschrieben.
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Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988 88
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen F: Ferenczy
„Das Farkas-Archiv enthält kein einziges Wort über die Tragödie von Mayerling. “
Maria Tolnay-Kiss 07. August 1993
Der Werbefachmann Clemens M. Gruber geht in seinem Rudolf-Buch davon aus, dass die Vorleserin der Kaiserin Elisabeth, Ida von Ferenczy, in ihren Memoiren „interessante Hinweise auf die Tragödie“ von Mayerling gegebene habe535. Seine Nachlass-Forschung blieb jedoch Ergebnislos, so dass er alle nachgelassenen Papiere als verschollen einstufte. Unsere Recherche ergab, dass dies nicht der Fall ist. Dennoch enthält der Nachlass Ida von Ferenczys keine Sensationen im Kronprinzen-Drama. Ida von Ferenczy wurde 1839 im ungarischen Kecskemét als viertes von sechs Kindern des Gergely von Ferenczy de Vecseszék geboren. Scharfsinn, hohe Intelligenz, Entschlossenheit und Charakterfestigkeit führten die aus einer Kleinstand kommende Tochter alten Adels bald an den kaiserlichen und königlichen Hof. Idas Erziehung entsprach den Möglichkeiten der Provinz, und ihre Allgemeinbildung eignete sie sich größtenteils selbst an. Hauptsächlich jedoch interessierter sie sich für Geographie, Geschichte und klassische Philologie. Mit 25 Jahren kam das Landedelmädchen 1864 nach Wien. Wie sie die Stellung einer Gesellschafterin und Sprachlehrerin im Hofstaat der Kaiserin bekam, ist nicht genau überliefert. Entweder setzte eine mysteriöse „Unbekannte“ Idas Namen auf jene Liste, die Gräfin Almássy mit geeigneten Damen handschriftlich für den Hof zusammengestellt hatte536. Oder aber die Gräfin selbst – mit den Ferenczys befreundet – ergänzte die sechs Namen umfassende Aufstellung, obwohl Ida die Hauptanforderung für diese Position nicht erfüllte: ihre Familie gehörte nicht dem Hochadel an537.
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Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987 537 Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987 536
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Schon die erste Begegnung der Kaiserin mit Ida von Ferenczy war positiv. Die Kaiserin wirkte durch Schönheit, Charme und Liebenswürdigkeit, Ida durch ihr natürliches und einnehmendes Wesen538. Wegen der niederen Herkunft konnte das Mädchen aus Kecskemét jedoch offiziell nicht zur Hofdame ernannt werden. So gab man ihr zunächst den Titel „Brünner Stiftsfrau“, was ihr bei Hofe die Anrede „Frau“ statt Fräulein einbrachte. Erst später wurde sie offiziell zur „Vorleserin der Kaiserin“ mit anfänglich 150 Gulden Monatslohn nebst Kost und Logis539. Obwohl Ida, zwei Jahre jünger als die Kaiserin, nie wirklich am täglichen Leben ihrer Herrin teilnahm – weder ritt, noch turnte oder mehrstündige Fußmärsche mitmachte -, wurde sie schon bald zur engsten Vertrauten der Herrscherin. Wie nah sich die beiden Frauen bereits nach acht Monaten standen, zeigen Briefe des Jahres 1865. In ungarischer Sprache verfasst, schriebt die Kaiserin am 17. Juli aus Waldhall und am 18. Juli aus Klaushof an Ida, die sich in Kecskemét aufhielt: „Meine liebe Ida (Kedves Idám)! ... Ich bin schon so erregt, endlich etwas (von dir) zu hören, dass ich es fast nicht ausdrücken kann. (...) Ich bin sehr glücklich, dass du in Ordnung bist. (...) Oh, wie freue ich mich auf die Minute, wenn ich dich wiedersehen werde und Du mir alles erzählen wirst. (...) Ich verbleibe aber Deine treue Freundin, E.“540 Durch die Freundschaft zu Ida lernte Elisabeth die Ungarn, ihre Mentalität und ihre Sprache immer besser kennen. Weit mehr als alle anderen Hofdamen wurde Ida von der Kaiserin ins Vertrauen gezogen und war eine der ersten, die im Konflikt der Kaiserin mit dem Wiener Hof auf der Seite der jungen Frau stand541. Ida, stets fern vom Hoftratsch und gegen jeden mit Leib und Seele verschlossen, war Elisabeth mit Leib und Seele ergeben und verbrachte an manchen Tagen viele Stunden mit der Kaiserin. Doch schon bald galt sie als Fremdkörper bei Hof542. Doch erst nach Elisabeths Tod musste sie die ganze Verachtung des Hofes ungeschützt ertragen. Ida von Ferenczy war es, die gemeinsam mit dem Wiener Sparkassenangestellten und polizeibekannten Journalisten Max Falk543 der Kaiserin die politischen Ansichten des ungarischen Adeligen Julius Graf Andrássy nahebrachte. Kennengelernt hatten sich Elisabeth und der Aristokrat anlässlich des Empfangs einer ungarischen Delegation am 29.Januar 1866 in Wien. Ida dürfte wohl viele Geheimnisse der jungen Kaiserin gekannt haben, denn sie erledigte fast deren gesamte persönliche Korrespondenz in ihrer Wohnung im 3. Stock des Hauses Ballhausplatz 6. In dieser Wohnung im großen Komplex der Wiener Hofburg, vom Ballhausplatz aus zugänglich und direkt mit den Appartements der Kaiserin verbunden, wurden auch Elisabeths literarische Notizen handschriftlich kopiert544, um durch die bekannte Schrift die Autorin nicht an die Drucker und Setzer zu verraten. In diesen Räumen vernichtete Elisabeth auch eigenhändig die Originale545. So verwundert es auch nicht, dass die Korrespondenz zwischen der Kaiserin und dem ungarischen Adeligen über die Adresse von Ida von Ferenczy lief. Heute ist jene Verbindungstür zwischen dem kaiserlichen Appartement und der einstigen Wohnung der Vorleserin vermauert, da diese nun durch den österreichischen Bundespräsidenten genutzt wird. 538
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 539 Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987 540 Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 541 Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987 542 Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987 543 Der Jude Max Falk unterrichtete Elisabeth in den Jahren 1866 und 1867 in Sprachlehre und ungarischer Literatur 544 Meist schrieb eine Nichte der Gräfin Larisch, Henny Peicz, die Texte ab. 545 Praschl-Bichler, Gabriele und Cachée, Josef: „...von dem müden Haupte nehm´ ich die Krone herab“, Amalthea Verlag, Wien 1995 90
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In späteren Jahren war es nicht nur Elisabeth, die Idas Diskretion zu schätzen wusste – auch der Kaiser bediente sich der Vorleserin als Ratgeberin. Ein Brief der Kaiserin vom 9. Dezember 1893 gibt Aufschluss: „Gestern frug ich bei Frau v. Ferenczy an, ob ich zu ihr kommen könne, da ich wegen der Weihnachtsgeschenke (für die kaiserliche Familie, Anmerkung des Verfassers) mit ihr sprechen wollte“546. Zu einem ersten Zusammentreffen lud der Kaiser die Burgschauspielerin Katharina Schratt auch zunächst in Idas Wohnung ein, von wo Elisabeth selbst die Besucherin abholen wollte547. Mit der Zeit ergab es sich, dass Ida den Kaiser und seine Altersfreundin auch bewirten musste. Während die Kaiserin rastlos durch Europa reiste, weilte die gesundheitlich oft angeschlagene Vorleserin in Wien und konnte ihre Herrin nur in Gedanken begleiten. Da Elisabeth in den letzten Lebensjahren auch immer nur kurze Zeit in Wien weilte, kann die ungeheure Bedeutung des umfangreichen Briefwechsels mit der Kaiserin oder deren Reisebegleitern für die Vorleserin nur erahnt werden. Der Tod der Kaiserin 1898 am Ufer des Genfer Sees traf Ida von Ferenczy schwer – sie verlor über Nacht den Inhalt ihres Lebens. Am 16. September quittierte sie im Obersthofmarschallamt den Empfang von Sisis letztem Willen: Sie erhielt 4.000 Gulden Pension und ein Goldherz mit Edelsteinen in den ungarischen Nationalfarben. Da der ungarische Hofstaat der Königin und Kaiserin nach ihrem Tode schon bald die Burg verlassen musste, mietete Ida zunächst eine Wohnung in der Reinerstraße an. Ein Jahrzehnt später bezog sie als Alterssitz die Schönbrunner „Hofvilla“, die frühere Villa Schleinitz in der Grünberggasse. Gemeinsam mit der jungen Erzherzogin Marie Valerie – einst eifersüchtig auf Idas gutes Verhältnis zur Kaiserin und Mutter - kam es der einstigen Vorleserin zu bestimmen, wer welches Andenken aus den persönlichen Gegenständen der Herrscherin zu erhalten habe. In den Beginn der 90er Jahre fiel die Realisierung des Planes, in Ungarn ein Museum für Elisabeth zu errichten, Die Töchter der ungarischen Königin boten dem Nationalmuseum in Ansprache mit Ida von Ferenczy zahlreiche Andenken an, darunter das Millenniumkleid Elisabeths, das Ida am 31. Mai 1899 dem Budapester Museum übergeben konnte548. Am 11. März 1907 unterbreiteten Leontine Gräfin Andrássy, Adele Markgräfin Pallavincini und Illona Gräfin Batthyány dem Kaiser die Bitte, in der Budaer Burg ein Gedenkmuseum für Elisabeth einrichten zu dürfen. Der Kaiser stimmt zu und übertrug Ida als sachkundige Person die Aufgabe, die Exponate auszuwählen549. Das Museum in den Räumen der Burg wurde am 15. Januar 1908 eröffnet, und neben den Kindern Elisabeths scheint besonders Ida von Ferenczy als Spenderin auf550. Ausgestellt wurde neben vielen Dingen aus Elisabeths Privatbesitz auch jene Taste der elektrischen Glocke, die das Zimmer der Kaiserin mit dem Idas verband und mit „Ferenczy“ beschriftet war. Das „Königin Elisabeth Museum“ in der Burg wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, einige Stücke konnten aus den Trümmern gerettet werden und sind heute im Budapester Nationalmuseum zu sehen.551 546
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 547 Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 548 Tolnayn´ Kiss, Maria: „Kedves Idam“, Akadémiai Kiadó, Budapest 1992 549 Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 550 Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 551 Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt 1991 91
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Nach dem tödlichen Attentat auf die Kaiserin und Königin am Genfer See 1898 musste Ida von Ferenczy auch den Tod des Kaisers und seiner jüngsten Tochter, Marie Valerie miterleben. Nach und nach verlor sie dann weitere Weggefährtinnen: die Hofdamen Marie Gräfin Festetics (
1923) und Charlotte Gräfin Mailáth (
1928). Nur
wenige Tage nach ihr verstarb am 28. Juni 1928 Ida von Ferenczy in Schönbrunn. Sie wurde in der Loretto-Kapelle der Wiener Augustinerkirche aufgebahrt und am 3. Juli 1928 auf dem Szentháromság-Friedhof in Kecskemét in der Gruft ihrer Familie beigesetzt. Das letzte Mal hatte sie ihre Geburtsstadt 1913 gesehen552. Nach ihrem in Ungarn aufbewahrten Testament zu Gunsten ihrer Familie gelangte der Nachlass der Sternkreuzordensdame, die unverheiratet und kinderlos starb, an ihren Neffen Lászlo von Farkas und wurde in das Familienschloss im ungarische Badápuszta, das heutige Felöbadád, gebracht. Dort hatte in den 30er Jahren Egon Caesar Conte Corti die Gelegenheit, durch Elisabeth und Maria von Farkas unterstützt553, den in vier Kisten verwahrten Nachlass einzusehen554. Corti, der nach den neuen Eigentümern dem Nachlass den Namen „Farkas-Archiv“ gab, konnte alle Schriftstücke einsehen, kopierte daraus jedoch nur die für ihn interessanten Textteile und übersetze diese ins Deutsche555. Da viele ausländische Autoren die Texte dann weiterübersetzten, entstellt eine Rückübertragung ins ungarische die Passagen heute extrem. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kehrten im Mai 1945 Elisabeth von Farkas – als geborene „von Mailáth“ nun Witwe nach László von Farkas – und anderen Familienmitgliedern in das von Russen besetzte und geplünderte Schloss zurück. Da die Besatzungstruppen noch immer im Hauptgebäude wohnten, musste die Familie zunächst in ein Nebengebäude ziehen. Gemeinsam mit einem russischen Soldaten gelangte Hubert von Kiss – dem Gatten Maria von Farkas, eines Tages ein Zufallsfund: auf dem Dachboden entdeckte er Teile des Farkas-Archives, sammelte sie ein und rettete so ein wichtiges Stück Zeitgeschichte. Die Briefe der Kaiserin und Königin, ihrer Hofdamen, des Kaisers, der Katharina Schratt und anderer Personen ging nach dem Tod Maria von Kiss´ in den Besitz von Laszlo und Maria von Kiss über. Während das Schloss der Familie Farkas in den Nachkriegsjahren dem landwirtschaftlichen Staatsgut Felöbadád (heute AG) einverleibt wurde, kam das Farkas-Archiv nach Budapest und bleibt als öffentlich nicht zugängliches Material bis heute in Familienbesitz556. Der jetzigen Besitzerin und ihrem Mann, Dr. Maria von Kiss und Ingenieur Dr. Paul Tolnáy, gelang es, die teils brüchigen und verknitterten Dokumente zu sichten, aufzuarbeiten und restaurieren zu lassen557. Einige Briefe der Königin und Kaiserin wurden 1991 in Eisenstadt, weitere Originale 1992 in Budapest vorgestellt und erstmals veröffentlicht558. Weitere Briefe und Bilder befinden sich im Besitz des Münchener Medien-Managers Josef von Ferenczy559. Da durch Kriegseinwirkung, Flucht und Vertreibung Teile des Farkas-Archives verloren gingen (so der Briefe Katharina von Schratts an Ida von Ferenczy vom 31. Jänner 1889), können einige Briefe nur in der Übersetzung Cortis bearbeitet werden560.
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Schreiben der Gemeinde an den Verfasser, 13.10.1993 Conte Corti, Egon Caesar: „Elisabeth, die seltsame Frau“, Vorwort zur 6. Auflage 554 Ungarische Nationalbibliothek Széchényi, Budapest, an den Verfasser, 08.11.1990 555 Tolnay-Kiss, Dr. Maria: “Kedves Idam” 556 Tolnay-Kiss, Dr. Maria an den Verfasser, Budapest 25.07.1993 557 Tolnay-Kiss, Dr. Maria an den Verfasser, Budapest 07.08.1993 558 Tolnayn´ Kiss, Maria: „Kedves Idam“, Akadémiai Kiadó, Budapest 1992 559 Josef von Ferenczy an den Verfasser, Grünwald 28.07.1993 560 Ungarische Nationalbibliothek Széchényi, Budapest, an den Verfasser, 08.11.1990 553
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Um den lange Zeit als verschollen geltenden Nachlass Ida von Ferenczys ranken sich viele Legenden. Fest steht: Die Vorleserin der Kaiserin und Königin Elisabeth schrieb nie Tagebuch oder Memoiren, weder zu Lebzeiten ihrer Herrin noch nach deren Tod. Als Vertraute Elisabeths war zwar bis zu ihrem Lebensende ein gesellschaftlicher Mittelpunkt einiger Hofkreise. Ida von Ferenczy hat sich jedoch nie zum Drama von Mayerling geäußert, auch wenn sie viele Einzelheiten gekannt haben dürfte. Am 30. Januar 1889 führte sie Baronin Vetsera selbst zur Kaiserin und berichtete darüber auch deren Tochter, Marie Valerie. Ida dürfte wohl auch den Abschiedsbrief Rudolfs an seine Mutter gekannt haben, den sie nach Elisabeths Tod aber gemeinsam mit anderen Dokumenten vernichtet haben dürfte. In ihrer Diskretion und Ergebenheit gegenüber Elisabeth und Franz Josef dürfte sie vor ihrem Tod alle geschriebenen Hinweise auf den Tod des Kronprinzen vernichtet haben561. Somit stellt das Farkas-Archiv in seiner heutigen Form mit ungefähr 75 Prozent des ursprünglichen Nachlasses Ida von Ferenczy562 und den heranzuziehenden Kopien Conte Cortis sicher einen großen Fundus an originalen Quellen aus dem direkten Umkreis des Herrscherpaares dar. Das Archiv darf jedoch nicht als Schlüssel zur Lösung der Tragödie von Mayerling angesehen werden.
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Tolnay-Kiss, Dr. Maria an den Verfasser, Budapest 14.11.1995 93
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen G: Hoyos
„Die ist die reine Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.“
Josef Graf von Hoyos-Sprintzenstein Juli 1889
Neben dem Prinzen von Coburg, Saaltürhüter Loschek und Leibfiaker Bratfisch wird Josef Theodor Graf Hoyos-Sprintzenstein in der Mayerling-Literatur stets namentlich als Tatortzeuge genannt563. Doch wie kam der Graf ins kronprinzliche Jagdschloss? Hoyos-Sprintzenstein war ab 1879 einer der engsten Jagdfreunde des Erzherzog Thronfolgers. Dies belegen zahlreiche persönliche Einladungen zu Jagden im Lainzer Tiergarten, in den niederösterreichischen Donauauen und dem Wienerwald564. Zwar erwähnen alle Mayerling-Autoren Hoyos als Gast in Mayerling, doch ist über sein Leben nach der Tragödie nur wenig bekannt565. „Josl“, so sein Spitzname, wurde am 9. November 1839 als jüngerer Bruder des Ernst Karl d. Älteren Graf Hoyos-Sprintzenstein566, in Wien geboren. Dieser war Mitbegründer des „Hilfsvereins“, eines Vorgängers des Roten Kreuzes, und mit Leonore Gräfin Paar, der Schwester des kaiserlichen Generaladjutanten, Eduard Graf Paar, verheiratet. Der Ursprung der Familie führt entgegen oftmals publizierten Quellen jedoch nicht nach Ungarn, sondern in das Kernland Spanien, nach Brunos in Altkastilien567. Ernst Karl errichtete in den Jahren 1861 bis 1863 gemeinsam mit Ludwig Förster beim Kärntner Tor in Wien das Palais Hoyos, das 1892 an die „Hotel Bristol“-Gesellschaft verkauft wurde. 1898 wurde das neue Hotel um das ebenfalls von Förster erbaute Hoyos-Sprintzenstein´sche Majoratshaus erweitert und 1913 nochmals umgebaut. Nach wirtschaftlichem Auf und Ab bezog nach Ende des Zweiten Weltkrieges die amerikanische Besatzungsmacht das Gebäude und gab es erst 1955 wieder frei. 1992 wurde dann die Generalsanierung des Hotels abgeschlossen568.
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Tolnay-Kiss, Dr. Maria im Gespräch mit dem Verfasser, Budapest 22.07.1994 Vergleiche auch Holler, Gruber, Judtmann u.a. 564 Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, Hoyos-Archiv Horn, an den Verfasser, 13.11.1991 565 Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, Hoyos-Archiv Horn, an den Verfasser, 13.11.1991 566 Ernst Karl der Ältere, Graf von Hoyos-Spritzenstein, 1830-1903, ab 1861 Kämmerer und als wirklicher Geheimer Rat Vizepräsident des Herrenhauses 567 Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, in: „Adel im Wandel“, Katalog zur NÖ. Landesausstellung, Rosenburg 1990 568 „Die Wiener Ringstraße“, Modulverlag, Wien 1995 563
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Nach dem erfolgreichen Verkauf der Ringstraßen-Immobilien ließ Ernst Karl zwischen 1900 und 1902 ein zweites Palais in der Hoyosgasse im 4. Wiener Gemeindebezirk errichten, das noch heute in Familienbesitz ist569. Ernst Karls 1856 geborene Sohn gleichen Namens heiratete 1883 Marie Leontine Gräfin Larisch von Moenich, eine Schwägerin „jener Gräfin Larisch“570. Der k.k. Kämmerer Josef Hoyos, Jagdfreund des Kronprinzen und Herr des Gutes und Schlosses Kreuzstetten in Niederösterreich571, wird meist als Mann simplen, einfachen Gemütes beschrieben, der als Junggeselle anspruchsvoll lebend dem Thronfolger treu ergeben sei572. Die größte Zeit seines Lebens verbrachte er auf Schloß Gutenstein im südlichen Voralpengebiet, nahe den Bergen. Noch heute trägt ein Klettersteig im Großen Höllental hinauf auf die Raxalpe den Namen „Graf-Hoyos-Stieg“. Am 28. Januar 1889, dem Vortag der Tragödie von Mayerling, wurde Hoyos in Wien zum Geheimen Rat ernannt573. In den ersten Februartagen des Jahres 1889 soll Hoyos eine „Denkschrift“ verfasst und – mit zehn Siegeln verschlossen –im Haus-, Hof- und Staatsarchiv hinterlegt haben. Ein händischer Sperrvermerk besagt: „Bei Lebzeiten des Grafen Hoyos durch niemand als durch ihn selbst, nach dessen Tod aber nur durch den jeweiligen Archivdirektor unter strengster Beobachtung der erforderlichen Geheimhaltung zu öffnen. Im Staatsarchiv deponiert am 15. Juli 1889, Josef Graf Hoyos“574. Die Kopie der 30-seitigen Denkschrift im Hoyos-Sprintzenstein ´schen Zentralarchiv Horn trägt den handschriftlichen Vermerk: „Dieses Schriftstück ist während meiner Lebzeit nur mit meiner Einwilligung, nachher nur mit jeder der fidei commiss Besitzers von Horn zu öffnen“575. Anders als andere Tatortzeugen – bemerkt Hellmut Andics – habe Hoyos nicht geschwiegen, sondern sich zum Reden gedrängt. Der amerikanische RudolfForscher Wildon Lloyd nennt die Denkschrift sogar „The official version of a true lie.“576 Am 27. August 1917 ließen der österreichische Außenminister Graf Czernin durch Archivdirektor Schiffer und am 29. August des gleichen Jahres Kaiser Karl die im Staatsarchiv deponierte Denkschrift öffnen und gaben sie versiegelt an den Leiter des Hauses, Dr. Hans Schlitter, zurück577. Am 30. Januar 1922 – also genau 33 Jahre nach der Tragödie – öffnete der amtierende Leiter des Archivs, Oskar Freiherr von Mitis, im Beisein von Michael Hainisch sowie einem Herrn Klastersky das Paket ein weiteres Mal, versiegelten es jedoch erneut578. Erst 1928 wurde der Text – mit Zustimmung der Familie Hoyos579 – in Mitis Biographie „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“ publiziert580, ein weiteres Mal 1948 in den Ausgaben 75 bis 82 der Wiener „Weltpresse“. Zahlreiche Briefe und Telegramme des Kronprinzen an Hoyos bezeugen heute die Freundschaft der beiden Männer – so ein Schreiben vom 23. Februar 1888, das Rudolf seiner Gattin Stephanie diktierte, da er selbst wegen einer Augenkrankheit nicht schreiben könne. Der letzte (bekannte) Brief des Kronprinzen an Hoyos, datiert Wien am
569
„Adel im Wandel“, Katalog zur NÖ. Landesausstellung, Rosenburg 1990 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1989 571 Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, Hoyos-Archiv Horn, an den Verfasser, 13.11.1991 572 Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 573 Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 574 HHStaA, Nachlaß KP Rudolf, Karton 21 575 HHStaA, Nachlaß KP Rudolf, Karton 21 576 Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 577 Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 578 Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 579 Publikationsermächtigung K.A. 1025 ex. 1922 580 Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 570
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31. Mai 1888581, stimmt in den ersten Worten mit jenen überein, den Hoyos in der Denkschrift anlässlich einer Jagd im Revier Orth am 20. und 21. Januar 1889 anführt: er erhielt „vom durchlauchtigsten Kronprinzen in folgenden Worten eine Einladung: `Hoyos, wenn sie Zeit und Lust haben, kommen Sie gegen Ende nächster Woche mit mir nach Meyerling, um im Wienerwald (...) noch Kahlwild abzuschießen!´“ Hoyos dankte für die Einladung und erfuhr dann vom Hof-Jäger Wodiczka am 26. Januar vom Reisetermin, dem 29. und 30. Januar582. Die erste Einladung des Kronprinzen an seinen Jagdfreund, ihn nach Mayerling zu begleiten, ist für das Jahr 1887 dokumentiert. Am 12. Dezember schreibt der Erzherzog: „Lieber Hoyos! Morgen, Dienstag um 3 Uhr fahre ich vom Südbahnhof nach Mayerling; es würde mich sehr freuen, wenn Sie mit mir kommen wollten, um das neue Haus anzusehen und einige Tage auf Hochwild zu jagen. Mit herzlichsten Grüßen, Ihr Rudolf“583. Und ein Brief vom 22. Dezember 1887584 mit einer Bitte an Hoyos, ihn erneut nach Mayerling zur Jagd zu begleiten, kann als Beweis angesehen werden, dass der Kaiser dort mit seinem Flügeladjutanten Graf Eduard Paar am 27. des Monats „einen Tag in guter Luft“ verbringen wollte. An den Rand einiger Briefe des Kronprinzen machte Hoyos nach den dramatischen Tagen von Mayerling eigene Notizen. So an ein Schreiben vom 5. Februar 1883. Rudolf bedankte sich darin für einen Hirschfänger mit eingraviertem Gedicht, der ihm stets Erinnerung an „die schönen Tage sein (werde), die wir zusammen in drei Weltteilen verlebten“. Diesen, in Prag verfassten Brief, kommentiert Hoyos nach einer kurzen Beschreibung des Säbels: „Die Waffe kam nach dem Ableben des Kronprinzen wieder in meinen Besitz“585. Der Hinweis auf die drei Erdteile spielt auf die gemeinsame Orientreise an, die – aus Europa kommend – über Asien nach Afrika führte. Das Gedicht auf den beiden Seiten der Klinge lautete: „Rudolfus dich führ, dem Weidwerk zur Zier“, und „Dem Schwarzwild zum Trutz, Dir selber zum Schutz“586. Nach dem Tode des Kronprinzen erhielt Hoyos aus dessen Nachlass einige Geweihe587. Rudolf Witwe Stephanie schrieb hierzu am 15. Februar 1889: „Lieber Graf, Sie haben keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne meinem unvergesslichen Mann Beweise von wahrer und aufrichtiger Freundschaft entgegenzubringen, sowohl in Freud, wie auch im Leid. Der Himmel möge es Ihnen lohnen. Ich kann Sie nur bitten, diese Andenken an den theuren Todten anzunehmen. Sie sollen Ihnen nur jene Tage zurückrufen, wo Sie an seiner Seite so glückliche Stunden verlebten. Bleiben Sie mir, was Sie meinem geliebten Rudolf waren und vergessen Sie nicht Ihre stets dankbare Stephanie“588. Die Beziehung zwischen der Witwe und dem Freund des Toten brachen lange Zeit nicht ab. So bat Stephanie Hoyos noch im Juli 1891, ihr einen „schönen schwarzen Dackel“ zu beschaffen, da der Graf ein ausgewiesener Hundekenner sei589. 581
Text: „Lieber Hoyos! Falls Sie Zeit und Lust hätten im Wiener Wald zu pürschen, stehen Ihnen alle Reviere zur Verfügung und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie viel abschießen würden, womöglich auch schwache Hirsche. Mit besten Grüßen, Ihr treuer Rudolf.“ 582 Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 583 KP Rudolf an Hoyos, Wien 12.12.1887, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann 584 Text: „Lieber Hoyos! Dienstag, 27.ten wird S.M. der Kaiser mit Edi Paar nach Mayerling respektive Lamme rau kommen. Er wünscht hauptsächlich einen Tag in der guten Luft zu verbringen und will mit Hunden jagen. Ich habe auf das wenig Sichere und eher fragliche dieses Vergnügens aufmerksam machen, doch der Kaiser hält wenig auf viel Schießen und will kommen. Ich bitte Sie, am 26. gegen Abends zum Diner nach Mayerling zu kommen, wir werden alle den Kaiser am 27.ten früh dort erwarten. Ich bitte hier nichts zu erzählen, dass der Kaiser hinaus kommt; Er möchte ungeniert und ohne Empfang bleiben. Mit herzlichen Grüßen Ihr treuer Rudolf“. KP Rudolf an Hoyos, Wien 22.12.1887, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann 585 PK Rudolf an Hoyos, Prag 05.02.1883, Notiz des Grafen Hoyos, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann 586 PK Rudolf an Hoyos, Prag 05.02.1883, Notiz des Grafen Hoyos, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann 587 HHStaA, Nachlaßabhandlung KP Rudolf, OmaM 421 III/B 101-108 1886-1910 588 Kronprinzessin Witwe Stephanie an Hoyos, Fiume 25.02.1889, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann 589 Kronprinzessin Witwe Stephanie an Hoyos, Szent Antal 17.07.1891, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann 96
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Schon kurze Zeit nach der Tragödie müssen Umstände eingetreten sein, die Hoyos nötigten, eine Denkschrift zu verfassen, die seinen „Namen auch in künftigen Zeiten rein erhalten“ solle und der er eine Sammlung von Aussagen „vollkommen glaubwürdiger Zeugen“ beischloss590. Da Hoyos in seinem Text bereits auf einen Zettel eingegangen war, den Rudolf an Loschek richtete und nach dessen Text die Vetsera den Kämmerer grüßen ließ, sah er sich nun gezwungen, diese „Gruß-Bekanntschaft“ zu begründen591. In einem an der Obersthofsmeister, Constantin Prinz zu Hohenlohe gerichteten Brief stellte Hoyos klar, er habe zwar die Baroness gekannt und gegrüßt, sei aber an jenem 27. Jänner592 von ihr angesprochen worden. Zudem stellte er fest: „Beziehungen Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen zu Baronesse Marie Wecsera hörte ich von keiner Seite erwähnen oder andeuten und waren mir solche daher vollständig unbekannt. Dies ist die reine Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.“593 Zehn Jahre nach dem Tod des Kronprinzen schloss sich auch für Graf Hoyos sein Lebenskreis. Im Mai hatte er – an einem Herzleiden laborierend – trotz der Warnung seines Arztes eine Reise nach Edlach an der Rax angetreten594. Eleonore Hoyos, Josefs Schwägerin: „Er war in traurigem Zustand, sah elend aus (...) Aber diese Hast, diese Unruhe waren schon schlechte Symptome und sein Blick so starr und ängstig ...595“ Acht Tage wollte Hoyos im „Edlacherhof“ bleiben und dann nach Wien zurückkehren596. Als sich sein Gesundheitszustand jedoch verschlechterte, reisten sein Neffe Ernst und seine Schwester, Mariette Gräfin Szechenyi, nach Edlach. Doch Josef Hoyos war bei ihrer Ankunft bereits tot. „Schon Samstagabend konnte er plötzlich nicht mehr aufstehen und gehen, Sonntag war es besser und Montag hat er noch gut gefrühstückt, geraucht, und ist länger liegengeblieben und als Jaque um 11 Uhr nachsah, fand er seine Augen stier, er winkte nur mit der Hand, konnte nicht mehr sprechen.597“ Man rief einen Arzt und einen Geistlichen, Hoyos empfing die heilige Kommunion und wurde mit den Sterbesakramenten versehen. Am 22. Mai 1899 starb er. Ernst Karl Graf Hoyos, der Diener seines Onkels, Jakob „Jaque“ Zak, und ein weiterer Mann kleideten den Toten in die Kluft eines Jägers und gegen Mitternacht wurde der Leichnam in einem einfachen Holzsarg auf einem Leiterwagen aus dem Hotel zu einer kleinen Kapelle eines Schwesternordens gebracht. Es regnete in Strömen598. Nach der Einsegnung am 24. Mai um 5 Uhr, zu der sich auch Rudolfs Tochter Elisabeth angekündigt hatte599, fuhren die drei Brüder des Toten mit Graf Szechenyi mit zwei Wagen durch das Höllental nach Gutenstein. Mit einem Fourgon wurde Hoyos Leiche, begleitet von Forstrat Keller und den beiden Jägern des Verstorbenen, durch das Tal zunächst nach Weinzettel gebracht, wo der Graf oft auf Gämsen saß. Die Nach über hielt man dort und am Morgen des 25. Mai 1899 kam der Leichenzug um 9 Uhr in Gutenstein an, wo er erneut in der Pfarrkirche aufgebahrt wurde. Bei der Trauerfeier war neben der gesamten Familie auch Erzherzog Ludwig Viktor anwesend. Josef Hoyos wurde zunächst in einem provisorischen Erdgrab auf dem Gutensteiner Friedhof beigesetzt, die Trauergemeinde kehrte zu einer „reforcierten Jause“ in das Schloß zurück und reiste am selben Abend um 6 Uhr zurück nach Wien600. Die Neffen des Toten, al590
Hoyos, zitiert bei Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 Textfragment des Originals im Besitz der Familie Habsburg-Lothringen: „...Excellenc Hoyos, ich lasse ihn grüßen und bitten, nicht zu telegraphieren, es soll um einen Geistlichen nach Hl. Kreuz schicken, damit in der Nacht gebetet wird. Die Baronin lässt Graf Hoyos auch grüßen, er soll nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat.“ 592 Ball zu Ehren des deutschen Kaisers in der deutschen Botschaft 593 Hoyos, zitiert bei Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 594 Eleonore Gräfin Hoyos an ihre Schwiegertochter, Wien 23.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann 595 Eleonore Hoyos, Wien 23.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann 596 Eleonore Hoyos, Wien 25.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann 597 Eleonore Hoyos, Wien 25.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann 598 Ernst Hoyos an Kunigunde Hoyos, Gräfin Westphal, Wien 24.05.1889, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann 599 Ernst Hoyos an Kunigunde Hoyos, Gräfin Westphal, Wien 23.05.1889, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann 600 Ernst Hoyos am 24.05.1899 591
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len voran Ernst Graf Hoyos-Sprintzenstein, ließen später eine gemauerte Gruft mit Denkmal errichten, in die Hoyos umgebettet wurde601. Bei der Veröffentlichung der Denkschrift durch Mitis, 29 Jahre nach dem Tode des Grafen, stellte der Text das einzige authentische und zeitnah aufgenommene Protokoll der Ereignisse von Mayerling dar. Diese positive Bewertung revidiert sich jedoch bei einem kritischen Vergleich mit den Erinnerungen von Johann Loschek (1932 veröffentlicht) und denen des Telegrafen Julius Schuldes (komplett 1980 veröffentlicht). Fazit: In den entscheidenden Stellen weichen alle drei Berichte stark voneinander ab. Seine eigenen Aufzeichnungen wertet Hoyos bewusst ab, denn er erklärt Loschek zum einzigen Augenzeugen und seinen eigenen Aussagen damit zu jenen „aus zweiter Hand“. Auf den Text der Denkschrift wird an anderer Stelle eingegangen. Zwischenzeitlich erhärten sich die Hinweise, dass Hoyos seine Erinnerungen nicht nach selbst Erlebtem schrieb, sondern von anderer Stelle diktiert bekam. Das von Clemens M. Gruber mit Datum vom 01. Mai 1898 datierte Testament des Grafen Hoyos findet sich nicht im Zentralarchiv der Familie in Horn auf. Ein Testament des Neffen Carl (1867-1947) ist dort ebenso wenig vorhanden wie Aufzeichnungen von Diener Jakob Zak und der Bedienerin Regine Schöber602.
601
Ortstermin auf dem Friedhof Gutenstein, Gruft Hoyos, Inschrift: „Excellenz Josef Graf Hoyos, geboren 9. November 1839, gestorben 22. Mai 1899. In dankbarer Erinnerung von seinen Neffen“. 602 Dr. Michael Salvator Habsburg-Lothringen, Hoyos-Archiv Horn, 15.03.1993 an den Verfasser 98
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. H: Larisch
„...mitunter gibt es Schicksale, –
die man in einem Roman
unwahrscheinlich fände – die es aber im Leben doch gibt“
Marie Gräfin Larisch
„Gräfin Marie Larisch-Wallersee603 wurde am 24. Februar604 1858 als uneheliches Kind geboren und erst sechs Monate später, am 28605. Mai 1859, durch Heirat des Herzogs Ludwig in Bayern606 mit der Schauspielerin Henriette Mendel607 legitimiert. Dieser war kurz vor der Hochzeit, am 19. Mai 1859, der Titel Freifrau von Wallersee verliehen worden.608“ Die junge Marie Freiin von Wallersee fand bei Kaiserin Elisabeth als Kind einer „morganatischen Ehe“ ihres Bruders Ludwig schnell gefallen und wurde in späteren Jahren oft in die Umgebung ihrer Tante eingeladen. 1876 lernte Marie den um drei Monate jüngeren Kronprinzen kennen. Nachdem die Kaiserin eine Ehe mit Nikolaus „Nicky“ Graf Eszterházy609 abgelehnt hatte, ging sie am 20. Oktober 187 in Gödöllö eine Vernunftehe mit Georg Graf Larisch von Moennich610 ein. Während der Zeremonie in der Schlosskapelle war das Kaiserpaar anwesend und steuerte eine 603
eigentlich Louise Marie Elizabeth Fritz Judtmann irrt, wenn er vom 24. November 1858 schreibt. 605 Fritz Judtmann irrt, wenn er vom 28. November 1858 schreibt. 606 *Wittelsbach, Königliche Hoheit Ludwig Wilhelm von, Herzog in Bayern, geb. am 21.06.1831 in München, gest. am 06.11.1920 in München. Verheiratet in erster morganatischer Ehe mit Henriette Mendel. Nach deren Tod seit 19.11.1892 verheiratet in zweiter morganatischer Ehe mit Barbara Antonie Barth, seit 1892 Freifrau von Bartolf, geb. 25.10.1871 in München, Ehe geschieden am 11.07.1913 in München, gest. am 23.05.1956 in Garmisch Partenkirchen, Tochter von Ludwig Barth und Marie Clara Beyhl (sie heiratete in zweiter Ehe am 14. Juni 1914 in München den am 02.08.1878 in Bayreuth geborenen und am 30. 11.1960 in Garmisch Partenkirchen verstorbenen Maximilian Mayr). 607 Mendel, Auguste Henriette Friederike, geb. 31.07.1833 in Darmstadt, gest 12.11.1891 in München und beigesetzt in der Gruft auf Schloss Tegernsee, Tochter von Johann Adam Mendel (geb. Darmstadt 1807, gest. Darmstadt 1851) und Anna Sophie Müller (geb. Egelsbach 1806, gest. Darmstadt 1856); Adam Mendel stand als „Leibjäger modo Leiblaquai“ im Dienst des hessischen Großherzogs in Darmstadt, der die Familie unterstütze. Henriette Mendel und Herzog Ludwig hatten noch einen gemeinsamen Sohn, Karl Emanuel Mendel, geb. am 09.05.1859 in Augsburg, gest. am 01.08.1859 an „Bauchschwindsucht“ in Augsburg. 608 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 609 Esterházy von Galántha 610 Graf Georg Larisch von Moennich, Freiherr von Ellgoth und Karwin, geb. am 27.03.1855 in Schönstein/Kreis Troppau, Anerkennung des preußischen Grafenstandes an Bord der Jacht Hohenzollern vor Bergen am 25.06.1900, gest. am 07.01.1928 auf Schloss Roy/Freistadt; Sohn von Leo Graf Larisch von Moennich und Helene Prinzessin Stirbey. Neffe von Johann und Vetter von Heinrich Graf Larisch. Graf Georg heiratete in zweiter Ehe am 26.04.1906 in Paris Caroline Horn, geb. 12.12.1864 in Paris, gestorben zwischen 1936 und 1938 auf Schloß Roy. 604
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fürstliche Aussteuer bei. Der Thronfolger schenke seiner Cousine eine Brosche mit einer schwarzen Perle, die sie jedoch aus ängstlichem Aberglauben nie trug. Der Ehe mit dem Grafen entsprossen fünf Kinder: 1. Franz-Joseph Ludwig Maria, geboren am 24. September 1878 in Schönstein, gestorben am 1. November 1937 in Tegernsee611. 2. Marie Valerie Franziska Georgine, geboren am 22. September 1879 auf Schloss Piersna, gestorben am 31. Oktober 1915 in Lausanne. 3. Marie (Mary) Henriette Alexandra, geboren am 14. November 1884 in Wien, gestorben am 25. März 1907 in Metz. 4. Heinrich Georg Maria, geboren am 3. Februar 1886 in Wien, gestorben am 3. Juni 1909 in Neapel – er verübte Selbstmord nachdem er erfuhr, welche Rolle seine Mutter im Drama von Mayerling gespielt hatte. 5. Friedrich Karl Ludwig Maria, geboren am 5. September 1894 in Rottach am Tegernsee, gestorben am 10. Oktober 1929 in München612. Sieben Jahre nach den Ereignissen von Mayerling „wurde die Ehe (1896) geschieden, wobei jedoch … kein Zusammenhang mit der Mayerling-Affäre bestand. Sie heiratete am 15. Mai 1897 ein zweites Mal, und zwar den königlich-bayerischen Kammersänger Otto Brucks613 in München, ein drittes Mal 1924 den Farmer W[illiam]. A. Mayers614 in den USA und später angeblich einen gewissen Fleming, der ihr bei der Abfassung ihrer Erinnerungen behilflich war.615“ Marie und Graf Georg lebten nach der Hochzeit bis 1883 und ein weiteres Mal von 1885 bis 1886 in einem palaisartigen Haus an der Wiener Praterstraße 38, danach logierte sie in Wien meist im „Grand Hotel616“ und lebte hauptsächlich auf dem Landsitz ihres Mannes, Schloss Pardubicek, in Pardubitz in Böhmen617, wo sie auch den dritten Bruder der Baronin Vetsera, den Offizier Henry Baltazzi, kennen lernte. Da die Gräfin öfters die Reitbahn des Barons nutze, kam sie dort auch in engeren Kontakt mit Helene Vetsera, die ihren Bruder oft besuchte. Kennen gelernt hatte 611
Graf Franz Joseph Larisch von Moennich, Freiherr von Ellgoth und Karwin heiratete am 27.06.1901 in Buffalo/New York Mary G. Satterfield, geb. 10.07.1879 in Titusville, gest. 27.02.1946 in Newbury, Tochter von John Micheltree Satterfield und Mathilda S. Martin (Scheidung Wien, 12.06.1909). Kinder: Hans Heinrich und Demeter. 612 Graf Karl Friedrich Larisch von Moennich, Freiherr von Ellgoth und Karwin heiratete am 20.05.1926 in Budapest Utta von Klas (geb. 1876 in Erbeck), Tochter von Otto von Klas und Augusta Bund. Die Ehe wurde noch im gleichen Jahr geschieden. Die Braut war vor der Hochzeit verheiratet und heiratete in 3. Ehe am 03.07.1931 in Attleboro/USA Donald Grey Colp 613 Brucks, Otto, geb. am 28.11.1854 in Brandenburg, gest. 15.01.1914 in Metz, Sohn von Robert Brucks und Berthe Kahn. Aus der Ehe mit Otto Bruck entstammt Otto Brucks jun. geb. am 10.03.1899 in Rottach, gest. am 22.11.1977 in Schwindegg, verheiratet von 1937 bis zur Scheidung 1946 mit Eva Schiller, gest. 24.01.1977 in Bayreuth 614 Meyers, William H., geb. am 20.08.1859, Sohn von Louis Meyers und Josephine Kapel. 615 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 616 Grand Hotel Wien, Kärntner Ring 9 (www.grandhotelwien.com): 1870 Eröffnung des von dem Architekt Carl Tietz (gestorben 1875; weitere Bauten u.a. Arbeitersiedlung „Tschechenring“ in der Marktgemeinde Felixdorf; der erste Entwurf der Wiener Börse stammte von Tietz, doch nach dessen Tode verwirklichte Theophil Hansen seinen eigene Entwurf) entworfenen, ersten Grand Hotels der Stadt Wien; 1958-1979 Hauptsitz der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA; 1989 Erwerb der Immobilie durch die All Nippon Airways und Umbau; Planungsbeginn: 1989, Baubeginn 1991, Fertigstellung 1994, Neueröffnung am 15.06.1994 als Hotel der Luxuskategorie, Bauherr: Erste Wiener Hotel AG/Grand Hotel GmbH/All Nippon Airways („ANA Grand Hotel“); der Westtrakt entstand unter Beibehaltung der historischen Prunkfassade des Palais Corso; Architekten: Arbeitsgemeinschaft Dipl. Ing. Heinz Neumann, Hlawenicka & Partner, Dipl. Ing. Hannes Lintl; Umbaukosten: 1,6 Milliarden Schilling, Technikkosten 24 Mio. Euro; seit 31.07.2002 als „Grand Hotel Wien“ im Besitz der JJW Hotels & Resorts des Scheichs Mohamed Bin Issa Al Jaber/Saudi Arabien. Bruttogrundfläche 66.000 Quadratmeter, Grand Hotel 27.000 Quadratmeter, Palais Corso 29.000 Quadratmeter inkl. 10.000 Quadratmeter Garage, 15 Geschosse, 205 Zimmer und Suiten, Ballsaal mit 535 Quadratmetern. Seit 01.08.2002 Mitglied der Vereinigung „Leading Hotels of the World“. 617 heute Pardubice 100
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sie Helene und ihre Brüder Aristide und Hektor bereits in Gödöllö, als diese den Grafen Eszterházy besucht hatten. „Es entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen den Damen, desgleichen später auch zwischen der heranwachsenden Mary Vetsera und der Gräfin.618“ Maries Rolle in der Mayerling-Affäre beginnt aktiv mit der Zusammenführung der jungen Baroness Vetsera mit dem Kronprinzen im November 1888. „Als aus den vorgefundenen Briefen der Gräfin Larisch an Kronprinz Rudolf ihre Rolle als Vermittlerin des Verhältnisses eindeutig hervorging, fiel sie bei der Kaiserin in Ungnade und wurde bei Hof nie mehr empfangen. Sie rächte sich, indem sie in ihren Büchern, Memoiren619 und einem Buch über Kaiserin Elisabeth620 das ihr geschenkte Vertrauen missbrauchte und intimste Details aus deren Leben veröffentlichte621“ - allerdings fast „ausschließlich unter Mithilfe von Journalisten und Berufs-Ghostwritern622“. Das von Legenden umrankte Leben „jener Gräfin Larisch“ hat in ausgezeichneter Weise die Wiener Autorin Brigitte Sokop nachgezeichnet und in detektivischer Kleinarbeit viele bislang unbekannte Fakten zu Tage gefördert. Dieser ausgezeichneten Biographie können wir an dieser Stelle keine neuen Informationen hinzufügen623. Marie Larisch stirbt am 4. Juli 1940 in Augsburg und findet ihre letzte Ruhe in einem Erdgrab rechts neben der Gruft ihres Vaters auf dem Ostfriedhof in München624. Im Jahre 1979 war das Grab in einem völlig verwahrlosten Zustand und kaum zu erkennen. Die Recherche von Brigitte Sokop veranlasste jedoch die Familie Wittelsbach, die Pacht über die Belegungsdauer von 40 Jahren hinaus zu verlängern.
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Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Wallersee, Marie Freiin von: „My Past - Reminiscences of the Courts of Austria and Bavaria; Together with the True Story of the Events Leading Up to the Tragic Death of Rudolph, Crown Prince of Austria“, London 1913; „Mon passé - Le drame de Mayerling”, Paris 1916; „Meine Vergangenheit“, Leipzig 1937 620 Wallersee, Marie Freiin von: „Her Majesty Elizabeth of Austria-Hungary, the Beautiful Tragic Empress of Europe's Most Brilliant Court”, New York 1934; „Kaiserin Elisabeth und ich”, Leipzig 1935; „Secrets of A Royal House“, 1936; „Les secrets d'une Maison Royale”, 1936. 621 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 622 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch ... Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee - Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1988 623 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch ... Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee - Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1988 624 Auf dem Ostfriedhof München ist seit 1999 auch der deutsche Sänger Rex Gildo und seit 2003 die Filmemacherin – und frühe Kinodarstellerin der Mary Vetsera – Leni Riefenstahl beigesetzt. 619
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
10. Die Zeugen I: Loschek
„Ich bin stolz darauf, als armer Mann zu sterben.“
Johann Loschek 19. Januar 1928
Zwei steinerne Platten bedecken die Gruft 228/229 auf dem katholischen Friedhof von Klein Wolkersdorf, Markt Lanzenkirchen. Sechs goldene Namen wurden in den polierten Stein eingeschlagen. Der Zweite zieht noch immer Besucher an: Johann Loschek625. Der Grund: Er, Kronprinz Rudolfs Leibkammerdiener626 und Saaltürhüter627, war einer der wenigen Tatortzeugen in Mayerling. Was hatte er wirklich gewusst? Loscheks Wissen lüfteten am 24. April 1932 die „Berliner Illustrierte Zeitung“ und das „Neue Wiener Tagblatt“. „Die Wahrheit über den Tod des Kronprinzen Rudolf“ wurden Johann Loscheks Erinnerungen betitelt – sein Lebenslauf und die „richtige Darstellung des Dramas“, die er am 19. Januar 1928 im Beisein des Bürgermeisters von Lanzenkirchen628 seinem Sohn Johann629 diktierte630. Ebenso wie andere Tatortzeugen hatte auch Loschek das Bedürfnis, sich am Ende seines Lebens für sein Schweigen zu rechtfertigen. Seine Erinnerungen wurden 43 Jahre nach der Tragödie und zwei Monate nach seinem eigenen Tode631 veröffentlicht. Doch wie kam es dazu? Schon zwei Tage nach dem Tod des Kronprinzen wurde Johann Loschek zu einer Audienz bei Obersthofmeister Fürst Hohenlohe geladen. Wieder Tage später fand dann im Roten Saal der Burg eine Konferenz statt, bei der ein in Mayerling aufgenommene Protokoll über Rudolfs Tode verlesen wurde. Anwesend waren hier neben Ministerpräsident Taaffe auch Fürst Hohenlohe, Graf Bombelles, Dr. Wiederhofe und einige Attachés –
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Ortstermin Klein Wolkersdorf, Mai 1990 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 627 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 628 Holler, Gerd: „Mayerling, die Lösung...“, Fritz Molden-Verlag, Wien 1980 629 Loschek, Johann jun. * 19.07.1891 in Oberwaltersdorf; + 05.04.1978 630 Im Januar 2003 wurde durch das Wiener Antiquariat Inlibris ein kleines Konvolut mit Dokumenten zum Drama von Mayerling angeboten, das aus dem Besitz eines Alois Fischer stammte. Er protokollierte u.a. einen Besuch von Johann Loschek bei ihm am 5. Oktober 1910, der ihn wegen der Aufnahme seines Sohnes in die Mödlinger Brauereischule befragen wollte. In diesem Zusammenhang berichtet Loschek über die Zeit vom 28. bis 31. Januar 1889 in Mayerling. Augenscheinlich – so Inlibris – widerspricht das Protokoll in keiner Weise der Hoyos-Denkschrift. Loschek will sogar auf den eigenen Armen die tote Baroness ins Dienerzimmer getragen haben, „damit die Leiche nicht im Schlafzimmer des Kronprinzen gefunden wird“. 631 Johann Loschek starb am 13. Februar 1932 mit 87 Jahren auf dem Auerhof. 626
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zudem auch Johann Loschek. Einzig Graf Hoyos war nicht anwesend. 1927 erfuhr nun Loschek angeblich, dass dieses Mayerling-Protokoll „auf einem Schloß in Chechien des Grafen Taffee bei einem Brand vernichtet wurde“632 – was jedoch nicht zutraf. Dies mag der Anlass für Loschek gewesen sein, seine Erinnerungen zu diktieren. 40 Jahre lang hatte der Mann geschwiegen, nun war es für ihn Zeit, sich ohne Anklage zu verteidigen: „Es ist eine Fabel wenn behauptet wird, Loschek war nun ein reicher Mann geworden. Das kleine Kapital hatte ich mir ehrlich und redlich verdient“633, erinnert er sich in seinem Altersdomizil, dem 1896 von Johann Michael Schreyer erworbenen und 1897 mit einer neuen Straßenfront versehenen Auer-Hof in Klein Wolkersdorf634. Loschek musste – da er wohl die von Mitis veröffentlichten „Erinnerungen“ des Grafen Hoyos nicht kannte – davon ausgehen, dass er nach dem Brand in Ellischau alles behaupten konnte, was er wolle. Niemand hätte den Bericht auf seinen Wahrheitsgehalt abklopfen können, glaubte Loschek doch, dass „diese zwei Bögen wirklich die einzigen noch existierenden authentischen Begebenheiten über das Drama von Mayerling darstellen“635. Johann Loschek wurde am 18.Juli 1845 im Forsthaus der Wiener Neustädter Akademie geboren636, wo sein Vater637 in kaiserlichen Diensten stand. 1863 trat er als Waidjunge im k.k. Jagdrevier Weittau in den Hofdienst ein. Ab 1875 tat er Dienst im Forstmeisteramt Auhof. Über seine erste Begegnung mit dem damals 11jährigen Kronprinzen schrieb Loschek: „Ich fand in den damals weit ausgedehnten kaiserlichen Revieren Verwendung. (...) Da lernte ich den (...) Kronprinzen Rudolf kennen und lehrte ihm die ersten Anleitungen zur Jagd“638. Am 1. September 1876 wurde Loschek zum Kammerbüchsenspanner ernannt und am 1. Oktober 1877 hielt der 32jährige sein „Anstellungsdekret“ für den Wiener Hof in Händen. Loschek heiratete am 15. Januar 1878 Antonia Meissner639. Am 4. September 1883 wurde Johann Loschek zum Saaltürhüter des Kronprinzen ernannt, nannte sich aber noch selbst bis zu seinem Tode „Leibkammerdiener“. Eigentlicher Inhaber dieses Titels war jedoch Karl Nehammer640. In dieser Position war er „nun an der Seite Rudolfs bis zu seinem Tode in Mayerling“641. Loschek begleitete den Erzherzog Thronfolger bei dessen Reisen und „so kam es, dass ich bald der Vertraute Rudolfs wurde“642. Kurz nach dem Drama von Mayerling wurde Loschek auf eigenen Wunsch mit einer einmaligen Personalzulage von 2.600 Gulden643 und dem Goldenen Verdienstkreuz644 mit Krone645 in Pension geschickt. Als Pension erhielt er weitere 1.300 Gulden jährlich646. Hoftelegraf Julius Schuldes beurteilte kurz nach dem Erscheinen die Erinnerungen von Loschek: „Er schildert breitspurig und in selbstgefälliger Absicht, um sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen“647. Schuldes, im Januar 1889 ebenfalls in Mayerling anwesend, mag zu Loschek kein besonders gutes Verhältnis gehabt haben. Vielmehr sah er
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„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 634 Ortstermin 1990; was der Wappenstein in der neuen Fassade bedeutet, ist bislang nicht geklärt 635 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 636 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 637 Die Familie dürfte aus Benedik in Böhmen stammen und bereits der Uhrgroßvater von Johann Loschek, Josef Loschek, war Oberjäger auf den Gütern des Erzbischofs Graf Tun, später als Jäger bei Kaiser Franz I/II in Wien. 638 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 639 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 640 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 641 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 642 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 643 HHStaA, 14/10855 ad 489/1889 644 Schiel, Irmgard: „Stephanie“, Heyne-Verlag 1990 645 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 646 nach Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 633
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durch Loscheks Erinnerungen die Publikation seiner eigenen Mayerling-Skizzen gefährdet. Schuldes kommt zu dem Schluss: „Diese (...) Ausführungen haben augenscheinlich den Hauptzweck, den Erzähler über alle Hauptsächlichkeiten hinweg gehörig in den Vordergrund der Ereignisse zu schieben und seine Bedeutung zu heben und ihn von dem oft zu Gehör gebrachten Verdacht reinzuschwaschen“648. Rudolf hatte in der Tat so großes Vertrauen zu seinem Saaltürhüter, dass er Loschek ab 1887 dazu benutzte, an Morphium zu gelangen649. Weitaus wahrscheinlicher als eine Verwendung als „Drogenkurier“ dürfte sein Einsatz sein als Kurier für Anordnungen, Befehle und ähnliches650. So erhielt er auch durch Marys Zofe alle Briefe der Vetsera an den Kronprinzen, die stets an ihn adressiert gewesen sein sollen. Auch hat er Mary einige Male bei ihren nächtlichen Besuchen durch die Hofburg geführt651. Dass Johann Loschek eine besondere Bedeutung im Leben des Kronprinzen gehabt haben dürfte, mag ein von Slatin erwähnter Brief an diesen belegen. Diesen Brief, der auf einem Tisch im Jagdschloss Mayerling lag, zitiert Loschek in seinen Erinnerungen: „Lieber Loschek, holen sie einen Geistlichen und lassen sie uns in einem gemeinsamen Grabe in Heiligenkreuz beisetzen. Die Pretiosen meiner teuren Mary nebst Brief von ihr überbringen sie der Mutter Marys. Ich danke ihnen für ihren jederzeit so treuen und aufopferungsvollen Dienste während der vielen Jahre, welche sie bei mir dienten. Den Brief an meine Frau lassen sie ihr auf kürzestem Wege zukommen. Rudolf“652. Doch zurück zum Beginn der Tragödie, wie sie von Loschek beschrieben wird. „Ich fuhr mit meinem Hofwagen am 29.Jänner 1889 um ¾ 9 Uhr vormittags zum Südbahnhof, um nach Baden einzusteigen.653“ Vom Badener Bahnhof aus reiste er mit „seinem“ Fiaker weiter nach Mayerling, das „er“ nach den Wünschen des Kronprinzen eingerichtet haben soll. Als „einzigen Jagdgast“ nennt Loschek namentlich den Grafen Hoyos. Prinz Coburg will er selbst mit der Nachricht des Kronprinzen zum Kaiser geschickt haben, Rudolf könne wegen Halsschmerzen nicht zum Familienessen kommen. Diesen Auftrag will Loschek jedoch schon lange Zeit vor der Ankunft Rudolfs und der Vetsera im Jagdschloss getan haben. Wenig glaubhaft liest es sich, wenn Loschek sich erinnert, Rudolf sehe ihn nach dem Abendessen mit Hoyos an, als „wollte er sagen, du bist es, welcher bald seinen guten aber unglücklichen Herrn tot finden wird“654. Loschek meint fast 40 Jahre nach dem Geschehenen, Mary habe das Abendessen allein eingenommen. Als der Kronprinz zu ihr ging, ermahnte er Loschek, niemanden zu ihm zu lassen, „und wenn es der Kaiser ist". Loschek will sich wie gewöhnlich im Nebenzimmer sich zur Ruhe gelegt haben, doch konnte er in dieser Nacht keine Ruhe finden, denn „ich hörte die ganze Nacht über Rudolf und Vetsera in sehr ernstem Tone sprechen. Verstehen konnte ich nicht.“ Um fünf Minuten vor ¼ sieben Uhr kam der Kronprinz „ganz vollständig angezogen zu mir in das Zimmer und befahl mir einspannen zu lassen.655“ Im Hof angekommen, hörte Loschek zwei Detonationen, eilte zurück, will Pulverdampf gerochen haben und fand die Tür zu Rudolfs Schlafzimmer „entgegen der Gewohnheit“ versperrt. Loschek will nun den Grafen Hoyos geholt und mit einem Hammer die Türfüllung eingeschlagen haben. Mit der Hand griff er hinein, sperrte auf und sah einen „grauenhaften Anblick – Rudolf lag entseelt auf seinem Bette – ganz angezogen“. 647
Schuldes, Julius: Abschrift einer Gedächtnisskizze über den Bericht Loscheks, Rollett-Museum Baden; Transkription Ing. Halbritter 648 Hamann, Brigitte: „Kronprinz Rudolf“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 649 Holler, Gerd: „Mayerling, die Lösung...“, Fritz Molden-Verlag, Wien 1980 650 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau-Verlag, Wien 1983 651 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau-Verlag, Wien 1983 652 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 653 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 654 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 104
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Auch Mary Vetsera will er bekleidet auf ihrem Bett gesehen haben. „Die Betten standen nicht wie Ehebetten nebeneinander, sondern an den beiden Wänden.“ Dennoch meint Loschek, er habe nach dem neuerlichen Absperren der nun zerstörten Tür den Kronprinz und die Baroness in ihre Betten gelegt. Zuvor jedoch will er „Leibarzt Baron de Widerhofer (und die) zwei Adjutanten Baron Geist und Graf Rosenberg“ telegrafisch verständigt haben. Als erfahrene Waidmann stellte er fest, dass nur „zwei wohlgezielte Schüsse“ aus Rudolfs Armeerevolver gefallen waren und dass „Rudolf zuerst Mary Vetsera erschossen hatte und sich dann selbst entleibte“. Nun las Loschek den an ihn gerichteten Abschiedsbrief und brach zusammen: „Ich kniete nieder, meinen Kopf auf Rudolfs Arm legend, und weinte bitterlich“, bis gegen ½ neun Uhr Widerhofer klopfte. Der nach Loscheks Bericht in erstaunlich kurzer Zeit aus Wien herbeigeeilte Arzt brachte einen Sekretär mit, welcher „nach meinen Angaben“ den Tatbestand aufnahm. Zusammen mit Widerhofer will Loschek dann den Toten gegen neun Uhr abends nach Baden und weiter mit der Bahn nach Wien in die Hofburg gebracht haben. „So lautet einfach und ohne Romantik genau wie ich es erzählt habe das Drama von Mayerling“656. Loscheks Erinnerungen stehen nicht nur in vielen Punkten in Widerspruch zu jenen des Grafen Hoyos, sondern auch zu seinen eigenen, früheren Aussagen. Nach dem Tode des Kronprinzen erhielt Loschek neben Geld und Orden einen Artilleriesäbel, einen Kugelstutzen, ein Lancasterschrotgewehr Kaliber 20, einen Drilling der Marke Lancaster und ein Repetirkugelgewehr657. Drei der Gewehre waren mit Gold verziert und trugen eine Goldlamelle mit der Aufschrift „Rudolf“658. Die Waffen sind jedoch nach dem 2. Weltkrieg aus dem Besitz der Familie verschwunden. Von den Kleidungsstücken, die Loschek erhielt, erwarb Oberst Zerzawy einige Teile, darunter Rudolfs letzte Lederhose. Jener Zettel, den der Kronprinz Loschek hinterlassen haben soll, galt bislang als verschollen659. Auf Grund des Zettels sah sich bekanntlich Graf Hoyos veranlasst, seine „Denkschrift“ zu verfassen. Zwischenzeitlich wissen wir, dass er im Besitz der Familie Habsburg-Lothringen ist. Hier erstmals ein authentisches Zitat aus dem gut erhaltenen, vom Kronprinzen handschriftlich abgefassten Brief: „... Excellenc Hoyos, ich lasse ihn grüßen und bitten, nicht zu telegraphieren, es soll um einen Geistlichen nach Hl. Kreuz schicken, damit in der Nacht gebetet wird. Die Baronin lässt Graf Hoyos auch grüßen, er soll nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat.“ Nach dem Tode Johann Loscheks ging der 60 Joch große Auer-Hof, ein bereits 1380 erwähntes Lehen des Geschlechtes der Auer, an seinen Sohn Johann660 und dessen Frau Margarete über. Nach dem Tode von Margarete661 und Johann Loschek jun. sowie seiner Schwester Antonia662 erwarben Rotraut und Eduard Witetschka den Hof. Der Kronprinz Rudolf-Forscher Prof. Hermann Zerzawy nahm am 27. August 1955 im Auerhof mit dem Großwirtschaftsbesitzer Johann Loschek jun. ein Protokoll auf. Er berichtet, sein Vater habe den Selbstmord des Kronprinzen auf eine „Gemütsdepression“ zurückgeführt: „Beide sind durch Revolverschüsse durch die Hand des Kronprinzen gestorben.“ Zerzawy dürfte enge Kontakte zur Familie Loschek gehabt haben, denn er erhielt am Tag des Protokolls auch den Ahnenpass der Loscheks als Geschenk.
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„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932 657 „Verzeichnis der Säbeln und anderer Jagdwaffen weiland Seiner k.k. Hoheit des Kronprinzen Rudolf“, HHStaA, III/108 ab 1026 ex 1889 658 Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 659 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Kremayr & Scheriau, Wien 1968 660 Bürgermeister in Lanzenkirchen von 1931-1934; sein einziger Sohn Johann „Hansi“ ist im 2. Weltkrieg in Polen vermisst und wurde am 08.05.1945 für Tod erklärt 661 Margarete Loschek, gestorben 1987 656
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen J: Püchel
„Die Hirnschale war oberhalb der rechten Schläfe zerschmettert und diese Verletzung musste zweifellos den sofortigen Tod herbeigeführt haben.“
Rudolf Püchel Jagderlebnisse
Als eine interessante Quelle zum Leben des Kronprinzen können wir die Erinnerungen des KammerBüchsenspanners663 Rudolf Püchel heranziehen. Er begleitete Rudolf im Januar 1889 zwar nicht nach Mayerling, gibt jedoch rückblickend Auskunft über die letzten Stunden des Erzherzogs in der Hofburg und die Überführung des Toten nach Wien. Mitte der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Püchel zwei Artikel aus seinen Erinnerungen Zeitungen – an die gemeinsamen Jagden mit dem Thronfolger664 und dessen Tod665. Mit diesen Quellen arbeitete bereits Oskar von Mitis666. Durch einen Zufall wurden Mitte der 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts die Lebenserinnerungen des Jägers in einer Truhe auf dem Dachboden des Püchel ´schen Einfamilienhauses am Standrand von Wien gefunden: 418 handgeschriebene Seiten, mit Zwirn zu Stößen mit je 40 Seiten zusammengenäht667. Mit 13 eigenhändig gezeichneten, naiven Bleistiftzeichnungen hatte Püchel die Texte illustriert, die seither immer wieder in verschiedenen Ausstellungen zu sehen waren. Als Quellenmaterial darf man die Aufzeichnungen nicht zu gering schätzen. Sie entstanden unmittelbar und zeitnah als Notizen von Reisen, Reden und Ereignissen in einem Tagebuch, aus dem Püchel dann seine Erinnerungen zusammenstellte668.
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Antonia Loschek, 1893-1987 Hof- und Staatshandbuch der öst.-ung. Monarchie für 1889, gedruckt 05.12.1888, HHStaA. Dort wird Püchel jedoch „Rudolph Püchel“ genannt. 664 „Die drei Bärenjagden des Kr. Rudolf“ von Rudolf Püchel, Neues Wiener Tagblatt, 11.10.1925 665 „Die letzten Stunden des Kronprinzen Rudolf in der Wiener Hofburg“ von Rudolf Püchel, Reichspost Wien, 31.01.1926 666 Sektionschef a. D. Dr. Oskar Freiherr von Mitis sen., „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag Leipzig, 1. Auflage 1928 667 Anlässlich einer Jagdausstellung 1978 publizierte die Kulturjournalistin Dr. Elisabeth Koller-Glück, eine Cousine der PüchelErbin Christine Pai, die von ihrem Mann, Medizinalrat Dr. Friedrich Koller transkribierten Texte, leicht gekürzt im Verlag des Niederösterreichischen Pressehauses St. Pölten 668 Das Originalmanuskript der „Jagderlebnisse“ befindet sich, ebenso wie das Originaltagebuch, im Besitz von Rudolf Püchels Enkelin, Christine Pai. 663
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Rudolf Püchel war, ebenso wie Franz Wodicka669 und Johann Walter, als Leibjäger im Hofstaat des Kronprinzen beschäftigt und trug den Titel „k.k. Kammerbüchsenspanner bei Seiner k.k. Hoheit, dem durchlauchtigsten Erzherzog Kronprinz Rudolf“670. Als Büchsenspanner (Jäger) bekleidete er eine Vertrauensstelle im Hofstaat des Kronprinzen: bei Jagden trug er Gewehr, Munition und Verpflegung seines Herrn und wich auch außerhalb der Pirschgänge nur selten von dessen Seite. Rein äußerlich manifestierte sich seine Position bei Hofe durch eine besondere Uniform, bestehend aus einem stahlgrünen Waffenrock mit Silberkragen und Goldepauletten, Hosen mit Silberlampas, einem Dreispitz mit weißen Federbuschen, einem breiten Goldbandelier und einem Hirschfänger. Am 1. Februar 1881 trat Rudolf Püchel bei dem um zwei Jahre jüngeren Thronfolger in Stellung und begleitete ihn bis zu dessen Tod auf vielen Jagden, aber auch auf Reisen, u.a. nach Ägypten und England. Hugo Graf von Abensperg-Traun empfahl Rudolf knapp vor dem Jahreswechsel 1880/81 seinen damals 24-jährigen Forstadjunkten Püchel als Leibjäger. Graf Abensperg-Traun hatte zwischen Weihnachten und Silvester als Gast an einer Jagd des Kaisers und des Kronprinzen im Hofjagdrevier Mürzsteg teilgenommen. Nach Beendigung einer Jagd soll es der Kronprinz selbst gewesen sein, der dem jungen Mann im Vestibül des Jagdschlosses die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Da ich einen Leibjäger brauche, will ich sie fragen, ob sie in meine Dienste treten wollen.671“ Püchel begann seinen Dienst – mit allen guten Wünschen der bisherigen Herren versehen – zum Beginn des Februars 1881. Da Rudolf zu dieser Zeit auf Brautschau in Brüssel war, begegnete der Kronprinz seinem neuer Jäger erstmals am 5. des Monats. Der Thronfolger eröffnete ihm, dass am 9. eine Reise nach Ägypten starten werde. Der Reise in den Orient folgten weitere – und auch bei Ausstellungseröffnungen und anderen offiziellen Anlässen wich Püchel nicht von der Seite seines Herrn. Er sollte Rudolf auch auf einer Reise nach Ceylon begleiten, die jedoch durch eine große Truppenverschiebung an der Westgrenze Russlands und der entsprechenden Gegenmaßnahmen in Deutschland und Österreich vereitelt wurde. Püchel: „Infolge der bedenklichen außenpolitischen Verhältnisse kam die Reise nach Indien nicht zustande. Es kam überhaupt alles anders...672“ Für den 29. Januar, einen Dienstag, hatte Rudolf eine Hochwildjagd um Alland geplant. Davon setzte er Püchel am Samstag, 26. Januar, in Wien in Kenntnis: „Püchel, ich atme schon wieder längere Zeit Stadtluft und habe jetzt Sehnsucht nach dem Walde. Die Schusszeit des Hochwildes geht zu Ende – vielleicht kann ich noch ein schlechtes, nichts versprechendes Stück in Alland abschießen, oder auf einen Fuchs jagen.673“ Der Jäger sollte am Montag, 28. Januar, vormittags nach Mayerling fahren und dort alle notwendigen Vorbereitungen treffen: „...setzen Sie sich diesbezüglich mit Forstmeister Hornsteiner ins Einvernehmen. Ich werde Dienstag nach Meyerling fahren und wahrscheinlich Mittwoch abends zurückkehren; weitere Weisungen werde ich Ihnen jedoch erst Montag früh geben, wenn
669 Franz Wodicka , a.a.O. auch in der Schreibweise Vodicka (geboren 1857, gestorben nach einem Schlaganfall am 01.04.1928 in Göching/Mähren, heute: Uzhorod in Ungarn; verheiratet mit Valerie, verstorben um 1960); Wodicka war nach 1918 als Direktor des Staatsforstes der Provinz Karpatho-Russland im tschechischen Staatsdienst; erhielt nach dem Tode des Kronprinzen einen Revolver mit vier Patronen, die Luxusausführung des Offiziersrevolvers von 1887/88 in einem Etui mit blauem Samtfutter; seine Frau verschenkte die Gabe an ihren Arzt Felix Moser, der den Revolver samt Etui verkaufen wollte; ihm wurde beides jedoch gestohlen. 1977 verliert sich die Spur von Felix Moser. 670 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 671 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 672 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 673 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai, Wien
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Sie – Sie sind morgen dienstfrei – von Laxenburg zurückgekehrt sein werden. Avisieren Sie den Wirtschaftsinspektor damit dieser veranlasse, dass eine Wirtschaftsabteilung sich Montagvormittag bereithalte.674“ Als Püchel am 28. in der Früh vom Wochenende kommend aus Laxenburg in Wien eintraf, erfuhr er, dass der Kronprinz seine Pläne geändert hatte und noch am gleichen Tag nach Mayerling fahren wolle. Wir stellen die zeitlich identischen Passagen für den 28. Januar 1889 aus dem Zeitungsbericht von 1926 hier den 1978 veröffentlichten Erinnerungen gegenüber: „Nach 10 Uhr verließ der Oberstleutnant das Arbeitszimmer, und der Kronprinz trat dann zu mir heraus und sagte: Püchel, ich muss leider mein Programm bezüglich Mayerling ändern – ich fahre heute schon hinaus; Loschek, Vodicka und das Wirtschaftspersonale sind bereits vorausgefahren und mein Wagen ist für 12 Uhr bestellt. Ich erwarte aber noch dringend einen Brief und ein Telegramm.675“ „Um zehn Uhr vormittags verließ der Offizier das Arbeitszimmer. Seine kaiserliche Hoheit kam dann zu mir heraus und sprach: Püchel, ich musste leider spät nachts mein Programm bezüglich Mayerling ändern – ich fahre heute schon hinaus. Loschek, Vodicka und das Wirtschaftspersonal sind bereits vorausgefahren und mein Wagen ist für zwölf Uhr bestellt. Ich erwarte aber noch einen dringenden Brief und ein Telegramm.676“ Letztlich verabschiedete sich der Kronprinz am Montag, 28. Januar 1889, mit den Worten „Ich danke, ich brauche nichts mehr“ von Püchel677. Da er am Dienstag gegen Nachmittag zurück in Wien sein wollte, entließ er den Jäger. Am 29. Januar, dem Folgetag, erschien Püchel erneut in der Hofburg – statt des Kronprinzen kam jedoch aus Mayerling ein Telegramm das meldete, der Erzherzog komme wegen Unwohlsein nicht zurück. Kronprinzessin Stephanie war es dann, die Püchel kurz vor 18:00 Uhr zurück nach Laxenburg schickte und für den Vormittag des folgenden Mittwochs in die Burg zurück bestellte. Daheim in Laxenburg, bei seiner Frau und seinem Sohn, konnte er kaum schlafen und träumte schlecht; am Südbahnhof erfuhr er dann am folgenden Morgen (Mittwoch, 30. Januar) von einem Bahnbeamten, dass der Kronprinz tot sei. Am frühen Morgen des 31. Januar (Donnerstag) sah er seinen Herren wieder – Rudolf lag auf dem Totenbett in seinem Junggesellenappartement. Püchel betete an seinem Sarg und erhielt gegen Mittag vom Kaiser den Befehl, „dem Kronprinzen das Band zum Großkreuz des St. Stephansordens auf die Brust zu legen678“. Nach seinem Bekunden war dies der letzte Dienst, den er für den Kronprinzen tat. „Am 5. Februar fand die Beisetzung des Kronprinzen Erzherzog Rudolf, gleichzeitig mit der österreichisch-ungarischen Monarchie in der Kaisergruft bei den Kapuzinern statt. Friede seiner Asche.679“ Rudolf Püchel wurde als Sohn eines Försters am 13. Juli 1856 in Wilken680, und nicht wie stets angenommen im niederösterreichischen Enzersfeld bei Bisamberg681, geboren. Er besuchte die Haupt- und Unterrealschule in Korneuburg und strebte eine bürgerliche Ausbildung an, während sein Bruder Jakob Landwirt wurde. Am 24. Oktober
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„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai, Wien 675 „Die letzten Stunden des Kronprinzen Rudolf in der Wiener Hofburg“ von Rudolf Püchel, Reichspost Wien, 31.01.1926; zitiert bei Hamann, Brigitte: „Rudolf – Kronprinz und Rebell“, Kremayr & Scheriau, Wien 1982 676 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 677 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 678 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 679 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai, Wien 680 Wilken bei Radonitz, heute: Vlkau, Tschechien, Kreis Komotau/Chomutov 108
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1885 fand um 17:00 Uhr in die Wiener Hofburgkapelle die Trauung mit Anna Karoline Kummer682, Tochter des Wiener Hoteliers Michael Kummer und seiner Frau Therese, statt. Als Kammerbüchsenspanner wohnte er zusammen mit seiner Frau Anna in einem Nebengebäude des Schlosses in Laxenburg. 1887 kam dort Sohn Rudolf zur Welt683. Nach dem Tode des Kronprinzen wurde Püchel vom Kammerbüchsenspanner zum Saaltürhüter befördert, bat jedoch, in den Hofjagddienst zurückversetzt zu werden684. So wurde er als Förster in der Lobau beschäftigt und zog mit seiner Familie von Laxenburg nach Breitenleh. Dort arbeitete er wohl bis zu seiner Pensionierung am 05. April 1901. Während seiner Zeit in der Lobau erwarb er das Gut Kroisbach Nr. 2 bei Graz. Sein Vermögen legte er in Kriegsanleihen an, so dass der Witwer – seine Frau Anna war am 4. Februar 1912 gestorben – nach Ende des Krieges mittellos dastand. 1921 verkaufte er den Gutshof, doch fraß die Inflation den Erlös fast vollständig auf. Schon bald nach dem Tode des Kronprinzen zeichnete sich für Rudolf Püchel der gesellschaftliche Abstieg ab, den er zeitlebens nicht verkraften konnte. Als Mittelpunkt seiner äußerst bürgerlichen Familie ließ er zwar alle Kinder studieren, wurde selbst jedoch depressiv, melancholisch und verschlossen. Püchel vermochte nicht zu akzeptieren, dass mit Rudolfs Tod auch seine hohe Stellung und Deputation bei Hofe beendet war – aus dem angesehenen, uniformierten Begleiter des Kronprinzen war wieder ein einfacher Förster geworden685. Nach Ende der Monarchie wurden die Depressionen so stark, dass sich Püchel in ein Sanatorium begeben musste. Als ambulanter Patient der Niederösterreichischen „Kaiser-Franz-Joseph-Heil- und Pflegeanstalt MauerÖhling“ bei Amstetten wohnte Rudolf Püchel nach Kriegsende bei Olga Bothe, die er in zweiter Ehe heiratete. Sie dürfte es gewesen sein, die ihn animierte, seine Erinnerungen an den Kronprinzen niederzuschreiben und ggf. zu Geld zu machen686. Sein zweites Testament vom 17. Dezember 1935 bekundet jedoch, dass Geldwerte zu dieser Zeit nicht mehr vorhanden waren. Püchel starb am 11. Mai 1938 im Alter von 82 Jahren im Krankenhaus von Amstetten/Niederösterreich und wurde im Grab seiner ersten Frau Anna auf dem Friedhof der Pfarrkirche St. Leonhard in Graz beigesetzt687. Aus dem Nachlass des Kronprinzen erhielt Püchel „den einzigen vorhandenen Armeerevolver mit Kugel- und Patronentasche688“ sowie einen kleinen russischen Infanteriesäbel und fünf Gewehre: eine Kugelstutzenflinte der Marke Lancaster, einen Scheibenstutzen der Marke Werndl, einen Repetierstutzen, ein Lancasterschrotgewehr und eine
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In Bisamberg leben heute Nachkommen der Familie, die sich jedoch „Püchl“ schreiben. Freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Koller-Glück, Wien 28.02.2003 682 Anne Karoline Kummer, geboren 1865, gestorben am 04.02.1912 in Wien, beigesetzt am 06.02.1912 auf dem Friedhofs der Pfarrgemeinde St. Leonhard in Graz 683 Püchel hatte insgesamt fünf Kinder: Anna (1886-1976; zu ihrer Geburt gratulierte die Kronprinzessin Stephanie telegrafisch. Sie heiratete einen Sektionschef des Eisenbahnministerium, lebte in Perchtoldsdorf bei Wien; Tochter Gertrud heiratete den römisch-katholischen Pfarrer Schmied und bekam 5 Kinder; Tochter Hedwig ging zur Buße ins Kloster); Rudolf (1887-28.10.1912; verstarb wahrscheinlich an TBC); Hubert (1889-1965; Diplom-Ingenieur, Ministerialrat im Vermessungswesen, Vater der Erbin Christine Pai, geb. Püchel); Franz (1892-1927; Apotheker, gab seine Wiener Apotheke auf und wanderte mit seiner Frau nach Kanada aus, kam jedoch nach Europa zurück nachdem ihn seine Frau verlassen hatte); Siegfried (1906-1943; nach dem frühen Tod der Mutter von seiner Schwester Anna aufgezogen; Stationsvorstand bei den Österreichischen Bundesbahnen, starb an TBC). Freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Koller-Glück, Wien 06.11.2002 684 HHStaA, Separatakte, Mappe Separate Billetts 1889, Vortrag vom 24.05.1889, zitiert aus dem Nachlass Judtmann im HHStaA 685 Mitteilung von Frau Dr. Elisabeth Koller-Glück an den Verfasser, Wien 22.09.2002 686 am Ende des Kapitels „Die letzten Stunden Seiner kaiserlichen Hoheit des Kronprinzen Erzherzog Rudolf in der Wiener Hofburg“ befindet sich der Vermerk „Nachdruck verboten – Alle Rechte vorbehalten“. 687 Erdgrab Neu IV, 7, 62, Grabbuch der Pfarre St. Leonhard, Graz. Im benachbarten Grab Nr. 8 war der ebenfalls 1912 verstorbene gemeinsame Sohn Rudolf Püchel beigesetzt; beide Gräber gibt es heute nicht mehr; Freundliche Mitteilung Pfarrer Franz Fink, Graz 13.11.2002 688 Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 109
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Flinte Marke Lancaster689. Keines dieser Gewehre ist im Nachlass erhalten. Bis zu seinem Tode hatte Rudolf Püchel kein einziges Mal über die „Kronprinzenaffäre“ gesprochen. Die Familie hält es für möglich, dass auch er zu jenem Kreis der ehrenwörtlich zum Schweigen Verpflichteten gehörte690. Im Nachlass Püchels sind heute ein geschnitzter hölzerner Rauchtisch sowie diverse Originalfotografien vom Kronprinzen und seines Jägers erhalten. Neben zwei Originalfotografien des Karmels St. Josef in Mayerling birgt der Nachlass ein großes Jagdmesser mit eingelassenem „R“, eine silberne Taschenuhr des Erzherzogs mit eingelassenem „R“ auf dem Boden, ein kleines Silberfeuerzeug mit Darstellung eines Jagdhundes und der Beschriftung „Nimes 1882“, ein orientalischer Dolch mit zerbrochenem Elfenbeingriff, eine silberne Anstecknadel zum „1.000 Hirschen“ des Erzherzogs Franz Ferdinand aus dem Jahre 1901 sowie diverse Korrespondenz, die Püchel von den Jagdreisen mit dem Kronprinzen an seine Eltern schrieb691. In der Familie wird zudem das bereits schwer beschädigte Fell jenes Bären verwahrt, der den Kronprinzen angriff und dabei von Püchel erlegt wurde. Aus dem Fußknochen des Tieres wurde der Griff eines Hirschfängers gearbeitet, der jedoch von den Nachkommen Püchels verkauft wurde. In den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden in Baden einige Bleichstiftzeichnungen des Jägers durch eine örtliche Galerie verkauft.
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„Verzeichnis der Säbeln und anderer Jagdwaffen weiland Seiner k.k. Hoheit des Kronprinzen Rudolf“, HHStaA, III/108 ab 1026 ex 1889 690 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 110
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen K: Schuldes
„Ich hörte, dass Sie nunmehr eine Abänderung des Bildes dahingehend wünschen, dass das Bett vollständig leer sei.“
Pressefotograf Max Fenichel an Regierungsrat Julius Schuldes 10. Mai 1932
Im städtischen Archiv der niederösterreichischen Kur- und Quellenstadt Baden bei Wien wird seit 1934 der Nachlass des Obmanns der Deutsch-Österreichischen Schriftstellergenossenschaft, des Regierungsrates Julius Schuldes, verwahrt. Er war es, der am 29. Januar 1889 von Alland aus das Telegramm des Kronprinzen mit den Worten „Ich komme nicht zum Diner. Rudolf“ nach Wien sandte. Neben zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen, einer Visitenkarten- und Autographensammlung sowie einigen Kisten mit Text- und Buchmanuskripten liegen in Baden die „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“ – Schuldes Erinnerungen an seine Zeit als Hoftelegraf, der das Drama von Mayerling vor Ort erleben musste692. Dieses Erleben wurde im Nachhinein zum zentralen Ereignis im Leben des deutsch-national orientierten und vom Leben enttäuschten, pensionierten Regierungsrates.693 Schuldes, 1935 verwitwet in Baden verstorben, schildert in den handschriftlichen Notizen sein Leben im Dunstkreis des Kronprinzen. Er hatte Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre – wohl auf Drängen seiner späteren Lebensgefährtin – zur Feder gegriffen, um die „damaligen Vorgänge in zusammenhängender Folge nach meinen persönliche an Ort und Stelle gemachten Wahrnehmungen und Erlebnissen niederzuschreiben“694. Als Basis diente ihm
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Freundliche Mitteilung von Christine Pai, geb. Püchel, an den Verfasser, Wien 24.09.2001 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. Der Nachlass enthält u.a. private Dokumente und persönliche Gegenstände (u.a. Ölbild seiner Mutter, das Andenkenbuch seiner Gattin) sowie politische Zeitungsartikel des Jahres 1923 (Schuldes stand dem freigeistig-nationalen Kreis um Schönerer nahe) und Erinnerungen an das Kaiserhaus. Separat werden die Erinnerungsstücke an Mayerling verwahrt, darunter fünf unterschiedliche Ausführungen von Briefpapier und Umschlägen aus Schloss Mayerling, zwei Reststücke der Tapete des Sterbezimmers, ungenutzte Telegrammbögen sowie chiffrierte Telegramme (Dechiffrierversuche), Bleistiftszeichnungen der Jagdschlösser in Mayerling nebst dem Sterbezimmer und Neuberg und andere Architekturskizzen. Der Nachlass wurde zu Beginn der 90er Jahre erstmals von Diplom-Ingenieur Heinz Halbritter / Baden ehrenamtlich durchgesehen und Teile des handschriftlichen Nachlasses von ihm transkribiert. 693 Einschätzung nach Rudolf Maurer, Leiter des Archivs der Stadt Baden 694 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden 692
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
rund ein Dutzend karierter Kalenderblätter, auf denen er sich im Januar und Februar 1889 flüchtige Notizen gemacht hatte. Doch Schuldes hatte nicht nur 40 Jahre nach der Tragödie seine Erinnerungen niedergeschrieben, um die „unglaubwürdigsten Gerüchte über den Tod des Kronprinzen“ zu korrigieren – er wollte aus seinen Erinnerungen auch Kapital schlagen. Er suchte – gemeinsam mit Dr. Hans Bauer vom Kleinen Volksblatt – in Österreich und Deutschland nach einem Verleger für die Aufzeichnungen, die durch seine Zeichnungen und eine Darstellung des Sterbezimmers illustriert werden sollte – jedoch vergeblich. Mit der Darstellung wurde ein Wiener Pressefotograf beauftragt, mit dem es aber zu Unstimmigkeiten kam: Schuldes zog aus nicht definierten Gründen sein Einverständnis zurück, auf dem Sterbebett zwei Personen dargestellt zu wissen695. Schuldes schriftliche Unterlagen zum Tode des Kronprinzen – darunter auch verschiedene Abdrücke eines Poststempels aus Mayerling696 – wurden in Baden in einem dicken, verschnürten und versiegelten Packpapier-Paket aufbewahrt. Schuldes Lebensgefährtin und Universalerbin Herma Clarson-Jeschek hatte verfügt, dass die am 16. Februar 1937 im Archiv hinterlegten „Familiendokumente“ frühestens 1985 veröffentlicht werden sollten697. Doch bereits in den ersten Jahren nach dem II. Weltkrieg, vermutlich jedoch schon durch brandschatzende deutsche Truppen auf dem Rückzug oder vorrückende russische Truppen, wurden im Frühjahr 1945 die Siegel gebrochen und der Umschlag geöffnet. So kann heute nicht mehr festgestellt werden, ob der Mayerling betreffende Nachlass des Regierungsrates komplett ist – einige Seiten der handschriftlichen Aufzeichnungen fehlen. Zehn Jahre lang hatten sich russische Soldaten im Rollett-Museum eingelagert. Fast alle Unterlagen des Stadtarchivs, die man aus Sicherheitsgründen zum Ende des Krieges in die Kellergewölbe geschafft hatte, fielen in dieser Zeit einem Wasserschaden zum Opfer – wohl auch Material von Schuldes698. Julius Schuldes kam am 2. März 1849 in Hettau, dem heutigen slowakischen Bilin, zur Welt. Um nicht das Schicksal seines Vaters zu erleiden – er war als kleiner Beamter an das Bezirksgericht im provinziellen Tetschen versetzt worden – nahm ihn sein Onkel als 10-jähriger auf und schickte ihn ans Brünner Piaristen-Gymnasium. Nach dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 absolviert er einen Staatslehrkurs für Telegraphie in Prag und kam zur Weiterbildung in die Grenz-Telegrafenstation Bodenbach, von wo er aus personellen Gründen nach Karlsbad versetzt wurde, um den dortigen Telegrafen zu unterstützen. Über Pilsen kam er 1869 nach Prag, das er jedoch bald wieder verlassen musste: der Deutschböhme Schuldes weigerte sich, tschechisch zu lernen und versah tschechische Telegrammtexte bei der Übertragung ins lateinische Morsealphabet nicht mit Häkchen und Akzenten699. Aus Prag wurde Schuldes 1871 nach Wien versetzt, wo sein Leben eine „unvermutete folgenschwere Wendung“ nahm700. Im „Helios Geselligkeitsverein“ lernte er die 18-jährige Eugenie Ebenhöh kennen, die er am 28. Mai 1873 „in aller Stille“ zum Traualtar führte. In seinen Erinnerungen beschreibt Schuldes die Zeit mit Eugenie, die am 21. Juni 1923, kurz nach der Goldhochzeit, starb: „Ich will mein Familienleben nicht – das karge Glück und die qual-
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Schuldes, Julius, Briefwechsel mit Max Fenichel, Archiv der Stadt Baden Drei runde Stempelabdrücke auf der Rückseite eines Telegrammformulars, „MAYERLING 1.2.89“, beschrieben von Heinz Halbritter in „Die Briefmarke“, Nr. 8/August 1990, und eingestuft als Unikat. Darüber hinaus gab es noch einen ovalen Stempel mit der Aufschrift „K.K. HOF-TELEGRAFENSTATION MAYERLING“ 697 Text des Umschlages: „Über seine persönliche Verfügung darf der Inhalt dieses Pakets erst 50 Jahre nach seinem Tode, frühestens also am 1. Jänner 1985 veröffentlicht werden“. 698 Dr. med. Gerd Holler an den Verfasser, Baden 06.09.1991 699 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden 700 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden 696
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vollen Enttäuschungen meines Lebens in allen Einzelheiten – noch einmal durchleben. Fünfzig Jahre haben wir bei an dieser Last des Schicksals und zum Teil unserer eigenen Schuld getragen“. Nach dem Tode des erst zweijährigen Sohnes Erwin 1876 zog sich Eugenie immer mehr von ihrem Mann zurück und verfiel einem „Herz- und Nervenleiden“. Einzig Besuche im Theater, kleinere Gesellschaften und der enge Kontakt zu Hans Makarts weiter Frau und Witwe, der gesellschaftlich nicht akzeptierten Primaballerina Bertha Linda, hielten ihre Interessen und ihren Geist wach. Auf dem Krankenlager jedoch verfasste sie Gedichte und stellte sogar ein französisches Vokabelheft zusammen, um die Sprachkenntnisse ihres Mannes zu erweitern. Die erloschene Liebe scheint nur einseitig gewesen zu sein... Julius Schuldes hingegen bedauerte immer wieder die Teilnahmslosigkeit seiner Frau und ihr Desinteresse an seinen Hobbies, dem Reisen, der Schifffahrt und dem Zeichnen von Grundrissen und Gebäuden. „So ergab sich dann schließlich eine Kette von Ursachen, aus welchen unsere ungleichen Neigungen und Lebensansichten uns allmählich unmerklich immer mehr auseinander führten und wir entfremdet nebeneinander hergingen, ohne das Glück zu finden“701. Im Jahr der Wiener Weltausstellung wechselte Schuldes erneut seine Stellung. Statt seiner Berufung als Dichter zu folgen, ergab er sich seinem Schicksal und ließ sich als Telegraf in eine sächsische Grenzstadt versetzen – nach Tetschen an die Elbe, wo schon sein Vater gearbeitet hatte. Doch dort fand er bald Gelegenheit, seinen literarischen Vorlieben nachzugehen: Für die zweimal pro Woche erscheinende Stadtzeitung schrieb er Leitartikel, Theaterkritiken und Berichte. Schließlich wurde er für die in Prag erscheinende deutsche Zeitung „Bohemia“ und andere „deutsche“ Parteiblätter tätig, verfasste – teilweise auch unter seinem Pseudonym Julius Hettauer – ein Reisehandbuch, eine Sammlung von Volkssagen und einen Epos702. Doch schon bald ermüdete ihn das journalistische Tagesgeschäft und die Tag für Tag gleiche Arbeit im Telegrafenamt und er suchte nach einer Herausforderung, denn „der Pegasus wiehert ungeduldig“. In Folge des preußischfranzösischen Krieges verließ die Familie Tetschen und zog nach Wien. Seinem Vorbild Walter von der Vogelweide gleich zog es Julius Schuldes an den Kaiserhof: er versuchte, dem Hoftelegrafenamt zugeteilt zu werden. Der Zufall half ihm: Schuldes Schwiegermutter war eine Jugendfreundin des ungarischen Kabinettsrates Baron Pápy, und sollte seine Fürsprecherin bei Hofe werden. Nach einiger Zeit – und dem Tod eines Kollegen – wurde Schuldes tatsächlich in den Staatsdienst übernommen und wurde zur weiteren Ausbildung zwei erfahrenen Telegrafen des kronprinzlichen Hofstaates in Laxenburg zugeteilt. Fortan wohnte Schuldes mit seiner Frau im Sommer im sogenannten „Uhlenfelder Haus“, einer Villa im Laxenburger Schlosspark, in der sich auch das Telegrafenamt befand. Ständig pendelte er nun zwischen den Höfen in Wien und Laxenburg, bis 1887 seine Zuteilung zum „temporären Telegrafenamt“ nahe des neuen Jagdschlosses in Mayerling ausgesprochen wurde. „So wurde Mayerling sozusagen meine ausschließliche dienstliche Domäne“703. Dass Schuldes im Telegrafenamt im Erdgeschoss des Coburger Schlössels in Mayerling nicht nur den Telegrafendienst versah, bestätigt ein Erlass der „K.k. Post & Telegrafen-Direction für Österreich unter der Enns“ von November 1888704, in dem von einem zeitlich eingeschränkten „Postamt Mayerling mit Brief- und Fahrpost-Auf- und 701
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden „Taschenbuch für Touristen durch die böhmische Schweiz“, Tetschen 1879; „Nordböhmische Volkssagen in ihrer Bedeutung für die germanische Mythologie und die Geschichte des Landes“, Tetschen 1879; „Iduna – Gedichte“, Tetschen 1883. Alle drei Bücher erschienen im Verlag des Tetschener Chefredakteurs Stopp. 703 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden 704 Erlass-Nr.39941 ex 1888 vom 24.11.1888 702
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Abgabe-Dienst“ die Rede ist. Hiervon zeugt auch die Stempelprobe im Rollett-Museum. Da jedoch alle Briefe des Kaiserhauses Portofrei zugestellt wurden, der Kontakt des Hofes und der Gutsverwaltung mit Wien hauptsächlich telegrafisch erfolgte und die wenigen Einwohner des Ortes kaum von der Existenz dieses nur an wenigen Tagen – nämlich immer wenn der Kronprinz in Mayerling weilte – geöffneten Amtes wussten, dürfte der Stempel für die „gefassten Postwertzeichen“ äußerst selten, wenn überhaupt, genutzt worden sein705. Zeit und Gelegenheit dazu gab es nur wenig: Schuldes Postamt öffnete erstmals im November 1888 und schloss am 9. Februar 1889 den Schalter. In Folge versah ab Oktober 1890 die Post- und Telegrafen-Expeditorin Wilhelmine Kaiser aus Alland auch für Mayerling den Telegrafendienst706. Nach dem unerwarteten Tod des Kronprinzen wurde Julius Schuldes zunächst übergangsweise Kronprinzessin-Witwe Stephanie in Laxenburg zugeteilt. Als der Hofstaat des Kronprinzen jedoch aufgelöst und entschädigt wurde, änderte sich das Leben des hochdekorierten Telegrafen. Schuldes wurde zunächst Kassierer, dann Kontrolleur und zuletzt Abteilungsleiter im Wiener Haupttelegrafenamt. Im Frühjahr 1897 kam er als Telegraf in das Außenamt Lainz. Der Grund: Kaiserin Elisabeth weilte für längere Zeit in Wien und Schuldes hatte nun in der „Waldeinsamkeit“ des Tiergartens seinen Dienst zu versehen. Mit Episoden aus dem Leben der Kaiserin, das Schuldes knapp ein Jahr verfolgen konnte, enden seine persönlichen Aufzeichnungen. Wahrscheinlich bis 1919 lebte Schuldes in Wien (19. Bezirk), und zog dann in die Pergerstraße 14 nach Ba707
den . Beim Bau-Departement der Verwaltung des Hofärars I, dem früheren Obersthofmeisteramt, fragte zu diesem Zeitpunkt der Regierungsrat an, ob man ihm in einem ehemaligen Hofgebäude in Baden eine „angemessene“ 2- oder 3-Zimmer-Wohung zur Verfügung zu stellen. Um 1920 erschien dann als Sonderdruck sein deutsch-nationales Heft „Zur Geschichte des Verfalls der Literatur“. Julius Schuldes starb am 6. Dezember 1935708 in Baden und wurde auf dem städtischen Friedhof in Baden beigesetzt.
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Heinz Halbritter in „Die Briefmarke“, Nr. 8/August 1990 GDpff 9/1 No. 3794 vom 14.08.1891 707 Unter dieser Adresse war auch Schuldes Frau Eugenie 1923 gestorben 708 Sterbebuch der St. Stephan-Pfarre Baden, tom. XXX f. 207 706
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeugen L: Szögyény-Marich
„Sie kennen eben alle diese Schwierigkeiten so genau, dass ich mich ganz Ihrem Urteil fügen will.“
Kronprinz Rudolf an Ladislaus Szögyény-Marich Wien, 17.12.1887
„Als 1886 der Kaiser seinen Außenminister Graf Kálnoky709 beauftragte, den Kronprinzen über die Außenpolitik zu informieren, kam Rudolf in ständige Verbindung mit dem Ersten Sektionschef des Ministeriums des kaiserlichen Hauses und des Äußeren710, Ladislaus von Szögyény-Marich711, der als „Honvédposten712“ am Ballhausplatz die Interessen Ungarn vertrat. Zwanzig Jahre älter als Rudolf713, wurde er diesem ein väterlicher Freund und Berater.714“ Wer war dieser Ungarn, den Rudolf testamentarisch715 mit der Sichtung seines Schreibtisches und damit seines schriftlichen Nachlasses beauftragte716? 709
Kalnocky von Köröspatak (auch: Kálnoky von Köröspatak), Gustav Sigmund Graf, geb. 29.12.1832 in Lettowitz/Letovice, Tschechische Republik, gest.13.02.1898 in Prödlitz/Brodek u Prostějova, Tschechische Republik; Staatsmann und Diplomat. 1874 Gesandter in Kopenhagen, 1880 Botschafter in St. Petersburg, vom 20.11.1881 bis 16.05.1895 längster amtierender k.u.k. Außenminister unter Kaiser Franz Joseph; war maßgeblich am Abschluss des Dreierbundes (Österreich-Ungarn, Italien, Deutsches Reich) beteiligt; vermittelte zwischen den Balkanstaaten und Mitteleuropa in der Bulgarienkrise und der "Battenbergaffäre" 188587. Vorgänger: Heinrich Freiherr von Haymerle (1879-1881) bzw. Josef von Szlavy (12. bis 20.11.1881); Nachfolger: Agenor Graf Goluchowski von Goluchovo (1895-1906). 710 richtig für die Zeit von 1848 bis 1918: „I. K.u.K.Ministerium des kaiserlichen Hauses und des Äußeren“ 711 richtig: Ladislaus Szögyény-Marich von Magyarszögyén und Szolgaegyháza jun., seit 17.04. 1910 Graf; Hamann schreibt durchgehend falsch „Szögyenyi-Marich“ 712 Judtmann bringt hier ein Zitat aus einem Leitartikel des „Neuen Wiener Tagblattes“ vom 03.05.1883, in dem der Sektionschef als „Honvédposten am Ballplatz“ bezeichnet wird; nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, InselVerlag, Leipzig 1928 713 richtig müsste es heißen, „18 Jahre älter als Rudolf“. 714 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 715 Zweites Testament vom 02.03.1887, hinterlegt am 03.03.1887 im Obersthofmarschallamt in Anwesenheit von Kanzleidirektor Dr. Rudolf Kubasek, Protokollführer Hugo Ritter Imhof von Geißlinghof und Heinrich Ritter von Spindler, dem Leiter des kronprinzlichen Sekretariates; darin beauftragt Rudolf Szögyény ohne dessen Wissen, er möge gemeinsam mir Kronprinzessin Stephanie seinen Schreibtisch öffnen. In seinem Kodizill von 1889 korrigiert er dies dahingehend, dass Szögyény-Marich allein den Schreibtisch zu sichten habe. 716 Ludwig Freiherr von Flotow beschreibt Ladislaus Szögyény-Marich als „schwarzgelben Ungar“ („Bécsi Magyar“), der das Deutsche mit übertrieben starkem ungarischen Akzent sprach, „damit seinen eigenen Landsleuten gegenüber jeder Zweifel an seinem reinen Ungartum vorwegzunehmen“ sei; trotz aller „staatsmännischer Intelligenz, zielbewusster Arbeit, rascher Auffassung, ruhigem Urteil“ arbeitete der Botschafter jedoch getreu der Devise „Pro me“ und suchte in allem lediglich seinen Nutzen; in Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 115
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László Szögyény-Marich wurde am 21. November 1840717 in Wien als ältestes von sechs Geschwistern geboren718. Nach standesgemäßer Ausbildung arbeitete er ab 1861 zunächst als Vizenotär im Weißenburger Komitat719, ab 1863 als Praktikant bei der königlichen Tafel in Budapest. 1865 wurde er zum Stuhlrichter im Weißenburger Komitat ernannt und zwischen 1867 und 1869 war er als Obernotär erneut im Weißenburger Komitat tätig. Der Ungar war mittelgroß, gut gebaut, hatte ein hübsches, markantes, recht magyarisches Gesicht mit scharf blickenden Augen und „stark gefärbtes“ dunkles Haar. „Die deutsche Sprache beherrschte er vollkommen in Wort und Schrift.720“ Nach Jahren des Sturm und Drangs soll ihn die Hochzeit „in ernstere Bahnen“ zurückgeführt haben. Im Alter galt der „geistreiche und ausgezeichnete Diplomat“ als „ein liebenswürdiger Ungar als Stils“. Täglich lud seine Gattin zum Tee in die Berliner Botschaft ein, der im Arbeitszimmer des Gesandten stattfand, was ihn „absolut nicht störte721“. Zuweilen fegte auch „eine Schar kläffender Dackel“ durch die Salons. Von 1869 bis 1882 war Szögyény-Marich Abgeordneter im ungarischen Reichstag. Am 15. Juni seine Berufung zum 2. Sektionschef im Ministerium des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußeren722. Als 1. Sektionschef war zu diesem Zeitpunkt der Berufsdiplomat Ladislaus Graf Hoyos tätig. Schon nach kurzer Zeit schien Szögyény-Marich die Arbeit neben Hoyos nicht mehr möglich zu sein, so dass er Außenminister Kálnoky um dessen Position bat. Kálnoky stimmt zu und ab dem 2. Mai 1883 bekleidete er die Position des 1. Sektionschefs723, während Hoyos als Botschafter nach Paris gesandt wurde724. Nach den Ereignissen von Mayerling wurde Szögyény-Marich am 24. Dezember 1890 im Kabinett des Grafen Julius Szápáry zum königlich ungarischen Minister am Allerhöchsten Hoflager berufen725 und zog am 29. Dezember als Mitglied der Magnatentafel in den ungarischen Reichstag ein. Als außerordentlicher und bevollmächtigter k.u.k. Botschafter sandte ihn der damals in Gödöllö weilende Kaiser Franz Joseph I. mit Entscheidung vom 24. Oktober 1892 als Nachfolger des dritten am kaiserlich deutschen und königlich preußischen Hof akkreditierten Botschafters Emmerich Graf Széchényi von Sarva-Felsövidek726 nach Berlin, wo er am 12. November – dem Tag der offiziellen Übernahme der Amtsgeschäfte – von Kaiser Wilhelm in Audienz emp-
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bei Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003, jedoch 12.11.1841 718 Vater Ladislaus von Szögyény-Marich von Magyarszögyén und Szolgaegyháza, geb. 02.01.1804 in Pest, gest. 19.11.1893 in Székesfehérvár, beigesetzt in der Familiengruft in Csór; wirklicher geheimer Rat, k.u.k. Kämmerer, Reichsrichter (Judex Curiae) und Richter an der königlichen Kurie, Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies, Träger des Großkreuz des kaiserlichen österr. Leopoldordens, Commendator des St. Stephanordens, Mitglied des Direktionsausschusses der ung. Akademie der Wissenschaften, Hofkanzler von Ungarn, Obergespan des Komitates Fejér, Präsident des Magnatenhauses. Mutter Maria Szögyény-Marich von Magyarszögyén und Szolgaegyháza, geborene Marich von Szolgaegyháza, Sternkreuzordensdame, geb. 11.05.1815 in Székesfehérvár, gest. 08.02.1890 in Székesfehérvár, beigesetzt in der Familiengruft in Csór. 719 Komitat = ung. Verwaltungsbezirk; Weißenburg = Szekesfehervar 720 Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 721 Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003 722 Das Ministerium bestand zunächst aus zwei, ab 1913 dann aus drei Sektionen. Die II. Sektion bestand aus 10 Departements und umfasste Kaiserhaus, Protokoll, Wirtschaft, Konsularwesen und Verwaltung 723 Zum 2. Sektionschef wurde Marius Freiherr von Pasetti-Friedenburg ernannt. Die 1. Sektion umfasste vier Referate (1: Deutschland, 2: Russland und Orient, 3: Frankreich, Großbritannien, Italien und andere europäische Staaten und 4: alle anderen Staaten). Heute (2003) besteht die Politische Sektion aus 10 Abteilungen mit 15 Referaten (nach: Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003) 724 Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 725 er residierte damals in der ehemaligen ungarischen Hofkanzlei (2003: Ungarische Botschaft, 1010 Wien, Bankgasse 4). 726 Széchényi von Sarva-Felsövidek, Emmerich Graf (geb. 15.02.1825 in Wien, gest. 11.03.1898 in Budapest), k.u.k. Botschafter am kaiserlich deutschen Hofe vom 27.12.1878 bis 23.10.1892. Seine Vorgänger: Ferdinand Graf Trautmannsdorf (ernannt und sistiert am 03.11.1878) sowie Alois Graf Karolyi und Nagy-Karolyi (Botschafter vom 10.12.1871 bis 03.11.1878) 116
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fangen wurde727. Fortan bestand ein reger Austausch mit dem deutschen Herrscher, der weit über die Amtsgeschäfte und die jährlichen, einstündigen Zusammenkünfte zur Erinnerung an den Tod des Kronprinzen in der erst im April 1889 im „Palais Ratibor“ an der Moltkestraße 3 eingerichteten österreichischen Botschaft728 hinausging729. Kaiser Wilhelm weilte auch der Hochzeit von Szögyény-Marich´ s Tochter Camilla mit dem Attaché Josef Graf von Somssich in der katholischen Kirche von Berlin-Moabit und dem folgenden Hochzeitsessen bei730. Als Szögyény als Botschafter aus Berlin abberufen wurde, schrieb der deutsche Kaiser an seinen österreichischen „Vetter, Bruder und Freund“: „Eure K.u.k. Majestät wissen, wie gut Graf Szögyenyi verstanden hat, sich mein volles Vertrauen und Meine Anerkennung zu erwerben und wie hoch ich seine ausgezeichneten persönlichen Eigenschaften und seine Verdienste um die Pflege der deutschen und österreichisch-ungarischen Bundesfreundschaft bewerte. Umso lebhafter bedauere Ich, ihn jetzt aus seinem hiesigen erfolgreichen Wirkungskreis scheiden zu sehen.731“ Kaiser Franz Joseph I. erhob Szögyény-Marich am 17. April 1910 in den Grafenstand, rief den 73-jährigen jedoch am 4. August 1914 aus Berlin ab732. Als Pension erhielt er jährlich 20.000 Kreuzer, rund 70.000 Euro, und als Dank das Großkreuz des St. Stephansordens mit Brillanten. Hintergrund für den Machtwechsel an der Spree: Nachdem 42 Jahre lang drei Botschafter mit ungarischer Muttersprache den multinationalen Charakter der Donaumonarchie in Berlin wieder spiegelten, wurde mit dem ehemaligen Offizier und seit 1907 Gatten der Erzherzogin Henriette, Gottfried Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst733, angesichts des zwischenzeitlich an mehreren Fronten lodernden Krieges erstmals ein Diplomat deutscher Muttersprache zum k.u.k. Botschafter im verbündeten Deutschen Reich bestellt. Aus der 1884 mit der Palastdame Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Elisabeth, Irma Baronin Geramb734, geschlossenen Ehe entstammen die drei Töchter, in Berlin nur „die wilden Pußtamädchen735“ genannt - Camilla736,
727
Mit gleicher Entscheidung wurde der Ungar zum Gesandten bei den großherzoglichen Höfen von Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg und Braunschweig ernannt. Sein Gehalt belief sich auf jährlich 8.400 Gulden plus Funktionszulage von 43.400 Gulden sowie weitere 4.200 Gulden für die Tätigkeit als Gesandter bei den anderen Höfen = gesamt 56.000 Gulden (2003 ca. 500.000 Euro). Hinzu kam eine Übersiedlungspauschale von 10.000 Gulden (2003 ca. 90.000 Euro). Für seine Tätigkeit als Gesandter bei den Senaten der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck – ab 05.03.1893 – bezog er kein Gehalt. Als mit Einführung der Kronen-Währung am 01.01.1900 das Gehalt neu Bemessen wurde, erhielt er fortan komplett 135.701 Kronen (2003 rund 600.000 Euro). 728 Die Botschaft war in erworbenen dem „Palais Ratibor“ untergebracht, das 1890/91 rückwärtig zum Kronprinzenufer 4 um ein Kanzleigebäude erweitert wurde, und beschäftigte neben dem Botschafter zwei Legationsräte, einen Legationssekretär, einen Kanzleirat und einen Militärbevollmächtigten. 729 Ludwig Freiherr von Flotow beschreibt in seinen Erinnerungen das Verhältnis von Kaiser Wilhelm und Ladislaus SzögyényMarich detailliert und spricht gar von einem Vertrauensverhältnis zwischen dem preußischen Herrscher und dem Diplomaten; in: Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 730 Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 731 zitiert bei Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003 732 Bereits am 13.06.1914 war Szögyenyi angewiesen worden, seine Ablösung zu betreiben. Sein Enthebungsersuchen erreichte den österreichischen Außenminister, Leopold Graf Berchtold, am 27.07.1914 und wurde dem Kaiser im Vortrag am 01.08.1914 unterbreitet. 733 Hohenlohe-Schillingsfürst, Gottfried Prinz zu (geb. 08.11.1867 in Wien, gest. 07.11.1932 in Wien), k.u.k. Botschafter am kaiserlich deutschen Hof vom 04.08.1914 bis 14.11.1918 734 Irma Baronin von Geramb, geb. 11.01.1850, gestorben 02.10.1926 in Csór. Nach Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 war die Botschafterin „viel leidend und beinahe ganz taub“. 735 nach Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 736 Camilla Gräfin von Szögyény-Marich, gest. 1966 in St. Georgen/Attergau (A), verheiratet mit Josef Graf von Somssich; Trauzeuge des Paares war u.a. Otto von Bismarck. 117
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Maria737 und Lilly738. Ein Sohn starb im Kindesalter an Scharlach739. Die Familie verbrachte während der Berliner Zeit die Urlaube in der Regel an der See und lebte außerhalb Preußens meist auf den knapp 20 Hektar großen ungarischen Besitzungen in Csór, wo sich das Familienschloss befand740. Ladislaus Graf Szögyény-Marich von Magyar-Szögyén und Szolgaegyháza starb am 11. Juni 1916 mit 75 Jahren auf seinem Landsitz und wird in der Familiengruft auf dem Friedhof von Csór beigesetzt741. Die Witwe erhält eine Pension von 6.000 Gulden, die der Kaiser jedoch nach einem Ansuchen der Gräfin am 6. Juli 1916 um eine zusätzliche Gnadenpension in Höhe von 2.000 Kronen jährlich erhöht742. Rudolf korrespondierte mit Szögyény-Marich bereits seit 1884, doch engeren Kontakt gab es wohl erst ab 1886, als der Sektionschef auf Wunsch des Kaisers den Erzherzog mit der österreichischen Außenpolitik näher vertraut macht. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen dem Kronprinzen und dem um 14 Jahre älteren Sektionschef, die in zahlreichen – von Rudolf meist schmeichelnd auf Ungarisch verfassten – Briefen manifestiert ist. Bereits 1887 betraute ihn Rudolf – ohne Rücksprache oder späterer Information – testamentarisch mit der Sichtung seines Nachlasses. Dass dies nur auf Freundschaft fußte, kommentierte Gräfin Festetics mit Blick auf den Abschiedsbrief so: „Nicht dass Szögyény ihm so nahe gestanden wäre, aber er wählte jemanden, der von dem Hofgetriebe etwas abseits stand und an den der Brief bestimmt kommen musste.743“ Rudolf hatte Szögyény-Marich dennoch in den Direktionsrat des von ihm initiierten Kronprinzenwerkes „Die Österreich-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ berufen, wo der Ungar „die Oberleitung der die ungarische Reichshälfte betreffenden Arbeiten übertragen worden war744“. Dort nahm er nach dem Tod des Erzherzogs auch dessen Platz als Vorsitzender des Direktionsrates ein. Rudolf suchte bei dem ungarischen Freund Rat und Hilfe – so etwa bei der Veröffentlichung eines Aufsatzes zur österreichischen Verfassungsgeschichte, den Szögyény-Marich Ende Dezember 1887 zur Korrektur erhielt745. Szögyény-Marich wiederum versuchte, Rudolfs Temperament zu zügeln und ihn dahingehend zu beeinflussen, private Äußerungen zur Politik nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen746. Dass er jedoch – vielleicht unbewusst – zu einem „Doppelagenten“ wurde, übersah der „sonst als vorsichtig und klug beschriebene747“ Sektionschef. War Rudolf einerseits bestrebt, alle Informationen des Sektionschefs begierig aufzusaugen und sich als interessierter, politisch ak737
Maria Gräfin von Szögyény-Marich, verheiratet mit Geza von Somssich; der gemeinsame, später von Camilla adoptiert Sohn Joseph lebte in New York 738 Lilly von Szögyény-Marich, verheiratet mit Graf Chovinsky 739 Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 740 Schloss Csór (rund 320 km von Wien und 90 km von Budapest entfernt an der E66 zwischen Vesprém und Székesfehérvár gelegen) war ein lang gestreckter, zweistöckiger Bau mit großer Parkanlage und einem bronzenen Artemis-Brunnen; 1956 wurde das Schloss gestürmt, die Bibliothek und die Silberkammer geplündert. In den folgenden Jahren wurde der Park aufgelassen und die Brunnen und Teiche zerstört. In das Schlossgebäude, das teilweise umgebaut wurde, zogen später das Rathaus, die Polizei und ein Kinderheim ein. Im Obergeschoss wurden sieben Wohnungen eingerichtet. 741 Die Familie Szögyény-Marich und ihre Nachkommen nutzen nach Franz Graf zu Eltz zwischenzeitlich bis zu drei Grablegen: jene in Csór (wahrscheinlich im Verlauf des Ungarn-Aufstandes 1956 geplündert und geschändet), eine in der Stiftskirche von St. Florian/Oberösterreich (nur für jene Familienmitglieder, die im Winter verstarben) und eine Gruft in der Seminarkirche von Székesfehérvár. 742 Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003 743 Staatsbibliothek Wien, Nachlass Dr. Heinrich Friedjung: „Gespräche mit Marie Festetics“, 06.03.1913 zitiert bei: Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978 744 Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 745 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21; zitiert bei Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, AmaltheaVerlag, Wien 1978 746 Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, Österreich 70 geheim; Wien 19.12.1885; zitiert bei Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978 118
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tiver Erzherzog zu präsentieren, so gab er andererseits offen und eifrig viele Informationen, der er über seine privaten Nachrichtenkanäle erhalten hatte, an den Ungarn weiter. Dieser leitete die Informationen nicht nur an den österreichischen Außenminister Kálnoky weiter – was Rudolf gerne instrumentalisierte –, sondern auch an die deutsche Botschaft in Wien, zu der er die besten Verbindungen hatte. Über diesen Weg erfuhr die Führung des Deutschen Reiches auch von Rudolfs Kontakten zum Franzosen Clemenceau – und die Einstellung zur Politik des jungen Thronfolgers wurde in Berlin noch schlechter748. Einen Verdacht gegen den Ungarn hegte, so Brigitte Hamann, der Kronprinz jedoch nie und lud ihn zwischen Oktober 1887 und Januar 1889 mindestens einmal zur Jagd nach Mayerling ein749. Den Inhalt von Rudolfs Testament und die damit verbundene Aufgabe der Nachlasssichtung erfuhr Ladislaus Szögyény-Marich schriftlich – jedoch erst am 03. Februar 1889 durch Obersthofmarschall Anton Graf Szécsen von Temerin750. Dem Kodizill und Abschiedsbrief folgend – nach den Erinnerungen von Hofsekretär Dr. Heinrich von Slatin jedoch auf Wunsch des Kaisers zusammen mit Hofrat Dr. Rudolf Kubasek751 – hatte er bereits in den Morgenstunden des 31. Januar 1889 das Apartment des Kronprinzen durchsucht. Szögyény-Marich gehörte später auch jener offiziellen Kommission an, die gegen 12 Uhr des gleichen Tages die „letztwilligen Anordnungen Weiland seiner k.u.k. Hoheit des durchl. Herrn Kronprinzen Rudolf“ auffinden sollte752. Dazu heißt es in dem von Slatin verfassten Protokoll: „Zufolge hoher Anordnung verfügte sich die Kommission in das von … Rudolf bewohnt gewesene Appartement in der k.k. Hofburg, um durch Nachforschungen in dem im Arbeitszimmer des Höchstverblichenen befindlichen Schreibtisches die … etwa noch vorhandenen letztwilligen Verfügungen aufzufinden. Nach Eröffnung des Schreibtisches mit dem von dem h. Verblichenen … Szögyény-Marich in einem Brief übersendeten und von diesem mitgebrachten Schlüssel, fanden sich daselbst Schriften politischen und militärischen Inhalts, Privat-Correspondenzen, Aufzeichnungen etc., jedoch keine letztwillige Anordnung. … Die Schlüssel wurden von seiner Exzellenz dem genannten Sektionschef zum Erweis ihres Einschreitens auf dem Boden der untersten Lade rechts in rotem harten Siegelwachs aufgedrückt.“ Die Kommission stellte die Schriften sicher, die in vier Pakete verpackt der Kabinettskanzlei übergeben wurden. Im Februar und März war Szögyény-Marich mit der Sichtung der Pakete beschäftigt – er teilte sie zunächst in 29 Einzelpakete auf und hinterlegte sie als Privatdepot im Ministerium des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußeren. Am 16. November 1910 gingen die Pakete in den Besitz des Archivs über und kamen in das Politische Archiv753. Am 21. September 1914 wurden sie dann dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv übertragen754 und dort in den so genannten geheimen Urkundenkassetten hinterlegt. Die Eröffnung der 29 gesiegelten Pakete erfolgte mit Genehmigung des Bundeskanzleramtes durch Oskar von Mitis im Oktober 1921. Dabei wurde festgestellt, dass zwei Briefe Kaiser Friedrichs und ein Brief der Kaiserinwitwe Viktoria am 26. Januar 1890 von Szögyény-Marich entnommen 747
Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978 Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978 749 Hoftelegraf Julius Schuldes, zitiert bei Holler, Dr. Gerd: „Mayerling - Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988 750 Szécsen von Temerin, Anton Graf, Obersthofmarschall, 1889 Verleihung des kais. preuß. Sonnen- und Löwenordens, Ritter des Ordens vom Gold. Vlies, Kommandeur des königl. ung. Stephan-Ordens, Großkreuz des toskanischen St. Josef-Ordens, gest. 23.08.1896 mit 77 Jahren, Beigesetzt auf dem Ortfriedhof von Markt Aussee 751 Kubasek, Dr. Rudolf, geb. 1838, gest. 1910, verheiratet mit Susanne, geb. Griensteidl (gest. 1929 in Baden/NÖ); Hofrat und Kanzleidirektor des Obersthofmarschallamtes 752 weitere Mitglieder der Kommission waren Hofrat Dr. Theodor Ritter von Westermayer und sein Adjunkt Carl Kuhn (beide Obersthofmeisteramt), Kanzleidirektor Dr. Rudolf Kubasek und Hofsekretär Dr. Heinrich von Slatin als Protokollführer (beide Obersthofmarschallamt) sowie Carl Graf Bombelles und Heinrich Ritter von Spindler. 753 Politisches Archiv, geheim XXVII/3-475 754 Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 748
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und dem Kaiser übergeben worden waren; ein Paket war zudem vollständig verschwunden755. Ferner wurde festgestellt, dass sich auch Briefe und Akten aus dem Nachlass Bombelles in den Paketen befanden – sie dürften nach Ansicht Mitis in der Strebewohnung beschlagnahmt worden sein. Bislang sind nur wenige Quellen bekannt, die Äußerungen des Sektionschefs zum Drama von Mayerling wiedergeben. Im Tagebuch des russischen Außenministers Vladimir Graf Lambsdorf756 wird Szögyény-Marich u.a. zitiert: „Es gibt viele ernste Staatsmänner, die das Unglück ausschließlich politischen Ursachen zuschreiben. Sie meinen, der Kronprinz habe sich durch seine immer mehr und mehr hervortretende Feindseligkeit gegenüber der aktuellen Politik des dermaligen Kabinetts so kompromittiert, seine Stellung zu Kaiser Wilhelm II. und Deutschland habe sich so verschlechtert, eine Umkehr sei so unmöglich geworden, dass er einsehen musste, dass er für sein Vaterland zu einer Quelle ernster Schwierigkeiten und sogar von Gefahren werden würde, falls er fortführe, diesem Wege zu folgen.757“ Eine weitere Aussage liefert der deutsche Botschafter in Wien, Prinz Reuß758, an Fürst Bismarck: „Trotz der genauesten Nachforschung ist es Herrn von Szögyény aber nicht gelungen, auch nur eine Zeile zu finden, welche auf eine sichere Spur hätte führen können. Ebenso wenig wäre etwas zu entdecken gewesen, was auf beginnenden Irrsinn hätte schließen lassen.759“ Loyalität erwies er dem toten Kronprinzen ein weiteres Mal, als er – zusammen mit Freuden und Gefährten – die sieben Fenster der St. Josef-Kapelle in Mayerling stiftete760. Aus dem Nachlass des Kronprinzen erhielt Ladislaus von Szögyény-Marich ein Paar Manschettenknöpfe sowie vier eigenhändige Zeichnungen von Kaiser Franz Joseph I. Dieser hatte sie im Alter von 15 Jahren angefertigt und eigenhändig französisch beschriftet und seinem Sohn Rudolf, der Pferde über alles liebte, zum 15. Geburtstag geschenkt761. Der Nachlass des Botschafters verblieb zunächst im Besitz der Witwe und wurde von der damals in Rom lebenden Tochter Camilla und dem Bruder des Botschafters, Geza von Szögyény-Marich762, verwaltet. Beide gewährten im Jahre 1922 Oskar Freiherr von Mitis Einsicht in die Bestände des Gräflich Szögyény-Marich´schen Archivs in Csór und gaben den umfangreichen Briefwechsel mit dem Erzherzog als Quelle frei. Geza Szögyény-Marich fertigte für Mitis zudem eine Abschrift von Kodizill und Abschiedsbrief des Kronprinzen an, die dieser – ebenso wie die übrigen, entliehenen Briefe – von Dr. Alexander Bischitz übersetzen ließ. Camilla Somssich verweigerte jedoch die Publikationserlaubnis für den letzten Brief, so dass Mitis daraus nur dem Sinn entsprechend zitieren konnte. In der Familie war das Thema Mayerling stets Tabu763. Aus dem Nachlass des Sektionschefs existieren heute nur wenige Objekte, da vieles – darunter auch die umfangreiche Bibliothek – in den turbulenten Wochen des so genannten Ungarn-Aufstandes 1956 in Csór vernichtet
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Zusammen mit dem von Feldmarschall Latour dem Archiv übergebenen Material bildeten die Pakete den Grundstück des Kronprinz Rudolf-Selekts. 756 Lambsdorf, Vladimir Graf; von 1900 bis 1906 russischer Außenminister. Der Bricht von Szögyény-Marich, wie er in einer Audienz beim Kaiser den Abschiedsbrief erhält, ist Lambsdorf nur durch den Bericht des russischen Geschäftsträgers in Wien, Fürst Kantakuzene, bekannt. 757 Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928. Das Zitat bei Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978, ist dem Sinn nach abgeschwächt und in der Wortwahl verändert 758 Reuß, Heinrich VII. Prinz, deutscher Botschafter in Wien von 1878 bis 1894 759 Auswärtiges Amt, Bonn, Österreich 86 Geheime Akten 6.3.1889, zitiert in: Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978. Den vollständigen Text – jedoch mit Datumsangabe vom 08.04.1889 bringt Holler, Dr. Gerd: „Mayerling - Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988 760 Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 761 Die Bilder befinden sich seit Ende des 2. Weltkrieges im Besitz der Familie Rothschild, die diese in London ersteigerte. Die Aquarelle wurden erstmals veröffentlicht in Markus, Georg (Herausgeber): „Der Kaiser. Franz Joseph I. - Bilder und Dokumente“, Amalthea Verlag, Wien 1985. Zusammen mit den Aquarellen ließ die verarmte Gräfin Camilla Somssich auch Kodizill und Abschiedsbrief in London versteigern. 762 Geza von Szögyény-Marich, geb. 1847, gest. 1927 120
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wurde. Das Ungarische Staatsarchiv besitzt zwei Briefe des Kronprinzen aus den Jahren 1884 und 1888764 , die Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek zwei Schreiben an Nikolaus Dumba765 und das Haus-, Hof- und Staatsarchiv den Briefwechsel mit dem Kronprinzen766, die Notizen des Sektionschefs, die dieser während der Nachlasssichtung anfertigte767 und das Manuskript der Memoiren von Ladislaus Szögyény-Marich Senior768. Die Originale der Briefe ließ der Enkel eines Bruders des Botschafters, Franz Graf zu Eltz769, zu Beginn der 50-er Jahren wohl durch den damaligen österreichischen Missionschef in Ungarn, Dr. Karl Braunias, aus Csór nach Wien bringen und übergab sie 1954 als Schenkung dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien770. Jene Ledermappe, in der nach der Überlieferung Kodizill und Abschiedsbrief sowie andere Dinge des Kronprinzen waren, verschenkten Graf zu Eltz im Jahre 1977 an Otto von Habsburg. Eine Bronzebüste des Botschafters von Sandor Járay771 kam als Schenkung vom Franz Graf zu Eltz/Wien und Joseph Somssich/New York 1998 in den Besitz des Auswärtigen Amtes und wurde am 23. September 2003 im Rahmen eines Festaktes in der neuen österreichischen Botschaft an der Stauffenbergstraße 1 in Berlin aufgestellt772.
763
persönliche Mitteilung von Franz Graf zu Eltz, Wien 31.12.1995 Ung. Staatsarchiv Budapest, Collectio Postmohacsiana R 313, Karton 3, Fol. 1-3 765 Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, 458/12-1 vom 06.05.1889 und 458/12-2 vom 03.09.1889 766 Oskar Freiherr von Mitis deponierte seine Abschriften des Briefwechsels 1923 in einem versiegelten Paket im Haus-, Hof- und Staatsarchiv mit dem Hinweis, dass der Inhalt nur mit Bewilligung der Gräfin Camilla Somssich, geb. Szögyény-Marich zu benützen sei (Kurrentakten Zl. 46 ex 1923). Von diesen Briefen fertigte Egon Caesar Conte Corti Abschriften an, die auch Hans Sokol eingesehen hat. 767 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 23 768 Darüber hinaus existiert im HHStaA eine Personalakte über Ladislaus Szögyény-Marich unter AR F 4, K 343, die jedoch bislang von uns nicht eingesehen wurde. 769 Franz Graf zu Eltz, geb. 12.04.1924/Steinamanger, gest. 15.04.1998/Wien, beigesetzt in der Seminarkirche von Székesfehérvár 770 HHStaA Wien, Zl. 1528; die Briefe befinden sich im Karton 23 des Selekts Kronprinz Rudolf (Archivbehelf X/10, S. 8) 771 Bronzebüste von Sandor Jaray, gegossen bei der „Aktiengesellschaft H. Gladenbeck & Sohn“ in Berlin Friedrichshaben, Inhaber Kunstgießer Hermann Gladenbeck (geb. 24.01.1827/Berlin, gest. 11.11.1918/Berlin) 772 Nach Mitteilung von Presserat Georg Schnetzer, Österreichische Botschaft, Berlin 31.03.2003, stand der dortigen Niederlassung zunächst keine Büste zur Verfügung. Die Büste wurde auf Nachfrage des Mayerling-Archives im Lager des Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten in Wien ausfindig gemacht und am Dienstag, 23.09.2003, in Berlin von Botschafter Dr. 764
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeugen M: Hermine, Gabriele und Ernst Tobis
„Ich habe zwei Freundinnen, Sie und Marie Larisch; Sie arbeiten für mein seelisches Glück und Marie für mein moralisches Unglück.“
Mary Vetsera an Hermine Tobis, Wien, Oktober 1888
Über viele Jahre bekamen Mary und Johanna Vetsera in Wien Klavierunterricht bei Hermine Tobis, einer „Vertrauten bis in den Tod“. 1888 erhielt jedoch Hermines Schwester, die Sängerin Gabriele, ein Engagement an die Frankfurter Oper, so dass die Familie Tobis gezwungen war, in Domizil in der Dreihufeisengasse773 9 im 6. Wien Gemeindebezirk Mariahilf aufzugeben und fort zu ziehen. Im fernen Frankfurt wurde aus Marys Vertrauter Hermine – durch zahlreiche Briefe stets mit den neuesten Informationen unterrichtet – eine gut informierte Mitwisserin der Liaison zwischen der jungen Baroness und dem Kronprinzen. Der Vater von Hermine und Gabriele, Josef Tobis774, stammte aus dem Sudetenland und betrieb im 3. Wiener Gemeindebezirk Landstraße als Geschäftsführer seine eigene Porzellanwarenhandlung. In Wien erblickte auch 1876 das „Nesthäkchen“ Ernst das Licht der Welt. Mit der Umsiedlung der Gattin Catharina775, den Töchtern und dem Sohn 1888 an den Main begann der Vater, das Geschäft zu liquidieren, verstarb jedoch unerwartet in Wien im Jahre 1890. Die Familie musste in Frankfurt nun auf eigenen Beinen stehen: Gabriele sang als Koloratursopran an der Frankfurter
Christian Prosl in Anwesenheit von Gräfin Eltz sowie dem Enkel des k.u.k. Botschafters, General Chorinsky nebst Gattin, enthüllt. 773 seit 17.11.1948 Lehargasse/6. Bezirk 774 Josef Tobis, geb. in Schlaggenwald/Böhmen, gest. 1890 in Wien. Vater: Georg Tobis, Porzellanmaler in Schlaggenwald, Mutter: Anna Tobis, geb. Glatz, Großvater: Wemnzel Tobis (1766-1813) 775 Tobis, Catharina (a.a.O. Katharina), geb. Hofmeister, geb. am 08.08.1835 in Purschau/Bezirk Tachau (= Porejov/Westböhmen, heute: Tschechien), gest. am 01.11.1923 in Frankfurt/Main (D). Mutter: Anna Hofmeister. Ob Catharina Tobis in Frankfurt beruflich tätig war, ist nicht bekannt; Catharina Tobis war seit 31. August 1888 in Frankfurt/Main gemeldet, zog am 20.08.1890 nach Mannheim, ist ab 30.09.1899 in Mainz gemeldet und zieht am 01.07.1902 zurück nach Frankfurt. Vom 17. Juni bis 9. September 1916 lebt sie dann erneut in ihrem böhmischen Geburtsort Purschau, siedelt jedoch wieder zurück nach Frankfurt (nach: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 08.03.1996). Ihre Beisetzung erfolgte auf dem Frankfurter Hauptfriedhof Gewann XII Nr. 267; die Grabstätte wurde 1923 durch Gabriele Tobis, wohnhaft Feldbergstraße 23/Frankfurt erworben. In diesem Grab wurden auch Gabriele und Hermine Tobis beigesetzt. Die Grabnutzung endete 1959; danach wurde das Grab abgeräumt und im Jahre 122
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Oper, Hermine fand Anstellung als Klavierlehrerin und Erzieherin bei angesehenen Familien der Stadt und Ernst begann eine Lehre als Ziergärtner im Frankfurter Palmengarten. Wir fassen an dieser Stelle die Informationen zusammen, die wir über die drei Geschwister Tobis recherchieren konnten. Gabriele Tobis776 wird – nach den Angaben ihres Bruders – im Herbst 1888 als Erste Koloratursopranistin an das Frankfurter Opernhaus engagiert777, wo sie Mitte September ihr Debüt als Gilda in Rigoletto hinter sich brachte778. Das Adressbuch der Stadt führt sie 1905 als Klavierlehrerin779. Ebenso wie ihre Schwester war sie in Wien bei Fräulein Hermine Granichstaedten780 ausgebildet worden. Um 1887 scheint Mary Vetsera von Gabrieles Engagement gehört zu haben, denn schreibt ihr: „Meine liebe alte Gabi – meine innigsten Wünsche für ihren neuen, es hat mich riesig gefreut zu erfahren das sie engagiert, auch Mama hat sich sehr gefreut und wünscht Ihnen viel Glück.781“ Am 12. September 1889 verzieht Gabriele Tobis zunächst nach Aachen, am 20. August 1890 nach Mannheim und am 1. Juli 1902 zurück zu ihrer Mutter nach Frankfurt, die in der Fahlbergstraße 28 bei Arnold wohnt. Wir vermuten, dass dies in Zusammenhang steht mit noch nicht bestätigten Engagements. Die Frankfurter Meldekarte der Familie Tobis besagt, dass Gabriele „seit 1913 ohne Beruf“ gewesen sei782. Gabriele Tobis, „eine Seele von Mensch“, war zweifellos die „Lieblingsschwester“ von Ernst, über die er auch viel erzählte783. Hermine Tobis784 ist in Frankfurt zunächst als Klavierlehrerin und Erzieherin tätig. Mary Vetsera nahm in Wien bei ihr Klavierunterricht; sie war es auch, die Marys stimmliche Begabung entdeckte785 und sie an Hermine Granichstaedten verwies. Den Briefwechsel der vom Kronprinzen schwärmenden Vetsera mit der Vertrauten in Frankfurt kennen wir hauptsächlich aus Zitaten in der so genannten „Denkschrift“ der Baronin. Mary sandte gar im Dezember 1888 die Abschrift eines Liebesbriefes von Rudolf an Hermine786 und berichtete auch von den erzherzoglichen Liebegaben: einem Armband mit Steinen, einem einfachen Medaillon und dem eisernen Ehering mit der Gravur „I.L.V.B.I.D.T.“ (In Liebe vereint bis in den Tod)787. In ihren stets prompten Antwortbriefen gab Hermine Tobis dem Backfisch in Wien zahlreiche Ratschläge, so zum Beispiel, sich von der Liebe zum Kronprinzen frei zu machen – nicht nur aus Rücksicht auf die eigene Familie, sondern auch auf den Stand des Erzherzogs. Zuletzt forderte Hermine Mary in ihren Neujahrswünschen 1889 auf, „die
1964 an andere Nutzungsberechtigte abgegeben; freundliche Mitteilung des Garten und Friedhofsamtes der Stadt Frankfurt, Frankfurt/Main 22.04.1997 776 Tobis, Gabriele, geb. am 19.01.1863, gest. am 02.12.1932 in Frankfurt/Main, zuletzt wohnhaft in der Feldbergstr. 28; beigesetzt auf dem Hauptfriedhof 777 Eine Personalakte der Gabriele Tobis als Mitglied des Ensembles der Frankfurter Oper ist nicht nachweisbar; freundliche Mitteilung von Volker Harms-Ziegler, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 20.12.1996 778 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 779 freundliche Mitteilung von Volker Harms-Ziegler, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 20.12.1996 780 Nach Marys Tode hatte Hermine Granichstaedten Kontakt zur Baronin Vetsera gesucht und ihr von den letzten Gesangsstunden ihrer Tochter berichtet – dort hatte sie sich einen recht düsteren Text ausgesucht, der wohl ihr momentanes Gefühlsleben im Januar 1889 wiedergab; zitiert ist der Liedtext in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 781 eigenhändiger Brief der Mary Vetsera, ohne Ort, ohne Datum, wahrscheinlich um 1887 an Gabriele Tobis; Mayerling-Archiv 782 Meldekarte im Archiv des Instituts für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main. 783 Seifert, Wolfgang: „Patty Frank – der Zirkus, die Indianer, das Karl-May-Museum“, Karl May Verlag , Bamberg 1998; zudem freundliche Mitteilung von Wolfgang Seifert an den Verfasser, Berlin 13.05.2003 784 Tobis, Hermine, geb. 13.11.1865, gest. 29.06.1929 in Frankfurt/Main, zuletzt wohnhaft in der Schwindstr. 19.; beigesetzt auf dem Hauptfriedhof 785 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 786 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 787 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980 123
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Unmöglichkeit ihrer Beziehung zum Kronprinzen doch einzusehen und die momentane Gegebenheit doch für eine Beendigung ihrer gefährlichen Affäre zu nützen.788“ Der gute Rat machte Mary wohl erstmals schwankend, denn Hermine teilte der Mutter später mit, Mary habe mit dem Kronprinzen gesprochen, könne aber ihre Liebe nicht unterbinden, da „Rudolf sich unglücklich fühle“789. In einem letzten, wichtigen Brief vom 13. oder 14. Januar 1889 berichtet Mary ihrer Freundin: „Wir haben beide den Kopf verloren. Jetzt gehören wir uns mit Leib und Seele an.790“ Dieses Geständnis zeigt einmal mehr, dass Hermine Tobis mit Mary „sehr befreundet“ war – und auch nach den Ereignissen von Mayerling stand sie lange mit der Baronin in Verbindung791. Hatte es Hermine selbst nie gewagt, aus Frankfurt der Mutter einen Hinweis auf die Affäre zu geben – zumal sie Mary am Ende jedes Briefes unter Schweigepflicht nahm, „denn wenn Mama darauf käme, dann würden sie beide an einem Ort, den niemand weiß, nach einigen glücklichen Stunden sich gemeinsam den Tod geben.792“ – so stellte sie nach dem 30. Januar 1889 erschüttert der Baronin ihren Briefwechsel zur Verfügung. Johanna Vetsera schrieb für Hermine Tobis die Denkschrift ihrer Mutter im Juli 1889 ab fügte die im Druck weg gelassenen zwei weitere Geldforderungen der Gräfin Larisch an den Kronprinzen wieder ein793. Nach Hermines Tod wurde die Denkschrift von ihrer Schwester Gabriele an Ferdinande Vetsera zurückgegeben794. 1893 besuchte die Schwägerin von Marys Onkel Heinrich Baltazzi, Serafina Gräfin Rainer von Harbach, geb. Scharschmid von Adlertreu, Hermine Tobis in Frankfurt auf – nach ihrer Überlieferung soll die Musikerin und Pädagogin „ein überaus sympathisches Wesen“ gehabt haben795. Ein Nachlass der Schwestern ist bislang nicht bekannt796. Ernst Tobis797 wurde am 19. Januar 1876 in Wien geboren. Bereits mit zehn Jahren begeisterte der sich nach einem Besuch der Wiener Rotunde für Indianer – wahrscheinlich besuchte er auch 1885 im Circus Eduard Wulff „Carl Hagenbeck´s Singhalesen-Karawane“ und 1886 in der Menagerie A. Bach die dort auftretenden „Rothäute“798. Ein Jahr später, zwischen Januar und September 1887, las Ernst in „Der Gute Kamerad - Spemanns Illustrierten KnabenZeitung“, den 39-teiligen Fortsetzungsroman „Der Sohn des Bärenjägers“ über den Bärenjäger Baumann und lernte so das Werk des Schriftstellers Karl May799 kennen. Fortan wollte er das Leben der Indianer selbst erkunden und wollte
788 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 789 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 790 Johanna Vetseras Abschrift der „Denkschrift“, zitiert in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 791 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 792 Johanna Vetseras Abschrift der „Denkschrift“, zitiert in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 793 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 794 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 795 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983 796 Im Nachlass dürften sich die Originale des Briefwechsels mit Mary Vetsera und die Denkschrift nach Johanna Vetseras Abschrift befunden haben, die in den Besitz der Baronin Nancy Vetsera und so ins Archiv des Hermann Swistun-Schwanzer kam. Hermann Swistun-Schwanzer will zu Beginn der 80-er Jahre in München mit einer „angeheirateten Nichte“ der Geschwister Tobis in Kontakt getreten sein. Sie berichtete, dass die Freundschaft der beiden Frauen in der Familie bekannt gewesen sei und dass es noch längere Zeit Kontakte zur Baronin Vetsera gegeben haben soll. Von Interesse ist unser Hinweis, dass die Schwestern unverheiratet blieben und Bruder Ernst, der erst 1941 heiratete, ebenfalls keine Kinder hatte. 797 Tobis, Ernst, geb. am 19.01.1876 in Wien, getauft am 02.02.1876, gest. 23.08.1959 in Radebeul/D (damals: DDR). Das Kind wurde unter dem Namen „Ernest Johann Franz Tobis“ in das Geburts- und Taufregister der Pfarre St. Josef ob der Laimgrube, Wien 6, eingetragen. Als Taufpaten fungierten Lederwarenfabrikant Johann Hofmeister/Paris und der Beamte der Fürsorge, Johann Kaihe (?) 798 „20 Jahre österreichisches Circus- und Clownmuseum“, Broschüre im Selbstverlag des Circus- und Clownmuseums, Wien 1988 799 May, Karl, geb. am 25.02.1842 in Ernstthal/Sachsen, gest. am 30.03.1912 in Radebeul/Sachsen. 124
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im Alter von 14 Jahren Seemann werden. Der frühe Tod des Vaters und Förderers des Marine-Traumes machte die Pläne zunichte und Ernst begann mit seiner Lehre. Als 1890 aus Wien kommend mit „200 Indianern“ im Frankfurter Palmengarten Oberst William Frederick Cody800 mit „Buffalo Bill´s Wild West“-Show gastierte, verließ er über Nach die Familie und bewarb sich für sechs Monate als Stalljunge. Als Cody die Stadt verließ, um ab Mitte Mai 1891 mit (doch nur) 91 Indianers, 18 Büffeln und 180 Pferden in Dortmund zu gastieren, blieb Ernst in Frankfurt zurück und beendete seine dreijährige Lehre. Das Abschiedsgeschenk der Sioux aus der Buffalo Bill-Truppe, ein paar alte Mokassins, bildet den Grundstock seiner späteren Sammlung. Mit 17 Jahren jedoch zieht es ihn es ihn erneut in die Welt des Zirkus und der Bühne. Als „Ernst Teuber“ sing er heitere Couplets bei einer Wanderbühne im Süddeutschen und arbeitet dort auch als Bühnenkraft801. Als er spontan für einen verletzten Artisten in einem kleinen Wanderzirkus auftritt, ist sein Lebensweg bestimmt. Bald schon arbeitet er in der Akrobatentruppe des Zirkus Montrose und1896 oder 1897 stellt er unter dem Künstlernamen „Patty Frank802“ seine eigene „Patty Frank Troupe – The Acrobatic Wonders“ zusammen. Sie treten in Varietés auf und reisen in Folge mit den Unternehmen von Carl Hagenbeck, Hans Stosch-Sarrasani, Alfred Schumann und Barnum & Bailey durch Europa und Amerika803. Seine Gage investierte der Untermann der Parterre-Akrobatik-Truppe in indianische FolkloreGegenstände und beschrieb 1936 seine erste Begegnung mit dem Wilden Westen in der Broschüre „Ein Leben im Banne Karl Mays804“ – sein großes Vorbild indes lernte er nie kennen805. Angeblich „ein Manegenunfall in den 20-er Jahren“ machte Tobis zum Zirkus-Invaliden806, die Inflation von 1919 und 1923 forderte zusätzlich finanziellen Tribut. Aus der Not heraus reiste er 1925 ins sächsische Radebeul und bot Klara May807, der zweiten Frau des Schriftstellers, seine rund 540 Objekte umfassende Indianer-Sammlung als Ergänzung zur 1908 in den USA erworbenen May´schen Sammlung mit gerade 56 Objekten zu Kauf an808. Klara May und Ernst Tobis wurden schnell einig: als Gegenleistung für die Übergabe der auf 30.000 Reichsmarkt geschätzten Sammlung erhielt der einstige Artist eine Leibrente in Höhe von 300 Goldmark monatlich und ein Dauerwohnrecht auf Lebenszeit im Dachgeschoss der „Villa Bärenfett“ in Radebeul. 1926 richtete man im Garten der „Villa Shatterhand“ gemeinsam ein Blockhaus mit dem Namen „Villa Bärenfett“ ein, in dem am 1. Dezember 1928 das „Karl May Museum809“ eröffnet wurde. Als „Patty Frank“ führte Ernst Tobis als liebenswürdiger Kustos durch die Ausstellung und gab den Besuchern obendrein noch Völkerkundeunterricht. Mit 65 Jahren heiratete Tobis am 12. März 1941 vor dem Standesbeamten der Kreisstadt Radebeul die Wirtschafterin des Hauses, Marie Barthel810, und verstarb starb 18 Jahre später in Radebeul811. Seine Grabstätte auf dem Ortsfriedhof
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Cody, William Frederick alias Buffalo Bill, geb. 1846, gest. 1917 Anfang 1915 ist Ernst Tobis in Wiesbaden gemeldet, ab 25. November 1915 in Stuttgart 802 Ernst Tobis nennt sich auch „Isto Maza“, was „Eisenarm“ bedeutet. 803 Tobis USA-Aufenthalte sind 1901 und 1904 804 Darüber hinaus schrieb Ernst Tobis 1951 das bei Ueberreuter verlegte Buch „Wilder Westen – Leben und Sterben der Indianer Nordamerikas“ und das 1957 im Militärverlag der DDR erschienene Buch „Die Indianerschlacht am Little Big Horn“ 805 Zwar steht Tobis 1908 in Bremen am Pier, als das Schiff mit dem erstmals in Amerika weilenden Karl May anlegt, doch schafft er in im Gedränge nicht, sein Idol zu treffen. Von diesem Vorfall berichtet Tobis auch selbst, verlegt ihn jedoch auf die Ankunft Mays in den USA. 806 An anderer Stell heißt es, dass sich nach dem Krieg die Artistenkarriere Ernst Tobis ´ dem Ende zuneigte. Dies scheint nach jetzigem Wissen auch viel wahrscheinlicher, zumal Ernst Tobis nie etwas von einem Unfall berichtet. 807 May, Klara, geb. 1864, gest. 1944 808 Seinem ersten Besuch in Radebeul 1916 ging seit 1912 ein Briefwechsel mit Klara May voraus 809 Erst 1985 wandelte sich die Ausstellung von einer „Ständigen Exposition“ zum Museum 810 Tobis, Marie Anna, geb. Barthel, geb. am 28.11.1902, gest. am 18.04.1961 in Radebeul/D (damals: DDR) 801
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liegt nur wenige Schritte von der des von ihm so verehrten Karl May entfernt. An den Artisten, Weltreisenden, Courmacher812 und Museumsführer erinnert in der Sammlung des Karl-May-Museums sein Indianer-Gürtel mit gesticktem Namenszug „Isto Maza“ und seit 1999 in einem Radebeuler Neubaugebiet der „Patty-Frank-Weg“. Dem Karl-May-Museum in Radebeul sind keine Verbindungen zwischen Ernst Tobis und Mary Vetsera bekannt – auch der dort erhaltene Nachlass des Sammlers gibt keinen Hinweis. Sowohl ein in den USA als Arzt lebender Neffe als auch dessen österreichische Verwandtschaft haben keine Nachlassgegenstände von Ernst Tobis813. Von Gabriele und Hermine Tobis sind bis auf die auf Auktionen angebotenen Briefe der Baroness bisher keine Nachlassgegenstände bekannt geworden814. Es existieren indes einige Fotographien der Schwestern815.
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Den Todesfall zeigte die Ehefrau an; freundliche Mitteilung des Standesamtes der Großen Kreisstadt Radebeul, Radebeul 28.02.1997. Der Verstorbene vermachte seine Hinterlassenschaft testamentarisch seiner Ehefrau, wohnhaft in der gemeinsamen Wohnung Hölderlinstraße 15. Das Paar hatte keine Kinder; freundliche Mitteilung des Nachlassgerichts beim Amtsgericht Dresden, 02.04.1997 812 freundliche Mitteilung von Helmuth Grimmer, seit 1986 Kustos der Indianersammlung des Karl May Museums, der Patty Frank noch persönlich kannte; Radebeul, 02.1996 813 freundliche Mitteilung von Wolfgang Seifert an den Verfasser, Berlin, 28.03.2004 814 Die Familienkorrespondenz zwischen Ernst Tobis und seinen Schwestern ging ebenso verloren wie der Briefwechsel von Ernst Tobis mit seinem 1892 in Wien geborenen Onkel bei einem Bombenangriff im Februar 1945; Seifert, Wolfgang: „Patty Frank – der Zirkus, die Indianer, das Karl-May-Museum“, Karl May Verlag , Bamberg 1998 815 abgebildet in Seifert, Wolfgang: „Patty Frank – der Zirkus, die Indianer, das Karl-May-Museum“, Karl May Verlag , Bamberg 1998 126
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen N: Zwerger
„Insbesondere trägt Herr Zwerger den Schlüssel zum Haupteingang des Schlosses Tag und Nacht bei sich.“
Dr. Heinrich Slatin 31. Januar 1889
Mehr als nur eine kleine Nebenrolle im Drama von Mayerling könnte Schlosswart Alois Zwerger gespielt haben. Als einer der ersten Tatortzeugen war er vor Ort in die dramatischen Ereignisse eingebunden, erlebte die Tage danach und verließ als einer der letzten das Jagdschloss. Trotzdem widmeten sich weder die ersten MayerlingForscher, noch später die Historiker dem Leben des Garde-Unteroffizier. Alois Zwerger könnte in den 80-er Jahren als Verwalter der Leining´schen Villa nach Mayerling gekommen sein816. Nachdem der Kronprinz 1886 die Ländereien des Grafen und des Stiftes an der Schwechat erworben hatte, dürfte sich Zwerger auch um die Gebäude des späteren Jagdschlosses gekümmert haben. Bis ins Jahr 1891 scheint er jedoch nicht im Hofschematismus auf, war also kein „Angestellter“ des Hofes. Zwerger hatte seine Unterkunft – ebenso wie die Jagdgäste, die Leibjäger und der Gärtner – in der Meierei des Mayerling-Hofes817 nahe der Bezirksstraße. Als Verwalter818 hatte er für die Instandhaltung der Schlossräume zu sorgen, während der knapp 60-jährige Strubreiter als Hauswart arbeitete. Darüber hinaus erledigte er Botengänge für den Hausherrn. Am 29. Januar 1889 schickte ihn Rudolf mit einem Telegramm an Graf Piesta Károlyi nach Alland, um ihn an ein gemeinsames Treffen am 31. Jänner in Wien zu erinnern. Am Nachmittag des gleichen Tages sollte Zwerger zwischen 14:00 und 17:00 Uhr (Ankunft der Depesche am Zielort) ein weiteres Mal für den Kronprinzen ein Telegramm aufgeben: Rudolf hatte in der Villa Leiningen – er wartete dort auf die Rückkehr des Coburgers von der Jagd – eine kurze Nachricht an den Kaiser verfasst und sein Erscheinen beim Familiendiner in Wien abgesagt. Zwerger traf
816
Ein amtliches Meldebuch wird in Alland erst ab dem Jahre 1898 geführt. Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. Für diese Arbeit durfte freundlicherweise eine Abschrift des Herrn Ingenieurs Heinz Halbritter/Baden benutzt werden. 818 „Hausdiener“ lt. Friedrich Wolf, zitiert bei Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage ...“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989; „Zimmerwärter“ lt. Dr. Heinrich Slatin, Mayerling-Protokoll vom 31.01.1889; „Zimmerwart“ lt. Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. 817
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jedoch auf den Telegrafen Julius Schuldes, der für ihn das Telegramm in Alland aufgab819, das der Telegraf in der Villa defekt war. Im Morgengrauen des 30. Jänner schickte Johann Loschek den Schlossverwalter zum Mayerling-Hof, um Graf Hoyos zu holen, da der Kronprinz nicht zu wecken sei820. Auf dem Weg begegnete er Schuldes, der sich zum Frühstück in Richtung Küchentrakt des Schlosses aufgemacht hatte. Der Verwalter rief ihm zu „Keine Jagd heute“ und lief weiter. Zwerger kam gegen acht Uhr bei Hoyos an821 und meldete, Loschek könne den Kronprinzen nicht wecken. Zudem soll er Hoyos berichtet haben, Rudolf sei gegen 6:30 Uhr im Morgenanzug bei Loschek erschienen und habe nach Frühstück gefragt und das Erscheinen des Fiakers Bratfisch für 8 Uhr befohlen. Gemeinsam gingen Hoyos und Zwerger zurück zu Loschek ins Schloss und warteten gemeinsam auf die Rückkehr des Prinzen Coburg. Wahrscheinlich weilte Zwerger auch während der gewaltsamen Türöffnung noch im Schloss und könnte auch einen Blick ins Sterbezimmer geworfen haben. Zwar wird die Anwesenheit Zwergers weder von Loschek, noch von Hoyos und Schuldes während der kommenden Stunden erwähnt, doch dürfte er ab jetzt fast ständig im Schloss gewesen sein. Dies belegt auch ein Protokoll822, das an dieser Stelle erstmals veröffentlicht wird: „Protokoll vom 31. Jänner 1889 aufgenommen im Schloß weiland seiner k.u.k. Hoheit des durchl. Herrn Kronprinzen Erzherzog Rudolf zu Mayerling. Gegenwärtig: die Gefertigten. Bei der absoluten Unmöglichkeit, in einer in jeder Beziehung des Vorschriften des Gesetzes entsprechenden Weise die ausgedehnten Räumlichkeiten in Mayerling unter Sperre und Siegel zu nehmen, beauftragte der gefertigte Abgeordnete der Obersthofmarschallamtes den erzherzoglichen Zimmerwärter Alois Zwerger, die sämtlichen erzherzoglichen Räumlichkeiten zu versperren. Herr Alois Zwerger erklärte, dass die Haupteingangstür der erzherzoglichen Gebäude in Mayerling, und zwar: des Schlosses, des Elisabethtraktes, Dienertraktes, der Hofküche, der Villa, des „Mayerlingerhofes“ (Jagdgastzimmer) von ihm versperrt gehalten werden und die Schlüssel zu denselben sich stets in seiner Verwahrung befinden. Insbesondere trägt Herr Alois Zwerger seit dem Hinscheiden seiner k.u.k. Hoheit den Schlüssel zu dem Haupteingang des Schlosses Tag und Nacht bei sich an seinem Körper. Dr. Heinrich Slatin, k.k. Hofsekretär, Zwerger Alois, erzh. Zimmerwärter“. Alois Zwerger war es, der am 31. Januar gegen Abend Hofsekretär Dr. Heinrich Slatin und Rudolfs Leibarzt Dr. Franz Aukenthaler sowie Graf Georg Stockau und dessen Schwager Alexander Baltazzi im Schein einer Laterne in den versiegelten Raum des Schlosses führte, in den man die Leiche der Vetsera gelegt hatte. Und er leuchtete auch, als man wenig später die angekleidete Tote zu wartenden Kutsche brachte823. Am Abend des 1. Januar 1889 verpflichtete sich Zwerger in der Kanzlei der Meierei – ebenso wie Julius Schuldes und andere Bedienstete in Mayerling – gegenüber dem Aktuar der Badener Bezirkshauptmannschaft, Dr. jur. Albert Novotny-Managetta, zu absolutem Stillschweigen über die vorangegangenen Ereignisse im Schloss824. Bis in den April hinein half der ortskundige Zwerger Dr. Heinrich von Slatin825 und seinen Helfern, Franz Sattler und Josef Krause, bei der Erstellung des Mayerling-Inventares und berichtete u.a., welche Einrichtungsgegen819
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. Nach den Aufzeichnungen von Loschek will er jedoch selbst in die benachbarte Villa gegangen sein. Lt. Mitis und Schuldes war es jedoch Zwerger. 821 Hoyos-Denkschrift, zitiert bei Mitis, „Kronprinz Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 822 Wien, HHStaA, OMaA 421 III/B 101-108 1886-1910 823 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. 824 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. 825 Dr. jur. Heinrich Slatin, geb. 09.10.1855, Bruder des General-Inspektors des englisch-ägyptischen Sudans, Rudolf Freiherr von Slatin, dem „Slatin-Pascha“. Slatin war als Hofsekretär im Obersthofmarschallamt, der Gerichtsbehörde des kaiserlichen Hofes, 820
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stände nach dem Auffinden der Toten vernichtet wurden. Als Schriftführer des Inventars fungierte der Offizial Hugo Ritter von Imhof von Geißlinghof, als Urkundenzeuge Johann Loschek826. Darüber hinaus koordinierte Zwerger bis zum Herbst größtenteils selbständig die Rückführung der Mobilien nach Wien827. Gleichzeitig musste er jedoch den Architekten Josef Schmalzhofer und andere Bauleute durch das Schloss führen, da Schmalzhofer in allerhöchstem Auftrag den Umbau des Anwesens in ein Kloster plante. Bei diesen Ortsbegehungen soll er in der hölzernen Umrandung des Nachtkastens die Kugel des zweiten Schusses gefunden haben und diese vor dem 4. Februar auch Julius Schuldes gezeigt haben828. Im Juni 1890 wurden im ehemaligen Mayerlinger-Hof das Asyl für erwerbsunfähige Jäger und Forstarbeiter eröffnet. Für die zwölf geschaffenen Asylplätze lagen 27 Bewerbungen vor, darunter 20 aus dem Wienerwald. Zehn Plätze wurden zur Einweihung belegt. Ab 18. November 1891 leitet Alois Zwerger provisorisch das Asyl und wird erstmals im Hofschematismus erwähnt. Zu dieser Zeit bewohnte er Zimmer im so genannten Turm des Asyls. 1892 wird er offiziell zum Verwalter bestimmt. Bis 1893 bekleidet er die Stelle bei der k.u.k. Privat- und FamilienfondsCassa, danach wird der Titel nicht mehr im Schematismus verwandt und Zwerger zum 1. Juli der Stelle mit der Begründung „z.Zt. keine Verwendung“ enthoben. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde das Asyl nämlich aus der Obhut der Generaldirektion der Privat- und Familienfonde in die Betreuung des „Dritten Ordens des hl. Franz von Assisi“, einem Frauenorden aus der Wiener Hartmanngasse, gegeben. Erste Oberin war Schwester Gonzaga Zimpel. 1894 scheint Zwergers Name als provisorischer Kanzlist der k.u.k. Privat- und Familienfonds-Güter-Direktion in Wien auf, 1897 wird er Inspektor der kaiserlichen Villa „Hermes“ im Lainzer Tiergarten, wo er bis zum Zusammenbruch der Monarchie arbeitet. 1918 tritt er als Lehrkraft in den Dienst der Fachschule für Holzbearbeitung in Grulich829. Alois Zwerger war Träger des goldenen Verdienstkreuzes, der silbernen Jubiläums-Hofmedaille, der bronzenen Jubiläums-Erinnerungs-Medaille für die bewaffnete Macht, des Jubiläums-Hofkreuzes, des königlich preußischen Roter-Adler-Ordens 4.Klasse sowie des königlich preußischen Kronen-Ordens 4. Klasse. Er stirbt am 13. Dezember 1919 in Wien. Rudolfs Tochter Elisabeth soll seinen gesamten Nachlass aufgekauft haben.
tätig. Er verfasste das Protokoll der ersten Hof-Kommissionen in Mayerling, schrieb den Obduktionsbefund der Vetsera nieder und war für die Inventarisierung der Schlossgebäude verantwortlich. Slatin wurde später Sektionschef im Oberststallmeisteramt und am 24. Oktober 1906 in den Freiherrenstand erhoben. Auf Grund seiner Notizen verfasste Slatin 1924 eine Denkschrift, die nach seinem Tode im Neuen Wiener Tagblatt (verschiedene Sonntagsbeilage des Jahres 1931) veröffentlicht wurde. 1929 verfasste er einen „Nachtrag, zugleich Überprüfung“. 826 HHStaA Wien, OMaA 422, Gruppe III/B 108 „Inventare 1889“, Nr. 109-115, 1889-1916 827 HHStaA Wien, GDpff, Rubrik 9/1 „Mayerling“, 9.f.35-40 u.a.a.O. 828 Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden. 829 „Handbuch des allerhöchsten Hofes und des Hofstaates seiner k. und k. apostolischen Majestät“, Jahrgänge 1889 bis 1918 129
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Kapitel 1 „Unheimlich ist die Stille“
11. Die Zeitzeugen O: Sonstige
„Insbesondere bei sich.“
Dr. Heinrich Slatin 31. Januar 1889
Mitglieder des Kaiserhauses Erzherzogin Gisela, Schwester des Kronprinzen. Erzherzogin Marie Valerie, Schwester des Kronprinzen. Erzherzogin Elisabeth, Tochter des Kronprinzen. Erzherzog Albrecht. Erzherzog Franz Ferdinand. Erzherzog Johann Salvator von Toskana, seit 1889 Johann Orth. Erzherzog Leopold Salvator von Toskana, Leopold Wölfling.
Mitglieder des Hofstaates und des Hofes Albert von Margutti, Flügeladjutant des Kaisers. Maximilian Graf Orsini und Rosenberg, Flügeladjutant des Kaisers. Arthur Freiherr Giesl von Gieslingen, Ordonnanzoffizier des Kaisers. Heinrich Ritter von Spindler, Leiter des kronprinzlichen Sekretariats. Victor Fritsche, Sekretär. Cihlo Wenzel, Kanzlist. Carl Beck, Kammerdiener des Kronprinzen. Carl Nehammer, Kammerdiener des Kronprinzen.
Journalisten Moritz Szeps830, Verleger, Journalist und Herausgeber.
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Szeps, Moritz (auch: Moriz), geb. am 05.11.1835 in Busk/Galzinien (heute: Ukraine), gest. am 09.08.1902 in Wien. Sohn eines jüdischen Arztes, Studium der Medizin in Lemberg und Wien. 1855-1867 Chefredakteur der 1850 gegründeten „Wiener Morgenpost“, ab 13.07.1867 Verleger des am 10. März 1867 gegründeten „Neuen Wiener Tagblattes“ (erscheint bis zum 07.04.1945), nach seiner Entlassung 1886 Kauf der „Morgenpost“ und Umwandlung in das „Neue Wiener Tagblatt“, das er bis 1899 leitet (ab 130
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Dr. Berthold Frischauer, Pressereferent des Kronprinzen. Julius Futtaki, Journalist.
Sonstige Stephan Graf Karoly, Freund des Kronprinzen. Samuel Graf Teleki von Szék, Freund des Kronprinzen.
Vita Mary Vetsera
Datum 1871, 19.03. 1871, 27.03.
Aktion Geburt Taufe
1872, Sommer 1873, Sommer 1874, Sommer 1875, Sommer 1880, Frühjahr 1881, 08.12. 1882
Sommeraufenthalt Sommeraufenthalt Sommeraufenthalt Sommeraufenthalt Umzug Ringtheaterbrand zu den Salesianerinnen
1882, Sommer 1883, 19.03. 1883, Sommer 1884, 08.08.
Sommeraufenthalt Kindergeburtstag Sommeraufenthalt Blumenmädchen
1884, Herbst 1886, 12.01. 1886, 20.02. 1886, April
Beitritt Eislaufverein Weihe Sühnehaus Faschingsball Weißes Kreuz Revue
Ort Am Schüttel 11, Wien II. St. Johann Nepomuk, Praterstraße, Wien II. Gmunden/Salzkammergut Gmunden/Salzkammergut Gmunden/Salzkammergut Napajedl Salesianergasse 11 Wien Wien
1887 1887 1887, 15.11. 1888 1888 1888, 05.11. 1888, 01.12.
Herbstaufenthalt Ankunft in Kairo Sommeraufenthalt Sommeraufenthalt Fotoaufnahmen Abenddiner
Schloß Schwarzau Wien, Palais Vetsera Schloß Schwarzau Wien, Hochzeit des Onkels Aristides Wien Wien Wien, Palais Vetsera Wien, Palais Schwarzenberg London Schloß Schwarzau Kairo Schloß Schwarzau Bad Homburg Wien, Studio Adele Wien, Palais Vetsera
1888, 01.12.
Besuch der Oper „Mar-
Wien, Hofoper
sonstiges
mit Familie mit Familie mit Familie Mary und Feri Familie Mary daheim Zeit während des Trauerjahres; für 1,5 Jahre Mary, Helene, Feri, Hanna Kostümfest mit Familie Unterbrechung des Sommeraufenthaltes Mary, Helene, Feri, Hanna Mary als Teilnehmerin Mary als Zuschauerin mit Familie mit Familie 14.11.1887: Tod von Albin Vetsera mit Familie mit Familie mit Gräfin larisch mit Graf und Gräfin Larisch, Herzog von Braganza mit Graf und Gräfin Larisch
1901: „Wiener Morgenzeitung“, 1905 eingestellt). Vater von Julius (von 1899 bis 1909 Chefredakteur der „Wiener allgemeinen Zeitung“; Herausgeber des Briefwechsels zwischen Kronprinz Rudolf und Moritz Szeps 1922 unter dem Titel „Politischen Briefe an einen Freund 1882 – 1889“), Sophie (Ehefrau von Paul Clemenceau, dem Bruder des französischen Politikers Georges Clemenceau) und Berta (geb. am 13.04.1864 in Wien, gest. am 16.10.1945 in Paris, Schriftstellerin und Journalistin, Ehefrau des Anatomie-Professors Emil Zuckerkandl [geb. 01.09.1849 in Raab (Györ/Ungarn), gest. am 28.05.1910 in Wien); Mitbegründerin der Salzburger Festspiele, 1938 nach Paris, später nach Algier emigriert. Residiert von 1885 bis 1897 im Palais Damian im 8. Bezirk (1700 errichtet, 1774 umgebaut, von 1865 bis 1866 Heilanstalt, 1931 Gastwirtschaft im Parterre, während des Zweiten Weltkrieges Heim der Wiener Sängerknaben, heute Sitz der Kriegsopferfürsorge). 131
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1888, 05.11. 1888, 06.05. 1888, 11.12.
1888, 12.04. 1888, 14.10. 1888, 17.12. 1888, 21.12. 1888, 23.09. 1888, 27.10. 1888, 28.02. 1888, Juli 1888,Oktober
garethe“ Besuch beim Kronprinzen Renntag Besuch beim Kronprinzen Frühjahrsrenntag Eröffnung des Hofburgtheaters Besuch beim Kronprinzen Besuch beim Kronprinzen Renntag Erster Wiener AbendKorso Ferien Sommerreise Besuch bei Bourgoing
Wien, Hofburg
Vorstellung durch Gräfin Larisch
Wien, Freudenau Wien, Hofburg
Mary als Gast allein; Helene, Hanna und Feri in der Oper (Wagner-Ring) ; wohl nach 19 bis vor 21 Uhr Mary als Gast Helene, Hanna, Mary
Wien, Freudenau Wien Wien, Hofburg Wien, Hofburg Wien, Freudenau Wien, Ringstraße Venedig Paris, London, Wien Reichenau, TheresienVilla Wien, Hofburg
1889, 13.01.
Besuch beim Kronprinzen
1889, 15.01.
Wien, Rodeck
1889, 28.01.
Kauf einer goldenen Zigarettendose Verfassen eines Testaments Besuch beim Kronprinzen Treffen mit dem Kronprinzen Besuch beim Kronprinzen Besuch bei einer Wahrsagerin Aussprache mit der Mutter; Auffinden des Testaments etc. Nachmittagsspaziergang Besuch bei Gräfin Larisch Französischunterricht Ausfahrt mit der Gräfin Larisch Ball in der Deutschen Botschaft Einkaufsfahrt
1889, 28.01. 1889, 28.01.
Flucht aus Wien Flucht aus Wien
Wien, Hofburg Rother Stadl
1889, 28.01. 1889, 29.01.
Flucht aus Wien Aufenthalt im Jagdschloss Auffinden der Leiche
Mayerling, Schloss Mayerling, Schloss
1889, 18.01. 1889, 19.01. 1889, 19.01. 1889, 24.01. 1889, 25.01. 1889, 26.01.
1889, 26.01. 1889, 26.01. 1889, 26.01. 1889, 27.01. 1889, 27.01.
1889, 30.01.
allein; Helene, Hanna und Feri in der Oper (Wagner allein; Helene, Hanna und Feri in der Oper (Wagner Mary als Gast mit Mary als Teilnehmerin mit Familie; 4 Wochen mit Familie mit Familie von Mary im Kalender besonders bezeichnet; auf der Tabatiere erwähnt, ggf. erster Geschlechtsverkehr mit Gesellschafterin des Hauses Vetsera
Wien, Palais Vetsera Wien, Hofburg Wien, Prater
Helene und Hanna beim Faschingsball im Palais Dietrichstein Helene und Hanna in der Hofoper
Wien, Hofburg Wien Wien, Palais Vetsera
Wien Wien, Grand Hotel Wien, Palais Vetsera Prater Wien Wien, „Weiße Katze“
Mayerling, Schloss 132
Abends mit der Gesellschafterin des Hauses nach Information durch Marys Gesellschafterin zusammen mit der Mutter Flucht aus dem Palais Vetsera gegen 18 Uhr durch Dubray gegen 15:30 Uhr Helene, Hanna, Mary; bis nach 0:30 Uhr 10:30 Uhr: zusammen mit Gräfin Larisch 10:55: Mary fährt mit Bratfisch ab 13:00: Zusammentreffen zwischen Mary und dem ankommenden Kronprinzen 15:30 Uhr: Eintreffen des Fiakers
nach 8:00 Uhr
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Kapitel 2 Stichwort „Mayerling“
1. Einladung zur Jagd
„...ich atme schon wieder längere Zeit Stadtluft und habe jetzt Sehnsucht nach dem Walde...“
Kronprinz Rudolf, 26. Jänner 1889
„Hoyos, wenn Sie Zeit und Lust haben, kommen Sie gegen Ende der nächsten Woche mit mir nach Mayerling, um im Wienerwald noch Kahlwild zu schießen831. Den Tag vermag ich noch nicht genau anzugeben, da ich viel zu thun habe. Mit diesen Worten, schreibt Graf Josef Hoyos in seiner Denkschrift, richtete Kronprinz Rudolf bei den Jagden am Sonntag, 20. und Montag, 21. Jänner 1889, im k.k. Jagdrevier Orth an der Donau eine Einladung an ihn, die er dankend annahm.832“ Für Mittwoch, 23. Jänner, hatte Rudolf zu einer weiteren Jagd eingeladen – in den kaiserlichen Tiergarten Lainz im Jagdrevier Hütteldorf. Rudolf erlegte dabei fünf Stück Edelwild und zwei Edelmarder – seine letzte Beute. Es ist zu rekonstruieren, dass der Kronprinz bereits Mitte Jänner 1889 den Plan hatte, nach Mayerling zu fahren – am 20. oder 21. wird der Name des privaten Jagdschlosses erstmals erwähnt. Zunächst jedoch sollte, so Judtmann, die Jagd erst am 1. und 2. Februar stattfinden. Sie wurde jedoch vorverlegt: Am Dienstag, 29. Jänner, sollte in den beiden benachbarten Revieren Groß-Krottenbach und Glashütten, beide östlich von Alland an der Grenze zur Gemeinde Klausen-Leopoldsdorf gelegen, und am Mittwoch, 30. Jänner, im Revier Schöpflgitter eine Treibjagd auf Hochwild stattfinden. Doch bei nur einer Verschiebung blieb es nicht... Über den Jagdtermin am Dienstag und Mittwoch verständigte am Samstag, 26. Jänner, der Hofleibjäger Wodicka den Grafen Hoyos. Auch Rudolf Jäger Rudolf Püchel erfuhr am Samstag durch den Kronprinzen von der anstehenden Jagd: „Püchel, ich atme schon wieder längere Zeit Stadtluft und habe jetzt Sehnsucht nach dem Walde. Die Schusszeit des Hochwildes geht zu Ende – vielleicht kann ich noch ein schlechtes, nichts versprechendes Stück in All-
831
Originaltext der Denkschrift: „Hoyos, wenn sie Zeit und Lust haben, kommen Sie gegen Ende nächster Woche mit mir nach Meyerling, um im Wienerwald (...) noch Kahlwild abzuschießen!“ 832 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 134
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and abschießen, oder auf einen Fuchs jagen.833“ Rudolf hatte allerdings am Vortag bereits mit dem Gedanken gespielt, früher nach Mayerling zu fahren. Am Freitag, 25. Jänner, teilte er Hofrat von Weilen in einem Nebensatz brieflich mit, er werde „Montag nach Mayerling kommen“ – also schon am 28. Jänner. Am Samstag, 26. Jänner, könnte Rudolf bei einem gemeinsamen Frühstück dann auch den Grafen Hans Wilczek eingeladen haben, ihn zur Jagd nach Mayerling zu begleiten. Wilczek lehnte ab und erinnerte sich später: „In den letzten Lebensjahren des Kronprinzen trübte sich leider der Himmel in schwerer Weise und ich zog mich von ihm zurück. (...) Ich dankte Gott, dass ich diese Jagd, mit der sein Leben einen so tragischen Abschluss fand, nicht mitgemacht habe.834“ Am Sonntag, 27. Jänner, bat Rudolf schließlich den Grafen Hoyos, sich wegen der Fahrt am Dienstagmorgen, 29. Jänner, mit dem Prinzen von Coburg zu verständigen. In der Nacht von Sonntag auf Montag (27./28. Jänner) änderte Rudolf erneut seine Pläne und drängte, schon am Montagmittag herausfahren: „Püchel, ich musste leider spät nachts mein Programm bezüglich Mayerling ändern – ich fahre heute schon hinaus. Loschek, Vodicka und das Wirtschaftspersonal sind bereits vorausgefahren und mein Wagen ist für zwölf Uhr bestellt.835“ Püchel sollte jetzt jedoch in Wien bleiben, da der Kronprinz am Dienstagnachmittag schon wieder zurück sein wollte. Wahrscheinlich war beabsichtigt, nach dem für Dienstag geplanten Familienessen in der Burg am Mittwoch erneut nach Mayerling zu reisen. Püchel hielt sich daher am 29. Jänner zur Jagd bereit und wollte am Mittwoch, dem 30. Jänner, früh mit der Südbahn nach Baden herausfahren. Loschek war nach eigenen Angaben tatsächlich bereits am Montag, 28. Jänner um ¾ 9 Uhr mit einem Hofwagen zum Südbahnhof und weiter mit der Bahn nach Baden gereist, um von dort nach Mayerling zu fahren. Fritz Judtmann stellt die These auf, die neuerliche Vorverlegung der Fahrt könne mit den turbulenten Ereignissen im Hause Vetsera zusammen hängen, wo am Samstag, 26. Jänner, Baronin Helene Vetsera nach eigener Aussage erstmals von der Verbindung ihrer Tochter mit dem Kronprinzen erfahren hatte. Was war genau in der Salesianergasse geschehen? „Die Gesellschafterin des Hauses meldete der Baronin, sie sei am Vorabend von der Baroness genötigt worden, sie zu einer Wahrsagerin zu begleiten, und weiters, dass Mary am 15. Jänner in ihrer Begleitung beim Juwelier Rodeck eine goldene Zigarettendose gekauft habe und etwas hineingravieren haben lasse, wobei sie dringend bat, der Mutter nichts darüber zu sagen.836“ Da die Gesellschafterin glaubte, es handle sich um eine Überraschung für die Mutter der Baroness schwieg sie – zumindest bis zu diesem Moment. „Nun aber seien ihr in Verbindung mit dem Besuch bei der Wahrsagerin, die der Baronesse einen jähen Todesfall in der Familie vorausgesagt habe, Bedenken gekommen, und sie fühle sich verpflichtet, Mitteilung zu machen.837“ Baronin Helene Vetsera stellte daraufhin wohl ihre Tochter zur Rede und erfuhr, dass die Dose tatsächlich für den Kronprinzen bestimmt gewesen sei und er diese, anonym durch einen Dienstmann überbracht, auch schon erhalten habe. Die Mutter muss nach eigenen Angaben der Tochter schwere Vorwürfe gemacht haben, da sie „durch diese verrückte tat furchtbar kompromittiert werden könne838“. Helene Vetsera zwang die Tochter, ihre eiserne Kassette zu öffnen. Inhalt: ein eisernes Zigarettenetui mit einem Saphir und dem eingravierten Namen „Rudolf“ sowie das Testament 833
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai, Wien 834 Zitiert in Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 835 „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie 13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 836 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 837 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 838 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 135
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der Baroness vom 18. Januar 1889. Mary log, sie habe das Etui auf Grund ihrer Schwärmerei von der Baroness Larisch erhalten. Trotz des Streits machten Mutter und Tochter am Nachmittag wie gewohnt ihren gemeinsamen Spaziergang, doch gegen 18 Uhr war Mary aus dem Palais verschwunden. Helene Vetsera eilte ins Grand Hotel zur Gräfin Larisch, in deren Begleitung sie ihre Tochter vermutete. Vom Portier erhielt sie die Auskunft, beide seien gerade in die Salesianergasse gefahren. Dort fand Helene ihre Tochter im Bett liegend vor, „leichenblass und unfähig zu sprechen“. Einen ähnlichen Fieberanfall, so die Gräfin, habe sie bereits im Grand Hotel erlitten839. Von Marie Larisch erhielt Helene Vetsera die Bestätigung, dass es sich bei dem Zigarettenetui tatsächlich um ein Geschenk des Kronprinzen an seine Cousine gehandelt habe, dass sie der schwärmerischen Baroness weiter gegeben habe. Die Larisch versprach indes, das Etui dem Kronprinzen zurück zu geben, was Helene Vetsera beruhigte. Und auch dem Testament maß sie keine weitere Bedeutung mehr zu. Und Marys Geschenk von Rodeck an Rudolf? Wie wir wissen, gab es im Besitz des Kronprinzen tatsächlich eine goldene Tabatiere, die er auch dem Prinzen Coburg und Erzherzog Otto gezeigt haben soll, wie Hoyos in seiner Denkschrift berichtet. Die Inschrift habe gelautet: „Dank dem glücklichen Geschicke! 13. Jänner 1889“. Hierbei, so Judtmann, müsse es sich um jenen Tag gehandelt haben, an dem der Erzherzog und die Baroness erstmals intim miteinander waren. Fritz Judtmann vermutet, dass Mary die Larisch besucht habe um mitzuteilen, dass die bisher geheime Verbindung zwischen ihr und dem Kronprinzen drohe offenbar zu werden. Sicher habe die Larisch nun versucht, sich umgehen mit Rudolf in Verbindung zu setzen. Dokumentiert ist, dass die Gräfin am Sonntag, 17. Jänner, um 11 Uhr durch den Dienstmann Nr. 198 dem Kronprinzen ein Paket und einen Brief senden ließ840 und Rudolf direkt antwortete: „Ich muss dich allein sprechen. Erwarte mich um fünf Uhr heute Nachmittag. Sorge dafür, dass Du allein bist. Jenny soll Acht geben, dass die Luft auf der Dienstbotentreppe rein ist.841“ Der Inhalt des Paketes könnte das Zigarettenetui gewesen sein. Belegt ist ebenfalls, dass am Sonntag der Kronprinz plötzlich in der Bierschwemme des Grand Hotels, deren Eingang zur Maximilanstraße zeigte, erschienen ist, diese jedoch umgehend wieder verließ. Offensichtlich hatte er den rückseitigen Hoteleingang mit dem Zugang zum Fiakerlokal verwechselt. Da die Larisch mit ihrer Kammerfrau seit dem Vortag, dem 26. Jänner, das Zimmer 21 im Maximilanstraßen-Trakt des Hotels bewohnte, kann Rudolf tatsächlich versucht haben, seine Cousine dort zu besuchen. Wann aber? Polizeioberinspektor Jurka als Leiter des k.k. Polizei-Agenten-Instituts berichtet, Rudolf sei in Uniform am Sonntag um 10 Uhr mit einem Zweiräder und begleitet von einem Lakaien in der Maximilanstraße vorgefahren und habe sich zur Gräfin Larisch begeben842. Polizeirat Heider berichtet, der Kronprinz habe um 10.30 Uhr zunächst die Schwemme betreten und danach dann den Hoteleingang genutzt843. Polizeipräsident Krauß notierte, um 9.30 Uhr sei der Erzherzog ins Hotel gekommen844 und die Gräfin selbst will ihren Cousin erst um 17 Uhr begrüßt haben845. 839
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Bericht vom 12.02.1889 des Polizeirates Heide als Leiter des Polizeikommissariates Innere Stadt im Geheimakt des Polizeipräsidenten Krauß, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 841 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 842 Bericht vom 07.02.1889 im Geheimakt des Polizeipräsidenten Krauß, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Unmittelbar vor Rudolfs Eintreffen sei die Kammerfrau der Gräfin mit deren Hund auf die Straße gegangen und habe dann Rudolf ins Hotel geführt. 843 Bericht vom 12.02.1889 des Polizeirates Heide als Leiter des Polizeikommissariates Innere Stadt im Geheimakt des Polizeipräsidenten Krauß, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 844 Protokoll des Polizeipräsidenten vom 29. Jänner 1889, der sich auf ein Gespräch mit Baronin Vetsera und Alexander Baltazzi beruft 840
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Der Besuch um 17 Uhr, an den sich die Larisch 25 Jahre später erinnert, kann zu diesem Zeitpunkt nicht stattgefunden haben, da eine Fahrt des Kronprinzen am Nachmittag im Prater belegt ist. Die Zeitangabe von Jurka und die von Krauß notierte Angabe stimmen in etwas überein, so dass der Besuch im Grand Hotel am Sonntag, 27. Jänner 1889, zwischen 9.30 und 10 Uhr stattgefunden haben muss. Judtmann schlussfolgert, dass der mehr als zwei Wochen später verfasste Bericht von Heide nicht glaubwürdig sein könne, was „für die Beurteilung seiner Meldung über die Entführung der Baronesse Mary wichtig846“ sei.
845
Memoiren der Gräfin Larisch 137
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Kapitel 2 Stichwort „Mayerling“
2. Die Zeit drängt – Sonntag, 27. Jänner 1889
„Lieber Rudolf! Du weißt, dass ich dir blind ergeben bin...“
Marie Gräfin Larisch, Wien 27. Jänner 1889
Gehen wir davon aus, dass der Kronprinz tatsächlich am Sonntagvormittag bei der Gräfin Larisch im Wiener Grand Hotel am Ring zu einer Aussprache erschienen ist. Hierbei könnte auch ein neuerliches Treffen des Erzherzogs mit Mary Vetsera in der Hofburg geplant worden sein, denn die Gräfin hatte bereits am Samstag im Hause Vetsera nachgefragt, ob Mary sie zur „Besorgung von Kommissionen“ begleiten könne. Bei dieser Gelegenheit, so Judtmann, wollte die Gräfin bei Rodeck auch die Rechnung der goldenen Tabatiere auf ihren Namen umschreiben lassen. Augenscheinlich hat Judtmann nicht bedacht, dass es sich beim 29. Januar um einen Sonntag gehandelt hat! Über den Verlauf der Unterredung informiert uns ausschließlich die Gräfin Larisch selbst in ihren Memoiren. Rudolf will ihr eine Kassette mit Geheimdokumenten überreicht haben, die sie später Erzherzog Johann Salvator von Toskana, dem späteren Johann Orth, bei einem nächtlichen Treffen am Schwarzenbergplatz übergeben haben will. Wie lange Rudolf und seine Cousine zusammen getroffen waren, ist nicht mehr zu ermitteln. Am Nachmittag indes „fuhr der Kronprinz in seinem Kutschierwagen, den er selbst lenkte, in den Pater und kehrte über die Sophienbrücke in die Stadt zurück, wie ein Polizeibericht nachträglich meldete.847“ Im Prater will Louise Prinzessin von Coburg den Kronprinzen in erregtem Gespräch mit der Gräfin Larisch gesehen haben. Rudolf habe sich dann aus der Unterhaltung gelöst, sei zur Coburgerin gegangen und habe sie gebeten ihrem Mann auszurichten, er solle erst am Dienstag nach Mayerling kommen. Wie sicher diese Information ist, können wir nicht sagen. Judtmann jedoch wies bereits darauf hin, dass sich die Coburgerin beim Datum des Treffens irrte – es war nicht am Montag, sondern bereits am Sonntag. Bei diesem Zusammentreffen zwischen Gräfin Larisch und Kronprinz Rudolf könnte auch Mary Vetsera dabei gewesen sein. Als sich in der Salesianergasse die Gemüter wieder beruhig hatten, habe ihr Helene Vetsera erlaubt, wie gewöhnlich um 14.30 Uhr mit der Gräfin Larisch ausgefahren. Mary kehrte jedoch erst um 17.30 Uhr zurück. Judtmann vermutet, dass Rudolf und Mary am Nachmittag die Fahrt nach Mayerling am kommenden Tag besprachen, „da dies bei der Soiree des Prinzen Reuß, wo sie sich am gleichen Abend wiedersehen sollten, unter den Augen der zahlreichen Gäste kaum denkbar war.848“ 846
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 848 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 847
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Tatsächlich fand an diesem Sonntagabend ab 21 Uhr im Palais des deutschen Botschafters, Prinz Heinrich VII. von Reuss849, zur Ehren des Geburtstages des deutschen Kaisers Wilhelm II. ein festlicher Empfang statt. Der deutsche Kaiser hatte erst wenige Monate zuvor den Thron bestiegen und das Erscheinen des Kaisers, des Kronprinzenpaares, vieler Erzherzoge, des diplomatischen Korps und der Spitzen der Wiener Gesellschaft sollte die besondere Beziehung zum Deutschen Reich und seinem neuen Herrscher demonstrieren. Insgesamt waren zu dieser Soiree 600 Einladungen850 ausgesprochen worden, wie die Wiener Presse vermeldete851. Die deutsche Botschaft lang nur wenige Gehminuten vom Palais Vetsera entfernt, ebenfalls im III. Wiener Gemeindebezirk, in der Metternichgasse 3852. „Der Empfang fand im ersten Stock im Festsaal und den anschließenden Salons... statt853“. Kurz nach 22 Uhr erschienen Rudolf – gekleidet in der Uniform seines königlich preußischen zweiten brandenburgischen Ulanenregiments Nr. 11 – und Stephanie, in einer dunkelroten mit Spitze besetzten Samtrobe und einem Diamantendiadem. Kaiser Franz Joseph in der Oberstuniform seines preußischen Garde-Grenadier-Regiments kam gegen 22.15 Uhr und blieb „mehr als eine Stunde854“. Gegen 0.15 Uhr war das Fest beendet. Unter den Gästen des Empfangs befanden sich auch – als Witwe eines österreichischen Diplomaten – Baronin Helene Vetsera und ihre Töchter Hanna und Mary, auch wenn diese in der lokalen Presse nicht genannt wurden. Helene trug zur Soiree ein schwarzes Samtkleid, „welches ein lauter Efeublätter darstellendes Diamantenhalsband abschloss, ihr volles, noch immer schön schwarzes Haar mit dem Schmuck von Brillantennadeln neben einer weißen Reiherfeder zusammenhaltend.855“ Hanna erschien ganz in Weiß mit einer Perlenkette als einzigem Schmuck, während Mary in hellblauer ärmelloser Abendtoilette mit gelbem Besatz erschien856. „Ihr üppiges dunkelbraunes, fast 849
Heinrich VII. Prinz von Reuss (jüngere Linie), geb. 14.07.1825 in Klipphausen, gest. 02.05.1906 in Trebschen, Kreis Züllichau; verheiratet seit 06.02.1876 mit Marie Alexandrine Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. 20.01.1849 in Weimar, gest. 06.05.1922 in Trebschen; aus der Ehe entstammen sechs Kinder, von denen zwei im Kindesalter verstarben. Prinz Reuss war zunächst an den Gesandtschaften in Wien, Dresden und Paris attachiert, ab 1863 Gesandter in Kassel, ab 1864 Gesandter in München, ab 1867 Gesandter in St. Petersburg (dort ab 1871 als Botschafter), ab 1877 Botschafter bei der Hohen Pforte, ab 12.06.1878 Botschafter des Deutschen Reiches in Österreich; am 08.03.1894 auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzt und am 18.04.1894 abberufen. 850 Anwesend waren u.a. Kardinal Fürsterzbischof Dr. Ganglbauer, der päpstliche Nuntius Erzbischof Galimberti, die Erzherzoge Karl Ludwig, Albrecht, Karl Leopold Franz, Wilhelm und Rainer, die Prinzen Philipp von Coburg und Gustav von SachsenWeimar, Außenminister Graf Kalnoky, Ministerpräsident Graf Taaffe, die Botschafter Paget (England), Robanoff (Russland), Decrais (Frankreich), Don Merry del Bal (Spanien), Nigra (Italien), Saadnllah Pascha (Türkei), die Gesandten Bray (Bayern) und Toda (Japan), die Adeligen Familien Metternich, Schönburg, Eszterhazy, Trauttmansdorf, Liechtenstein, Batthyanyi, Schwarzenberg, Colloredo-Mannsfeld, Pallavicini, Harrach, Schönborn, Clam-Gallas und Bellegarde, die Politiker Präsident Dr. Unger und Bürgermeister Uhl, sowie die Wissenschaftler Baurat von Schmidt, Hofrath von Arneth, Professor von Zumbusch und Professor Tilgner sowie die Mediziner Billroth, Müller, Frisch und Benndorf. 851 Neues Wiener Abendblatt, Wien 28.01.1889 852 Kaiserlich Deutsche Botschaft, Metternichgasse 3: 1877 wurde zwischen der britischen und der russischen Botschaft auf dem Grundstück des aufgelassenen Parks des Palais Metternich nach Plänen des Architekten Viktor Rumpelmayer die Deutsche Botschaft im Stil der italienischen Renaissance errichtet, während die Repräsentationsräume – u.a. Empfangssalon, Musiksaal – im Wiener Barock eingerichtet wurden. Der Zugang in die Botschaft (1918-1920: Deutsche Diplomatische Vertretung, 1938-1945: Dienststelle des Auswärtigen Amts) erfolgte über die Reisnerstraße. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Josef Hoffmann neu adaptierte Gebäude wurde durch Kriegseinwirkung des II. Weltkrieges teilweise zerstört und ging nach 1945 in die Verfügungsgewalt auf das Königreich Britannien über, 1955 auf die neue Republik Österreich (Einrichtung eines Büros der Kriegsgefangenen-Fürsorge), 1957 schließlich auf die Bundesrepublik Deutschland. 1957/58 wurde das Gebäude abgerissen und in den Jahren 1959 bis 1964 durch den Architekten Professor Rolf Gutbrod/Stuttgart neu errichtet. Die Deutsche Botschaft wird seit dem 01.12.1964 wieder genutzt. 853 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 854 Neues Wiener Abendblatt, Wien 28.01.1889 855 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 856 Dass dieses Kleid aus dem Salon Spitzer war, berichtete vor Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 bereits Gräfin Larisch in Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy, Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin ca. 1913 139
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schwarzes Haar, zu Zöpfen geflochten, war zu einer Krone kunstvoll arrangiert, auf der ein glitzernder Diamantenhalbmond befestigt war.857“ Hoyos, den die lokale Presse als Gast auch nicht erwähnt, erinnerte sich: „Nachträglich auffallend war mir, dass mich diesen Abend Baronesse Marie Wecsera, eine Dame, die ich sehr wenig kannte, zweimal ansprach. Die junge Dame von etwa 20 Jahren fiel mir diesmal durch ihre blendende Schönheit auf. Ihre Augen, die diesmal viel größer erschienen, funkelten schier unheimlich und ihr ganzes Wesen glühte. Das erste Mal theilte sie mir mit, sie habe mich an ihrer Wohnung (Salesianergasse) vorbeigehen gesehen, sei aber zu schüchtern gewesen, sich zu zeigen. Bei der zweiten Ansprache frug sie mich beiläufig, ob ich manchmal mit dem Kronprinzen jage. Ich weiß nicht mehr genau, was ich antwortete, beiläufig aber mag ich erwidert haben, dass ich demnächst Gelegenheit haben werde, bei Meyerling im Wienerwald zu waidwerken.858“ Dieses Gespräch sollte später die Begründung werden, die Hoyos für seine Rechtfertigungsschrift anführte. Bei diesem Empfang sollen sich unerhörte Szenen abgespielt haben, über die es in der Forschung verschiedene Berichte gibt. Gräfin Larisch – die Mary nach 22 Uhr mit ihrer Kutsche bis zum Botschafter-Palais gebracht haben will, selbst jedoch nicht eingeladen war – schrieb in ihren Memoiren beispielsweise davon, dass Mary Vetsera beim Vorüberschreiten der Kronprinzessin nicht den vorgeschriebenen Hofknicks machte: „(...) als die Kronprinzessin an ihr vorüberkam, blickte sie ihr voll ins Gesicht, ohne sie zu grüßen. Die Augen der beiden Frauen trafen sich, und man erzählte mir, dass sie wie zum Sprung bereite Tiger ausgesehen hätten. Die Zuschauer blickten verdutzt drein, und gerade als jeder gespannt wartete, was jetzt wohl erfolgen würde, stampfte Mary einmal, dann noch einmal mit dem Fuße auf und warf den Kopf mit einer Bewegung tiefster Verachtung zurück. Jetzt stürzte die Baronin Vetsera herbei, die den Vorgang mit Entsetzen beobachtet hatte, hochrot vor Ärger und Scham über die öffentliche Beleidigung der Kronprinzessin durch ihre Tochter. Sie fasste Mary am Arm und zog sie schleunigst aus dem Ballsaal hinaus.859“ Dr. Konrad Ritter von Zdekauer, ebenfalls Gast der Soiree, berichtet über einen weiteren Zwischenfall der sich ereignete, als das Kronprinzenpaar den Empfang verließ. Während Stephanie bereits den Saal verlassen hatte, sprach der Kronprinz in der Tür stehend noch mit Graf Hoyos, fixierte dabei jedoch die Baroness Vetsera. „Bei einem späteren Besuch (...) bei der Prinzessin Reuss erzählte ihm diese, dass sich an diesen Vorfall beim Hinabschreiten des Kronprinzenpaares über die Treppe ein so heftiger Wortwechsel der beiden geknüpft habe, dass er auch von der im Vestibül befindlichen Dienerschaft vernommen wurde, die hierüber als von etwas ganz Ungewöhnlichem berichtet hätten.860“ Allerdings: der Legationsrat der Deutschen Botschaft, Anton Graf Monts, konnte sich an ein Wortgefecht nicht erinnern. Stattdessen sprach er längere Zeit mit dem Kronprinzenpaar am Fuße der mit Teppichen ausgelegten Haupttreppe, da der „rote Hermelinsamtmantel der Kronprinzeß“ – nach Judtmann ein langer graue Mantel – durch ein Versehen nicht zur Stelle war861.
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Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 858 Denkschrift des Grafen Hoyos, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 859 Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy, Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin ca. 1913 860 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 861 Nowak, Karl Friedrich und Thimme, Friedrich: „Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts“, Berlin 1932 140
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Von anderen Affronts berichten jedoch andere Augenzeugen wie der englische Botschafter, Sir Augustus Paget, und seine Gattin, Lady Paget, Louise von Coburg862, Italiens Botschafter Costantino Graf Nigra 863 oder Nora Gräfin Fugger nichts864. Sogar Kronprinzessin Stephanie, gegen die sich das Benehmen der jungen Baroness gerichtet hätte, erwähnt in ihren Erinnerungen den Abend nur in einem Satz – Rudolf und sie seien dort gemeinsam erschienen. Helene Vetsera erwähnt in ihrer Denkschrift auch keine peinliche Szene, berichtet jedoch über die Gespräche ihrer Tochter mit dem Grafen Hoyos. Der Einzig in der Familiengeschichte der Vetseras dokumentierte Vorfall an diesem Abend bezog sich auf den Verlust eines Saphirs aus Maries Armband, was Helene am folgenden Montag mit einem Billett bei Graf Monts reklamierte865. Die „Brillantriviére“ wurde tatsächlich nach langem Suchen im Kies des Hofes gefunden und am gleichen Tag in die Salesianergasse gebracht866. Fritz Judtmann folgert auf Grund der viele verschiedenen Äußerungen, „dass Mary Vetsera die Kronprinzessin beim Empfang des Prinzen Reuss nicht brüskiert haben dürfte.867“ Auch die Presse dieser Tage erwähnte keinen Zwischenfall. Es ist dennoch interessant, dass sich diese Behauptung bis heute immer noch unwidersprochen in der Forschung hält.
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Louise von Coburg sprach auf der Soiree mit dem Kronprinzen, der ihr gegenüber sagte: „Sie ist hier, ach, wenn ich mich doch nur von dieser unseligen Leidenschaft befreien könnte“. Der Kronprinz erschien seiner Schwägerin an diesem Abend „entsetzlich nervös und enerviert“. Um von der Baroness, die Rudolf meinte, loszukommen riet Louise von Coburg zu einer Reise ins Ausland: „Reise, wenn du wirklich von Liebe krank und zerrüttet bist, wirst du dadurch gesund werden.“ Prinzessin Louise von Coburg: „Throne die ich stürzen sah“, Amalthea Verlag, Wien 1927 863 Botschafter Costantino Graf Nigra (von 1885 bis 1904 in Wien) berichtet dazu am 06.02.1889 an den italienischen Ministerpräsidenten Francesco Crispi (geb. am 04.10.1819 in Agrigent, gest. am 11.08.1901 in Neapel): „Ich selbst sprach (mit der Baronin) und stand einige Zeit neben (der Baroness), nicht ohne zu bemerken, dass ihre Augen fortwährend auf den kaiserlichen Prinzen gerichtet waren. Man sagte mir, dass dieser zu ihr gesprochen habe. Ich habe es nicht gesehen. Aber es scheint sicher, dass die junge Dame während der Soiree entweder mündlich oder, wie man auch sagt, durch ein tags darauf übersandtes Billett den Prinzen benachrichtigte, dass sie ihn in Mayerling treffen wolle“, zitiert nach „Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane & Co, Berlin 1912. 864 Lady Paget indes hatte beim Empfang lange mit dem Kronprinzen gesprochen und will ihn „frappanter Weise wie alle Welt verändert“ an getroffen haben: „Er schien niedergeschlagen, traurig, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.“ Dies berichtet Alexander Graf Hübner ins einem Tagebuch nach einem Zusammentreffen mit Lady Paget am 03.02.1889 in Paris, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 865 Nowak, Karl Friedrich und Thimme, Friedrich: „Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts“, Berlin 1932 866 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 867 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 141
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Kapitel 2 Stichwort „Mayerling“
3. Die letzte Wiener Audienz – Montag, 28. Januar 1889
„Du bist nicht würdig, mein Nachfolger zu werden!“
Rudolfs Kammerdiener Carl Beck an Stephanies Kammerfrau Sophie von Planker-Klaps Wien, 28. Januar 1889
„Gegen Mitternacht in die Hofburg zurückgekehrt, begab sich der Kronprinz in sein Appartement (...) und soll dort noch den Journalisten Moriz Szeps empfangen haben, wie dessen Tochter Berta Zuckerkandl-Szeps in ihren Erinnerungen zu berichten weiß.868“ Der Kronprinz soll sehr erregt gewesen sein, was die Autorin mit der unbewiesenen Behauptung in Zusammenhang bringt, der Papst habe Rudolfs Ansuchen auf Annullierung der Ehe abgelehnt und den Brief an den Kaiser zurück geschickt. Ferner berichtet die Autorin, beim vorangegangenen Empfang im Hause des deutschen Botschafters habe der Kaiser so abweisend gewirkt, dass er den Kronprinzen brüskiert und dessen Gruß nicht mal erwidert habe. Allerdings: auch für diesen Umstand gibt es keinen Beweis. Mag vielleicht bei so vielen Ungereimtheiten auch das Zusammentreffen mit ihrem Vater an diesem Abend nicht stimmen? Gesichert ist indes, dass der Kronprinz in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar noch seine Geliebte Maria Caspar traf – nach Hoyos in der Wiener Burg, nach Agentenberichten der Polizei in deren Wohnung. Am Montagmorgen, dem 28. Jänner, war Rudolf jedoch wieder in der Burg. Schon vor neun Uhr soll er in Paradeuniform beim Kaiser erschienen sein. Welchen Grund der Besuch „in Parade“ hatte, ist nicht bekannt. Judtmann zitiert die Erinnerungen von Stephanies Kammerfrau, Sophie von Planker-Klaps, die ihr Sohn Erwin von Planker-Klaps veröffentlichte: „ (...) ungefähr um 9 Uhr früh, befand ich mich in einem der Garderobenzimmer (...), als der Kronprinz auf dem Weg nach seiner Audienz durchkam.“ Rudolf soll verstört und verfallen ausgesehen haben, seine Hand habe gezittert. Von Franz Josephs Kammerdiener Beck habe sie später erfahren, dass es während der Audienz „etwas Schreckliches gegeben haben [muss], denn der Kaiser soll gesagt haben: Du bist nicht würdig, mein Nachfolger zu werden!869“ Über die Gründe der Audienz spekuliert Judtmann und kommt zu drei Möglichkeiten, die er anführt: 1.
Rudolf könnte den Papst gebeten haben, seine Ehe mit Stephanie zu annullieren. Da dies für den Heiligen Vater nicht in Frage kam und eine Erschütterung der katholischen Monarchie ohne Beispiel bedeutet hätte, könnte der Brief an den Kaiser zurückgesandt worden sein. Bei einer Aussprache zwischen Vater und Sohn hätte es zu einer Szene kommen können, an deren Ende die kolportierte Aussage des Kaisers stand.
2.
Der Kaiser könnte von der Affäre des Kronprinzen mit Mary Vetsera gehört haben und von seinem Sohn verlangt haben, sich von der Baroness zu trennen und mit seiner Frau zu versöhnen. Der
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Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 142
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Kronprinz könnte nach Judtmann ein letztes Zusammentreffen mit Mary verlangt haben. Die Aussage des Kammerdieners passt zu dieser Version jedoch nicht. 3.
Rudolf könnte sich in Ungarn anlässlich der Wehrgesetzesnovelle engagiert haben und eine AntiHabsburg-Haltung eingenommen haben. Franz Josef könnte seinen Sohn politisch zur Rechenschaft gezogen haben – der zitierte Ausspruch passt zu dieser Version.
Welche Bewiese gibt es für dieses Treffen? Hollaender zitiert einen Brief, den Fürsten von Bismarck an die Witwe von Kaiser Friedrich III. geschrieben hat, in dem er von „violent scenes and altercations“ berichtete, was ihm aus Wien gemeldet worden war. Auch der englische Botschafter, Sir August Paget, berichtete an Lord Salisbury von „violent and serious altercations“. Lassen wir die Berichte der gewöhnlich gut unterrichteten Diplomaten gelten, so kann tatsächlich die Unterredung zwischen dem Kronprinzen und dem Kaiser hitzig verlaufen sein – doch die neueste Forschung verlegt sie vom Montag (28.02.) auf Samstag (26.01.), was auch Sophie von Planker-Klaps so mit Datum berichtet. Wenn Rudolf am Montag also nicht zunächst auf seinen Vater traf, so ist der erste dokumentierbare Besuch an diesem Tag der Journalist Berthold Frischauer870. Der Kronprinz hatte ihn angewiesen, „ihm die in der Nacht eingelaufenen Resultate der französischen Wahlen mitzuteilen. Der Kronprinz interessierte sich für den Ausgang dieser für die europäische Politik wichtige Wahl.871“ Frischauer erinnerte sich später, er habe dem Erzherzog die Abschriften der offiziellen Pariser Depeschen übergeben und dann die Burg verlassen. Er geht davon aus, dass Rudolf um 9.30 Uhr die Burg Richtung Mayerling verließ. Zwar ist diese Abfahrtszeit falsch, doch schließen wir daraus, dass der Kronprinz den Journalisten vor 9.30 Uhr empfing. Über eine zweite Unterredung des Thronfolgers mit Moriz Szeps an diesem Vormittag, wie sie Berta Zuckerkandl erwähnt, fand Judtmann im Szeps´ schen Nachlass keine Hinweise. Auch dieser Besuch muss daher als nicht gesichert angesehen werden muss. Nach Frischauer und Szeps soll Alexander von Battenberg872 den Kronprinzen in der Burg besucht haben. Battenberg hatte als Fürst von Bulgarien abdanken und den Namen Graf von Hartenau annehmen müssen. Jetzt wollte er in die österreichische Armee eintreten. Er erhoffte sich hierzu Hilfestellung durch den Kronprinzen. Im Verlauf des Gespräches soll Rudolf den Grafen mit den Worten „Ich habe morgen eine Jagd in Mayerling und würde mich freuen, wenn du auch dazu kämest“ eingeladen haben. Battenberg lehnte ab, da er in Wien lediglich Zwischenstation auf seiner Fahrt über Venedig nach Mentone gemacht hatte, wo die Frau auf ihn wartete, die er heiraten wollte. Über dieses Treffen berichtet einzig Conte Corti873. Tatsächlich war Battenberg zur Zeit der Tragödie nicht in Wien, denn Judtmann kann aus seinem Kondolenzschreiben vom 1. Februar 1889 zitieren in dem er erwähnt, dass er „noch vor einer 869
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Frischauer, Dr. Berthold, Journalist, stammt aus der Steiermark, geb. 1851, gest. 1924; am 21.08.1921 veröffentlichte die Neue Freie Presse seine „Kronprinzenlegenden. Aus meinen Erinnerungen an den verstorbenen Kronprinzen Rudolf“. 871 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 872 Battenberg, Alexander von; hessischer Adeliger; am 29.04.1879 auf Bestreben des russischen Zaren, Alexander II., von der bulgarischen Nationalversammlung als Alexander I. zum Fürsten von Bulgarien gewählt; annektiert 1885 Ostrumelien und beschwört damit einen Balkankrieg gegen Serbien; muss 1886 angesichts österreichischer Drohungen und unter dem Druck Russlands einen Waffenstillstand mit Serbien akzeptieren und verzichtet im „Frieden von Bukarest“ auf alle Gebietsanforderungen; im gleichen Jahr auf Befehl des russ. Zaren in Sofia verhaftet und nach einigen Wochen Haft in Russland zum Thronverzicht gezwungen; muss darauf hin Bulgarien verlassen und heiratet 1889 als Graf von Hartenau die Schauspielerin Johanna Loisinger (seine angestrebte Ehe mit der preußischen Prinzessin Viktoria, Tochter von Kaiser Friedrich III., wird von Fürst Bismarck hintertrieben und findet nicht statt); Battenbergs Nachfolger wird Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha, der 1908 die formelle Unabhängigkeit Bulgariens durchsetzt und sich zum Zaren krönen lässt. 873 Conte Corti, Egon Cäsar: „Leben und Liebe Alexanders von Battenberg“, Verlag Anton Pustet, Graz, 2. Auflage 1950 870
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Woche das Glück hatte, S. K. H. den Kronprinzen wohl und gesund in vollster Manneskraft zu sehen, zu sprechen und sich an dem Anblicke dieses herrlichen Prinzen zu erfreuen und zu erbauen.874“ Dies kann nicht der Beweis sein, dass Battenberg tatsächlich am 28. Jänner noch den Kaisersohn sah875. Als möglicher vierter Besucher an diesem Vormittag wird von Judtmann Oberstleutnant Meyer, Generalstabschef der 25. Infanterietruppendivision, genannt876. Der Kronprinz war Kommandeur dieses Truppenteils und die Besprechung dürfte Routine gewesen sein. Mayer soll den Kronprinzen „nach zehn Uhr“ verlassen haben877. Botschafter Reuß berichtet dazu an Fürst Bismarck: „Am 28. früh ist dem dienstthuende Adjutanten die unaufmerksame und flüchtige Art aufgefallen, mit der der Prinz ganz wider seiner Gewohnheit die zum Vortrag gebrachten militärischen Angelegenheiten erledigt hat. Der Erzherzog hat sich zum Schluss mit der sehr heftigen Kopfschmerzen entschuldigt, das beste Mittel gegen Kongestionen würde Landluft sein und er möchte daher so bald als thunlichst nach Mayerling fahren, um darselbst ein paar Tage zu jagen.878“ Damit sind von vier möglichen Besuchen nur der von Frischauer bestätigt; Mayer kann aus Routine gekommen sein, doch dies muss nicht so sein. Szeps ist nicht nachzuweisen, Battenberg unmöglich. Als feste Termine des Kronprinzen sind an diesem Tag der Besuch des Erzbischofs von Prag879, Dr. Franz Graf Schönborn-Buchheim-Wolfstal880, und die Sitzung des Museumsvereins im Heeresmuseum im Wiener Arsenal881 überliefert. An beiden Treffen nahm Rudolf nicht mehr teil – er sagte aber auch nicht mehr ab! Der Kronprinz war bereits auf dem Weg nach Mayerling...
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zitiert in Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Battenberg will am Montag, 28.01.1889, den Kronprinzen getroffen haben. „Dieser fragte: Wie lange bleibst du noch in Wien? – Ich fahre heute Abend nach Italien weiter. – Bleib doch noch da, ich habe morgen eine Jagd in Mayerling und würde mich freuen, wenn du auch dazu kämest.“, zitiert nach Conte Corti, Egon Cäsar: „Leben und Liebe Alexanders von Battenberg“, Verlag Anton Pustet, Graz, 2. Auflage 1950. Wir halten es nicht für wahrscheinlich, dass der Kronprinz an diesem Tag mit Battenberg zusammentraf, sondern am Samstag oder Sonntag. 876 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 877 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 878 Archiv Auswärtiges Amt Bonn. Österreich 86 Nr. 1a Band 2, Wien 31.01.1889 879 Judtmann beruft sich bei der Zeitangabe 13 Uhr auf Mitis, der diesen Termin aus dem Tagebuch des Flügeladjutanten zitierte. Allerdings war auch um 13 Uhr das Treffen im Arsenal geplant. 880 Schönburg-Buchheim-Wolfstal, Dr. Franz von, gest. 25.06.1899 in Sokolov; 1883-1885 5. Bischof von Ceské Budejovice; von Papst Leo XIII. am 24.05.1889 zum Kardinal ernannt; 1885-1899 28. Erzbischof von Prag 881 Die Sitzung war für 13 Uhr anberaumt, die Teilnehmer warteten zwei Stunden lang bis 15 Uhr auf das Erscheinen des Erzherzogs, der 1885 das Protektorat über den Verein übernommen hatte. Quelle: Gästebuch des Heeresgeschichtlichen Museumsvereins für den 29. Jänner 1889, Inv. Nr. I/21.536 875
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Kapitel 3 Die „Flucht“ nach Mayerling
1. Der Vorsprung
„Es ist der Wunsch, dass die Vergangenheit so viel als möglich unergründet bleibt.“
Marie Gräfin Larisch an Baron Krauß Wien, 28. Jänner 1889
„Wir haben die Ereignisse und Daten, die Charaktere und Äußerungen der handelnden Personen erforscht und Rudolf auf seinem Lebensweg verfolgt.882“ Fritz Judtmann geht davon aus, dass sich ab Montag, 28. Januar 1889, alle Ereignisse nach einem Plan des Erzherzogs entwickeln. An dieser Stelle versuchen wir, die parallel verlaufenden und oftmals verwirrenden Zeit- und Handlungsstränge aufzuzeigen. Zu Erläuterung ist die nachstehend wiedergegebene Tabelle (Kapitel 3.1.A) zu nutzen. Um zu untersuchen, wie Mary Vetsera aus Wien verschwand und auf welche Weise Gräfin Larisch darin eingebunden war, stehen derzeit folgende Quellen zur Verfügung: die Selbstdarstellung der Baronin Vetsera in ihrer Denkschrift (Juni 1889) das offizielle Einvernahme-Protokoll des die Gräfin Larisch kutschierenden Fiakers Franz Weber (28.01.1889) die Memoiren der Gräfin Larisch (1913) das offizielle Protokoll mit dem Kutscher Josef Bratfisch (Februar 1889) diverse Zeitungsmeldungen (Februar 1889)
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Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 145
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Kapitel 3 Die „Flucht“ nach Mayerling
2. Der Zeitplan der Gräfin Larisch
„Ich bitte Sie dringend, auch in diesem Falle meine Confidenzen zu verschweigen.“
Marie Gräfin Larisch an Baron Krauß Wien, 28. Jänner 1889
„Bevor wir die Fluchtwege der Baroness Vetsera und die Fahrten der Gräfin Larisch rekonstruieren883“, wollen die Schauplätze der Geschehnisse am Montag, dem 28. Januar 1889, betrachten. Das Palais der Familie Vetsera in der Salesianergasse 11 haben wir bereits im Kapitel 1 beschrieben. Vom Stadtpalais der Familie im 3. Bezirk zur Hofburg im 1. Bezirk fuhr man seinerzeit am besten folgende knapp 1,7 Kilometer lange Route, die Fritz Judtmann bereits 1968 veröffentlichte (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von 1895): Palais Vetsera Salesianergasse Rennweg Hochstrahlbrunnen Schwarzenbergbrücke Schwarzenbergplatz Schwarzenbergstraße Walfischgasse Philharmonikerstraße Albrechts Platz Hofburg Gräfin Larisch hatte das Palais Vetsera in der Salesianergasse per Fiaker vom Grand Hotel884 aus erreicht, wo sie abgestiegen war. Hierbei nutzte sie den Fiaker Nr. 58, den Franz Weber an diesem Tag lenkte885. Er war vom Hotel
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Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Die Errichtung des „Grand Hotels Wien“ geht auf das Jahr 1870 zurück, in dem nach den Entwürfen des Ringstraßenarchitekten Carl Tietz der prachtvolle Bau an der Wiener Ringstraße entstand – und so das heute das älteste Wiener Ringstraßenhotel. Nach zahlreichen umsatzstarken Jahren war das Hotel von 1958 und 1979 Hauptsitz der Internationalen Atomenergieagentur
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von seinem Standplatz an der Schwarzenbergstraße – d.h. wahrscheinlich an der Kreuzung der Schwarzenberg Straße und dem Kärntner Ring – „für eine Gräfin“ bestellt worden. Weber kutschierte die Gräfin, so Judtmann, den gesamten Vormittag über, d.h. auch von der Burg über den Zwischenstopp am Kohlmarkt zurück zur Salesianergasse, dann zum Polizeipräsidium und zuletzt zum Grand Hotel retour. Dies ist außergewöhnlich, da Josef Patzler886 mit dem Fiaker Nr. 359 in Wien ständiger Kutscher der Gräfin war und dieser in seiner Abwesenheit vom Fiaker Nr. 880 bei der Gräfin vertreten wurde887. Auf der Fahrt von der Salesianergasse aus in die Burg machten die Gräfin und die Baroness, wie die Larisch später berichtet, noch im Wäschegeschäft „Zur weißen Katze“ Besorgungen. Das Ladenlokal befand sich im Gebäudekomplex des „Hotel Sacher“, also dem Eckhaus Kärntnerstraße 38888. Von hier musste der Fiaker nur der Walfischgasse entlang der Rückseite der Hofoper (heute: Philharmonikerstraße) folgen und dann am Albrechts Platz zur Anfahrt vor die Burg zwischen den beiden Varianten Augustinerstraße (zum Josefsplatz) oder über die heutige Hanuschgasse auf die Augustinerrampe (zum Augustinergang) wählen. „Die Augustinerbastei ist einer der wenigen Reste der alten Befestigungsanlage der mittelalterlichen Stadt, der nach der Stadterweiterung von 1857 erhalten blieb. Früher war das hochgelegene Plateau mit dem Palais des Erzherzogs Albrecht – heute graph. Sammlung Albertina889 – über drei Rampen zugänglich. Über die Auffahrt hinter dem Burggarten fuhr Marie Larisch mit Mary Vetsera am Vormittag des 28. Jänner zu dem Eingang in die Hofburg.890“ Die Verbindung zwischen dem Palais des Erzherzogs Albrecht und dem Schweizerhof-Trakt der Burg schuf ein, nach
IAEA. 1980 zogen die Österreichische Nationalbank und die Bundesbaudirektion ein, ein Großteil des Gebäudes stand jedoch in diesen Jahren bereits leer. 1989 wurde das Gebäude von der Japanischen Fluggesellschaft All Nippon Airways gekauft. Die historische Prunkfassade des Palais Corso, dessen Westtrakt das Hotel einnimmt, wurde bei der folgenden Rekonstruktion erhalten und das Innenleben wurde von Grund auf neu gestaltet. Auf einer Gesamtfläche von rund 27,000 m² entstand ein Luxushotel mit insgesamt 205 Zimmern und Suiten. Darunter eine Präsidenten Suite, 9 Deluxe Suiten, 19 Junior Suiten und 47 Deluxe Zimmer. Seit der Wiedereröffnung im Jahre 1994 hat sich das Luxushotel "Grand Hotel Wien" (bis Oktober 2002 "ANA Grand Hotel") sowohl im In- als auch im Ausland einen hervorragenden Ruf aufgebaut. 885 Polizei-Cimmissär Habrda nahm – nachdem Gräfin Larisch dem Polizeipräsidenten vom verschwinden der Baroness Vetsera berichtet hatte, mit dem damals 32-jährigen Fiaker noch am 28. Januar 1889 ein Protokoll auf, in dem die Lüge der Baronin von der Flucht Mary Vetseras aus seinem wagen bestätigt wurde. 886 Josef Platzer fuhr für den Fuhrunternehmer Fux in Penzing, Schmidtgasse 20, und hatte seinen Standplatz in der Walfischgasse, d.h. zwei Querstraßen hinter dem Grand Hotel. 887 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 888 auch: Kärnthnerstraße 889 Die Stadtmauer, die unter Pr¡emysl Ottokar im 13. Jahrhundert errichtet und ab 1435 mit Bollwerken verstärkt wurde, hatte eine Länge von 4,5 Kilometern und war zuletzt mit neunzehn Türmen und sieben Toren ausgestattet. Die Mauer dürfte rund sechs Meter hoch und ein bis zwei Meter mächtig gewesen sein. Wegen der steten Türkengefahr wurden die hoch- und die spätmittelalterliche Stadtbefestigung 1544 bis 1564 mit einzelnen Bastionen ausgebaut. Die Kurtine zwischen Kärntner- und Burgbastei vor dem Augustinerkloster wurde erst 1596 provisorisch in Form einer mächtigen Erdanschüttung errichtet. 1745 erhielt der Hofbaudirektor Emanuel Teles Graf Sylva-Tarouca von Kaiserin Maria Theresia die Erlaubnis, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf der Augustinerbastei errichtete Hofbauamt zu einem eigenen Palais um- und auszubauen. Von 1859 bis 1863 wurde schließlich der zwischen Hofburg und Albertina gelegene Teil der Befestigungsanlage geschleift. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts an bis zum Ende der Monarchie diente das Palais Herzog Albert und seinen Erben als Wohngebäude. Im Frühjahr 1919 ging das Objekt in den Besitz der Republik Österreich über. Der Trakt der schmalen Stirnseite hinter dem Reiterdenkmal Erzherzog Albrechts wurde im März 1945 durch Fliegerbomben schwer beschädigt und in vereinfachter Form wieder errichtet. Der gestreckte, dem Burggarten zugewandte Trakt der Albertina wurde zwischen 1801 und 1805 nach Plänen des belgischen Architekten Louis von Montoyer unter Herzog Albert errichtet. Das Gebäude mit einer Länge von rund 240m war seit 1994 für Besucher geschlossen. Vor Beginn der Albertina-Sanierung 1997 konnte man durch die Hanuschgasse über eine Rampe mit einer Kehre auf den Vorplatz der Albertina gelangen. Durch die Neuschaffung eines Studiengebäudes wurde die Kehre zum Teil auf das Dach des Studiengebäudes verlegt und die Rampe aufgesteilt. Die historische Basteimauer inklusive der Baumzeile wurde nach Fertigstellung der Rohbauarbeiten wieder errichtet. Eine neu errichtete Freitreppe, deren Fuß in unmittelbarer Nähe des Einganges in den Burggarten liegt, ermöglicht ebenfalls den Zugang zur Bastei. Die „neue“ Albertina wurde im Herbst 2003 als Museum neu eröffnet. 890 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 147
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dem benachbarten Augustinerkloster „Augustinergang891“ benannter, einstöckiger Flachbau gegenüber der Hofbibliothek892. An der Kehre der Auffahrtsrampe befand sich eine Eisentür, durch die man u.a. – durch ein ovales Stiegenhaus – auf das zur Terrasse mit Geländer ausgebaute Flachdach des Traktes kam. Hier hatte Kaiser Franz I.893 einst Glashäuser errichten lassen, um auch im Winter seiner gärtnerischen Leidenschaft nachzukommen. Am Ende des Augustinerganges konnten die Appartements des Kronprinzen betreten werden – entweder über die Dachterrasse und durch den Wintergarten in das Billardzimmer oder durch ein Fenster in den Raum der Garderobe bzw. im Parterre durch einen langen Korridor und eine zweite Treppe im Schweizerhoftrakt. Mit äußerster Akribie und auf Basis eines Bauplanes der Burghauptmannschaft hatte bereits 1968 Professor Fritz Judtmann das Appartement des Kronprinzen im zweiten Stock des Schweizerhoftraktes, wie es bis zur Hochzeit 1881 bzw. den diversen Umstellungen durch Rudolfs Witwe Stephanie Mitte Februar 1889 bestanden hatte, genauer beschrieben. Auf Grund neuer Publikationen und eigener Forschung sind wir in der Lage, diese Beschreibung nun zu präzisieren. Nach dem Tode von Carolina Augusta894 am 9. Februar 1873 wurden die Räume der Großtante für den damals 15-jährigen Kronprinzen frei und zunächst umfangreich saniert895. Die Entwürfe für die Inneneinrichtung mit Wandverkleidungen aus geschnitztem Nussbaumholz im Stil des Neorokoko stammten vom Hauptmann der Burghauptmannschaft, Ferdinand Kirschner896. Die Decken wurden stuckiert, die Gumpendorfer „Firma für Maschinenparquetten897“ von Carl Leistler898 legte Parkettfussböden, die „Erste österreichische Thüren-, Fenster- und FussbodenFabriks-Gesellschaft“ von Matthias Markert erneuerte die Türen und Fenster. Teppiche und Stoffe lieferte die Firma Philipp Haas & Söhne899, während die Möbelstoffe für das Billardzimmer die Pariser Firma L. Berchoud & Guereau fertigte900. 891 „Neuer Augustinergang“. Es handelt sich um mehreren Sälen, mit deren Bau noch zu Lebzeiten Kaiser Franz I. begonnen wurde und die die kaiserlichen Sammlungen aufnehmen sollten. Er löste einen bereits Mitte des 16. Jahrhunderts erbauten Gang, der vom Schweizerhof zur Augustinerkirche und zum Erzherzog-Karl-Palais führte, ab. Der Gang begann an der Südecke der ältesten Burgteile, am Schweizerhof, und verlief, drei kleine Höfe bildend, in geringem Abstand parallel zur Hofbibliothek in Richtung auf die heutige Albertina, die in ihrer damaligen Form ein aus den Gebäuden der aufgelassenen niederländischen bzw. italienischen Staatskanzleien zusammengesetzter Palaiskomplex war. 892 Als 1893 die „Neue Burg“ gebaut wurde, wurde der Augustinergang weitgehend abgetragen. 893 Kaiser Franz I./II., geb. 12.02.1768, gest 02.03.1835. Er war als Franz II. der letzte Kaiser des Hl. Römischen Reiches und als Franz I. der erste Kaiser von Österreich; beigesetzt in der Kaisergruft bei den Kapuzinern in Wien/Franzensgruft. 894 Carolina Augusta (auch: Karolina Augusta), geb. 08.02.1792, gest 09.02.1873. Sie war die vierte Gemahlin von Kaiser Franz I./II.; beigesetzt in der Kaisergruft bei den Kapuzinern in Wien/Franzensgruft. 895 Kirschner, Ferdinand: Grundriss des Appartements von Kronprinz Rudolf, 1874; HHStaA, Plansammlung: K II F 10 896 Kirschner, Ferdinand, geb. 18.05.1821 in Wien, gest. 03.03.1896 in Wien, Architekt. Ab 1850 Baubeamter im Staatsdienst, 1858 Hofarchitekt, 1865-68 führte er Restaurierungen auf dem Hradschin in Prag aus; 1870-95 Burghauptmann in Wien, besorgte Adaptierungen und Planungen im Bereich der Hofburg (unter anderem Dekoration der Redoutensäle 1892, zum Teil 1992 verbrannt) und Sargentwürfe für die Kapuzinergruft (Kronprinz Rudolf, 1889). Sein Hauptwerk ist der Michaelertrakt der Wiener Hofburg (1889-93). 897 Von 1942 bis 1849 war bei dem Wiener Tischlermeister Carl Leistler Michael Thonet (1796-1871) als Subunternehmer beschäftigt. 898 Leistler, Carl, beigesetzt am 12.01.1903 auf dem Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 46E, Nr. 2. 899 Haas, Philipp, geb. 07.06.1791 in Wien, gest. 31.05.1870 Bad Vöslau (Niederösterreich), Industrieller. Begann 1825 nach Absolvierung der Manufakturzeichenschule in einer eigenen Werkstätte mit der Erzeugung von Kleiderstoffen, 1831 von Möbelstoffen und 1845 von Teppichen; nach Eintritt seiner Söhne Eduard Haas (1827-1880) und Robert Haas (1825-1876) führte das Unternehmen, das bis 1982 bestand, ab 1851 den Namen „P. Haas & Söhne“. 1866-67 entstand am Stock-im-Eisen-Platz 6, gegenüber dem Stephansdom, ein prunkvolles Gebäude im Auftrag des Teppichhauses „Philipp Haas & Söhne“ von August Siccard von Siccardsburg und Eduard Van der Nüll. Es war Wiens erstes Warenhaus in Eisenständerbauweise, verkleidet mit einer schweren Steinfassade des Strengen Historismus. Nach seiner Zerstörung 1945 wurde dieses Gebäude 1951-53 durch einen Neubau von Carl Appel, Max Fellerer und Wörle ersetzt. Dieses Haus wurde 1985 zugunsten des am 19.09.1990 eröffneten, heutigen HaasHauses abgetragen. 900 Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997
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Der Hauptzugang in die Räume Rudolfs erfolgte vom Schweizer Hof901 über die so genannte Säulenstiege902 in das zweite Geschoss und dort einen längeren Korridor aus. Fünf von insgesamt 15 Zimmern hatten Fenster zum Schweizer Hof – nämlich das Vorzimmer I903 am Gang zur Säulenstiege, der Sammlungs-Raum der „Privat-Studium“ Bibliothek904, das Studienzimmer905, eine Küche906 sowie das an die Burgkapelle angrenzende Vorzimmer II907 mit einem Zugang zur Kapellenstiege908. Die anderen Räume – das Speisezimmer909, ein Salon910, das Lernzimmer911, ein kleiner Salon als Kabinett912, das Schlafzimmer, ein Kavalierzimmer913, ein Kammerdiener-Zimmer, die Garderobe und das Billardzimmer914 mit vorgebautem Glaserker und Türen auf das Terrassendach des Augustinerganges – boten Ausblick auf den äußeren Burgplatz. An diese Fassade schließt sich nach einem Innenhof der anfangs des 20. Jahrhunderts begonnene und teilweise erst nach dem zweiten Weltkrieg fertig gestellte Festsaaltrakt als Verbindungsbau zwischen Alter und Neuer Burg an. Das Türhüterzimmer hatte ein kleines Fenster zum Kapellenhof sowie Zugang zu einer weiteren Stiege. Die zwei innerhalb des Appartements liegenden Korridore und die vom Lernzimmer abgeteilte Kapelle von Kaiser Franz I. waren ohne Fenster. Mit dem Einzug des minderjährigen Erzherzogs war die Umgestaltung der Räume noch nicht abgeschlossen, denn 1877 erfolgte der Einbau eines Bades915 im Kavalierszimmer; zudem wurden nach und nach auch weitere Möbel angeschafft.
901 Schweizer Hof, Hof der ältesten Burganlage, seit 1494 gepflastert; benannt nach der Schweizer Garde, die von Kaiserin Maria Theresia zur Bewachung eingesetzt wurde. 902 Die Säulenstiege liegt linker Hand zum Schweizertor und vis-á-vis der Botschafterstiege. 903 heute: Bundesdenkmalamt 904 Bibliothek: nach der Hochzeit wurde die Bibliothek in ein Speisezimmer umwandeln; nach Rudolfs Tod wurden die Bestände seiner Bibliothek laut testamentarischer Verfügung in die kaiserliche Fideikommiß-Bibliothek übertragen. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 905 Studienzimmer: nach der Hochzeit 1881 als Kabinett genutzt. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 906 Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 907 Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 908 Auf einem Plan der Burghauptmannschaft, abgebildet bei Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997 von 1874 heißt diese Stiege indes Kapellenstiege 909 Speisezimmer als „Ahnensaal“: 12 Meter Breite mal neun Meter Tiefe; dunkle Holzvertäfelung, in die großformatige Ölgemälde mit Habsburger-Portraits eingelassen sind. Rudolf hatte sich hierfür 12 Familienportraits in Lebensgröße gewünscht; drei Bilder wurden nach einer Restaurierung der Galerie im Belvedere entliehen, die fehlenden neun Kaiserportraits wurden bei verschiedenen Malern in Auftrag gegeben, 1876 fertig gestellt und montiert. Nach Rudolfs Hochzeit diente der Raum als Durchgangssalon. Heutige Bezeichnung: Ahnensaal des Bundesdenkmalamtes. Er wird für Veranstaltungen bzw. Besprechungen genutzt. 910 Gobelinsalon: in dem von Ferdinand Kirschner mit Tapisserien aus den Beständen der kaiserlichen Sammlungen und edlem Holz ausgestattetem Gobelinsalon (Burghauptmannschaft Wien, Plansammlung: K III F 8) wurde nach der Hochzeit 1881 das „Türkische Zimmer“ als Herren- bzw. Arbeitszimmer eingerichtet. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 911 Lernzimmer: In diesem Zimmer, dem Schlafzimmer des Kaiserpaares, starb am 02. März 1835 Kaiser Franz II./I. an einer Lungenentzündung. Eine Mauer trennt die schmale Privatkapelle des Kaiserpaares mit einem Altarbild des Biedermeierkünstlers Leopold Kuppelwieser (geb. 1796, best. 1862), Professor der Malerei an der k.k. Akademie der bildenden Künste, vom übrigen Zimmer ab, das nach der Hochzeit 1881 als „olivgrüner Salon“ bezeichnet wurde. Das großformatige Altarbild zeigt den neben einer Krone knienden Herrscher im Ornat vor der Kulisse Wiens; ihm gegenüber thront auf einer Wolke der sich an einem Kreuz lehnende auferstandene Christus. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation. 912 Kabinett: nach der Hochzeit 1881 ließ Erzherzogin Stephanie das Kabinett zu einem Boudoir umwandeln. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 913 Kavalierzimmer: für Rudolfs Erzieher, Feldmarschalleutnant Latour bestimmt. N ach Rudolfs Tod ließt Erzherzogin Stephanie das Kavalierzimmer in ein großes Badezimmer umwandeln. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation 914 Billardzimmer: nach der Hochzeit 1881 wurde das Billardzimmer als Wintergarten ausgebaut. Heute: Verwaltung Wiener Hofmusikkapelle 915 Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997
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Nach Rudolfs Hochzeit am 10. Mai 1881 wurde das Junggesellen-Appartement erweitert916. Die Umgestaltung erfolgte durch die in Wien als Hoflieferant ansässige französische Firma „Société commercial de Paris“ von August Portois – allerdings gegen den Widerstand der Wiener Möbelproduzenten und Ausstattungsunternehmen. Die Erweiterung des Appartements erfolgte über zehn Räume in den Leopoldinischen Trakt der Hofburg hinein. Dort wurden u. a. zwei Salons für die Kronprinzessin mit Blick auf den Burgplatz sowie eine Kindkammer eingerichtet. Auch einige Räume des ehemaligen Junggesellen-Appartements wechselten ihre Funktion – und somit bereits acht Jahre früher, als Judtmann vermutet hatte917. Nach Rudolfs Tode erfolgte eine weitere Umgestaltung – für 14.300 Gulden wurden die Räume für die junge Witwe hergerichtet. 1892 lieferte die Firma Kowy & Iwinger neue Möbel für 1.249 Gulden und fünf Jahre später überarbeitete die gleiche Firma die Möbel und Dekorationen im Toilettraum der Erzherzogin918. 1902 wurde nach der Hochzeit von Rudolfs Tochter Elisabeth deren Kammer aufgelöst und die Rekonstruktion – vor allem des Arbeitszimmers von Kaiser Franz I., das bis 1881 im Originalzustand erhalten war – in Angriff genommen919. Nach der Wiedervermählung Stephanies wurde das Appartement von Erzherzog Peter Ferdinand von Toskana920 bewohnt und anscheinend weiter verändert. Heute beherbergen die Räume die Büros des Bundesdenkmalamtes sowie die Verwaltung der Hofmusikkapelle921. Moritz Szeps berichtete, er habe den Kronprinzen einmal gegen Mitternacht in seinem Appartement besucht und sei dabei von Rudolfs Diener Nehammer vom Josefsplatz aus in die Burg und dort über verschiedene Gänge und Stiegen in den dritten Stock geführt worden, von wo es über eine steile und unbeleuchtete Holztreppe in ein Vorzimmer des Kronprinzen gegangen sei. Hier musste der Journalist warten und konnte die an den Wänden hängenden Ahnenbilder betrachten. „Eine Überprüfung dieses nächtlichen Weges brachte das überraschende Ergebnis, dass diese Holzstiege tatsächlich vom dritten Stock, wo die Garderobenräume des Kronprinzenpaares untergebracht waren, in das zweite Vorzimmer hinabführte und anscheinend auch sonst für diskrete Besuche des Kronprinzen verwendet wurde.922“ Die Burghauptmannschaft hatte dieser Stiege XXXIII auf einigen Plänen und im zugehörigen Widmungsbuch über die Verwendung von Räumen den Namen „Vetsera-Stiege“ gegeben. Noch einige Jahre vor Fertigstellung des Judtmann-Buches war diese Stiege erhalten – sie wurde erst 1962 beim Neubau der Orgel923 in der Burgkapelle aus Platzgründen abgetragen924. 916
Kirschner, Ferdinand: Grundriss des Appartements von Kronprinz Rudolf nach dessen Hochzeit, gezeichnet 1889, Burghauptmannschaft Wien, Plansammlung: K III F 8 917 Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997 918 1897 hatte dazu Sandor Jaray einen Kostenvoranschlag für „Die Herrichtung und Neubeziehung der Möbel und Decorationen in dem Toilettraum Ihrer kaiserlichen Hoheit der durchlauchtigsten Kronprinzessin-Witwe Stephanie“ eingeholt; Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege“, Hefte ¾, Wien 1997 919 Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997 920 Erzherzog Peter Ferdinand Salvator Karl Ludwig Maria Joseph Leopold Anton Rupert Pius Pancrazwas von Toskana, geb. 12.05.1874, gest. 1948. 921 Freundliche Mitteilung von Magister Andrea Böhm, Bundesdenkmalamt, Wien 27.01.2004 922 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 923 1862 wurde dem schlesischen Orgelbauer Carl Friedrich Ferdinand Buckow der Auftrag für den Bau einer neuen Orgel im hochromanischen Stil für die Burgkapelle erteilt. Die Buckow-Orgel stand jedoch von Anfang an im Gegensatz zu den aufführungspraktischen Anforderungen der Hofmusikkapelle; u.a. wirkte Anton Bruckner als Hoforganist an diesem Instrument. 1940 wurde mit der Göttinger Firma Paul Ott ein Vertrag über eine neue Orgel mit 28 Stimmen auf drei Manualen abgeschlossen. Die großen Zinnpfeifen der alten Orgel werden bei einem Bombenangriff in Göttingen vernichtet; der Neubau wird nicht ausgeführt. Aus Platzgründen erfolgte 1951 die Versetzung der alten Buckow-Orgel in den Turmbogen; das Gehäuse wurde entfernt, ein "blinder" Zinkprospekt errichtet, Traktur und Windladen mangelhaft repariert. 1962 wurde die historische Orgel endgültig durch einen Neubau der 1957 in Guntramsdorf von Werner Walcker-Mayer (geb. 01.02.1932 in Ludwigsburg/D, gest. 13.11.2000) ge150
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Doch zurück zum 28. Januar 1889: Durch vorstehende Untersuchung können wir den Weg der Gräfin Larisch und Maries genau rekonstruieren – die beiden Frauen wurden, vielleicht von Loschek925, an der Eisentür an der Augustinerrampe abgeholt, über die Stiege auf das Dach des Augustinerganges geführt und – so die Gräfin später – durch die Fenster der Garderobe oder der benachbarten Kammer in das Apartment gelassen. Durch das Türhüterzimmer, den ersten Korridor, das Vorzimmer II und den zweiten Korridor gelangten sie dann in das von einem orientalischen Zelt dominierte „Türkische Zimmer926“, das der Kronprinz nach der Hochzeit 1881 im Gobelinsalon hatte einrichten lassen. Der Raum machte, so ein Journalist, den „Eindruck eines Künstler-Ateliers“ und war dem Zeitgeist folgend ein Produkt des Gründerzeit-Historismus und der Makart-Ära927. Nach der Unterredung mit ihrem Cousin verließ Gräfin Larisch vermutlich ebenfalls über den Dach des Augustinerganges die Hofburg und fuhr mit dem dort noch wartenden Fiaker zur Galanteriewarenhandlung der „k.u.k. Hoflieferanten Gebrüder Rodeck928“ am Kohlmarkt 7929 und von dort zurück zum Palais Vetsera. Dabei nutzte sie, Judtmann folgend, diese rund 2,5 Kilometer lange Wegstrecke (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von 1895): Hofburg
gründeten niederösterreichischen Orgelbau-Firma Walcker-Mayer ersetzt. Die abgetragene Buckow-Orgel wurde 1968 dem Technischen Museum Wien überlassen, wo sie heute noch ausgestellt ist. Zuletzt erforderte der Zustand der Walcker-Orgel monatliche Reparaturen für einen Notbetrieb, eine Generalsanierung kam nicht in Frage. 2001 wurde der Auftrag für einen Neubau an die Schweizer Orgelbau Kuhn AG erteilt, deren Orgel am 18. September 2003 geweiht wurde. Die Walcker-Orgel indess wurde 2004 im Wienerwalddom zu Eichgraben wieder aufgestellt; freundliche Mitteilung von Michael Walcker-Mayer an den Verfasser, Guntramsdorf, 19.08.2004 924 Pläne über die Errichtung der Walcker-Mayer-Orgel und die notwenidigen Umbauten gibt es beim Hersteller nicht mehr; freundliche Mitteilung von Michael Walcker-Mayer, Guntramsdorf, 19.08.2004 925 Die Larisch berichtet, Loschek habe sie „stumm und mit blasierter Mine“ am 28. Januar geführt. Glaubt man indes Püchel, wo war der Kammerdiener bereits am Morgen mit dem Wirtschaftspersonal nach Mayerling gefahren, was dieser auch in seinen Erinnerungen bestätigt: Abfahrt ¾ 9 Uhr (= 8:45 Uhr) vormittags mit einem Hofwagen zum Südbahnhof, um den Zug nach Baden zu erreichen. Da Loschek also nicht mehr in Wien war, dürfte Rudolf Carl Nehammer für den Dienst des verschwiegenen Führers eingesetzt haben. 926 „Türkisches Zimmer“; diesem Raum kommt eine besondere Bedeutung zu, da dort der Schreibtisch des Kronprinzen stand. Das Aussehen des Raumes ist aus einer um 1855 entstandenen Gouache in Grisaille auf Papier (HM, Inv. Nr. 166.515) des Illustratoren Wilhelm Gause bekannt, die u.a. in der „Neue Illustrierten Zeitung“ vom 17.02.1889 veröffentlicht wurde. Der Raum war größtenteils mit Möbel eingerichtet worden, die der Kronprinz von seiner Orientreise 1881 mitgebracht hatte. Da es sich dabei weitgehend um Privateigentum des Erzherzogs handelte, sind die 151 Einzelpositionen detailliert im Nachlassinventar aufgeführt. Eine erste Rekonstruktion des Raumes wurde zur Ausstellung „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“ 1988/1989 in der Wiener Hermesvilla versucht; eine Dauerhafte Rekonstruktion findet sich in den Schauräumen der Bundesmobiliensammlung Wien. 927 In den 80-er und 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten z.B. auch der der Orientforscher Max Freiherr von Oppenheim (15.07.1860 - 15.11.1946) in Wiesbaden ein ähnlich gestaltetes Zimmer voll Illusionen aus 1000 und einer Nacht. 928 Die „Leder-, Holz- und Bronze-Galanteriewarenhandlung“ wurde von den Brüdern Emil und Ludwig Rodek geführt. Eine Darstellung der Ladenfront findet sich bei Judtmann, der in den 60-er Jahren mit dem Erben, Dr. Wilhelm Rodeck, Kontakt hatte. Dieser wohnte in der Auhofstraße 28-30 in 1130 Wien. Er verstarb am 28.08.1974 und wurde am 03.09.1974 auf dem Hietzinger Friedhof, Gruppe 14, Nr. 65 beigesetzt. Seine Gattin, Margaretha, wurde am 17.11.1994 in gleicher Gruft beigesetzt. Das Grabnutzungsrecht ist auf Friedhofsdauer angelegt. Unsere Recherche zum Nachlass des Dr. Wilhelm Rodeck brachte das Ergebnis, dass Margaretha Rodeck viele Objekte – u.a. auch aus der Rodeck´ schen Kunstsammlung – nach dem Tode ihres Mannes an einen Antiquitätenhändler aus der Schweiz verkaufte und hierbei „über den Tisch“ gezogen wurde. Weder der Name des Käufers, noch die verkauften Objekte waren zu recherchieren; ebenso fanden sich keine weiteren Bilder der Geschäfts oder Informationen zum Besuch der Baroness Vetsera im Geschäft. Freundliche Mitteilung eines Großneffen des Dr. Wilhelm Rodeck, Wien, 25.06.2006 929 Das 4-geschossige klassische Bürgerhaus mit mittig liegendem Hof und gegliederter Fassade wurde 1841 am Kohlmarkt 7 von Architekt Leopold Meier errichtet. Im Vorgängerbau wohnte von Februar bis 23. April 1783 Wolfgang Amadeus Mozart mit Familie. Star-Architekt Hans Hollein gestaltete 1981/1982 das im Erdgeschoss ansässige Juweliergeschäft von Herbert Schullin. Von 1901 bis Ende 2001 befand sich im Haus Kohlmarkt 7 die „Papierhandlung Huber & Lerner“ (heute übersiedelt zur Weihburggasse 4). Auf diesem historischen Unterbau wurde 2006/2006 im Auftrag der Raiffeisen Leasing durch das renommierte Architekturbüro "w.quadrat" von Arch. Dipl.-Ing. W. Ullrich ein dreigeschossiger Dachaufbau der Luxusklasse realisiert werden: „The Max“. 151
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Hanuschgasse Albrechts Platz Augustinerstraße Josefsplatz Reitschulgasse Michaelerplatz Kohlmarkt Gebrüder Rodeck Graben Stock im Eisen-Platz Stephansplatz (wird nicht berührt; dient Judtmann wahrscheinlich nur der Orientierung der Leser) Kärntnerstraße Johannesgasse Ring (wird am ehemaligen Kollowrat Ring überquert) Tegetthof Brücke (die Johannesgasse wird nach Querung des Wienflusses automatisch zur Salesianergasse) Salesianergasse Palais Vetsera Aus der Salesianergasse kommend, fuhr die Gräfin dann im Anschluss an den kurzen, unerfreulichen Besuch im Palais Vetsera zur Polizeidirektion, dem Sitz des Wiener Polizeipräsidenten am Schottenring. Dabei dürfte sie für die Hinfahrt die gleiche Strecke wie am Vormittag bis zur Burg gewählt haben – zumindest bis zum Albrechtsplatz. Von dort rekonstruiert Judtmann die Weiterfahrt zum Präsidium und zurück ins Hotel wie folgt (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von 1895): Albrechts Platz Augustinerstraße Josefsplatz Reitschulgasse Michaelerplatz Herren Gasse Schotten Gasse Schotten Ring Polizeidirektion (heute: Schottenring 7-9) Schotten Ring Franzens Ring Burg Ring Opern Ring Kärnther Ring Grand Hotel Professor Fritz Judtmann konnte auf Basis der im Kapitel 3.1 genannten Quellen (Vetsera-Denkschrift, Larisch-Memoiren, Protokolle mit den Fiakern Bratfisch und Weber) feststellen, dass die von der Gräfin Larisch angege-
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bene Zeitübersicht durchaus stimmen könne. Judtmann ermittelte dazu aus verschiedenen Quellen Durchschnittsgeschwindigkeiten für Fiaker930 und rekonstruiert die Fahrtzeit der Gräfin für die über sieben Kilometer lange Fahrt am Montag, 28. Januar 1889, wie folgend (kursiv: unsere Ergänzungen): ca. 09:50 Uhr: Abfahrt der Gräfin Larisch im Grand Hotel mit Fiaker 58 ca. 10:00 Uhr: Ankunft der Gräfin im Palais Vetsera ca. 10:20 Uhr: Abfahrt der Gräfin von dort mit Baroness Vetsera ca. 10:30 Uhr: gemeinsamer Einkauf im Geschäft „Zur weißen Katze“ ca. 10:40 Uhr: Ankunft in der Hofburg ca. 10:55 Uhr: Abfahrt der Baroness von dort mit Fiaker Bratfisch ca. 11:10 Uhr: Abfahrt der Gräfin zu „Rodeck“ ca. 11: 15 Uhr: „Komödie“ vor dem Geschäft „Rodeck“ ca. 11:30 Uhr: Ankunft der Gräfin im Palais Vetsera ca. 11:50 Uhr: Abfahrt der Gräfin Larisch von dort ca. 12:00 Uhr: Ankunft im Polizeipräsidium ca. 12:30 Uhr: Abfahrt der Gräfin von dort ca. 12:45 Uhr: Ankunft der Gräfin im Grand Hotel mit Fiaker 58
930
Nach Judtmann rechnete man durchschnittlich 12 Kilometer pro Fahrstunde, d.h. ca. fünf Minuten pro Kilometer Wegstrecke. 153
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Kapitel 3 Die „Flucht“ nach Mayerling
3. Die Fahrt nach Mayerling
„Sr. k. Hoheit Kronprinz Rudolf passiert soeben den 5. Bezirk gegen Schönbrunn zu ohne Hindernis.“
Carl Wiligut Telegramm Nr. 2791, Station M 28. Januar 1889, 11:50 Uhr
Durch ein Telegramm von Carl Wiligut931, Officiale beim Polizeiposten Margarethen im 5. Wiener Gemeindebezirk932, ist die Abfahrt des Kronprinzen aus Wien bestens dokumentiert. Zu Dr. Judtmanns Zeiten, d.h. Mitte der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts, befand sich das Polizeikommissariat noch an der gleichen Stelle wie 1889: in der Wehrgasse 1. Heute ist das für die Bezirke 4, 5 und 6 zuständige Polizeikommissariat in der Viktor-Christ-Gasse 10 untergebracht933. Judtmann befördert Wiligut zum „Polizeiagenten“, dem Polizeiagenteninstitut „unter der Leitung des Obersinspektors Anton Jurka, dessen Name aus dem Geheimakt des Baron Krauß bekannt ist934“ zugehörig. Wir gehen indes davon aus, dass Carl Wiligut als „Polizei-Officiale“ dem Polizeiposten zugeteilt war935. Die Telegrafenstation936, von der Wiligut das Telegramm an das Polizeipräsidium versandte, befand sich nach Judtmanns Recherche wahrscheinlich ebenfalls im besagten Kommissariat Wehrgasse 1/Margaretenstraße und damit nur rund 100 Meter von der Kreuzung Wehrgasse/Hundsthurmstraße (auch: Hundsturmer Straße; heute: Schönbrunner Straße) entfernt, die der Fiaker mit der Kronprinzen passiert hatte. „Die Entfernung von der Hofburg bis zur Polizeistation im 5. Bezirk betrug 931
Wiligut, Carl (auch: Karl), gest. 13.11.1934, beigesetzt auf dem Zentralfriedhof Wien, Gruppe 125, Reihe 14, Nummer 26. Sein Sohn, der völkische Esoteriker Karl Maria Wiligut (geb. am 10.12.1866 in Wien, gest. 03.01.1946 in Arolsen/Deutschland), stieg als ehemaliger k.u.k. Oberst unter dem Pseudonym Karl Maria Weisthor zum SS-Brigadegeneral auf, war Schöpfer des SSTotenkopfrings, Vorsteher des Departements für Vor- und Frühgeschichte innerhalb des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS und übte als „Himmlers Rasputin“ in den Jahren 1933 und 1938 Einfluss auf den Reichführer SS aus. Karl Maria Wiligut war verheiratet und hatte zwei Kinder. Als 1939 bekannt wurde, dass er die Jahre 1924 bis 1927 in einer Salzburger Nervenheilanstalt verbracht hatte, wurde er aus der SS entlassen. 932 Polizeiposten Margarethen, Wehrgasse 1. Bezirksleiter: Polizeirat Dr. Camillo Altenburger, zugeteilt ein Oberkommissär, zwei Kommissäre, ein Konzipist-Praktikant, zwei Officiale und ein Inspektor der Sicherheitswache. Die Sicherheitswachstuben befanden sich an der Hundsthurmerstraße 75, der Wehrgasse 1, der Siebenbrunnengasse 46a, der Mauthausgasse 4 und der Matzleinsdorferlinie („Niederösterreichischer Amtskalender für das Jahr 1889“, XXIV. Jahrgang) 933 Neben dem Polizeikommissariat gibt es heute noch zwei Wachzimmer im 4., drei im 5. und zwei im 6. Bezirk. 934 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 935 „Niederösterreichischer Amtskalender für das Jahr 1889“, XXIV. Jahrgang 936 Die Postämter für den 5. Bezirk befand sich 1889 in der Hundsthurmer Straße 26 (Margarethen) sowie am Hundsthurm Platz 7 (Hundsthurm) 154
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ca. 2800 Meter; es ist also mit einer Fahrzeit von ca. 15 Minuten zu rechnen, wenn wir kein Rekordtempo, sondern fünf Minuten pro Kilometer annehmen.937“ Theoretisch hätte der Kronprinz also um 11:35 Uhr die Burg938 verlassen können – was auch mit der Abfahrt der Vetsera gegen 11:00 Uhr und jener der Gräfin Larisch um 11:15 Uhr korrespondiert. 15 Minuten nach seiner Cousine brach Rudolf auf. Dies widerspricht jedoch dem Bericht von Rudolf Püchel, der sich daran erinnert, dass der Kronprinz erst gegen 12 Uhr die Burg verließ – doch wissen wir, dass Püchel seinen Bericht erst sehr viel später aus der Erinnerung heraus schrieb. Aus dem erwähnten Telegramm, das als Original dem „Krauß-Akt“ beiliegt, ist nicht nur die Zeit ersichtlich, zu der Rudolf durch Margareten939 fuhr, nämlich 11:50 Uhr, sondern auch die Fahrtrichtung – gegen Schönbrunn. „Im Jahre 1889 konnte man aus dem Stadtkern nicht durch eine beliebige Straße in die Vorstädte gelangen, denn an Stelle der heutigen Gürtelstraße umspannte der so genannte Linienwall die Bezirke I bis IX. Nur durch bestimmte Linientore, kurz Linie genannt, war es möglich, den inneren Bezirk zu verlassen.940“ Rudolf hatte nur an einer Stelle die Gelegenheit, bequem und auf kurzem Weg in Richtung Schönbrunn zu gelangen – über die „Hundsturmer Linie941“ bzw. der mit ihr identischen „Schönbrunner Linie942“. „Über die Wagen, die Rudolf benützte, sind wir gut unterrichtet, da darüber mehrere Berichte und Abbildungen vorliegen.943“ So soll der Kronprinz nach Judtmann für Privatfahrten einen einspännigen Wagen, einen so genannten „Zweiradler“ genutzt haben. Nach den Aufzeichnungen von Rudolf Püchel stieg er bei der Abfahrt aus Wien am 28. Januar 1889 jedoch in einen von Lipizzanern gezogenen Zweispänner944. Er soll den Wagen945 selbst gelenkt ha937
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Hofburg, Wien 1, heute zwischen Josefsplatz, Michaelerplatz und Burgring gelegen, (urkundlich seit 1279) Regierungssitz der österreichischen Landesherren ab dem 13. Jahrhundert, der deutschen Könige und Römischen Kaiser ab dem 15. Jahrhundert bis 1806 (mit Ausnahme der Jahre 1740-45) und der Kaiser von Österreich bis 1918. Heute Sitz des Bundespräsidenten und verschiedener Bundes- und Landes-Ämter, Tagungs- und Kongresszentrum, Heimat diverser Museen und Institutionen sowie teilweise als Wohnraum vermietet. 939 Margareten (auch: Margarethen; erhielt den Namen nach einer 1395 gestifteten, der heiligen Margareta von Antiochia geweihten Kapelle), 5. Gemeindebezirk von Wien, 2,03 Quadratkilometer; entstand 1861 durch Abtrennung vom 4. Bezirk (Wieden). Umfasst die Vorstädte Margareten (ursprünglich frei stehender Hof, urkundlich 1373 erwähnt mit einer der heiligen Margarete geweihten Kapelle), Matzleinsdorf (urkundlich 1136, Name von Gründer Mazilo), Hundsturm (Hunczmühle ab 1408, Gutshof, im 17. Jahrhundert Jagdgebiet und Weingärten), Laurenzergrund (2. Hälfte 16. Jahrhundert), Nikolsdorf (zwischen 1555 und 1568 gegründetes Straßendorf) und Reinprechtsdorf (urkundlich 1270). Margareten wuchs im 19. Jahrhundert zu einem geschlossenen Wohnviertel zusammen und wandelte sich mit zunehmender Industrialisierung vom Kleinbürger- zum Arbeiterbezirk. 940 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 941 Linienwall, ehemalige äußere, zweite Wiener Befestigungsanlage, 1704 wegen der Kurruzeneinfälle als Erdwall mit Gräben erbaut, im 19. Jahrhundert mit Ziegeln ausgemauert. Er umgab Wien weitgehend an der Stelle des heutigen Gürtels auf einer Gesamtlänge von 13 Kilometern im Halbkreis vom Donauarm bei St. Marx über den Fuß des Wienerbergs bis Lichtental. An Tore mit ärarischen Gebäuden („Linien“ genannt), in denen ab 1829 die Linienämter untergebracht waren, mussten eingeführten Waren versteuert werden („Verzehrungssteuer“). Infolge dieser Besteuerung war das Leben innerhalb des Linienwalls teurer als außerhalb, wodurch der Linienwall gleichzeitig eine soziale Grenze bildete. Der Linienwall trennte die alten Vorstädte (heutige Bezirke 3-9) von den ländlichen Vororten (10.-19. Bezirk) und wurde nach deren Eingemeindung 1893 abgetragen; stattdessen wurde der Gürtel mit Grünflächen und Stadtbahn-Linie (heute U 6) angelegt. In unmittelbarer Nähe der Zugbrücken über den LinienwallWassergraben standen Linienkapellen, die dem Brückenpatron Johann von Nepomuk geweiht waren. Die an der Hundsturmer Linie 1759 erbaute einfache barocke Kapelle (Höhe Schönbrunner Str. 124) war ursprünglich von acht lebensgroßen Heiligenstatuen flankiert. Vier dieser Statuen (Florian, Josef, Ludwig und Rochus) stehen seit 1896 im Garten des Hauses in der Linzer Str. 466 (14. Bezirk). 942 Freundliche Mitteilung von Magister Heinrich Spitznagel/Bezirksmuseum Margareten an den Verfasser, Wien, 15.12.2003 943 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 944 Im Nachlass des Kronprinzen, so Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968, sind vier Wagen aus dem Besitz Rudolfs genannt: ein zweisitziges, vierrädriges geschlossenes Coupe (Post No. 42), eine offene, zweirädrige Gig als Selbstkutschierwagen im Grünen und am Lande, weniger für Stadtfahrten (Post No. 43), ein sportlich leichter, offener zweisitziger, vierrädriger Ausbring-Phaëton als Selbstkutschierwagen (Post No. 44) und ein kastenartiger, gelber Fourgon zum Gütertransport mit gedecktem Kutschbock (Post No. 45). Darüber hinaus befinden sich in der Wagenburg-Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien aus dem Besitz des Kronprinzen ein zweisitziger Vis-á-Vis-Kinderwagen (KHM Wgbg W-069), ein 938
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ben, als er den Schweizerhof verließ – Hofkutscher Anton Prechler946 saß jedoch auf dem Rücksitz, um den Wagen zurückzubringen947. Baron Krauss notierte dazu: „Der Kronprinz fuhr auf einem Kutschierwagen948, den er lenkte, mit einem Kutscher ohne Begleitung. Von dem Kutscher wurde dann in Erfahrung gebracht, dass der Kronprinz über rothen Stadl nach Breitenfurt gefahren ist und in rothen Stadl den Kutscher mit dem Wagen zurückgeschickt habe. Im rothen Stadl habe der Kronprinz einen anderen Wagen, der dort gewartet hat, bestiegen.949“ Dies bestätigt auch Jahre später die Stieftochter von Josef Bratfisch, Antonia Konhäuser950, gegenüber Oberst Zerzawy: „Die letzte Fahrt mit dem Kronprinzen Rudolf ging (…) in Vaters Wagen über Mauer und Roter Stadl nach Mayerling.“ Diesen Darstellungen folgend dürfte Rudolf in einem klassischen Selbstkutschierwagen, dem Phaeton951, in der Burg losgefahren sein. Der Kutscher nahm auf einer Bank im Kasten Platz. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob Rudolf im tiefsten Winter in einem offenen Wagen so eine lange Strecke zurückgelegt hätte… Auf welchem Weg gelangte nun Rudolf aus der Burg zu den knapp 18 Kilometer entfernt, zwischen Mauer und Breitenfurt gelegenen, benachbarten Ausflugslokalen „Roter Stadel“ und „Grüner Baum952“? Judtmann geht von folgender Wegführung aus zwischen dem Schweizerhof und dem knapp 100 Meter links der Bezirksstraße953 auf dem jenseitigen Ufer der Liesing gelegenen rot gestrichenen Gasthaus (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von 1895): Hofburg/Schweizerhof
einsitziger Kinderschlitten in Muschelform (KHM Wgbg W-087) - laut Sammlungsgeschichte ein Geschenk der Wagenfabrik Lohner an den Kronprinzen - sowie ein Jagdschlitten mit Hirschgeweih-Schmuck (KHM Wgbg W-088); freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien 18.12.2003. Der Jagdwagen („Juckerwagen“) des Kronprinzen, ein zwei- und vierspännig zu fahrender „Break“, steht als gut erhaltenes Original im österreichischen Bundesgestüt Piber und wird dort bei Veranstaltungen zwei- und vierspännig gefahren (freundliche Mitteilung von Frau Annemarie Reinprecht, Bundesgestüt Piber, 16.12.2003); es dürfte sich hierbei jedoch sicher nicht um einen Leibwagen des Kronprinzen handeln (freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien 19.12.2003) 945 Nach , Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968, waren die Wagen des Kaiser- und Kronprinzenpaares sowie der Erzherzogin Valerie oben schwarz und unten dunkelgrün lackiert, die Räder ebenfalls dunkelgrün und stark mit Gold beschnitten, d.h. mit Streifen versehen. Alle anderen Wagen der Erzherzoge waren grün und dunkelbraun und die Räder mit schmalen goldenen oder roten Streifen. Die Farben waren wichtig, um bei der Einfahrt in die Burg die Wache „ins Gewehr“ rufen zu können. 946 Prechler, Anton, geb. 1862, gest. 1934, zuletzt Stallmeister der Familie Croy in Buchberg am Kamp 947 Es ist nicht bekannt, ob Rudolf tatsächlich einen bestimmten Hofwagentyp oder Hofkutscher bevorzugte. Als Lieblingskutscher des Erzherzogs galt Christian Kling (geb. 1860, gest. 1915; beigesetzt am 08.04.1915 auf dem Friedhof Ottakring, Gruppe 10, Reihe 7, Grab 18), von dem es in der Wagenburg-Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien ein Bildnis gibt; freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien 18.12.2003. Zurück nach Wien fuhr den Wagen am 28. Januar 1889 der Hofkutscher Anton Prechler (1862-1934), in späteren Jahren Stallmeister der Familie Croy in Buchberg am Kamp. Oberst Zerzawy hat mit Prechler (oftmals falsch „Prechtler“ bezeichnet) ebenfalls eine Denkschrift verfasst; 948 In der Nationalbibliothek liegt ein Foto des Kronprinzen nebst einem unbekannten Hofkutscher im englischen Livree (silberbordierter Zylinder, drappfarbener Kaput = sandfarbener langer Regenmantel mit mehreren übereinanderfallenden Kragen) in einer Gig auf (NB 504.008/BR), das angeblich die „letzte Fahrt im Prater, 27.01.1889“ darstellt. Es ist sehr ungewöhnlich, dass bei einer Gig ein Kutscher mit auf dem Bock sitzt, Dieses Bild diente als Grundlage für ein Aquarell von Zygmunt (Siegmund) Ajdukiewicz, geb. 1861, gest. 1917, einem Neffen des polnischen Malers Tadeusz (Thaddäus) Ajdukiewicz, geb. 1852, gest. 1916 (Heeregeschichtliches Museum, Inv. Nr. 111.348), das den Kronprinzen im Prater vor der Rotunde zeigt; freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien 23.12.2003 949 zitiert nach Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 950 Konhäuser, Antonia, gestorben 1960 und beigesetzt am 11.03.1960 auf dem Hernalser Friedhof, Gruppe K, Nummer 130 951 Phaetons sind seit dem 18. Jahrhundert beliebte Spazier- und Korsofahrzeuge. Phaeton war der Sohn des griechischen Sonnengottes Helios. 952 Seit etwa 1850 feierten die Fiaker jährlich ihr Schnittlingsfest (Frühlingsfest) im „Roten Stadl“ und „Grünen Baum“. Auch die Zugtiere für die Brauerei Liesing wurden hier gefüttert und eingestellt. Heute: Haus Breitenfurt, Franz Lehar Gasse 46, Markt Breitenfurt, Pensionistenwohnheim der Caritas Erzdiözese Wien 953 Mit Landtagsbeschluss vom 26.10.1869 wurde die Straße Roter Stadl – Laab –Wolfsgraben – Tullnerbach zur Bezirksstraße erklärt. 156
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Josefsplatz Augustiner Straße Albrechts Platz Operngasse Friedrichs Straße Magdalenen Straße (Judtmann verwendet die moderne Bezeichnung „Linke Wienzeile“) Rudolfbrücke (d.h. die dortige Kettenbrücke) Kettenbrücken Gasse954 Hundsthurmer Straße (auch: Hundsturmstraße) Schönbrunner Linie Gaudenzdorfer Hauptstraße Schönbrunner Hauptstraße Hietzing955 Hietzinger Platz Lainz Lainzer Straße Speising Mauer956 Maurerberg Klause Kalksburg957 (im Tal entlang der „Reichen Liesing“) Rother Stadl Der Kronprinz wird versucht gewesen sein, den Ausflugsgasthof so schnell wie möglich zu erreichen. Für die Strecke dürfte er rund 90 Minuten benötigt haben, wenn man von einem Fiakertempo von rund fünf Minuten für einen Kilometer ausgeht. Dies bedeutet, dass er gegen 13 Uhr den Roten Stadel hätte erreichen können. Bratfisch hatte dort bereits gewartet und war auf „Befehl der Baronesse langsam hin und her gefahren, bis der Kronprinz zu Fuß erschien.958“
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Benannt nach der 1828 dort errichteten Kettenbrücke über den Wienfluss. Hietzing, 13. Gemeindebezirk von Wien, 37,7 Quadratkilometer, im Südwesten der Stadt, reicht in den Wienerwald. Zu Hietzing gehören die bis 1892 selbständigen Vororte Hietzing, Speising, Lainz, Ober- und Unter-St.-Veit, Hacking sowie Schönbrunn (Schloss und Park), Friedensstadt und Teile von Mauer. Hietzing war ab 1529 Wallfahrtsort, ab Maria Theresias Zeit eine von Adel und reichen Bürgern bevorzugte Sommerfrische, ab zirka 1800 von diesen auch ständig bewohnt, wurde im 19. Jahrhundert zum Wiener Nobelviertel und wegen seiner Vergnügungsstätten (u.a. „Dommayer´sches Kasino“) und der Nähe zum Schloss Schönbrunn von den Wienern gern besucht. 956 Mauer bei Wien, alter Weinhauer- und Villenvorort am Rand des südlichen Wienerwalds; seit 1938, endgültig seit 1954 Teil des 23. Bezirks (Liesing). Von Mauer fuhr der Kronprinz durch Kalksburg Richtung Breitenfurt. 957 Kalksburg, Teil des 23. Wiener Bezirks (bis 1938 eigene Gemeinde), im Liesingbachtal, am Rand des südlichen Wienerwalds gelegen. 1856 gegründetes Jesuitenkonvikt, einst „das Oxford der alten Monarchie“, heute Gymnasium der Jesuiten. Genesungsheim für Alkoholkranke (Anton-Proksch-Institut). 958 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 955
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In der Mayerling-Literatur wird immer von einem trüben, düsteren Tag ausgegangen, wobei die Zeitungen am 29. Jänner für den Vortag „heiteres Wetter mit nördlichen Winden, anhaltendem trockenem Frost und Temperaturen von minus zwei bis plus vier Grad959“ meldeten. Vom „Roten Stadel“ aus fuhren Rudolf und Mary gemeinsam in Bratfischs geschlossenem Wagen weiter. Der Kronprinz soll einen „Jagdanzug mit dem Gürtel und die flache Dalmatinerkappe, darüber den Pelz mit der ungarischen Verschnürung960“ getragen haben961 – die Baroness trug wohl „ein dichtanliegendes olivgrünes Schneiderkleid, mit schwarzen Tressen besetzt, einen Hut aus grünem Filz, der reich mit schwarzen Straußenfedern garniert war, den sie mit einem schwarzen Schleier unter dem Kinn zusammenband, und über dem Kleid ihren Sealeskinmantel mit einem dazu passenden Muff962“. Josef Bratfisch gab über das Zusammentreffen zu Protokoll: „Gegen 1 Uhr mittags erschien Seine kaiserliche Hoheit zu Fuß. Er war offenbar schon früher dem Wagen entstiegen, der ihn dorthin gebracht hatte, um jedes Aufsehen zu vermeiden.“ Zwar scheint uns fraglich, ob ein Hofwagen mehr Aufsehen erregt hätte als der populäre Kronprinz „zu Fuß“, doch wollen wir an dieser Stelle Bratfischs Bericht nicht kommentieren. Der Kronprinz, „ungewöhnlich heiter und aufgeräumt, entschuldigte sich mit einem Scherzwort wegen der langen Wartezeit und gab Bratfisch den Auftrag, nach Mayerling zu fahren. Während der Fahrt rief er ihm zu, sich nicht zu beeilen, um erst in der Dämmerung einzutreffen.963“ Für die Fahrt von Wien nach Mayerling – so war es in dem im zweiten Weltkrieg vernichteten Kassenbuch des Fuhrunternehmers Wollner von Theresia Wollner unter „Bratfisch fährt nach Mayerling“ vermerkt – hatte der Kronprinz 30 Gulden gezahlt964. Der gebräuchlichste – und zudem von Wien aus kürzeste – Weg nach Mayerling führte über die Südbahn nach Baden und von dort mit einem Fiaker durch das Helenental über Sattelbach in den Wienerwald-Weiler. Von Hoyos wissen wir, dass man diese Strecke inklusive Fahrt zum Südbahnhof bequem in etwas mehr als zweieinhalb Stunden bewältigen konnte. Auf dieser Route reisten Hoyos und Coburg und später der Hofkommission. Eine zweite Möglichkeit bestand darin, mit der Eisenbahn nach Mödling zu fahren und von dort entlang der Hinterbrühl über Gaaden, Heiligenkreuz und Alland bis Mayerling. Da die beiden Berge nach Gaaden und Heiligenkreuz bei dieser Wegführung bezwungen werden mussten, fuhr man sicher auch nicht schneller als zweieinhalb Stunden. Diesen Weg wählten später die Polizeikommissäre Habrda und Gorup. Bratfisch nun wählte eine dritte, längere Route über die Hügel des Wienerwaldes aus, die besonders im Winter wegen glatter Passagen kaum genutzt wurde. Nach Judtmann, der in den 60-er Jahr des 20. Jahrhunderts mit dem Pkw die Strecke abgefahren ist, nahm Bratfisch für die je nach genutzter Wegstrecke zwischen 25 und 35 Kilometer lange Route folgenden Weg (kursiv: unsere Einfügung): Rother Stadel Breitenfurt965 - 295 Meter Seehöhe („Grüner Baum“, Taucher oder Touchner Mühle, Jagdhaus)
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Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Vergleiche dazu die „Neue Freie Presse“, die für den 28.01.1889 meldete: „Himmel teilw. bewölkt, Temperatur ist gesunken, allgemein fand leichter Schneefall statt, nördlicher Wind, meist heiter, trocken, Frostwetter anhaltend“ 960 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 961 Dass Rudolf, wie Judtmann berichtet, auch bei kaltem Wetter keine Handschuhe nutzte, widerlegt das Bild NB 504.008/BR „letzte Fahrt im Prater, 27.01.1889“, auf dem er weiße Handschuhe trägt. 962 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 963 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 964 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 965 Breitenfurt besteht aus den fünf Katastralgemeinden Breitenfurt-Ostende, Breitenfurt-Ost, Breitenfurt-West, Hochroterd und Großhöniggraben und hat eine Fläche von 2.699,9703 Quadrathektar. Die Marktgemeinde grenzt an die Westgrenze Wiens an und liegt im niederösterreichischen Bezirk Mödling. In Breitenfurt lebte u.a. Anna Freud, die Tochter des Psychoanalytikers Sigmund Freud. 158
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Hochroterd966 - 528 Meter Seehöhe (Jagdhaus, über die Kreuzung zur Bergstraße nach Kaltenleutgeben hinweg und weiter entlang der „Dürren Liesing“). Westlich von Hochroterd wäre es möglich gewesen, nördlich nach Stangau zu fahren oder südlich über die Sulzer Höhe mit 504 Metern direkt nach Sulz. Sulz967 - 431 Meter Seehöhe (Vogelgraben, entlang des Mödlinger Wildbaches) Bei Ernst Edler von der Planitz fährt Bratfisch in Sulz Richtung Osten über Dornbach (384 Meter Seehöhe) und von dort weiter nach Sittendorf; warum der Autor diesen Umweg angibt, kann nicht mehr geklärt werden. Sittendorf968 - 370 Meter Seehöhe Auf einer Karte des k.u.k. militär-geographischen Institutes Wien von 1894 findet sich keine lokale Bezeichnung „Gaadener Berg“; wir gehen davon aus, dass es sich um den bis zu 410 Meter hohe Sandriegel handelt, über den die Straße Gaaden – Heiligenkreuz führt. Von Sittendorf aus dürfte das Gespann zunächst südlich gefahren sein, überquerte dann den Maarbach, ließ rechter Hand den Weiler Füllenberg am Fuße des gleichnamigen Berges und den Gipsbruch liegen und erreichte dann die höchste Stelle der Straße, an der früher eine Marienstatue. Alternativ hätte Bratfisch von Sittendorf im Tal entlang des Mödlinger Wildbaches bis Gaaden fahren können, um von dort die Straße östlich nach Heiligenkreuz zu nehmen. Gaadener Berg969 Heiligenkreuz - 312 Meter Seehöhe Schacherkreuz - 351 Meter Engelskreuz - 410 Meter Alland - 331 Meter Seehöhe Talstraße entlang des Schwechatbaches Jagdschloss Mayerling - 330 Meter Seehöhe Auf dem Weg nach Mayerling soll sich der Kronprinz verkühlt haben – vielleicht weil er tatsächlich im offenen Wagen zum „Roten Stadel“ fuhr (siehe oben), vielleicht aber auch, weil er mehrfach den Wagen verließ und Bratfisch half, die feststeckende Kutsche wieder in Fahrt zu bringen. „Es war strenger Winter mit tiefem Schnee, die Räder blieben wiederholt stecken, so dass der Kronprinz und der Vater wiederholt ausstiegen und den Wagen schieben mussten. Dabei erhitzte sich und verkühlte sich der Kronprinz sehr arg, so dass er, wie bekannt, dann in Mayerling an der Jagd nicht teilnehmen konnte“, schreibt Bratfischs Tochter Antonia Konhäuser 1957 in ihrem Protokoll. Warum aber blieb der erfahrene Kutscher „wiederholt stecken“? Hoyos erinnert sich an den Reisebericht, den der Kronprinz am 29. Januar beim Frühstück abgab: „Er erzählte, dass er zu Wagen über Breitenfurth herausgekommen sei, der Laibwagen
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Am 1. Jänner 1881 wurde die Katastralgemeinde Hochroterd über ihr eigenes Ersuchen von der Ortsgemeinde Wolfsgraben ausgeschieden und der Ortsgemeinde Breitenfurt zugewiesen. 967 Die Streusiedlung Sulz-Stangau erstreckt sich vom Quellgebiet des Mödlinger Wildbaches auf der Wöglerin westlich der Sulzer Höhe bis zur Talenge des Vogelgrabens, der bereits durch die steilen Abhänge des südlichen Wienerwald-Kalk-Gebietes gebildet wird. 968 Sittendorf, älteste Pfarre der Gemeinde Wienerwald. Die Pfarrkirche mit ihrem bauhistorisch interessanten achteckigen Turm im Süden und die Burg Wildegg im Norden - beide aus dem 11. Jahrhundert - bestimmen das Ortsbild dieser kleinen, geschlossenen Ansiedlung. 969 Gaaden, Niederösterreich, Bezirk Mödling, Gemeinde, 323 m, 1211 Einwohner, 24,78 Quadratkilometer, Ausflugsort im südöstlichen Wienerwald, am Westfuß des Anninger. Die barockisierte gotische Pfarrkirche mit Chor (um 1300) und das zum Pfarrhof umgebaute ehemalige Schloss (1793) bilden ein Barockensemble. Ölberggruppe (1710) von Giovanni Giuliani; FerdinandRaimund-Museum. 159
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über den ganz glatten, eisigen Berg nächst Gaden nur mit Bauernvorspann zu bringen gewesen sei, er, ohne seinen Pelz abzulegen, den Wagen schieben geholfen, gelaufen und sich verkühlt haben und ihn erst der als Relais aufgestellte Fiaker von Wien (mit dem Spitznamen Bratfisch) nach dieser mühsamen Expedition um ½ 4 Uhr Nachmittags hierher nach Meyerling gebracht hätte. In dieser Aussage war mir Vieles unverständlich. Erstens die Reise zu Wagen überhaupt, dann die unglaublich lange Dauer derselben, trotz Glätte der Straße, und schließlich die Geschichte von dem glatten Gaadner Berg, der ja erst nach Breitenfurth kommt, wo ein Wagenwechsel voraussichtig war. Es war etwas misterios, und ich enthielt mich jeder Frage.970“ Offensichtlich hat Hoyos bei der Wiedergabe des Berichtes von Rudolf Erzähltes mit später Gehörtem vermisch, denn der „Laibwagen“ war bereits am „Roten Stadel“ nach Wien umgekehrt, wo ja Bratfischs Fiaker „als Relais aufgestellt“ war. Wo aber blieb Bratfisch mit der Kutsche stecken? In Hochroterd nahm Bratfisch vermutlich die sanft ins Tal des Mödlinger Wildbaches abfallende Straße über Sulz und Stangau nach Sittendorf, da der direkte Weg von Hochrotherd über Großhöniggraben, Gruberau, Buchelbach und Grub nach Heiligenkreuz nicht passierbar war – die kurvige Abfahrt mit zwei engen Kurven hat eine Gefälle von 17 Prozent und war im Winter nicht befahrbar! Von Sittendorf aus musste der Kutscher nun über eine schmale Waldstraße die Kuppe des bis zu 410 Meter hohen Gaadener Berges erreichen, wo er vermutlich auch stecken blieb und Hilfe in Anspruch nehmen musste. Judtmann geht davon aus, dass der „Bauernvorspann“ aus Sittendorf geholt wurde – nach anderen Quellen kam das Gespann aus dem nahe gelegenen Füllenberg oder der dortigen Meierei971. „Er fuhr dann weiter über den Gaadnerberg steil abwärts nach Heiligenkreuz, vorbei an der Abzweigung zum einsam gelegenen Friedhof, auf dem Mary Vetsera kaum vier Tage später beerdigt werden sollte.972“ Durch Heiligenkreuz ging die Fahrt weiter gegen Alland und auf der Höhe des Heiligenkreuzer Berges beim so genannten Engelskreuz973 stieg der Kronprinz schließlich erneut aus und lief zu Fuß über den noch nicht ausgebauten und befahrbaren Preinsfelder Weg, vorbei am so genannten „Roten Kreuz974“, zum Jagdschloss hinunter. Bratfisch nahm den Umweg über Alland und fuhr dann die Talstraße entlang der Schwechat zurück Richtung Mayerling. „Um ungesehen ins Schloß zu gelangen, stieg Mary vorher aus und wurde von Bratfisch zum Südtor des Schlosses gebracht, wo sie von Loschek erwartet und das Appartement des Kronprinzen geführt wurde.975“ Wenn Bratfisch gegen 13 Uhr am „Roten
970 „Denkschrift“ des Grafen Josef Hoyos, zitiert bei Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, InselVerlag., Leipzig 1928 971 Meierei Füllenberg, Füllenberg 5. 1769 errichtete Waldeinkehr, von 1870 bis 1892 von Anna Frohner bewirtschaftet, noch heute beliebtes Ausflugsziel nahe Heiligenkreuz mit schattigem Gastgarten und interessant rustikaler Küche. Die Meierei liegt an der Grenze der Gemeinden Wienerwald und Heiligenkreuz. 972 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 973 Das Ensemble des „Engelskreuzes“ bestand aus zwei hohen Steinsäulen und stand an der Straße Heiligenkreuz – Alland an der Abzweigung nach Mayerling auf einer kahlen steilen Böschung. Ein Steinpfeiler trägt einen steinernen Tabernakel mit lateinischer Inschrift auf allen vier Seiten, darüber eine Steinpyramide mit breitem Steinkreuz. Diese vier Meter hohe Säule ließ Abt Johannes Ruoff von Heiligenkreuz (Abt von 1586 bis 1599) im Jahre 1586 als Dank und Bitte zu Beginn seines Amtsantrittes auf der Allander Höhe errichten. Drei der vier noch erkennbaren lateinischen Säulentexte hat Karl Wallner transkribiert und in der „Sancta Crux“ veröffentlicht. Die zweite Säule trug ursprünglich einen steinernen Engel, der mit seinem Stab nach Groß-Mariazell weisen sollte. Dieser „Wegweiseengel“ wurde 1720 von Abt Gerhard Weixelberger durch eine Steinsäule mit einem 1,60 Meter hohen barocken Schutzengel aus Zogelsdorfer Sandstein nach Giovanni Giuliani ersetzt. Im März 1940 zerlegte man die beiden Monumente und deponierte sie im Stift, da die Trasse der projektierten Reichsautobahn hierher verlaufen sollte. 1952 wurde die Kreuzsäule neben der Stiftskirche in Heiligenkreuz in der Mitte des Mönchsfriedhofes errichtet. Der Schutzengel fand neben dem großen Schüttkasten, dem Getreidespeicher, an der Straße nach Baden Aufstellung. Beide Säulen prägten die Landschaft so stark, dass die Bezeichnung „Engelskreuz“ bis heute erhalten geblieben ist. 974 Das „Rote Kreuz“ dürfte sich östlich des Preinsfelder Weges Richtung Jagdschloss befunden haben, kann jedoch dort nicht mehr genau lokalisiert werden. Durch die Trassenziehung der Reichsautobahn 1940 und das Einebnen zahlreicher offener Gruben des ehemaligen Gipsbergwerkes Preinsfeld gab es im Bereich der Allander Höhe zu viele Erdbewegungen. 975 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Stadel“ aufgebrochen war, so könnte der Fiaker auf der kürzesten Route nach zweieinhalb Stunden in Mayerling eingetroffen sein – also gegen 15:30 Uhr. „Während in Mayerling Ruhe herrschte, hatten sich in Wien inzwischen aufregende Szenen abgespielt.976“
976
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 161
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Kapitel 4 Vor der Entscheidung
1. Namensgebung und Namensmythos
„... und in ewiger Morgenschönheit uralte Liebe mir neu entbrennt: es ist dies mein gutes, liebes, geliebtes, altes und ewig junge – Mayerling!!“
Hugo Wolf 30. August 1882
Murlingen977, Moverlingen978, Mewerlinge979, Mawrling980, Meidling981 – welche Bedeutung hat dieser fast weltbekannte Ortsname? Die Experten sind sich nicht einig. In seiner Grundform Murilingin, mit Umlaut Miurlingen bzw. dialektisch Meurlingen enthält der Ortsname das Wort „Mure“ (Mauer, lateinisch „Murus“) und geht in seiner ing-Endung auf „Menschen auf der Mauer“ zurück. So erinnert der Ortsname an das Adelsgeschlecht von Ozo und Otfridus, den „Menschen auf der Mauer“, die auf dem freien und von einer Mauer befestigten Eigen, dem „Steinhof“ lebten. Andere Quellen wollen die Namensgebung auf das Jahr 869 datieren, als auch das benachbarte Baden unter der Bezeichnung „Padum“ genannt wird. Ins althochdeutsche lauschend, setzt sich das Wort Mayerling aus dem „hofling“ für Höfling und „charmarling“ für Kämmerling zusammen. Um die Zugehörigkeit zu einem festen Haus zu signalisieren, könne sich der Name aus dem Bindewort „muri“ zu „muriling“ entwickelt haben. Übersetzt hieße Mayerling also „zu den Haus- oder Dorfleuten“. Weit poetischer klingt die Namenswerdung in der Chronik des Karmelitinnenklosters zu Mayerling. Hier wird berichtet, dass im Ortsnamen der Monat Mai982 mitklinge und auch „Meierei“983 als Synonym für Milch und Honig und somit das gelobte Land984. Natürlich hören die Schwestern aus der Ortsbezeichnung auch den Namen der Mutter Jesu heraus – Maria, der Königin des Himmels und der Erde.
977
Murlingen, 1136 Moverlingen, 1136 979 Mewerlinge, 1294 980 Mawrling, 1392 981 Meidling, 1670, Kupferstichkarte Niederösterreich von Georg Matthias Vischer, Niederösterreichische Landesbibliothek AV222/1697 982 Mai: 983 Meierei: 984 Das gelobte Land: 978
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Wonne, Paradies, Jungfräulichkeit – welch ein Kontrast zum blutigen Tod der jungen Baroness und des Kronprinzen 1889... Doch halten wir uns zunächst an Hugo Wolf, der im Sommer 1880 über Mayerling urteilt: „Man lebt wie der Herrgott in – Mayerling!“985 Interessant erscheint uns in diesem Zusammenhang, dass bereits 1140 im Klosterneuburger Traditionsbuch ebenfalls ein Ort mit dem Namen „Murlingen“ erwähnt wird – hierbei handelt es sich jedoch um den Ort Meidling, den heutigen 12. Wiener Gemeindebezirk. Dieser Flurname soll entstanden sein, da es sich hier um eine Stadtwerdung auf den Mauern einer römischen Befestigung handelt – ebenfalls also eine „Siedlung an der Mauer“. Aus „Murlingen“ soll sich dann im Wiener Dialekt die Form „Meidling“ gebildet haben. An die alte Form des Stadtnamens erinnert noch heute die Murlingengasse in Wien-Meidling. Und auch im Kärntner Nationalpark Nockberg gibt es eine ähnliche Gemarkung – die Mayerlingalm an der Nockalmstraße zur Prießhütte. Doch nicht nur als Namen eines fast weltberühmten Ortes und synonym für eine geheimnisvolle Tat steht Mayerling heute. Genutzt wird der Ortsname weltweit auch als Produktbezeichnung, so zum Beispiel für eine Möbelkollektion der französischen Firma Pinede986 aus Albi, eine deutschen Bodenfliesenserie, als Bezeichnung einer Wagenfarbe987, eines Brautkleidmodell988 des Hauses Pronuptia, als Muster einer Sticktechnik, als Name einer Uhrenkollektion und einer Tortenkreation aus dem Hause der Wiener Schokoladenmanufaktur Leschanz989, als Pflegeproduktserie aus dem Hause David Jones990, als Tischleuchtenname der Serie „Classic line“ der Firma Thomas-Leuchten991, als Serienname für Geschirr aus dem Hause „Winterling“, als Wein- bzw. Sektsorte992 oder Whiskymarke993, als Firmenname „Mayerling Productions Ltd.“ und Shopbezeichnung „Mayerling Cellars“ in einem australischen Einkaufszentrum. Aber auch als weiblicher Vorname in Mittelamerika, als männlicher Nachname im Film „Boulevard der Dämmerung“994 bzw. als Familienname995 oder als Name eines Nachclubs im Französischen Vichy und in Malaga ist Mayerling gebräuchlich. In dem gezeichneten Anime „Vampire Hunter D“ trägt der letzten lebende Vampir den Namen Mayerling – im gleichnamigen japanischen Animationsfilm von 2003 fälschlich „Meir Link“. Darüber hinaus gibt es im Badener Hotel „Krainerhütte“ die Junior-Suite „Mayerling“, und im Wiener Hotel Sacher den „Salon Mayerling996“ sowie im Grand Hotel Imperial im italienischen Levico Terne (Trento) den Tagungsraum „Mayerling“. In Los Angeles gibt es darüber eine „Mayerling Street“, in Houston/Texas trägt ein Ortsteil den Namen „Mayerling“997 und in Palm Beach gibt es ein Restaurant mit gleichem Namen998. Im Kloster Heiligenkreuz hieß gar ab 1903/1904 die zu einem Gastraum umgebaute Winterküche des Stiftsgasthofes „Mayerlingstüberl“; heute indes trägt der Raum die Bezeichnung „Hochzeitsstüberl“.
985
Honolka, Kurt: „Hugo Wolf – Sein Leben, sein Werk, seine Zeit“, München 1990 www.pinede.fr 987 siehe Mayerling grün metallic bei Peugeot 988 www.pronuptia.de 989 www.leschanz.at 990 www.davisjones.com 991 www.thomasleuchten.at 992 Le Crémant d´Alsace Mayerling bzw. Le Mayerling 993 „Lord Mayerling“, Scotch Grai Whisky; Destilled Matured and Aged in Oak Cask, 70&vol. 994 „Max von Mayerling“, USA 1950; als „Sunset Boulevard“ in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ein weltweiter Musicalerfolg 995 Mayerling, Louis; Schriftsteller: „We faked the Ghosts of Borley Rectory“, Pen Press, 2000 996 Hier ist in drei Vitrinen das Kronprinz Rudolf-Tafelsilber ausgestellt, das Anna Sacher erwarb. Heute ist das Silber im Privatbesitz der Eigentümerfamilie Gürtler; Daten zum Erwerb des Silbers etc. sind „im Laufe der bewegten Geschichte des Hotels Sacher Wien verloren gegangen“; freundliche Mitteilung von Frau Christine Koza, Direktion Hotel Sacher Wien, Wien 09.10.2003 997 www.houstonarearealestate.com 998 Mayerling – Luncheon & Dinners, 309 ½ Worth Avenue, Palm Beach 986
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Ab 1. April 2007 sollte das „Café Mayerling“, eine fiktive Kneipe im 8. Wiener Gemeindebezirk, Hauptschauplatz der ORF1-Vorabendserie „Mitten im Achten“ (Drehbuch: Clemens Aufderklamm) werden. Dort in der Josefstadt treffen sich Singles um die 20, bei denen sich alles um die Liebe oder die Suche nach dem richtigen Partner für die kommende Nacht dreht. Noch vor Ausstrahlung der Pilotfolge wurde der Spielort jedoch in das Lokal „Holacek“ verlegt – und die tägliche Serie zum 29. Juni 2007 wieder eingestellt.
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Kapitel 4 Vor der Entscheidung
1. Namensgebung und Namensmythos A: Sagen aus Mayerling
„In Mayerling stand auf dem alten Friedhof ein Grabstein, auf dem ein Hundekopf eingemeißelt war.“
Die Hundekopfsage Carl Calliano, Baden 1924
Der Badener Schriftsteller und Heimatforscher Carl Calliano, Mitbegründer des Badener Kaiser Franz JosefMuseums, sammelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts lokale Sagen aus Niederösterreich, die er 1924 in einem fünfbändigen Nachschlagewerk veröffentlichte. Auch die Region um Alland und Heiligenkreuz fand dabei Berücksichtigung – allein aus Mayerling sind vier Sagen verzeichnet999. Die bekannteste mündlich überlieferte Erzählung aus Mayerling ist die „Hundekopfsage“, die auf den Mitte des 17. Jahrhundert angelegten Friedhof an der Laurentius-Kirche Bezug nimmt. Darin heißt es: „In Mayerling stand auf dem alten Friedhof, der nun aufgelassen ist, ein Grabstein, auf dem ein Hundekopf eingemeißelt war. Die Sage geht dahin, dass daselbst eine Burgfrau begraben sein soll, die stolz, hochfahrend und geizig war. Als sei einen Bettler, der sie im Burghof um ein Almosen anflehte, davonjagen ließ, wandte sich dieser gegen die Burgfrau und rief ihr den Fluch zu, sie möge, da sie gesegneten Leibes sei, ein Kind mit einem Hundekopf zur Welt bringen und der Wunsch ging in Erfüllung.1000“ In der Pfarrkirche St. Georg und Margarethe in Alland befindet sich heute ein Grabstein, der ein auf dem Rücken liegendes, hundeähnliches Tier zeigt, aus dessen Körper eine Lilie emporwächst. Lokal wird der unbeschriftete Grabstein auch mit einem missgestalteten Kind in Verbindung gebracht – jedoch in der Herrschaft zu Arnstein1001: „Es war zur Zeit der Kreuzzüge. Auch der Ritter von Arnstein nahm daran teil. Während seiner Abwesenheit ließ seine hartherzige Frau eine Bettlerin mit Hunden von der Burg vertreiben. Zur Strafe für diese Untat wurde das während der Abwesenheit des Ritters zur Welt gekommene Kind mit einem Hundekopf geboren. Aus Angst ließ die Rittersfrau dieses Kind töten und vergraben. Als der Ritter von Arnstein heimkehrte, erfuhr er bald von dem Verbrechen seiner Frau. Er ließ sie gefangen nehmen, in ein Fass stecken, in das von außen
999
Über die Existenz der vier Sagen aus Mayerling berichtete und freundlichst Magister Helene Schießl, Fahrafeld/Pottenstein, 30.05.2003 1000 Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924 1001 Dorffner, Christl und Erich: „Das Buch von Alland“, Eigenverlag der gemeinde Alland, Alland 2002 165
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Nägel eingeschlafen waren, und von seiner Burg den Berg hinabrollen. Zur Sühne ließ er an der Stelle, wo das Fass liegen blieb, eine Kapelle erbauen. Dort steht die heutige Pfarrkirche von Raisenmarkt. Das Kind bekam eine christliche Ruhestätte auf dem Allander Friedhof. Der Grabstein erinnert heute noch an diese Begebenheit und steht jetzt in der Kirche zu Alland.“ Eine ähnliche Sage wird auch aus dem Renaissance-Schloss Schallaburg bei Melk berichtet, auf dem ebenfalls nach einer Verfehlung ein Junge mit Hundekopf geboren wurde, der 32 Jahre lang in einem unterirdischen Verließ lebte und an den im großen Arkadenhof eine menschliche Büste mit Hundekopf erinnert1002. Drei weitere Sagen aus Mayerling spielen rund um den Steinhof, einem nicht mehr existierenden Herrensitz mit Meierei südlich der Schwechat, der 1772 in den Besitz des Stiftes Heiligenkreuz kam und heute als Ruine im Gelände kaum erahnbar ist. An diese Ruine erinnert die Sage „Die Bundschuhe in Mayerling“, in der es heißt: „In Mayerling, gegenüber der Baumschule, soll vor Zeiten ein gar stattlicher Bauernhof gestanden sein, Steinhof genannt. Nun sieht man aber vor wuchernden Pflanzen kaum mehr die Trümmer. Geht man jedoch um Mitternacht vorüber, so sieht man Buntschuhe – augenscheinlich handelte es sich um Bundschuhe, doch nutzte man in der Erzählung das leichter zu erklärende Wort Buntschuhe – herumlaufen, das Haus ist wieder völlig aufgerichtet und laute Musik dringt heraus. Auch hört man aus dem Hause das Geräusch von vielen tanzenden Menschen. Um 1 Uhr aber verschwindet alles unter lautem Getöse.1003“ Zu der dem Steinhof angegliederten Mühle, der Steinermühle (auch „Mühle an der Brücke“, „Speichmühle“ oder „Schwabmühle“ genannt), gibt es die Sage von den „Franzosen in der Steinermühle zu Mayerling“. Darin heißt es: „Als im Jahre 1809 die Franzosen durch Mayerling zogen, sahen sie eine alte Mühle. Es ist die heute noch bestehende stattliche, so genannte Steinermühle. Da die Franzosen Hunger verspürten und die Mühle unbewacht schien, stürmten sie hinein und zwangen die Frauen, ihnen Fleisch und Mehl zu geben. Die geängstigten Frauen gaben ihnen alles, denn der Bauer war mit seinem Knecht um Holz gefahren. Als er nun wieder nach Hause kam, lief man ihm entgegen und erzählte ihm, dass die Franzosen in seiner Mühle wären. Daraufhin holte er die Bauern der Umgebung zusammen, sie bewaffneten sich mit alten Flinten, Sensen und Sicheln und umstellten das Haus. Dann stürmten sie hinein und erschlugen sämtliche Franzosen. Einige liegen oberhalb des Hauses in einem Wald begraben, wo sie aber bis heute keine Ruhe gefunden haben sollen, denn noch immer sieht und hört man bei den Franzosengräbern allerlei Unheimliches.1004“ Tatsächlich zogen während der napoleonischen Kriege 1805 und 1809 die Truppen Napoleons I. durch den Wienerwald. Der Lokalgeschichte nach quartierten sich dabei 1809 sieben Infanteristen in Obermeierhof in Raisenmarkt in einem Bauernhof ein. Nach zehn Tagen griffen die in einer Scheune sich versteckt aufhaltenden Bauern die Soldaten an und erschlugen sechs Mann. Der Siebte feuerte einen tödlichen Schuss auf die Bäuerin ab, bevor auch er starb. Die Leichen der Franzosen wurden im Wald verscharrt und 1893 vom Forstinspektor Josef Weiß aus Mayerling wieder entdeckt. Auf Wunsch der französischen Botschaft in Wien wurden die Toten dann auf dem Friedhof zu Raisenmarkt bestattet1005. Letztlich soll es auch eine Erscheinung in Mayerling gegeben haben – wohl jedoch keine „Weiße Frau“, wie Rabl in seinem Buch „Das Triestingthal“ im 19. Jahrhundert anmerkte, sondern eine „weiße Gestalt.“ In der Sage von der „Kapelle bei der Steinermühle in Mayerling“ heißt es:
1002
freundliche Mitteilung Hermine Prirschl, Schallaburg, 07.06.2003 Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924 1004 Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924 1005 Dorffner, Christl und Erich: „Das Buch von Alland“, Eigenverlag der gemeinde Alland, Alland 2002 1003
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„Über die Entstehung dieser Kapelle gibt es folgende Erzählung: Die Bauern von Raisenmarkt gingen gern ins Allander Kellerstüberl. Beim Rückweg waren sie in der Regel angeheitert und wenn sie dann zur Steinermühle kamen, stand dort eine drohende, weiße Gestalt, die ihnen ihr Geld abforderte. Das wiederholte sich einige Male, bis es den Bauern doch zu bunt wurde. Sie beschlossen, einmal nüchtern heim zuwandern und das Gespenst zu untersuchen. Als sie zu der unheimlichen Stelle kamen, stand dort die weiße Gestalt. Die Bauern ließen sie heran kommen und als sie merkten, dass es ein Mensch sei, stürzten sie erbittert auf ihn los und erschlugen ihn. Dann nahmen sie ihm die Hülle vom Gesicht und merkten mit Entsetzen, dass es eine ihnen sehr bekannte Persönlichkeit von Raisenmarkt war. Zur Sühne dieser Bluttat erbauten sie mit dem Geld, das ihnen das Gespenst abgenommen hatte, die kleine Kapelle.1006“ Über das so genannte „Engelskreuz“ oberhalb Mayerling an der Verbindungsstraße von Heiligenkreuz nach Alland gelegen, gibt es folgende Sage vom „Großmeister bei Heiligenkreuz“: „Dem Prior zu Heiligenkreuz erzählte eine Frau folgendes: Ich mache oft an Nachmittagen eine Spazierfahrt nach Alland. Da nehme ich eine Jause ein und kehre dann gegen Abend wieder zurück nach Hause. Ich gehe bei dieser Gelegenheit mitunter eine Strecke zu Fuß, besonders beim Engelkreuz vorüber. Bei diesem Kreuze hörte ich schon öfter, wenn ich vorüberging, im Walde ein Singen, dann wieder ein Winseln und darunter vernahm ich eine Stimme: "Ich bitte für den armen Sänger!" Als ich heute abends im Mondlichte wieder mit meinen beiden Kindern vorüberging, hörte ich dasselbe und meine Kinder hörten es auch. Plötzlich vernahmen wir im Walde Pferdegetrappe und ein Reiter kam zum Vorschein. Derselbe war von hagerer Gestalt, hatte einen Mantel um und auf der Brust ein Kreuz, welches aber schon etwas verwischt war, wie ein von Alter schon abgetragenes. Der Reiter blieb vor mir stehen und sagte: "Ich bitte für den armen Sänger!" Da fasste ich mir Mut und fragte: "Ja, was soll ich denn?" Er antwortet: "Beten für den Großmeister und die zwei Brüder!" Dann kehrte er sich um, ritt wieder waldeinwärts und verschwand endlich im Walde1007. Ebenfalls über das Engelskreuz berichtet die Sage „Vom Allander Schmied und dem redenden Ross“. Darin heißt es: „Es mag bei 150 Jahre sein, da lebte zu Alland ein Schmied mit Namen Hegenauer. Zudem ist einmal im Winter um Mitternacht ein unbekannter Mann gekommen, hat am Fenster geklopft und gerufen, der Schmied möge aufstehen, er habe mit ihm etwas zu reden. Der Schmied ist aufgestanden und hat gefragt, was er wolle? Da bat ihn der Mann, er möchte mehrere Hufeisen nehmen und mit ihm zum Engelkreuz gehen und daselbst sein Ross beschlagen, weil es ihm fortwährend ausglitsche. Der Schmied wollte nicht recht einwilligen, machte Einwendungen und sagte, es sei halt so schwer, auf der Straße und ohne Feuer beschlagen und noch dazu so weit weg. Weil aber der Mann so sehr bat, so ging er endlich mit. Wie sie zum "Engelkreuz" kommen, steht das Ross da. Jetzt hebt ihm der Schmied den Hinterfuß auf und passt das Hufeisen an. Wie er aber den ersten Nagel hineinschlägt, so fängt das Ross zu reden an und sagt: "G'vatter nit so tief!" Über das hat sich der Schmied sehr entsetzt und ist bald davongegangen. Der unbekannte Mann aber hat ihn noch zuvor reichlich belohnt.1008“
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Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924 Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924 1008 Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924 1007
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Kapitel 4 Vor der Entscheidung
1. Namensgebung und Namensmythos B: Persönlichkeiten
„Im Einklang mit der Natur und im Streben nach der vollendeten Gastlichkeit im Herzen des Wienerwalds präsentiert sich Hanner.“
Heinz Hanner „Hanner“ Mayerling 2003
Nicht allein der Tod des österreichischen Kronprinzen Rudolf und seiner geliebten, Baroness Mary Vetsera, haben die Katastralgemeinde Mayerling im Wienerwald bekannt gemacht. Einige Persönlichkeiten, deren Leben und Sterben mehr oder weniger eng mit dem kleinen Ort an der Schwechat verbunden ist, haben darüber hinaus zur Popularität des Weilers beigetragen. Die Karmelitin Schwester Maria Kordis, bürgerlich Oda Schneider, Übersetzerin und Autorin vieler theologischer Bücher wie u.a. „Die mystische Erfahrung“, „Vom Priestertum der Frau“, „Im Anfang war das Herz – Vom Geheimnis des Karmel“, „Die Macht der Frau“ und „Gnade über Mayerling“, lebte lange Jahre im Karmel St. Josef zu Mayerling und trug dazu bei, den Namen des Ortes einem größeren Publikum bekannt zu machen1009. Oda Schneider wurde am 30. Mai 1892 als zweites Kind einer k.u.k. Offiziersfamilie in Pressbaum bei Wien geboren, wo ihre Mutter, Othilie Przyborski, sich auf Sommerfrische befand. Ihr Vater, Generalstabshauptmann Arthur Przyborski, war damals in Wien stationiert. Dort kam Oda im Alter von neun Jahren in das Halbpensionat des Klosters Sacre Coer. Eine erste Wende nahm Odas Leben, als Major Rudolf Schneider ihr während seines Heimaturlaubes im Jahre 1916 einen Heiratsantrag machte. Sie kannte den um zwanzig Jahre älteren Freund der Familie seit ihrem elften Lebensjahr. Dieser Antrag machte sie sehr unglücklich und doch wollte sie ihm, dem Offizier an der so harten russischen Front, irgendwie helfen, ihn trösten. „Dieser Mensch braucht jetzt meine Liebe“, so sagte sie sich und schickte ihm ihr Jawort per Post nach ins Feld. Mit einer Bedingung: Er möge ihr das Dichten erlauben. Oda Schneider wohnte mit ihrem Gatten in Wien in der Colingasse. Er begegnete ihr mit Verständnis und Aufmerksamkeit und doch erfüllte sie in den ersten Ehejahren eine innere Leere. Diese Depression steigerte sich, als der erwartete Kindersegen ausblieb. Im Advent 1929 erfolgte ihre vollständige Bekehrung und die große, innere Leere 1009
freundliche Mitteilung von Sr. Margarita, Karmel Marter Dolorosa, Maria Jeutendorf/Pottenbrunn 04.06.2003 168
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wich einer beglückenden Fülle. Die Glaubensgeheimnisse fingen an, sich ihr zu erschließen und wurden ihre ganze Freude. In der Fastenzeit 1930 begegnete sie zum ersten Mal dem Karmel. Am Vorabend des Festes Mariae Opferung, am 20. November 1947, sechzehn Tage nach dem Tod ihres Gatten, trat Frau Oda Schneider als Postulantin in den Karmel Wien Baumgarten ein. Am Herz-Jesu Fest 1948 wurde sie eingekleidet, durfte am Herz-Jesu Fest des Jahres 1949 (24.06.) fiel, ihre zeitliche Profess und ebenfalls am Herz-Jesu Fest, dem 21. Juni 1952, ihre Ewige Profess ablegen. Eine Enttäuschung war für sie zunächst der Name Sr. Maria Gabriela a Corde Jesu, den sie bei ihrer Einkleidung bekam. Sie hätte so gerne einfach Sr. Maria Cordis geheißen. Einige Jahre später, während ihres Aufenthaltes im Karmel Mayerling, erhielt sie doch noch den gewünschten Namen, als im Jahre 1955 eine Sr. Gabriela aus Ungarn in dieses Kloster kam. Eine wichtige Station ihrer Karmeljahre wurde der acht Jahre dauernde Aufenthalt im Karmel Mayerling, wo den dortigen Schwestern durch ihre Anwesenheit eine finanzielle Hilfe zuteilwerden sollte. Im Jahre 1961 wurde sie jedoch vom Karmel Wien Baumgarten zurückgerufen, da man sie dort für eine Schar neu eingetretener Schwestern als Novizenmeisterin benötigte. Kurze Zeit später wählte man sie hier zur Subpriorin. Im Mai 1965 wurde Sr. Maria Cordis vom Karmel Baumgarten als Vikarin nach Steinbach N.Ö. geschickt, um mit einigen Schwestern eine Neugründung vorzubereiten. Die letzte und längste Station der Nonne wurde der Grazer Karmel. Im September 1969 reiste sie mit Sr. Maria und Sr. Immaculata an. Im Winter 1981/82 erkrankte Maria Cordis an einer schweren Bronchitis. Der behandelnde Arzt bezeichnete sie damals als „verlöschendes Licht“. Sie erholte sich jedoch überraschender Weise wieder, wenngleich ihr eine schier unüberwindliche Schwäche blieb. Oda Schneider starb am 12. März 1987 um 8.45 Uhr im Karmel Graz, nachdem sie am Morgen bei klarem Bewusstsein die Hl. Kommunion empfangen hatte1010. Eine zweite Nonne, die selig gesprochene Franziskanerin Schwester Maria Restituta Kafka, hatte ebenfalls Beziehungen zu Mayerling und dem dortigen Kloster und Erholungsheim der Wiener Hartmannschwestern: Helene Kafka. Sie wurde am 1. Mai 1894 in Hussowitz (Brno-Husovice/Tschechische Republik) geboren und 1943 von den Nationalsozialisten in Wien ermordet. Ihr Vater, Anton Kafka, war Schuhmacher. Als Helene zwei Jahre alt ist, übersiedelte er mit seiner Familie in die Brigittenau nach Wien. Dort wuchs Helene im Milieu der armen tschechischen Zuwandererfamilien auf. Als Hilfspflegerin am öffentlichen Krankenhaus Lainz lernte sie ab Oktober 1913 die hier wirkenden, im Volksmund als „Hartmannschwestern" bezeichneten geistlichen Schwestern kennen. Dieser Schwesterngemeinschaft trat Helene gegen den Willen ihrer Eltern am 25. April 1914 mit 19 Jahren bei und erhielt den Namen der altchristlichen Märtyrin Restituta. Von Mai 1919 an arbeitete Schwester Restituta im Krankenhaus in Mödling1011. Sie brachte es beruflich bis zur ersten, leitenden Operationsschwester und Narkotiseurin. Ende 1939/Anfang 1940 hängt Sr. Restituta in der neuen chirurgischen Station des Mödlinger Krankenhauses Kruzifixe auf und weigert sich trotz Strikten Befehls der Nationalsozialisten, diese zu entfernen. Am 18. Februar 1942 wird sie im OP-Saal des Spitals von Mödling nach Denunziation durch einen SS-Arzt festgenommen und vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof unter Vorsitz von Dr. Alb-
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Nekrolog Sr. Maria Cordis, Karmel St. Josef, Graz, 1987 Am 18.02.1942 wurde Sr. Restituta im Mödlinger Krankenhaus in der Weyprechtgasse 12 von der Gestapo verhaftet. Seit 18.11.1995 lautet die Spitalsadresse Sr. M. Restituta-Gasse 12 1011
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recht wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode durch das Fallbeil verurteilt. Am 30. März 1943 wurde sie um 18:21 Uhr nach 13 Monaten Haft - davon fünf Monate in der Todeszelle – im Wiener Landgericht enthauptet. Sie ist die einzige Ordensschwester, die während des Dritten Reichs gerichtlich verurteilt von Nationalsozialisten auch hingerichtet wurde. In einem Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienstes) vom 4. Dezember 1942 wurde schon Monate vor der Hinrichtung „hinsichtlich einer etwaigen Freigabe der Leiche der Kafka an deren Angehörige zur schlichten Bestattung“ ablehnend geurteilt aufgrund der Befürchtung, dass seitens der Ordensgemeinschaft „eine unerwünschte Propagandatätigkeit und Verherrlichung der zum Tode Verurteilten als Märtyrerin zu erwarten ist.“ Sr. Restituta wurde wie viele ihrer Mitgefangenen auf dem Wiener Zentralfriedhof in der Schachtgräberanlage der Gruppe 40 verscharrt. Bei der im Rahmen des Seligsprechungsverfahrens durchgeführten Exhumierung und amtlichen Untersuchung konnten die schon früher an der überlieferten Stelle der Gruppe 40 geborgenen Gebeine allerdings nicht als authentisch identifiziert werden. Ob Sr. Restitutas Leichnam dem Anatomischen Institut der Universität Wien zu Forschungszwecken gedient hat, ist nicht geklärt. Schwester Maria Restituta wurde von Papst Johannes Paul II. anlässlich seines 3. Pastoralbesuchs in Österreich am 21. Juni 1998 auf dem Wiener Heldenplatz als Märtyrerin aus dem christlichen Widerstand gegen das NaziTerrorregime selig gesprochen. Der Gedenktag der ersten Märtyrerin der Erzdiözese Wien ist der 29. Oktober, der Tag des Todesurteils1012. Ihre Verbindung zu Mayerling beruht auf der Tatsache, dass sie ihre Urlaube oft im Schwesternheim der Hartmannschwestern zu Mayerling verbrachte und in der Abgeschiedenheit des kleinen Ortes neue Kraft tanken konnte. Ein Priester, dessen Leben ebenfalls durch die Willkür des nationalsozialistischen Unrechtsstaates früh beendet wurde, fiel gar in Mayerling seinen Peinigern und Mördern in die Hände – Friedrich Karas. Karas wurde am 29. Juli 1895 in Wien geboren. Er nahm als k.u.k. Leutnant am Ersten Weltkrieg teil und trat 1934 im Alter von 39 Jahren in das Wiener Alumnat ein. Fünf Jahre später erfolgte seine Weihe zum Priester1013. Ab 1. September 1939 wirkte der Kaplan als Administrator und Lokalprovisor in Gaubitsch in Niederösterreich. Karas machte als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus aus seiner Ablehnung gegen das Regime keinen Hehl und erregte so schnell den Unmut von Parteigenossen. Am 9. Juli 1940 wird er verhaftet und des Amtes enthoben. Vor dem Wiener Landesgericht folgte ein Prozess, an dessen Ende eine dreimonatige Haftstrafe gegen Karas wegen „Unsittlichkeit“ verhängt wurde. Nach Verbüßen der Haftstrafe wirkte er vom 14. Oktober 1940 bis 30. April 1941 als Kaplan in PetronellCarnuntum in Niederösterreich1014. Am 1. Mai 1941 erfolgte seine Berufung als Geistlicher Rektor nach Mayerling, wo er als Kirchenrektor der Karmelkirche zum Heiligen Josef wirkte1015. Im Jun i 1941 wird Karas in Mayerling erneut verhaftet und vor Gericht gestellt. In Folge wird er in das Konzentrationslager Dachau überstellt, vor er als Häftling 26545 am 30. Juni 1941 ankommt. Als Haftart geben die Behörden „Homosexualität“ an1016. Der Kaplan Friedrich Karas wird am 26. Januar 1942 mit einem Invalidentransport in das oberösterreichische Schloss Hartheim überführt. Unmittelbar nach der Ankunft wird er im Rahmen der so genannten „Aktion 14f13“ in
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www.restituta.net in: „Gelitten für Österreich“, Karl von Vogelsang-Institut, Wien 1988 1014 freundliche Mitteilung von Gisela Klaffl, Marktgemeinde Petronell, Petronell 18.04.2003 1015 in: „Gelitten für Österreich“, Karl von Vogelsang-Institut, Wien 1988 1016 freundliche Mitteilung von Albert Knoll, Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Dachau 05.05.2003 1013
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Hartenstein ermordet1017. Seine Leiche wird verbrannt. Als Todesdatum wird „offiziell“ der 28. März 1942 angegeben1018. Weitaus schöner ist die Verbindung von Heinz Hanner zu Mayerling. Der Patron des Restaurants, Hotels und Meetingpoints „Hanner“ in Mayerling 1 entstammt der Pächterfamilie, die aus der einstigen Jausenstation des früheren Bauernhofes „Milli Nandl“ in jahrelanger harter Arbeit das Hotel „Marienhof“ nebst Restaurant „Kronprinz Rudolf“ machten. Der ehemalige Landgasthof wurde ab Sommer 2003 unter der Federführung des Architektenteams „pla.net“ fast komplett umgebaut und eröffnete im Frühjahr 2003 unter dem schlichten Namen „Hanner“ entstaubt und puristisch modern an gleicher Stelle neu. 1997 wurde Heinz Hanner zum „Koch des Jahres“ gewählt, 2001 zum „Gastronom des Jahres“, ist mit 18 Punkten im Gault Millau und 3 Hauben einer der höchstdekorierten Köche Österreichs.
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freundliche Mitteilung von Dr. Hartmut Reese, Leiter der Ausstellung des Landes Oberösterreich „Wert des Lebens“, Schloss Hartstein, Alkoven, 18.05.2003 1018 Diese Darstellung des Lebens von Friedrich Karas bestätigte uns sein Neffe, Botschafter i. R. Dr. Robert Karas, Wien, 10.08.2005 171
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Kapitel 4 Vor der Entscheidung
2. Die Geschichte Mayerlings
„Ab eo loco, ubi confluunt Satelbach et Swechant, usque Murlingen, ab inde, sicut dirigitur uia, que dicitur uia molendini, usque ad priuentan et per eandem uiam, que girat priuentan, usque ad locum, qui dicitur hausruch.“
Stiftungsurkunde des Klosters Heiligenkreuz 02. Juni 1136 (?)
„In keinem der zahllosen Berichte über die tragischen Ereignissen in Mayerling scheint eine umfassende Darstellung des >>Tatortes“ ein und dort, wo er seiner Stenoschrift nicht mehr sicher war, ein Fragezeichen „?“. “Im Schlafzimmer finden wir zwei Leichname; jenen des verstorbenen Kronprinzen, das Antlitz kaum entstellt, jedoch die Schädeldecke abgesprengt, Blut und Gehirnteile hinausquellend, wie mir >>scheint durch einen Schuss aus nächster Nähe – und einen schönen weiblichen Leichnam; es ist jener der Marie Vecsera; auf eine Kästchen? Oder Tischchen? Liegen mehrerer Briefe; einer an Johann Loschek, Kammerbüchsenspanner, welcher beim Kronprinzen Kammerdienste versah und sein unbedingtes Vertrauen genossen hatte – 1 Telegramm und 5 weitere Briefe. – >>Es wird das nach den bestehenden Vorschriften erforderliche Protokoll über die Aufsuchung einer letztwilligen Anordnung aufgenommen, wobei ich als Schriftführer fungierte – Testamentsaufsuchung in diesem Falle eine bloße Formalität. >>Über den übrigen Befund wurde ein anderes, viel wichtigeres Protokoll erst an den folgenden Tagen aufgenommen, welche dem, Haus-, Hof- und Staatsarchiv übergeben werden sollte. Nach Fertigung des Testamentsaufsuchungs-Protokolles durch sämtliche Anwesende und nachdem der weibliche Leichnam in ein anderes Zimmer gebracht worden war, wurde ich als jüngster nach Wien vorausgeschickt, um so bald als möglich dem Obersthofmarschall Grafen Szécsen und dem erst Obersthofmeister Fürsten Constantin Hohenlohe Bericht zu erstatten, behufs weiterer Meldung an Ihre Majestät.“ Slatin musste also schon bald wieder Mayerling verlassen und zurück nach Wien reisen. In Mayerling hatten zwischenzeitlich die verbliebenen Kommissionsmitglieder den Leichnam des Kronprinzen in den mitgebrachten Kupfersarg gelegt, den zwei Mitarbeiter der Badener Bestattung Nissel in der heutigen Pfarrgasse 16 gegen 15 Uhr vom Bahnhof aus ins Schloss gebracht hatten. Der mit zwei schellenbeschirrten Rappen des Badener Fuhrwerksbesitzers Schell bespannte Fourgon brach kurz vor 19 Uhr in Mayerling auf und brachte den Sarg zurück nach Baden. Dem Leichenwagen folgten fünf oder sechs weitere Wagen mit den Kommissionsmitgliedern und mehrere Fußgänger. Am Badener Bahnhof wurde der Sarg nach 21 Uhr in den schwarz drapierten Waggon eines bereitgestellten Sonderzuges gehoben. Der Zug bestand aus zwei Personen- und zwei Güterwagen. Im zweiten Güterwaggon wurde, so berichtet es der Badener Gerichtsadjunkt Dr. Siebenrock, mehrerer Ballen mit blutbefleckter Bettwäsche verladen. Da sich am Bahnhof bereits eine große Menge an Schaulustigen eingefunden hatte, wurde das Gelände durch die Badener Feuerwehr und den Veteranenverein unter Führung des Bezirkshauptmanns Oser abgesperrt. Bis zur Abfahrt des Zuges nach Mitternacht hielten sich die Mitglieder der Kommission im Speisesaal des Hotels „Stadt Wien1212“ am Badener Hauptplatz auf. Hinzu gesellten sich Rudolfs Flügeladjutant, Major Orsini-Rosenberg, und sein Ordonnanzoffizier Hauptmann Giesl von Gieslingen, die beide gegen 18.30 Uhr in Baden eingetroffen aber nicht mehr nach Mayerling weitergefahren waren. Um 0.20 Uhr fuhren sie im Sonderzug zurück in die Reichshauptstadt. Gegen zwei Uhr nachts erreichte dieser Sonderzug den Südbahnhof. Im Hofwartesalon wartete der Erste Obersthofmeister mit acht Leiblakaien. Sie trugen den Sarg vom Bahnsteig hinunter und stellten ihn auf einen zweispännigen, schwarzen Fourgon. Ein Offizier und acht Leibgardereiter zu Pferde begleiteten mit gezogenen Säbeln den
Überprüfung“ aus April 1929. Die Zeitungsveröffentlichung „Die Wahrheit über Mayerling“ vom 15.08.1931 im „neuen Wiener Tagblatt“ (Sonntagsbeilage) , so Judtmann, weicht teilweise stark vom Manuskript ab. 1212 Das Hotel „Stadt Wien“ war 1786 von Philipp Otto als „Casino“ errichtet worden. Heute befindet sich in der Immobilie, die links neben dem „Kaiserhaus“ liegt, die Badener Sparkasse. 199
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toten Kronprinzen bei seiner letzten Fahrt über die Ringstraße und durch das Burgtor in die Hofburg gebracht wurde. Noch am Bahnhof erstattete Slatin Kubasek über seine Unterredungen mit Prinz Constantin Hohenlohe und Antal Graf Szécsen Bericht. Slatin ergänze in seinen Erläuterungen später den Bericht vom 30. Jänner: „Ich erinnere mich mit voller Bestimmtheit, dass der Kronprinz im Bette links, die Baronesse rechts lag, jedoch ist in meinen Notizen darüber nichts vermerkt; und fast auch mit voller Bestimmtheit kann ich mitteilen, dass links vom Bette des Kronprinzen auf einem Sessel oder niederen Tischchen o. dgl. Ein Handspiegel lag und ein Revolver; diese beiden letzten Umstände hat mir Hofrat Kubasek nach der am 4. Februar 1889 stattgehabten Kommission bestätigt.“ Slatin selbst, der als jüngstes Mitglied der ersten auch bei der zweiten Kommission hätte Protokoll führen sollen, war jedoch am kommenden Montag, 4. Februar, nicht mit in Mayerling, da er in Wien Berichte schreiben musste – u.a. über die Wegschaffung der Leiche der Vetsera. Statt seiner protokolliert Regierungsrat Poliakovits am 4. Februar in Mayerling. Da Slatin dieses Protokoll ebenfalls unterzeichnen musste, las er die Ausführungen. Ihm blieb in Erinnerung: „Offenbar hatte der Kronprinz den Spiegel im letzten Augenblick seines Lebens benützt.“
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Kapitel 5 Die Kerzen verlöschen
4. Die Abschiedsbriefe
„Die Baronin lässt Graf Hoyos auch grüßen; er soll nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat.“
Abschiedsbrief des Kronprinzen an Johann Loschek Habsburg-Lothringen´sches Familienarchiv, Wien
„Um sechs Uhr früh des 31. Jänner 1889 empfängt Kaiser Franz Joseph Professor Widerhofer und erfährt von ihm die wahre Todesursache. Vom Schmerz überwältigt, bricht Franz Joseph völlig zusammen, wie Conte Corti auf Grund des Tagesbuches der Erzherzogin Marie Valerie berichtet. Widerhofer übergibt dem Kaiser die vorgefundenen Abschiedsbriefe. An den Vater ist keiner vorhanden.1213“ Fritz Judtmann benennt dieses Kapitel in seinem Werk „Mayerling ohne Mythos“ mit dem Schlagwort „Abschiedsbriefe“. Wir haben diese Benennung übernommen, werden jedoch fortan nicht von Abschiedsbriefen, sondern von „letzten bekannten Handschriften“ sprechen, was uns wertneutraler erscheint. Eine Synopse der letzten bekannten Handschriften, die sowohl von Kronprinz Rudolf als auch von Mary Vetseras Hand in der Literatur genannt werden, fügen wir diesem Kapitel bei. Insgesamt haben wir mehr oder minder Kenntnis von •
20 Mitteilungen des Kronprinzen sowie
•
neun Mitteilungen der Baroness Vetsera.
Widmen wir uns zunächst jenen letzten bekannten Handschriften, die im Original erhalten bzw. als Faksimile bekannt gemacht sind – wir gehen hierbei in der Reihenfolge der späteren Veröffentlichung der Originale vor. Es sind aus der Hand des Erzherzogs vier Dokumente: 1. Brief an Kronprinzessin Stephanie, 1935 im Faksimileveröffentlicht, 2. Brief, Umschlag und Kodizill an Ladislaus Szögyény-Marich, 1958 im Faksimile veröffentlicht, 3. Telegramm an Erzherzog Friedrich, von Brigitte Hamann in den Fußnoten der 3. Auflage ihrer RudolfBiographie im Wortlaut zitiert1214,
1213 1214
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Das Faksimile aus der Handschriftensammlung der Szechényi-Nationalbibliothek, Budapest liegt dem Mayerling-Archiv vor 201
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4. Brief an Johann Loschek, an dieser Stelle erstmals teilweise im Wortlaut zitiert1215. Darüber hinaus sind durch das Kodizill drei weitere Handschriften des Kronprinzen belegt, die jedoch nie publiziert wurden und als derzeit nicht greifbar gelten müssen. Es sind folgende Dokumente: 5. Brief an Erzherzogin Marie Valerie, 6. Brief an Baron Hirsch, 7. Brief an Maria „Mizi“ Caspar. Als letzte Handschrift des Kronprinzen darf auch eine eigenhändige Telegrammniederschrift gezählt werden, die er am 29. Januar 1889 in Mayerling verfasste. Rudolf teilt darin Stephanie mit, dass er am Abendessen in der Hofburg nicht teilnehmen könne. Von Mary Vetseras liegen keine im Original erhaltenen bzw. als Faksimile bekannt gemachten letzten Handschriften vor. Widmen wir uns nun den Details. „Der Brief Rudolfs an seine Frau wurde von Stephanie in ihren Memoiren1216 in Faksimile veröffentlicht.1217“ Der handschriftliche, jedoch undatierte Brief ist zwei Seiten lang, von einem schwarzen Rand umgeben und mit „Rudolf“ unterzeichnet1218. Die Kronprinzessin erhielt den Brief am 31. Januar 1889. In ihren Lebenserinnerungen schrieb sie: „Ich zog mich in meine Gemächer zurück, mit dem Abschiedsbrief des Kronprinzen, den man mir übergeben hatte. Sichtlich kurz vor der Ausführung der Tat geschrieben, zeigte er den mit Vorbedacht gefassten Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Als ich ihn in der Hand hielt, empfand ich tieferschüttert die furchtbare Verwirrung und Ratlosigkeit des Kronprinzen in ihrem ganzen Umfang. Der Brief, ohne Datum, lautete: Liebe Stephanie! Du bist von meiner Gegenwart und Plage befreit; werde glücklich auf Deine Art. Sei gut für die arme Kleine, die das einzige ist, was von mir übrig bleibt. Allen Bekannten, besonders Bombelles, Spindler, Latour, Nowo, Gisela, Leopold etc etc, sage meine letzten Grüße. Ich gehe ruhig in den Tod, der allein meinen guten Namen retten kann. Dich herzlichst umarmend, Dein Dich liebender Rudolf. Jedes Wort war ein Dolchstoß in mein Herz.1219“ Judtmann weist bereits 1968 darauf hin, dass mit dem in der Literatur meist falsch als Nowo zitierten die Aja des Kronprinzen Baronin „Wowo“ Welden gemeint sei. Bereits 1926 hatte Stephanies Schwester, Luise von Coburg, den Brief in ihren Memoiren1220 erwähnt, dort jedoch falsch zitiert: „Ich nehme Abschied vom Leben ... kümmere dich um Deine Tochter, es ist das Liebste, was ich habe, und hinterlasse Dir diese Pflicht...“ Sicher war ihr der Brief nur vom Hörensagen bekannt – zumindest wird sie keine Gelegenheit gehabt haben, eine Abschrift anzufertigen. Zu Beginn des Jahres 1935 wurde von Rudolfs letzten Zeilen an Stephanie eine Fotografie angefertigt1221, um diese in den Memoiren der Gräfin Lonyay wiederzugeben. Die fotografischen Platten wurde zu einem späteren Zeitpunkt Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek überlassen. Doch dort war auch das Original bekannt... 1215
Das Teilfaksimile aus dem Habsburg-Lothringen´sches Familienarchiv, Wien liegt dem Mayerling-Archiv vor Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, v. Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 1935 1217 Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1218 Österreichische Nationalbibliothek Wien, Handschriftensammlung, 1121/35-3 1219 Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, v. Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 1935 1220 Luise von Coburg: „Throne die ich stürzen sah“, Amalthea-Verlag, Wien 1926 1221 Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien, 02.08.2004 1216
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In einem Vermerk, der von Oberarchivrat Dr. Antonius Feil unterzeichnet wurde1222, belegt das damalige Wiener Reichsarchiv 1941, dass der Abschiedsbrief des Kronprinzen – zusammen mit anderen Dokumenten aus dem Besitz der ehemaligen Kronprinzessin – im Jahr 1936 im Original in Wien vorlag: „Das Original des Schreibens, das in London im Auftrag der Gräfin Stephanie Lonyay zum Verkauf angeboten werden sollte, wurde mir im Jahre 1936 von Dr. Ernst Molden1223 zur Begutachtung vorgelegt. Es war zweifelslos echt. Ich habe durch den Regierungsrat Rudolf von Wonnesch, der auch zufällig zugegen war, die beiliegende Abschrift anfertigen lassen und diese selbst verglichen. Sie stimmen mit dem Original vollkommen überein.1224“ In der Anlage befinden sich eine händische sowie eine getippte Abschrift des Briefes. Der Brief sollte – so wie andere Dokumente – 1936 in London versteigert werden – Stephanies fürstlicher Haushalt verschlang viel Geld und auch ihre Liegenschaften waren verlustbringend1225. Zudem war ihre belgische Apanage in Höhe von 50.000 Francs inflationsbedingt kaum noch etwas Wert und das Honorar der Gatterburgs, die für Stephanie ihre Memoiren verfasst hatten, auch noch nicht vollständig gezahlt1226. Ein zweiter Grund, warum sich Stephanie von den persönlichen Dokumenten hatte eigentlich trennen wollen, war Rache – an ihrer Familie, von der sie sich ungerecht behandelt fühlte und die immer wieder sich in ihre Privatangelegenheiten eingemischt hatte. Zur Auktion kam es dann jedoch nicht – die Fürstin zog die Dokumente zurück, wohl auf Druck der Familie1227. Das Original des Briefes wurden 1944 auf Schloss Oroszvár von den Nationalsozialisten beschlagnahmt1228. Dr. Irmgard Schiel schreibt in ihren Stephanie-Memoiren1229, der „deutsche Stadtkommandant von Budapest, SSObergruppenführer Veesenmayer1230“ habe im Herbst 1944 nach der Einquartierung in Oroszvár „Briefe des Kronprinzen Rudolf“ beschlagnahmt. Sie sollen nach Berlin gebracht worden sein. Nachdem am 19. März 1944 deutsche Truppen Ungarn im „Unternehmen Margarethe“ besetzt hatten, wurde das Land im Herbst und Winter zum Frontland und Gouverneur Horthy von Veesenmayer nach Deutschland verschleppt. Während Budapest bereits am 24. Dezember 1944 von sowjetischen Truppen eingeschlossen wurde, konnte ganz Ungarn erst im April 1945 befreit werden. Es scheint also durchaus möglich, dass sich im Herbst des vorletzten Kriegsjahres der Budapester Stadtkommandant in Richtung Westen absetzte und in Oroszvár Quartier nahm. Dass er jedoch gezielt nach dem Abschiedsbrief suchen
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Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21, AZL: 2067/1941 Molden, Ernst, geb. 30.05.1886 in Wien, gest. 11.08.1953 in Wien; Historiker, Journalist; Ehemann von Paula von Preradovic, Vater von Fritz Molden und Otto Molden. 1921-39 Redakteur der Wiener Tageszeitung "Neue Freie Presse“; 1946-53 Gründer, Herausgeber und Chefredakteur der in der Tradition der "Neuen Freien Presse" stehenden Zeitung "Die Presse". 1224 Vergleiche auch eine Bestätigung für ein Kaiser Franz Josephs an Stephanie vom 25.09.1904 vom 06.10.1941, HHStaA, A Zl. 2067/1941 Ministerium des k.k. Hauses, Einzelne Abhandlungen, K. 14; eine Kopie stellte und freundlichst Joseph van Loon, Arendonk/Belgien zur Verfügung (12.01.2005). 1225 Zu den Liegenschaften der Fürsten gehörte auf Bodrog Olaszi ein Weingarten und auf Oroszvár eine Baumschule sowie eine Geflügelzucht. 1226 Freundliche Mitteilung von Joseph van Loon, 12.01.2005, Arendonk/Belgien 1227 Vermutung von Joseph van Loon, 12.01.2005, Arendonk/Belgien 1228 Von den Schreiben, die Stephanie 1935 in ihren Memoiren veröffentlichte, wurden nachfolgende Briefe von der Gestapo beschlagnahmt: 29. April 1883 / 19. Oktober 1884 / 28. Dezember 1884 / 25. August 1885 / 5. Oktober 1885 / 6. März 1887 / 8. März 1887 / 15. März 1887 / 21. März 1887 / 7. April 1887 / 20. Juni 1887 / 27. Juli 1887 (Druckfehler! dies muss Juni heißen) / 29. Juli 1887 / 31. Juli 1887 / 3. August 1887 / 7. August 1887 / 19. August 1887 / 8. Dezember 1887 / Telegramm vom 29. Jänner 1889 sowie die letzten, undatierten Zeilen des Kronprinzen. Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien, 04.08.2004 1229 Schiel, Dr. Irmgard: „Stephanie - Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, deutsche Verlags Anstalt, Stuttgart 1978 1230 Veesenmayer, Dr. Eduard, geb. 1904, gest. 1977; seit 16.10.1944 Reichsbevollmächtigter für Ungarn; wurde im letzten Nürnberger Prozess, dem so genannten Wilhelmstraßen-Prozess gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes und anderer Ministerien zu 20 Jahren Haft verurteilt; die Strafe wurde 1951 in 10 Jahre Haft umgewandelt. Der Wirtschaftsexperte Veesenmayer, der nach dem Krieg in Darmstadt lebte, war ab September 1941 als Sonderkommissär in der Stellung eines SS-Brigadeführers auf dem Balkan für die Endlösung der Judenfrage eingesetzt. 1223
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ließ oder diesen auf höhere Weisung nach Berlin sandte, wie vermutet wird1231, erscheint uns nicht wahrscheinlich. Auch Gräfin Gatterburg berichtet von der Konfiskation des Briefes in ihrem Buch „Im Schatten der Hofburg“. Woher sie dies wusste, ist nicht bekannt… Nach dem Krieg tauchte der Brief dann in Deutschland wieder auf: Der Historische AutographenLagerkatalog Nr. 105 der im damaligen Westberliner Sektor Halensee ansässigen Autographenhandlung Hellmut Meyer und Ernst verzeichnet dann im Herbst 1955 als Posten 5 den Abschiedsbrief des Kronprinzen Rudolf, der für 500 Mark ausgerufen werden sollte und als eigenhändige Niederschrift des Erzherzogs sein Telegramm an Stephanie vom 29. Jänner 1889, das für 360 Mark taxiert wurde1232. Abschiedsbrief und Telegramm wurden nach jetzigem Kenntnisstand in die USA verkauft. Zudem wurden in Berlin aufgerufen: das eigenhändige Testament des Kronprinzen vom 02. März 1887 für 650 Mark und als Posten 6 für 25 Mark ein Photo der Baroness Vetsera, „Brustbild aus dem Besitz des Kronprinzen Rudolf1233“ plus Visitenkarte von Alexander Baltazzi. Hier verliert sich die Spur des Briefes zunächst… Am 1. März 1980 erschien im Kleinanzeigenteil der „Badischen Neuesten Nachrichten“ in Karlsruhe unter der Chiffre 45470 folgendes Verkaufsangebot: „Von Privat: Umfangreiche Dokumentation zur Tragödie Mayerling, dem tragischen Ereignis der Geschichte Österreichs. Die Sammlung von über 40 eigenh. Briefen und Urkunden enthält den berühmten Abschiedsbrief von Kronprinz Rudolf an seine Frau Stephanie (Tochter von König Leopold/Belgien). Verkaufspreis für die kompl. Sammlung 75.000,- DM Besichtigung nach Vereinbarung.“ Ob die Sammlung damals verkauft wurde, wissen wir heute nicht. Allerdings: 1987 schenkte ein Privatmann den „Abschiedsbrief“ zusammen mit anderen Dokumenten der Autographen- und Nachlass-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek1234! Das mit Nummer 388 in der Wiener Burg eingegangene Telegramm wurde 1935 in Stephanies deutschen Memoiren als Fließtext und 1937 als Faksimile in der britischen Ausgabe „I was to be empress1235“ veröffentlicht. Der Text lautet: Alland, den 29. Jänner 1889, 5.5 Uhr Wien, den 29. Jänner 1889, 5.20 Uhr Ich bitte dich schreibe Papa, dass ich gehorsamst um Entschuldigung bitten lasse, dass ich zum Diner nicht anreisen kann, aber ich möchte wegen starkem Schnupfen die Fahrt jetzt Nachmittag unterlassen und mit Josl Hoyos hier bleiben. Umarme euch herzlichst Rudolf. Einen letzten Brief, ein beigefügtes Kodizill und einen von Rudolf an Ladislaus Szögyény-Marich adressiert Umschlag verwahrte der Sektionschef sein Leben lang. Nach seinem Tod im Jahre 1916 verblieben die Schriftstücke im Besitz der Witwe und wurde von der damals in Rom lebenden Tochter Camilla und dem Bruder des Botschafters, Geza von Szögyény-Marich1236, verwaltet. Beide gewährten 1922 Oskar Freiherr von Mitis Einsicht in die Bestände 1231
Joseph van Loon an den an der Verfasser, Arendonk/Belgien , 16.08.2004 Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 23, A 23007: „Historische Autographen: darunter wichtige Briefe über die Tragödie von Mayerling, ferner Autographen von Ärzten, Forschern, Gelehrten, katholischer Klerus, Handwerk“, Hellmut Meyer und Ernst, Autographenhandlung und Antiquariat, Berlin (West), 1955 1233 hierbei handelte es sich um einen Ausschnitt aus einem Gruppenkabinettbild 1234 freundliche Mitteilung von Hofrat ao. Univ. Prof. Dr. Ernst Gamillscheg, Direktor der Handschriften-, Autographen- und Nachlass-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, 18.01.2006 1235 H.R.H. Princess Stephanie of Belgium, „I was to be Empress“, Ivor Nicholson & Watson, London 1937 1236 Geza von Szögyény-Marich, geb. 1847, gest. 1927 1232
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des Gräflich Szögyény-Marich´schen Archivs in Csór und gaben den umfangreichen Briefwechsel mit dem Erzherzog für Mitis´ Rudolf-Biographie als Quelle frei. Geza Szögyény-Marich fertigte zudem für Mitis eine Abschrift des Kodizill und des ungarischen Abschiedsbriefes des Kronprinzen an, den dieser von Dr. Alexander Bischitz übersetzen ließ. Camilla Somssich verweigerte jedoch die Publikationserlaubnis für den letzten Brief, so dass Mitis daraus in seinem 1928 erschienenen Werk nur dem Sinn entsprechend zitieren durfte.1237 Über den Brief und das Kodizill gab es seit 1889 Spekulationen: Moriz Jókai schrieb darüber kurz nach der Tragödie im „Nemzet“ und in der „Wiener Abendpost“ Nr. 29 vom 05. Februar 1889, jedoch stimmte der Wortlaut nicht mit dem Original überein und der publizierte Text, so Mitis, war eher eine Zusammenfassung von Brief und Kodizill. Ernst Edler von der Planitz stützte sich in seinem Mayerling-Buch1238 auf diese Publikation. 1922 zitierte Major d.R. Viktor von Fritsche-Fritschen in seinem nicht veröffentlichen Brief Schreiben an Mitis den Brief so: „Lieber Szögyény, ich muss aus diesem Leben scheiden. Ich bitte Sie die Papiere meiner Aktentasche und meines Schreibtisches in der Hofburg durchzusehen, zu ordnen und alles was Sie für notwendig halten zu verbrennen.1239“ 1926 gab Guiseppe Borgese1240 den Brief in seiner Mayerling-Ausarbeitung mit diesem Wortlaut wieder: „Ich muss aus dem Leben scheiden. Grüssen Sie in meinem Namen alle guten Freunde und Bekannten! Leben Sie glücklich, Gott segne unser geliebtes Vaterland.“ Conte Corti meinte gar, der Text könne in Teilen so geheißen haben: „Ich muss sterben, das ist die einzige Möglichkeit, um als Gentleman diese Welt zu verlassen.1241“ Diesen Spekulationen wurde erst Ende der 50-er Jahre durch das Auftauchen des tatsächlichen Wortlaut ein Ende bereitet: Bei der Neuordnung der Photoplattensammlung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv waren sechs1242 undatierte und unsignierte Plattenaufnahmen aufgetaucht, die Staatsarchivar Dr. Rudolf Neck1243 1958 veröffentlichen konnte1244. Der Brief an den Sektionschef, nach Dr. Neck vermutlich bereits am 28. Jänner in Wien geschrieben, bringt zu den Gründen des Hinscheidens nichts neues, doch unterstreicht er noch einmal sehr deutlich Rudolfs Stellung zum ungarischen Volk: Kedves Szögyény! Kell meghalnom ez az egyetlen mód mint gentleman ezt a világot legalább elhagyni. Legyen oly szives iróasztalomat itt Bécsben a török szobában, ott hol annyiszor jobb idökben együtt ültünk, felnyitni és a papirokal ugy bánni mint utolsó kivánatomban itt mellékelve fel van irva. Szivesen üdvözölve és Önnek és imádott magyar hazánknak minden jót kivánva vagyok Önnek.
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persönliche Mitteilung von Franz Graf zu Eltz, Wien 31.12.1995 von der Planitz, Ernst Edler: „Die volle Wahrheit über die Katastrophe von Meierling nach amtlichen und publicierten Quellen sowie den hinterlassenen Papieren“, Verlag H. Piehler, Berlin, 40. Auflage ohne Datum 1239 Major d.R. Viktor von Fritsche-Fritschen an Oskar Freiherr von Mitis, Wien 22.03.1922; am 01.02.1889 habe ihm Szögyény diesen Brief vorgelesen; HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 1240 Borgese, Giuseppe. A.: „Die Tragödie von Mayerling - Geschichte des Erzherzogs Rudolf von Oesterreich und seiner Geliebten Mary Vétzera“, Merlin-Verlag, Heidelberg 1927 1241 Corti, Egon Cäsar Conte und Sokol, Hans: „Franz Joseph“, Lizenzausgabe der Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München, Verlag Styria, Graz 1960 1242 Eine Platte für den Umschlag, zwei Platten für den Brief, drei Platten für das Kondizil. 1243 Neck, Rudolf, geb. 1921, gest. ; Archivar, Staatsarchivar, wirklicher Hofrat, Generaldirektor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Historiker der österreichischen Arbeiterbewegung und zeitweise Geschäftsführer der „Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte 1927 bis 1938“. 1244 Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 1238
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hive Rudolf1245 In dem von Rudolf verfassten Kodizill als letztwilliger Anordnung – die jedoch vom indirekten Stil des Satzbaues nicht direkt an den Sektionschef adressiert gewesen sein dürfte – schreibt er in deutscher Sprache: Sections-Chef von Szögyény-Marich soll die Güte haben, a l l e i n g l e i c h meinen Schreibtisch im türkischen Zimmer in Wien aufzumachen. Folgende Briefe werden verschickt: 1. An Valerie 2. “ meine Frau 3. “ Baron Hirsch 4. an Mizi Caspar. Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben. Mein Kammerdiener Loschek weiß ihre Adresse genau. Alle Briefe der Gräfin Marie Larisch-Wallersee und der kleinen Vetsera an mich sind all sogleich zu verbrennen. Mit den anderen Schriften kann Szögyény nach Gutdünken handeln, mit militärischen sich früher mit Oberstlieutenant Mayer ins Einvernehmen setzen. Rudolf1246 Der Brief in ungarischer Sprache und das auf Deutsch verfasste Kodizill steckten in einem Umschlag, der Rudolfs händische Aufschrift trug:
Seiner Excellenz Sections-Chef von Szögyény1247 Die tatsächlich neue Information dieser drei Schriftstücke ist die Identifikation der Empfänger weiterer Briefe des Kronprinzen, nämlich seine Schwester Marie Valerie, sein Geldgeber Baron Hirsch und seine Geliebte Maria Caspar. Die Originale der drei Schriftstücke wurde 1945 in London von der zwischenzeitlich verarmten Tochter des Sektionschefs, Camilla Gräfin Somssich, zur Auktion angeboten und von der Familie Rotschild ersteigert. Es ist davon auszugehen, dass sich die Stücke nach immer im Familienbesitz befinden. Die drei photographischen Plattenaufnahmen sowie die beiden Aufnahmen des Briefes und die Aufnahme des Umschlags befinden sich im Nachlass des Kronprinzen1248. Bereits in Mayerling angekommen, schrieb Rudolf ein Telegramm an Erzherzog Friedrich1249 in Budapest. Ob der kurze Gruß in deutscher Sprache direkt durch den Draht zugestellt wurde, ist ungewiss. Sicher jedoch wurde die Niederschrift des Kronprinzen dem Erzherzog am 31. Januar 1889 zugestellt – durch Post des Obersthofmeisters Prinz Hohenlohe. Er sandte aus Wien das Original zusammen mit einigen begleitenden Zeilen nach Pressburg:
1245
nach Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 lautet die Übersetzung: Lieber Szögyény! Ich muß sterben, dies ist zumindest die einzige Art, wie ein Gentleman diese Welt zu verlassen. Haben Sie die Güte, meinen Schreibtisch hier in Wien im türkischen Zimmer, dort wo wir in besseren Zeiten so oft zusammen saßen, aufzumachen und die Papiere so zu behandeln wie es in meinem letzen Willen - hier beigeschlossen - aufgeschrieben ist. Herzlichst grüßend, und Ihnen und unserem angebeteten ungarischen Vaterland alles gute wünschend bin ich Ihr getreuer Rudolf. 1246 Faksimile bei Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 1247 nach: Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 1248 Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 23 206
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„Eurer kaiserlichen Hoheit beehre ich mich im Allerhöchsten Auftrage beifolgendes in Mayerling vorgefundenes Telegramm zu übersenden. Untertänigst Hohenlohe1250“ In dem kurzen Telegramm des Thronfolgers hießt es: An seine k.k. Hoheit Erzherzog Friedrich in Preszburg. Herzlichste Grüße. Rudolf Die Existenz des Telegramms war lange Zeit nicht bekannt. Erst Brigitte Hamann veröffentlichte es – fast unbemerkt – in den Fußnoten der dritten Auflage ihrer Rudolf-Biographie. Bislang unveröffentlicht war auch jener einfache Zetteln, den Rudolf an Johann Loschek schrieb – und der letztlich den Grafen Hoyos dazu veranlasste, seine „Denkschrift“ als Rechtfertigung zu verfassen. Graf Hoyos erinnerte sich in der kurz nach der Tragödie verfassten Schrift an den Text des Schreibens wie folgt: „Graf Hoyos lasse ich grüßen. Die Baronesse lässt ihm sagen, er möge sich an das erinnern, was er ihr am Abend des Empfanges bei dem deutschen Botschafter Prinz Reuß über Meyerling gesagt hat. Hoyos soll nicht nach Wien telegraphieren, sondern nur nach Heiligenkreuz um einen Geistlichen schicken, damit dieser bei mir bethe.1251“ Johann Loschek hatte kurz vor seinem Tode eine andere Version im Gedächtnis – jedoch vier Jahrzehnte nach den Ereignissen. Loschek erinnerte sich: „Lieber Loschek, holen sie einen Geistlichen und lassen sie uns in einem gemeinsamen Grabe in Heiligenkreuz beisetzen. Die Pretiosen meiner teuren Mary nebst Brief von ihr überbringen sie der Mutter Marys. Ich danke ihnen für ihren jederzeit so treuen und aufopferungsvollen Dienste während der vielen Jahre, welche sie bei mir dienten. Den Brief an meine Frau lassen sie ihr auf kürzestem Wege zukommen. Rudolf1252“ Wir erhielten 1996 den Hinweis, dass sich das Schreiben im Besitz der kaiserlichen Familie HabsburgLothringen befindet. Die Familie stimmte einer Veröffentlichung eines Auszuges im Originalwortlaut durch uns im Jahre 2004 zu: ... Excellenc Hoyos, ich lasse ihn grüßen und bitten nicht zu telegraphieren; er soll um einen Geistlichen nach Hl. Kreuz schicken, damit in der Nacht gebetet wird. Die Baronin lässt Graf Hoyos auch grüßen; er soll nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat...1253 Nach diesen belegten Zeilen widmen wir uns nun drei weiteren Briefen, über deren Existenz uns das Kodizill unterrichtete – an die Schwestern, an den Geldgeber und an die Geliebte.
Marie Valerie Die Schwester, folgt man dem Tagebuch, war von Rudolfs Selbstmord so überzeugt, dass sie immer wieder „eine höhnende Stimme zu hören [glaube], die ihr „Schwester eines Selbstmörders!“ ins Ohr“ rief1254.
1249
Friedrich, Erzherzog von Österreich, geb. 04.06.1856 in Groß-Seelowitz (Zidlochovice/Tschechien), gest. 30.12.1936 in Mosonmagyaróvár, Herzog von Teschen, Erbe seines Onkels Erzherzog Albrecht 1250 Handschriftensammlung der Szechényi-Nationalbibliothek, Budapest. Freundliche Mitteilung und Übersendung des Faksimile durch Dr. Orsolya Karsay, Leiterin der Handschriftensammlung, Budapest, 19.05.2003 1251 Hoyos-Denkschrift, veröffentlicht erstmals in Oskar Freiherr von Mitis „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag Leipzig 1928 1252 nach „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932; so auch bei Heinrich von Slatin, Neues Wiener Tagblatt Nr. 224 vom 15.08.1931 1253 Habsburg-Lothringen´sches Familienarchiv, Wien 207
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Kommen wir zum dritten, im Kodizill genannten Empfänger eines Abschiedsbriefes, Moritz von HirschGereuth1255. Als der Kronprinz in Österreich keine Geldgeber für ein Zeitungsgeschäft mit hohem Risiko finden konnte – nämlich die Finanzierung des 1886 von Moriz Szeps gegründeten „Wiener Tagblattes“ –, wandte er sich an den abwechselnd in Brüssel, Paris, London und Ungarn lebenden Adeligen jüdischen Bekenntnisses. Der Baron, nach Hamann „einer der reichsten Männer der Zeit“, hatte stets für alle jüdischen Belange ein offenes Ohr – und für jene des Kronprinzen. Moritz von Hirsch hatte 1887 seinen einzigen Sohn Lucien Jacques-Maurice1256 mit 31 Jahren verloren – seine Tochter war bereits als Kind gestorben. Nach Hamann hatte dieser tragische Umstand eine besondere Bedeutung für das positive Verhältnis des Mannes zum 27 Jahre jüngeren österreichischen Thronfolger. Nach dem Tod des Sohnes zog sich der Bankier merklich auch der Finanzpolitik zurück und widmete sich mehr und mehr seinen philanthropischen Bestrebungen. 1887 schrieb Hirsch: „Der Kronprinz hat mich bezaubert. Ich war fest entschlossen, seit dem Tod meines Sohnes mich in gar keine Affaire mehr einzulassen, geschweige denn in eine Zeitungsaffaire. Ich bin nur mit einer Sache beschäftigt, alles zu liquidieren. Allein der Kronprinz hat es mit angetan. Er hat große Principien und erhabene Ideen. Wenn er sich für eine Sache ausspricht, so muss die Sache gut sein.“ Auf Initiative des Kronprinzen geht, so Brigitte Hamann, auch die „Baron-Hirsch-Stiftung für jüdische und nichtjüdische Kinder in Österreich“ zurück, die Hirsch zur Feier des 40-jährigen Regierungsjubiläums des Kaisers 1888 einrichtete. Er stellte 12 Millionen Francs für die Erziehung jüdischer und nichtjüdischer Kinder in Galizien zur Verfügung, dem judenreichsten und ärmsten Teil der Monarchie mit einem Analphabetenstamm von bis zu 60 Prozent. Doch die Idee, dass mit dem Geld Volks- und Gewerbeschulen für Juden und Christen gebaut werden sollten, mobilisierte die antisemitische Wiener Presse und auch jüdisch-orthodoxe Kreise waren gegen den Plan, da sie im gemeinsamen Unterricht eine Gefahr für die traditionelle jüdische Erziehung sahen. Das Projekt scheiterte daran. Augenscheinlich hat Rudolf bei Hirsch mehrfach Kredite aufgenommen – für Szeps ebenso wie für seine sexuellen Eskapaden. In der Korrespondenz zwischen dem Erzherzog und dem Journalisten tauch der Name Hirsch als „Goldonkel“ des Kronprinzen erstmals im November 1887 auf, als Szeps eine größere Anleihe benötigte. Der Finanzier gab nach einem Gespräch mit Szeps tatsächlich 100.000 Gulden, schreib diesem jedoch am 15. November 1887: „Was ich für Ihr Journal thue, das thue ich ganz und gar, um meine Bewunderung für die Persönlichkeit des österreichischen Thronfolgers auszudrücken. Niemand anderer als er wären im Stande gewesen, mich zu bestimmen, einen Abzug von der Summe zu machen, die bereits für andere Zwecke ihre Verwendung finden sollte.“ Das Band zwischen Szeps und Hirsch war der gemeinsame Kampf gegen den Antisemitismus. Hirsch war von der Assimilation zwischen Juden und Christen überzeugt – ebenso wie Szeps als begeisterter und überzeugter Deutsch-Österreicher. Eine weitere Geldspitze über 700.00 Gulden für die Fusion zwischen dem „Wiener Tagblatt“ und dem „neuen Wiener Tagblatt“ lehnte Hirsch dann jedoch ab – die Summe war wohl entschieden zu hoch, vermutet Hamann.
1254
Wandruszka, Adam in „Mayerling und kein Ende“, Die Zeit/Hamburg, 09.01.1993 Hirsch-Gereuth, Moritz Freiherr von, geb. 09.12.1831 in München, gest. 20.04.1896 auf seinem ungarischen Gut O-Gyala im Komitat Komorn, beigesetzt am 26.04.1896 im Familiengrab in Paris; gebürtiger Deutsche, Österreich-Ungarischer Staatsbürger, jüdischer Glaube, 1869 in den bayerischen Freiherrenstand erhoben, Bankier in Brüssel; Enkel des ersten jüdischen Landbesitzers in Bayern – Joel Jakob genannt Julius von Hirsch (geb. 05.09.1789 in Königshofen, gest. 06.09.1876 in WÜrzburg), Sohn des königlichen bayerischen Bankiers Joseph von Hirsch-Gereuth (geb. 02.07.1805 in Würzburg, gest. 09.12.1885 auf Schloß Planegg) und der Caroline Wertheimer (geb. 31.08.1808, gest. 1896) 1255
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Ende 1888 soll, so Judtmann nach den Aufzeichnungen des englischen Diplomaten Sir Robert Bruce Lock1257
hart
, der Baron dem Erzherzog 100.000 Gulden geliehen haben, die er Maria Caspar „hinterlassen“ wollte. Auch
Hoyos berichtet ja in seiner Denkschrift unter Berufung auf die Zeugenschaft Erzherzog Ottos, dass sich Rudolf Geld für die Beziehung zur Caspar „bei Baron Hirsch“ geliehen habe: „Fact ist, daß in der Schreibtischlade des Kronprinzen ein Couvert´, das ich selbst sah, gefunden wurde, welche die volle Adresse des Kronprinzen mit Angabe: Inhalt 100.000 fl. trug, aber nur mehr mit 30.000 fl. beschwert war.“ Tatsächlich zahlte der Wiener Hof nach Rudolfs Tod 150.000 Gulden an Hirsch zurück. Im Februar 1889 gründete Hirsch dann in Wien, London, Paris, Krakau, Lemberg, New York und Krakau Wohltätigkeitsbüros mit einem Kapital von drei Millionen Gulden. 1891 rief der dann die „Jewish Colonization Assoziation (I.C.A.)“ ins Leben – mit einem Startkapital von 1,4 Millionen Pfund, das später auf acht Millionen Pfund aufgestockt wurde. Die Aktiengesellschaft finanzierte die Überfahrt osteuropäischer Juden und stellte ihnen als Darlehen Landparzellen samt Inventar in Argentinien zur Verfügung1258. Heute wird geschätzt, dass seit 1891 rund 230.000 jüdische Siedler ihre Existenz in Argentinien dem Engagement des Barons verdanken1259. Sein Testament schließt mit den Worten „Ehrlich und furchtlos: Damit erweist man sich selbst den größten Dienst und erwirbt sich die Hochachtung der Menschen.1260“ Sein Vermögen hatte Moritz Hirsch ab 1869 Konzessionär der Orientbahn von Wien nach Konstantinopel gemacht, die 1888 fertig gestellt wurde und ihn zu einem der bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit machte. Zur Finanzierung wurden 3 Prozent Obligationsscheine, die so genannten „Türkenlose“, ausgegeben – sie brachten Hirsch den Namen „Türkenhirsch“ ein. Nach Finanzstreitereien mit der türkischen Regierung, der Hohen Pforte, verkaufte Hirsch seine Bahnaktien 1888 an ein Konsortium der Deutschen Bank, des Wiener Bankvereins und der Schweizerischen Kreditanstalt. Der Verkauf brachte ein geschätztes Vermögen von bis zu 170 Millionen Francs1261. Im Herbst 1888 arrangierte Rudolf ein Treffen im Wiener Grand Hotel zwischen Hirsch und dem englischen Prinzen von Wales, dem späteren König Edward VII., der ebenfalls Geld benötigte. Durch eine lancierte Pressemitteilung wurde danach bekannt, dass der „Türkenhirsch“ zum Kreis zweier Thronfolger zu zählen war. Doch nicht nur für die sexuellen und schriftstellerischen Eskapaden des Erzherzogs gab Hirsch sein Geld aus, Rudolf nutzte diese Quelle auch für die Realisierung seiner wirtschaftspolitischen Pläne, wie die Förderung der Handelsflotte. All dies und die persönliche – jedoch bislang nicht ausreichend dokumentierte – Ebene der Beziehung zwischen Hirsch und Habsburg mögen für den Kronprinzen ausschlaggebend gewesen sein, letzte Zeilen an den Baron zu richten.
1256
Hirsch-Gereuth, Lucien Jacques-Maurice von, geb. 1856, gest. 1887; verheiratet mit Catherine Francoise, geb. Premelic; gemeinsame Tochter: Lucienne Isaac Marie Premelic-Hirsch, geb. 06.10.1885, verheiratet seit 18.05.1904 mit Eduard Georges Jules Balzer, geb. 02.12.1877 in Brüssel 1257 Robert Bruce Lockhart, geb. 1887, gest. 1970 in London, britische Diplomat, ab 1912 als Vize-Konsul in Moskau und ab 1916 als Mitarbeiter der Spionage dort tätig, Drahtzieher eines britischen Komplotts, auf das hin Rudolf Hess 1944 nach Schottland flog und dort verhaftet wurde, Autor von: Mich rief Europa - Begegnungen auf dem Kontinent, Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt DVA 1953 1258 Nach dem Tode des Barons wurden seine Aktien unter den jüdischen Gemeinden in Frankfurt, Berlin und Brüssel sowie weiteren jüdischen Allianzen aufgeteilt. 1259 Noch heute existieren in Argentinien und Süd-Brasilien Baron Hirsch-Siedlungen, wie z.B. die Colónia Barón Hirsch nahe La Pampa/Argentienien. 1260 Bosl, Erika: „Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert“ in: „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern – Lebensläufe“, herausgegeben von Manfred Treml und Wolf Weigand, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 18, München 1988 1261 Bosl, Erika: „Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert“ in: „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern – Lebensläufe“, herausgegeben von Manfred Treml und Wolf Weigand, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 18, München 1988 209
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Der Inhalt von Rudolfs Briefe an Moritz Hirsch wurde nicht bekannt. Nach Kaiserin Elisabeths Tod hatte der Wiener Hof 1899 dieses Schreiben – zusammen mit anderen Briefen des Kronprinzen an den Bankier – der Witwe abgekauft. In einem Brief nach Wien schreibt Clara Hirsch1262, ihr sei es sehr schwer gefallen, diese „Reliquien“ herauszugeben. Brigitte Hamann schließt daraus, dass es sich nicht nur um Geld und Anleihen in der Korrespondenz gedreht haben kann. Judtmann hatte während seiner Buchrecherche zum damals 93-järhigen Neffen des Barons, Dr. Rudolf Freiherr von Hirsch1263, im bayerischen Planegg Kontakt, der jedoch keine Informationen zu den letzten Zeilen des Kronprinzen weitergeben konnte1264. Dies deckt sich mit unserer Recherche bei Herbert Freiherr von Hirsch im bayerischen Planegg. Mit dem Brief an den Baron ist auch jener an Maria „Mizi“ Caspar verknüpft, mit der Rudolf seine letzte Nacht in Wien vom 27. auf den 28. Januar 1889 verbrachte. Nach übereinstimmenden Berichten lernte Rudolf Maria Caspar 1886 im Wiener Etablissement der Kupplerin Wolf kennen1265, „nachdem er aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgesperrt worden war.1266“ Nach der Denkschrift des Grafen Hoyos fand das letzte Treffen der Beiden in der Hofburg statt. Im Akt des Polizeipräsidenten Baron Krauß liegt jedoch der Bericht eines Polizeikonfidenten, der durch die „Kupplerin“ Wolf Informationen von Mitzi Caspar bezog. Darin heißt es im Gegensatz zu Hoyos: „Montag den 28/1.1889 war E. R. [Erzherzog Rudolf, Verf.] bei Mizi bis 3 Uhr morgens, trank sehr viel Champagner und gab dem Hausmeister 10 f. Sperrgeld1267. Als er sich von Mizi empfahl, machte er ganz gegen seine Gewohnheit ihr an der Stirn das Kreuzzeichen. Von Mizi fuhr er (direct?) nach Mayerling. (…) Übrigens soll K.R. sehr verschuldet gewesen sein, die Möbel der Mizi sind nicht bezahlt und er soll bei Baron Hirsch bedeutende Summen geborgt haben.1268“ Ob der Bericht der Hoyos-Denkschrift stimmt oder Meißner Recht hat, ist nicht klar – von Bedeutung ist nur, dass der Kronprinz die letzte Nacht vor der Abreise nach Mayerling mit Maria Caspar verbracht hat. Der Kronprinz hatte über seinen Tod hinaus für seine „Mizi“ gesorgt: An Szögyény-Marich schrieb er ja, „Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben. Mein Kammerdiener Loschek weiß ihre Adresse genau.1269“ Zudem hinterließ er ihr einen „letzten, von Liebe überströmenden Brief1270“, den er über den Sekti1262
Hirsch-Gereuth, Clara Baronin von, geb. Bischoffsheim geb. 13.06.1833 in Antwerpen, gest. 01.04.1899 in Paris; seit 28.06.1855 mit Moritz Hirsch verheiratet; die Literatur nennt zwei Adoptivsöhne, Arnold und Raymond de Forest; Gründerin der „Freiherrlichen von Hirsch´schen Stiftung“ für Wöchnerinnen und Rekonvaleszenten in München 1263 Hirsch-Gereuth, Dr. Robert Freiherr von, geb. 1875, gest. 22.05.1975 in Planegg, Quantenphysiker, Ehrenbürger der Gemeinde Gräfelfing/Bayern, verheiratet mit Elisabeth Freifrau von Hirsch, geb. von Kobell (geb. 09.04.1880 in Metz/Frankreich, gest. 07.05.1956 in Planegg/Bayern); das Ehepaar Hirsch war in der Reichspogromnacht 1938 in Planegg größeren antisemitischen Aktionen ausgesetzt. 1264 Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1265 Brigitte Hamann nennt dieses extravagante Bordell den „vornehmsten Salon Wiens“, was jedoch übertrieben erscheint. Nachforschungen über Frau Wolf, die Peter Broucek für seinen Artikel „Kronprinz Rudolf und k.u.k. Oberstleutnant im Generalstab Steininger“ in den Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 26, 1973, im Allgemeinen Verwaltungsrachiv Wien, im Archiv der Polizeidirektion Wien, im Niederösterreichischen Landesarchiv sowie im Archiv des Landes und der Stadt Wien durchführte, brachten kein Ergebnis. Nach einem Brief Rudolfs an Steininger, Wien 09.04.1887, hatte neben seinem Schwager, Prinz Philipp von Coburg, auch der preußische Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm II., Kontakt zur Kupplerin Wolf und dieser auch einen handschriftlichen Brief zugesandt, den der Kronprinz seit ca. 1882 besaß. 1266 Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 1267 Der Hausmeister als Informant wurde später von Maria Caspar entlassen und schimpfte fortan über sie als „die Huren Bagage“; zitiert nach Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 1268 zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 sowie in originaler Diktion bei Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64 1269 Rudolf Neck, Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 1270 Hoyos-Denkschrift, zitiert in Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 210
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onschef zugestellt wissen wollte. Über die Summe, die die Caspar tatsächlich erhielt, schwankt zwischen 10.000 und 60.000 Gulden. Nach Spekulation von Hoyos war das Geld durch den Prinzen Louis Eszterházy1271 bei Baron Hirsch beschafft worden, damit das kronprinzliche Sekretariat davon nichts erfahre. Maria Caspar starb, unverheiratet und kinderlos1272, am 29. Januar 1907 mit 42 Jahren an „Rückenmarksverhärtung1273“, einer Folgeerkrankung der Syphilis. Zeit ihres Lebens war es ihr gelungen, dass ihre Beziehung zum Kronprinzen nicht ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. Im Nachlass des Kronprinzen fand sich neben einer Fotografie auch eine Marmorstatue der Caspar, die als Lautenspielerin dargestellt ist. Einen Abschiedsbrief des Kronprinzen suchen wir dort jedoch vergebens. Die treue Freundin und Vertraute des Erzherzogs dürfte ihn sicher aus Loyalität vor ihrem Tode vernichtet haben. Kommen wir nun zu den in der Literatur erwähnten, jedoch nicht zu belegenden letzten Zeilen des Paares. Grafen Hoyos erinnert sich in seiner Denkschrift an ein gemeinsames Billett des Kronprinzen und der Baroness an den im Exil lebenden portugiesischen König Michael II.1274, das in Mayerling aufgefunden worden sein soll. „Diesem schreibt die Baronesse (da sie selbem vom Lande, da der Herzog in der Nähe ihres Pachtschlosses Schwarzau stationiert war, kannte) einen heiteren Brief, indem es sich hauptsächlich um eine Boa (Halspelz) handelt, die sie ihm vermacht und die er ober seinem Bett aufhängen solle. Ein Postscriptum des Kronprinzen sagt nur: Servus Wasserer! und Unterschrift. Wasserer1275 war ein dem Herzog gelegentlich der Jagden in Görgeny, wegen eines getragenem rothen Halstuches gegebener Spitzname, (Zeuge Herzog von Braganza).1276“ Ob die Auslassung der Baroness tatsächlich heiter waren, wie Hoyos meint, oder ob es sich lediglich um eine in Wien beliebte Phrase der spöttischen Verachtung handelte, kann heute nur noch vermutet werden. Der angebliche Wortlaut dieses Briefes wurde am 8. Februar 1889 vom „Figaro“ veröffentlicht, wobei lediglich der Kronprinz als Autor genannt und auch der Nachsatz weggefallen ist: „Lieber Freund! Ich muß sterben. Ich konnte nicht anders handeln. Gehab dich wohl. Servus dein Rudolf1277“.
1271
nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 war Eszterházy Legationsrat an der österreichischen Botschaft in London 1272 Die u.a. bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 erwähnte uneheliche Tochter „Maria“ ist uns in keinem Originaldokument – siehe das Testament, in dem sie sicher erwähnt worden wäre – aufgefallen; es handelt sich wohl um eine Verwechselung mit der Stiefschwester. 1273 Archiv der Stadt Wien, Totenbeschauprotokoll, 1907-C. 1274 Michael II., Herzog von Braganza (auch Dom Miguel II., 22. Duke de Braganca), geb. 19.09.1853 im Schloss Kleinheubach/Deutschland, gest. 11.10.1927 in Seebenstein/Österreich. Sohn von Adelheid „Ada“ von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (geb. 03.04.1831 in Schloss Kleinheubach, gest. 16.12.1909 in der Abtei St. Cecile, Isle of Wight) und dem seit den Miguelistenkriegen (in der portugiesischen Geschichte einen von 1832 bis 1834 dauernden Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Königs Miguel I. und den Anhängern seines Bruders, des Exkönigs Peter IV. und dessen Tochter Maria II.) ab 1834 im deutschen Exil lebenden König Miguel I. von Portugal, Duke de Braganza (geb. 26.10.1802, gest. 14.11.1866 in Bronnbach/Deutschland, beigesetzt in der 1845 errichteten Fürstengruft der Familie Löwenstein-Wertheim-Rosenberg neben der Antoniuskapelle des Franziskanerkloster St. Michael auf dem Engelberg bei Großheubach am Main / Deutschland). Am 5. April 1967 wurden die Gebeine des vertriebenen Königs in seine Heimat Portugal überführt (Königsgruft Lissabon) und der wuchtige Grabstein stehend in die Kapellenwand eingelassen. Da Dom Miguel II. portugiesischen Boden nicht betreten durfte, lebte der k.u.k. Feldmarschallleutnant der kaiserlichen Streitkräfte (seit 12.10.1917 ) – wie sein Vater – im Exil: lange Zeit auf Schloss Seebenstein bei Wien, von 1919 bis 1921 im Kloster Bronnbach an der Tauber und danach wieder in Seebenstein, wo er 1927 verstarb. Er wurde am 14. Oktober 1927 von Seebenstein nach Bronnbach überführt und dort am 17.10.1927 in der 1925 errichteten Familiengruft an der Kommunionbank in der Klosterkirche Mariä Himmelfahrt beigesetzt. Zur seiner Beisetzung kamen u.a. Zar Ferdinand von Bulgarien und der Prinz von Hohenzollern. 1275 Wasserer wurden in Wien nach Judtmann die Wagenwäscher der Fiaker genannt, die auf den Standplätzen die Pferde tränkten. 1276 Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 1277 „Figaro“, zitiert in deutscher Übersetzung in Ernst Edler von der Planitz, „Die volle Wahrheit über die Katastrophe von Meierling nach amtlichen und publicierten Quellen sowie den hinterlassenen Papieren“, Verlag H. Piehler, Berlin, 40. Auflage ohne Datum 211
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Seit 1881 Witwer, hatte der portugiesische Thronprätendent1278 und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies1279 der Baroness Mary Vetsera Avancen gemacht, die jedoch von ihr nicht erwidert wurden. Nach einigen Quellen war er sogar mit der Baroness verlobt1280, was ihr Vetter Heinrich Baltazzi-Scharschmid auch dem Mayerling-Forscher Dr. Gerd Holler gegenüber bestätigte1281. Eine weitere Bestätigung findet sich bei Marie Larisch, von der Baroness selbst ausgesprochen. Im Originaltext der Gräfin heißt es: „Ich habe sogar mit Rudolf über den Mann gesprochen, der mich zum Weibe haben will. (...) Der dumme Herzog von Braganza (...) Er ist so in mich verliebt, dass er alles tun wird, was ich von ihm verlange.1282“ Richtig scheint zu sein, dass der zu Beginn der 80-er Jahre in Schwarzau im Gebirge stationierte Offizier oft Gast der Vetseras war – nicht nur im ländlichen Schlösschen, sondern auch im Wiener Palais der Familie, mindestens einmal sogar in Anwesenheit der Gräfin Larisch. Dass die Baronin den Portugiesen als möglichen Ehemann ihrer Tochter Mary sah, ist ebenfalls durchaus denkbar – doch nutze die Baroness ihren Courmacher vor allem als Auskunftsquelle. Der portugiesische Herzog, der später auf Schloss Seebenstein1283 in Niederösterreich lebte, stand durch seine vom Kronprinzen als Frauenideal vergötterte Schwester Maria Theresia1284, die mit dem Kaiserbruder Karl Ludwig1285 verheiratete war, dem Hause Habsburg nahe. Zudem war er in erster Ehe seit seiner Zeit als Oberleutnant des 14. Dragoner-Regiments mit der Tochter von Kaiserin Elisabeths Schwester Helene, Elisabeth von Thurn und Taxis1286, verheiratet. Seine Schwester, Infantin José1287, war zudem seit 1874 die zweite Frau des Bruders der Kaiserin, Karl Theodor1288. Die Kaiserin war somit gleichsam die Tante seiner Frau und Schwester seines Schwagers während der Kaiser der Bruder seines Schwagers war. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass Elisabeths Mutter Ludowika in den Vater des Herzogs verliebt war, doch ihr Vater dem landlosen König die Hand seiner Tochter verweigerte1289.
1278
Seit dem Tod seines Vaters 1866 als Miguel II. portugiesischer Thronanwärter; nach Familienstreitigkeiten – er hatte zusammen mit seinen beiden erstgeborenen Söhnen im Ersten Weltkrieg auf der Seite Österreichs gekämpft und somit nicht für sein Heimatland Portugal – verzichtete er am 31.07.1920 auf seinen Anspruch auf die Krone Portugals zu Gunsten seines Sohnes Dom Duarte II. Nuno von Braganza (23.11.1907 bis 24.12.1976), der 1921 vom ebenfalls im Exil lebenden letzten portugiesischen König, Emanuel II. aus dem hause Sachsen-Coburg und Gotha (regierte von 1908 bis 1910), als sein Nachfolger und somit Chef des Hauses Braganza anerkannt wurde. 1279 Der Herzog ist der 1060. Träger des Ordens, verliehen am 26. April 1881 1280 Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1281 Holler, Dr. Gerd, „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988 1282 Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy, Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin um 1913 1283 Das aus zwei Burgen bestehende Schlossareal Seebenstein mit der 1092 errichtete romanische Burg Alt-Seebenstein und dem Neuen Schloss wurde 1824 von Reichsgraf Johann Karl von Pergen an Fürst Johannes von und zu Liechtenstein verkauft. Die Anwesen blieben bis 1942 im Besitz der Familie Liechtenstein und wurden dann an Lilly Nehammer-Prinz veräußert. 1284 Maria Theresia von Braganza, geb. 28.08.1855 in Kleinheubach, gest. 12.02.1944 in Wien, beigesetzt in der Kapuzinergruft; nach dem Tode des Kronprinzen nahm sie nach der meist verhinderten Kaiserin die Stelle der ersten Dame des Reiches ein, die sie auch nach dem Tod ihres Gatten ausfülle – man spekulierte sogar über eine mögliche Ehe mit dem verwitweten Kaiser Franz Joseph. 1285 Karl Ludwig, geb. 30.07.1833 in Wien, gest. 19.05.1896 in Wien, beigesetzt in der Kapuzinergruft, nach dem Tode des Kronprinzen erster der Thronfolge und Vertreter des Kaisers; Vater des Thronfolgers Franz-Ferdinand; in dritter Ehe verheiratet mit Maria Theresia von Braganza; die Hochzeit vollzog 1873 der Mainzer Bischof Ketteler auf dem Schloss des Katholikentagspräsidenten Fürst Karl Löwenstein-Wertheim-Rosenberg in Kleinheubach. 1286 Elisabeth von Thurn und Taxis (geb. 28.05.1860 in Dresden, gest. 07.02.1881 in Ödenburg, beigesetzt als „Donna Elisabeth de Braganca“ auf dem Engelberg), Hochzeit am 17. 10 1877 in Regensburg 1287 Marie Josepha (José) de Braganza, Infantin von Portugal, geb. 19.03.1857, gest. 11.03.1943, beigesetzt in der Grabkapelle im Schloss Tegernsee 1288 Karl Theodor, Herzog in Bayern, Dr. der Augenheilkunde, geb. 09.08.1839 in Possenhofen/Bayern, gest. 30.11.1909 in Kreuth/Bayern, beigesetzt in der Gruftkapelle im Schloss Tegernsee; verheiratet in zweiter Ehe mit der Infantin, die ihm fünf Kinder gebar. 1289 Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch - Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee. Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 1992 212
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In vielen Quellen wird der Herzog Jagdgefährte und Freund des Kronprinzen genannt. Eine besondere Freundschaft der beiden Männer ist durch externe Quellen jedoch nicht verbürgt. Clemens Gruber zitiert allerdings den Hoftelegraphisten Wilhelm Moeller, dem der Militärfunktionär Theodor Brantner1290 gesagt haben soll: „Herzog Miguel von Braganza, Freund des Kronprinzen, war für den 29. Januar [1889] nach Mayerling eingeladen. Der Herzog war damals in Graz in Garnison und hatte wegen eines Vorfalls von seinem Kommandanten Stationsarrest bekommen. Er telegrafierte daher an den Kronprinzen, dass er wegen einer dienstlichen Ursache nicht kommen könne.“ Zudem soll der Portugiese „später einmal bei einer Tafel“ und in „Weinlaune“ erzählt haben, Prinz Philipp von Coburg habe den Kronprinzen mit einer Champagnerflasche in Mayerling erschlagen, als er diesen mit der Baroness Vetsera gemeinsam im Bett vorfand. „Die Baronesse hat sich nach diesem Erlebnis selbst den Freitod gegeben.1291" Eine weiteres Zeugnis, dass der Herzog als Gast nach Mayerling hätte kommen sollen, findet sich an keiner anderen Stelle. Ob eine Zuneigung zu Mary Vetsera tatsächlich ernsthaft von Seiten des Herzogs kam, ist zweifelhaft: 1886 hatte er über seine Schwester bei der Kaiserin um die Hand der bereits mit Erzherzog Franz Salvator zärtlich verbandelten Erzherzogin Marie Valerie angehalten. Diese in ihrem Tagebuch über den gut aussehenden Portugiesen: „Ich brüllte laut auf – ich Miguels Frau ... den ich kaum 5 Minuten in eine halbdunklen Zimmer gesehen, kaum gesprochen, der so berühmt dumm ist, dass ihn jedermann auslacht ... wie ein Lustspiel.1292“ Nebenbei: Auch Mary Vetsera hatte laut Larisch über den „dummen Herzog von Braganza“ nicht zu positiv gesprochen und der Gräfin gesagt: „Du weißt doch, wie blöd er ist.1293“ Über den Verbleib eines möglichen Billetts von Mary und Rudolf an den Herzog ist nichts bekannt. Weder am Sterbeort Seebenstein noch im bayerischen Kloster Bronnbach1294, wo die Braganzas beigesetzt wurden1295, gibt es ein Familienarchiv. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei überlieferten 20 letzten Handschriften des Kronprinzen insgesamt vier im Faksimile bekannt sind bzw. im Original vorliegen – dies entspricht 20 Prozent; von drei weiteren ist bekannt, dass sie verfasst wurden, doch kennen wir keine Faksimile oder Originalabschriften! Von den überlieferten neun letzten Handschriften der Baroness Vetsera sind keine im Original oder Faksimile erhalten.
1290
Brantner, Theodor, geb. 1882, gest. 1964, beigesetzt am 18.12.1964 auf dem Hietzinger Friedhof in Wien, Gruppe 55 Nr. 65; von 1934 und 1935 als erster Sektionschef im Ministerium für Landesverteidigung, in der Wehrmacht nach dem Anschluss Österreichs u.a. als General der Kavallerie tätig 1291 Gruber, Clemens M: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 1292 Marie Valerie von Österreich: „Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth 1878-1899“, herausgegeben von Martha und Horst Schad, Verlag Langen Müller, München 1998 1293 Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy, Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin um 1913 1294 Die 1151 gegründete ehemalige Zisterzienserabtei Bronnbach war von 1803 bis 1986 im Besitz des Fürstenhauses Löwenstein-Wertheim-Rosenberg und gehört seitdem dem Main-Tauber-Kreis. 1295 In der Familiengruft der Braganzas sind neben dem Herzog seine Söhne aus erster Ehe beigesetzt: Michael (Miguel III.) Maximilian Sebastian Maria, Duke de Viseu (geb. 22.09.1878 in Reichenau/Rax, gest. 21.02.1923 in New York; standesgemäß verheiratet mit der von Kaiser Franz Josef als „Prinzessin von Braganza“ in den Adelsstand erhobenen Amerikanerin Anita Stewart, geb. 07.08.1886 in Elberon/New Jersey, gest. 15.09.1877 in New York; aus der Ehe entstammen zwei Söhne und eine Tochter) und Franz Josef (geb. 07.09.1879 in Meran/Italien, gest. 15.06.1919 Insel Ischia). Heute ruht in der Gruft – jedoch ohne Nennung auf den beiden Bodenplatten – auch Dom Miguels zweite Frau, Maria Theresia von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (geb. 04.01.1870 in Rom, gest. 17.01.1935 in Wien, Hochzeit am 08.11.1893 in Kleinheubach), Tochter aus zweiter, am 04.05.1863 in Wien geschlossenen Ehe des Fürsten Karl Heinrich Ernst Franz zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (geb. 21.05.1834 in Haid, gest. 08.11.1921 in Köln) mit Sophie von und zu Liechtenstein (geb. 11.07.1837, gest. 25.09.1899). Der Liechtensteiner hatte in erster Ehe am 18.10.1859 in Offenbach Adelheid zu Isenburg-Büdingen in Birstein (geb. 10.02.1841 in Offenbach, gest. 02.03.1861 in Kleinheubach) geheiratet. Dom Miguel hatte insgesamt zehn Kinder, davon drei aus erster Ehe. 213
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
1. Die Geschichte des Friedhofes in Heiligenkreuz
„Herr, lass sie ruhen in Frieden“
Sockelinschrift des Kreuzes am Ort des alten Heiligenkreuzer Ortsfriedhofes
Im Herbst 1842 wird außerhalb der Ortschaft Heiligenkreuz1296 vom Stift ein neuer Friedhof angelegt. Er hat einen fast quadratischen Grundriss mit einer Seitenlänge von rund 46 auf 47 Metern und eine Größe von ca. 2.200 Quadratmetern1297. Bis zum Jahr 1843 befand sich der Heiligenkreuzer Friedhof für die Mitglieder der Gemeinde visá-vis dem Stift beim Tischlereiweg1298 am Osthang des sogenannten Hradschin1299. Für Stiftsangehörige fanden die Bestattungen jedoch bis 1842 auf dem Klosterfriedhof II zwischen Hallenchor und Bernhardikapelle statt1300, so u.a. für Abt Alberich Fritz (+ 1787), Abt Maria II. Reuter (+ 1805), Abt Nikolaus Kasche (+ 1824) im kirchlichen Bereich wurden die Äbte des Klosters allerdings an weitaus bevorzugteren Stellen beigesetzt, wie Klemens Schäffer 1693 und Marian I. Schirmer 1705 in der Stiftskirche, Gerhard Weichselberger 1782 in der Annakapelle und Robert Leeb 1755 in der Totenkapelle.1301 Am 30. Juli 1843 wird der neue Ortsfriedhof nördlich der Straße nach Gaaden durch Feldbischof Johann Michael Leinhard1302 im Beisein von Abt Edmund Komáromy1303 eingeweiht1304. Das doppelflügelige Tor des alten 1296
Erst im Jahre 1850 wurde Heiligenkreuz mit den Katastralgemeinden Heiligenkreuz und Siegenfeld nach dem österreichischen Gemeindegesetz vom 17.03.1849 eine selbstständige Gemeinde. Am 18.07.1850 konstituieren sich die Ortschaften Heiligenkreuz, Füllenberg, Preinsfeld, Sattelbach und Siegenfeld zur neuen Ortsgemeinde Heiligenkreuz mit 914 Einwohnern. Erster Bürgermeister wird in geheimer Wahl Abt Edmund Komáromy (Werner Richter, „Die Bürgermeister von Heiligenkreuz“, www.heiligenkreuz.at, Oktober 2003) 1297 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1298 Ein Teil der Umfassungsmauer des Friedhofes ist auf dem unbefestigten Parkplatz hinter der Trafik noch sichtbar 1299 Auf dem Hradschin, dem Hügel hinter Gemeindehaus und Volksschule, soll sich das Gästehaus für König Ottokar von Böhmen befunden haben, der öfters in Heiligenkreuz jagte. 1300 Im November 1984 wurde bei Erdarbeiten hinter dem gotischen Hallenchor in Höhe der Sakristei auf diesem Friedhof die gemauerte Gruft des Abtes Franz Xaver Seidemann (1824-1841) wiederentdeckt. 1301 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 10.01.2002 1302 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001 1303 Edmund Komáromy, geb. 22.12.1805 in Güns/Ungarnm gest. 10.04.1877 im Heiligenkreuzer Hof/Wien; 1830 Priesterweihe, ab 1835 Professor für Dogmatik an der theologischen Hauslehranstalt und Klerikal-Präfek; am 01.09.1841 Wahl zum Abt der vereinigten Stifte Heiligenkreuz St. Gotthard in Ungarn (dort 6. sowie letzter Abt); von 18.07.1850 bis 20.04.1856 Bürgermeister der selbstständigen Ortsgemeinde Heiligenkreuz; k.u.k. RATH, Gerichtstafel-Beisitzer der Wieselburger Gespanschaft, ab 1850 Präsident des landwirtschaftlichen Bezirksvereins Baden; lebte hauptsächlich im Heiligenkreuzer Hof in Wien. 1304 An der Stelle des alten Friedhofes erinnert das historische Grabkreuz des Stiftsmalers Walter Nigg an den Kirchhof. Der Sockel trägt die Inschrift: „Ich bin die Auferstehung und das Leben – Kreuz des alten Ortsfriedhofes, der sich hier bis 1843 befand. Herr lass sie ruhen in Frieden“ 214
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Friedhofes von 1781 fand bei der Anlage des neuen Friedhofes unterhalb dem mittelalterlichen Hinrichtungsplatz, der „Rabenplatte“, Verwendung. Die erste Beisetzung auf dem neuen, gemeinsamen Friedhof für Verstorbene des Stiftes sowie der Pfarre Heiligenkreuz mit den Filialen Grub und Siegenfeld fand im August 1843 statt1305. Der 1833 verstorbene französische Adelige Prierre de Commoléra wurde vermutlich erst nach dem Tode seiner Gattin Francoise 1871 in der gemeinsamen Gruft beigesetzt. Ebenfalls 1843 wird der Friedhofsweg befestigt und mit Winterlinden bepflanzt1306. Bereits im Juni 1866 muss der Friedhof nach Norden und Osten auf die doppelte Fläche von heute rund 4.560 Quadratmetern vergrößert werden. Der Begräbnisplatz war anscheinend schnell zu klein geworden, aber auch die Friedhofsmauer war bereits teilweise schon eingestürzt. Am 12. August 1866 weiht Abt Edmund Komaromy die neue, rechteckige Anlage mit den Ausmaßen von 72, Metern (Eingangsfront) und 57,6 Metern (Seitenfront). Zu diesem Zeitpunkt wird der Eingang in die Mitte der Westmauer verlegt1307, die noch heute bestehende Einteilung in vier Gräberviertel durchgeführt und die Grabreihen neu geordnet1308. In den beiden südlichen Gräbervierteln befinden sich zwei Mal sieben Grabreihen, nördlich zwei mal sechs Reihen. Entlang der östlichen Umfassungsmauer gibt es rechts der Kapelle fünfzehn Gräber für Heiligenkreuzer Patres sowie ein weiteres Grab. Links der Kapelle existieren 16 Mönchsgräber sowie zwei Gräber von Angehörigen der Patres. An der nördlichen Mauer befinden sich drei weitere Mönchsgräber und 19 gemauerte Grüfte. Die Geistlichen des Stiftes wurden bis zum September 1952 auf dem Friedhof beigesetzt. Seither1309 finden die Patres ihre letzte Ruhe wieder auf dem hergerichteten Klosterfriedhof I1310 im Norden der Stiftskirche1311. Eigentümer des Ortsfriedhofes ist das Zisterzienserstift und die Verwaltung liegt in den Händen eines Stiftsangestellten; für kirchliche Belange ist der jeweilige Pfarrer von Heiligenkreuz zuständig1312. Ebenfalls 1866 wurde nahe der Mauerecke links des Eingangs ein Gedenkstein für die „hier ruhenden Saechsischen Bundesgenossen“ aufgestellt. Abt Edmund Komáromy findet 1877 in der Mitte der östlichen Friedhofsmauer in einer Gruft seine letzte Ruhe. 1889 wird über dieser Gruft die von Helene Vetsera gestiftete Friedhofskapelle errichtet und Komáromys Gruft zur Prälatengrablege ausgebaut, in der 1902 noch Abt Heinrich V. Grünbeck1313 beigesetzt wird1314. Eine Inschriftentafel erinnert an die beiden Äbte1315. Entlang der westlichen Mauer, nördlich des Eingangs, gibt es 15 Gräber. Im südwestlichen Winkel des Friedhofes liegt die aus dem Jahre 1842 stammende, wegen Baufälligkeit im Herbst 1992 abgerissene und bis 1993 neu errichtete Totenkammer. Knapp 20 Meter nördlich der alten Totenkammer wurde 1889 Mary Vetsera in einem proviso-
1305
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1307 In der westlichen Mauer, zwischen Ehrenbegräbnis und Totengräberhaus, kann man noch die Reste von zwei Torpfeilern des historischen Friedhofseingang der Jahre 1843-1866 erkennen. 1308 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1309 Die erste Beisetzung findet am 09.10.1952 mit Pater Eugen Kindermann statt. 1310 Bis 1952 wurde der gesamte Mönchsfriedhof als Holzlagerstätte genützt und hieß daher umgangssprachlich Tischlereihof. 1311 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001 1312 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001 1313 Abt Heinrich V. Grünbeck (1879-1902) 1314 Wie Karl Wallner in der „Sancta Crux“ 1985 schreibt, erhielten wahrscheinlich nur sehr hochgeschätzte Mitbrüder entgegen der im Zisterzienserorden üblichen Regelung eine gemauerte Gruft. Nach Verwaltungsdirektor Werner Richter, Heiligenkreuz, 10.01.2002, wurden jedoch bereits in frühen Jahrhunderten die Äbte des Klosters an bevorzugten Stellen, meist Sakralräumen, beigesetzt. 1315 Der folgende Abt, Dr. Gregor Pöck, starb am 18. April 1945 und wurde im Stift beigesetzt, da die Russen den Ortsfriedhof noch besetzt hielten. Der ihm folgende Abt, Karl Braunstorfer (1945-1969) fand 1978 seine letzte Ruhe bereits wieder auf dem 1306
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risches Erdgrab bestattet. Heute befindet sich nahezu an dieser Stelle ein Gemeinschaftsgrab aus dem Zweite Weltkrieg und eine Gedenktafel für die dort beigesetzten Toten1316. Umgangssprachlich wird dieser Platz auf Grund der Inschrift der Gedenktafel als „Krieger-Grab“ bezeichnet, doch ist dies nicht richtig. Dort ruhen 14 serbische Zivilisten aus dem Zwangsarbeiterlagers Allanderhöhe sowie 16 an der Typusepidemie von 1941/42 verstorbene Kriegsgefangene, darunter 15 Russen und ein Serbe. Sie waren zunächst in Einzelgräbern an der Südmauer beigesetzt, wurden jedoch nach 1945 in das Gemeinschaftsgrab zu den serbischen Zivilinternierten umgebettet1317. Am 14. Januar 1938 erhielt das Stift durch die Bezirkshauptmannschaft in Baden eine Friedhofsordnung1318 für den Ortsfriedhof. Seit dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich lag der Friedhof beinahe schon in Wien, denn durch die Eingliederung des Bezirks Mödling in den „Reichsgau Groß Wien1319“ rückte die Grenze der Reichsgaue Niederdonau und Wien bis nach Füllenberg heran – und sie blieb bis 1954 auch dort1320. Am 11. Februar 1941 wurden von den Nationalsozialisten durch den Traiskirchener Zimmermeister Osterer die Glocken des Stiftes beschlagnahmt und auch die 78 Kilo schwere Friedhofsglocke aus der Kapelle abgenommen und eingeschmolzen. Die baulichen Schäden an der Kapelle, die durch die russische Lagerung auf dem Friedhof im April 1945 entstanden, waren teilweise noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zu sehen. Ein 1944 in Siegenfeld abgeschossener Fliegerpilot ruhte bis 1948 in einem Einzelgrab im vierten Gräberviertel, wurde dann exhumiert und auf dem Militärfriedhof Cip Liege in Belgien beigesetzt. Im Frühjahr 1947 wurden schließlich 24 in Heiligenkreuz und Siegelfeld verstreut begrabene deutsche Wehrmachtsangehörige und eine Zivilperson am Ortsfriedhof im 3. Gräberviertel nebeneinander bestattet. Sie wurden 1981 durch das Österreichische Schwarze Kreuz exhumiert und auf dem Soldatenfriedhof von Blumau in Niederösterreich beigesetzt|1321. Die russischen Kriegstoten der Gefechte um Heiligenkreuz, 68 Soldaten und acht Offiziere der Roten Arme, waren zunächst auf einem kleinen Friedhof auf dem Wiesenabhang des Kreuzweges beigesetzt. Sie wurden 1953/54 exhumiert und auf den Soldatenfriedhof Baden überführt1322. Im Jahre 1999 begann die Innen- und Außensanierung der Friedhofskapelle im Auftrag der Friedhofsverwaltung. Wegen großer Feuchtigkeitsschäden musste hierzu auch der Altar vollständig abgetragen werden. Die Fertigstellung der Kapelle wird für das Jahr 2002 erwartet. Die Gesamtkosten der Sanierung betragen rund 50.000 Euro1323, die von der Friedhofsverwaltung aufgebracht werden müssen.
neuen Klosterfriedhof. Abt Franz Gaumannmüller wurde hingegen 1990 auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin in der Stiftskirche in einem Erdgrab beigesetzt. 1316 Die Namen der Toten werden auf der Steintafel genannt: Krieger-Grab 1939-1945 - Zvijeticanir M., Stupatschinsky A., Makarow Al., Subzilin A., Schatkowsky W., Wlasow L., Kozlow P. (alle 1941), Strelzow I., Malachow G., Romazlik A., Swatok, Kalygin I., Nowsorow M., Schurawlow G., Trofimow N., Borissewitsch L., Napijalo J., Markowic S., Mislovic J., Dragovic W., Raskovic N., Pawlonitsch M., Savanovic M., Ilic L., Sekulic V., Basara M., Zawrschitsch M., Gavilovitsch Sch., Suman M., Ljubejewic S. (alle 1942) 1317 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1318 Bezirkshauptmannschaft Baden, Zl. VII.-271/2 ex 1937; zitiert in „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 1319 Der Bereich der Stadt Wien wurde unter den Nationalsozialisten durch die Einverleibung von Teilen Niederösterreichs und des Burgenlandes auf 97 Gemeinden erweitert; die Stadt wuchs wieder auf über zwei Millionen Einwohner und war nach Berlin die zweitgrößte Stadt des Deutschen reiches – und die sechstgrößte Stadt der Erde. 1320 Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002 1321 Auf dem 14.400 Quadratmeter großen zentralen Soldatenfriedhof Blumau/NÖ wurden in den vergangenen Jahren insgesamt 4.001 Gefallene des Zweiten Weltkrieges und 435 Gefallene des Ersten Weltkrieges aus dem Raum Wiener Neustadt beigesetzt. 1322 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1323 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001 216
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
2. Das Begräbnis der Baronesse – Freitag, 1. Februar 1889
„Onkel Alexander schnitt Mary noch eine Haarlocke ... ab“
Heinrich Baltazzi-Scharschmid 1980
„Die Stellung, welche die Behörden in dem Fall einnehmen müssen, hat der Ministerpräsident in folgender Weise präzisiert: Der Tod der Vetsera sei in einem Hofgebäude erfolgt, in welchem der politischen oder polizeilichen Behörde eine Jurisdiction nicht zusteht1324“, notiert der Wiener Polizeipräsident, Baron Krauß, in seinem Protokoll. „Es müsse daher demnach seitens der Hofbehörden durch einen Hofarzt der Tod constatirt werden und der Leichnam, nachdem er durch den Grafen Stockau, den Onkel der Vetsera, bezüglich der Identität agnosziert ist, von der Hofbehörde nach Heiligenkreuz geschafft werden. Dort soll Graf Stockau die Beerdigung im Namen der Familie ersuchen und dort soll die politische Behörde die Beerdigung des übernommenen Leichnams im gesetzlichen Wege ermöglichen.“ Fritz Judtmann folgert aus diesen Notizen, dass die Beseitigung des weiblichen Leichnams auf Veranlassen des Ministerpräsidenten erfolgte und Überführung sowie Begräbnis nach dem „Plan“ Taaffes erfolgten. Um die Beisetzung zu koordinieren, kam es zu einer Kontaktaufnahme zwischen Polizei und Hofämtern: „Graf Bombelles werde durch ein Schreiben an den Prälaten Heinrich Grünbeck des Stiftes Heiligenkreuz im Auftrag Sr. Majestät ersuchen die Beerdigung im Laufe der Nach vorzunehmen“, notiert Krauß. Die Gemeinde Heiligenkreuz war in die Vorfälle rund um die Beisetzung nicht eingebunden1325. Gegen halb vier nachmittags des 31. Januar 1889 erreichten die beiden „Polizei-Commissäre“ Habrda und Gorup Heiligenkreuz. Um kein Aufsehen zu erregen, waren sie auf Befehl des Polizeipräsidenten mit einem Fiaker direkt von Wien über Mödling und Hinterbrühl gefahren1326. In der Prälatur des Stiftes überreichte Habrda dem Abt Grünbeck ein Schreiben des Grafen Bombelles, das dieser für den Polizeipräsidenten aufgesetzt hatte. Der Inhalt des 1324
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1889 war als Bürgermeister der Heiligenkreuzer Kaufmann und Gastwirt Adalbert Brenner tätig (geb. 30.04.1832 in Kleinmariazell, gest. 30.04.1907 in Heiligenkreuz, beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Grab 11/32/aufgelassen; Brenner war vom 21.11.1877 bis 27.08.1891 Bürgermeister. Der Nachlass ist verschollen, so Bürgermeister Johann Ringhofer an den Verfasser, Heiligenkreuz, 06.08.2004 1326 In Wien hatten Habrda und Gorup am Südbahnhof zunächst den Zug um 12:35 Uhr verpasst (planmäßige Ankunft Mödling 13:12 Uhr). Da der Eilzug um 13:20 Uhr nur in Meidling, nicht aber in Mödling hielt, und den Beamten die Fahrt via Fiaker von Baden nach Mayerling wg. möglicher Begegnungen mit Journalisten untersagt war, hätten sie erst um 14:00 Uhr die nächsten Zug erreichen können (planmäßige Ankunft Mödling 14:37). Um Zeit zu sparen, reisten sie zunächst mit einem Fiaker nach Mödling und von dort mit einem weiteren Fiaker nach Heiligenkreuz (Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1325
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Briefes ist nicht bekannt und konnte von Fritz Judtmann auch nicht im Archiv des Stiftes eingesehen werden. Letztlich überzeugten die Beamten den Abt und er willigte trotz „leichter Bedenken“ in die Beisetzung ein1327. Der Abt verständigte nun zunächst den Kämmerer des Stiftes, gab Stiftstischler Anton Fuchs die Erlaubnis den Sarg anzufertigen und erteilte dem Totengräber den Auftrag, mit dem Aushaben des Grabes zu beginnen. Zudem lud er die Kommission ein, im Stift zu übernachten – um zusätzliches Aufsehen zu vermeiden1328. Immerhin lebten um 1889 mehr als 1.090 Einwohner in Heiligenkreuz1329. Um 16:40 Uhr meldeten die Beamten chiffriert per Telegramm aus Heiligenkreuz das Einverständnis und die Anschaffung des Sarges an den Polizeipräsidenten nach Wien: „Zustimmung zur Beerdigung durch Praelaten ertheilt. Sarg wird in Stiftstischlerei schon gemacht. Bote von Maierling geht ab. HABRDA, GORUP1330“. Wohl in aller Eile hatte der Stiftstischler Fuchs nun den Holzsarg zusammen zu zimmern1331. Während Habrda telegrafierte, fuhr Gorup bei Anbruch der Dunkelheit nach Mayerling, um dort für den Grafen Stockau ein Handschreiben zu hinterlassen mit der Bitte, die Kommissäre „vor Abfahrt der Leiche und über den Weg zu verständigen“. Auf der Rückfahrt nach Heiligenkreuz nahm Gorup drei Detektive von Heiligenkreuz mit zurück nach Mayerling. Um 19:50 Uhr telegrafierte Habrda besorgt nach Wien „Kommission noch immer nicht hier. HABRDA1332“. Zwischenzeitlich trafen in Heiligenkreuz Wyslouzil, Oser und Managetta ein. Gegen 21:30 Uhr1333, so Judtmann, erhielt Gorup im Stift endlich ein Telegramm von Dr. Slatin aus Mayerling: „Komme über S. Müller“. Gemäß dem schriftlichen Avis hieß dies, dass der Wagen mit der weiblichen Leiche nicht über Alland und den steilen Heiligenkreuzer Berg komme, sondern über die ebenerdige Straße Richtung Baden, die in Sattelbach nach Heiligenkreuz abzweigte. Im Einverständnis mit Oberkommissär Wyslouzil ging Gorup den beiden Fiakern entgegen und führte den Wagen von Stockau und Baltazzi mit Marys Leiche unauffällig durch Heiligenkreuz zum Friedhof, während der Fiaker mit Slatin und Dr. Auckenthaler direkt durch das sogenannte Badener Tor1334 ins Stift fuhr. Gleichzeitig machten sich Habrda, die Polizeiagenten und der Totengräber auf den Weg, um „auf der Friedhofsstraße die Herren mit der Leich“ zu erwarten1335. Heinrich Baltazzi-Scharschmid berichtet in seinem Buch über die Familien Baltazzi-Vetsera im Kaiserlichen Wien, dass erst gegen Mitternacht in der kleinen Totenkammer des Friedhofes „die Leiche des Mädchens endlich in
1327
„Wir sagten, daß die Leiche einer Dame, welche einen Selbstmord nächst Mayerling, aber noch auf dem Territorium des Schlosses verübt habe, nicht auf dem Pfarrkirchhofe von Alland, sondern unter Beobachtung der gesetzlichen Erfordernisse heute Nacht, resp. Morgen früh unauffällig auf dem Friedhofe von Heiligenkreuz zu beerdigen ist. Wir erklärten dem Abt, daß der Selbstmord durch die ärztliche Untersuchung des Dr. Auchenthaler und durch die Tatbestandsaufnahme des Herrn Hofsekretär Slatin konstatiert sei, daß der nächste Verwandte der verblichenen Baronesse Vetsera, Herr Graf Stockau, um die provisorische Beerdigung auf dem Heiligenkreuzer Friedhof bittlich geworden sei, daß diese Bitte ihm vom Herrn Bezirkshauptmann Oser in Baden bewilligt worden sei und daß endlich alle die genannten Herrn sowie Herr Oberkommissär Wyslouzil noch heute in Heiligenkreuz zur Abfassung der gesetzlichen Erfordernisse in diesem Falle erscheinen werde. Wir baten den Abt um die diskreteste Behandlung und erhielten die Zusage in loyalster Weise.“ Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1328 Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1329 1890: 1.092 Einwohner; Statistik Austria, Rohdaten der Volkszählung 2001 1330 Original als Telegramm No 12 mit 40 Taxworten im sogenannten Krauss Akt 1331 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 12.03.2002 1332 Original als Telegramm No 13 mit 18 Taxworten im sogenannten Krauss Akt 1333 nach dem Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922, war es bereits „um 10 Uhr 30 Min. nachts“ 1334 Das „Badener Tor“ ist auch heute noch eine der beiden Haupteinfahrtsmöglichkeiten zum Stift. Das Tor ist ein einfacher Rundbogen, den in der Mitte ein Heiliger Leopold aus Sandstein schmückt. 1335 Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 218
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einem rohgezimmerten Sarg der Stiftstischlerei gebettet“ wurde1336. Wegen Sturm und Regen ging die Fahrt zum Friedhof nur langsam vor sich und wegen des eisbedeckten Weges mussten den Pferden am Aufstieg zum Friedhof neue Stollen angeschraubt werden. Stockau, Baltazzi, Gorup und Habrda hoben die Vetsera nun aus dem Fiaker und trugen sie in die Leichenkammer. Die beiden Angehörigen, die Alexander Baltazzi und Graf Georg Stockau, zogen ihr den Mantel aus und Onkel Alexander schnitt der Toten eine Haarlocke für die Mutter ab. Dann legte er der Toten ein silbernes Kruzifix in die Hände, während Onkel Georg Marys Hut zusammenfaltete und ihn als Polster zwischen Kopf und Hobelspäne schob. Da der Totengräber Josef Eder nicht rechtzeitig mit dem Ausheben des Grabes fertiggeworden war, musste die Beisetzung auf den Folgetag verschoben werden. „Die primitive Totenkammer wurde versperrt und der Friedhof den drei niedrigen Polizeibeamten zur Überwachung anvertraut.1337“ Gorup, Habrda und die beiden Verwandten der Toten begaben sich ins das Stift. Ein heftiger Regensturm verhinderte in der Nacht zum 1. Februar das Ausheben des Grabes, so dass Gorup ab halb acht Uhr zusammen mit dem Totengräber und seinen Gehilfen die Fertigstellung betreiben musste. Habrda und Wyslouzil telegrafierten um 8:15 Uhr nach Wien „Alles in Ordnung Beerdigung gegen 9“. Gegen 9:15 Uhr erschienen dann auch in einem geschlossenen Wagen Komissar Habrda, Graf Stockau, Alexander Baltazzi und Stiftsprior Malachias Dedic1338 auf dem Friedhof. In der Totenkammer segnete dieser die Leiche ein. Rechts und links des Sarges waren zwei Kerzen aufgestellt worden. Judtmann bemerkt, dass Dedic dabei die Schusswunde haben sehen können, wie Abt Gregor später in einem Zeitungsartikel berichtete. Dann wurde der Holzsarg verschlossen. Totengräber Josef Eder1339, der Heiligenkreuzer Maurermeister Karl Schieder und ein Gehilfe mit Spitznamen „Hannibal“ trugen den Sarg bis zu einem Platz an der Friedhofsmauer, „ungefähr 20 Schritte von der Totenkammer entfernt1340“, wo der Leichnam der Erde übergeben wurde. Dedic gab den letzten Segen, sprach ein Vaterunser und verließ den Friedhof. „Sturm und Regen machten das Begräbnis so schwer, daß die Verwandten, Baron Gorup und ich bei der Beerdigung mithelfen mußten.“ Gemeinsam mit dem Totengräber bedeckten sie den Sarg „rasch mit Erdschollen“. Da der Boden nass und gelockert war, mussten Habrda, Gorup und die beiden Onkel der Verstorbenen bei der Beerdigung mithelfen. „Erst um ½ 10 Uhr war die Trauerzeremonie, welche durch keine fremde Dazwischenkunft gestört worden ist, beendet.1341“ Während Gorup die Schlussarbeiten am Friedhof überwachte, berichtete Habrda dem Oberkommissär Wyslouzil und es folgte das Telegramm mit den Worten „Alles abgethan1342“, das um 10:30 Uhr in Wien ankam. In Folge sprachen die Beamten dem Abt und dem Kämmerer ihren Dank für Hilfe und Gastfreundschaft aus und verließen ge-
1336 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980 1337 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999 1338 Malachias Dedic (26.11.1839 – 05.11.1910), beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz, Grab 45 1339 Eder Josef, Heiligenkreuz Nr. 46, gestorben im Jahre 1940 1340 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999 1341 Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1342 Aus dem Nachlass des Hoftelegrafen Julius Schulde (Archiv der Stadt Baden) kennen wir den Code der Telegramme 1 und 2 sowie eines dritten Telegramms; im Krauss Akt liegen zu diesem Themenkreis jedoch vier Telegramme, da die dritte Abschrift aus dem Nachlass Schuldes tatsächlich aus zwei Telegrammen zusammengefasst wurde. Dr. Gerd Holler hatte die Niederschriften von Schuldes bereits 1979 beim Österreichischen Heer dechiffrieren lassen. Dabei wurde festgestellt, dass Schuldes seinerzeit vergeblich versucht hatte, die Telegramme zu entziffern; er deutete Codes falsch und interpretierte so Aussagen in den Text, die nicht stimmen. Ein weiteres Telegramm im Archiv der Stadt Baden, dessen Entwurf Holler im Notizbuch Schuldes fand, kann fragmentarisch mit „Abreise zu (oder: mit) Baronin von REICHENAU erfolgen“ entschlüsselt werden.
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meinsam um halb elf Uhr Heiligenkreuz1343. Slatin und Auckenthaler hatten das Stift bereits gegen 7 Uhr, Oser und Managetta um 8:30 Uhr verlassen. Stockau und Baltazzi reisten um 10:00 Uhr ab. Zwar war sich Habrda in seinem schriftlichen Bericht an den Grafen Taaffe vom 1. Februar 1889 sicher, dass die Geistleichen Herren nichts über die nächtliche Aktion verlauten und viele Heiligenkreuzer sich die Anwesenheit der Kommission im Stift mit dem Tode des Kronprinzen in Heiligenkreuz erklären würden, so warnte er jedoch, dass „der Totengräber aber sowie die übrigen Organe (...), dürften wieder auf die Idee kommen, daß sich am 30. Jänner abends oder am 31. Jänner früh eine Dame in der Nähe von Mayerling entleibt“ habe1344. Bei dem ersten Grab der Vetsera handelte es sich um ein einfaches Erdgrab an der westlichen Umfassungsmauer. In diesem Bereich, d.h. zwischen dem Totengräberhaus im südwestlichen Winkel und dem historischen bzw. dem weiter nördlich und somit vis-á-vis der Kapelle angelegten zweiten Friedhofseingang, befanden sich augenscheinlich keine weiteren Gräber. Marys Mutter Helene von Vetsera durfte offiziell das Grab ihrer Tochter erstmals im März 1889 besuchen1345. Nach Marys Umbettung in die von Hanna Vetsera gestiftete Gruft pflanzte Josef Schöffel1346, der „Retter des Wienerwaldes“ und einstige Bürgermeister von Mödling1347, an der Stelle des ersten Grabes eine Blutbuche. Da Helene Vetsera die Fahrten nach Heiligenkreuz meist über Mödling unternahm, hatte sie dort Schöffel kennen gelernt; mit ihm verband sie dann eine jahrelange Freundschaft1348. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an der Friedhofsmauer die Gedenktafel für die 1941 und 1942 verstorbenen Ostarbeiter angebracht. Ob diese dort auch beigesetzt wurden, ist nicht bekannt. Der Bereich neben dem Totengräberhaus kann als „Selbstmörderecke“ angesehen werden, in der zunächst Mary Vetsera bei Nacht beigesetzt wurde. Dieses erste Grab wurde wahrscheinlich sofort dem Erdboden gleich gemacht, so dass es nicht identifiziert werden konnte, auch wenn Hermann Swistun von einem „eingesunkenen Hügel“ schreibt1349. Aus diesem Grunde trug es auch kein Holzkreuz oder ähnliches. Das Grab wurde jedoch auf dem Gräberplan der Verwaltung eingezeichnet und erhielt auch eine Nummer, so dass man es später wiederfinden konnte. Im Pfarrgedenkbuch des Stiftes Heiligenkreuz fanden die Beisetzungen des Jahres 1889 ebenfalls einen Niederschlag – jedoch ohne genaues Datum. Dem Inhalt folgernd kann man jedoch von einer Notierung Ende Oktober 1889 ausgehen. Dort heißt es: „Das tragische Ende des Kronprinzen Rudolf in Mayerling 30. Jänner 1889 äußerte seine Nachwirkungen auch auf die benachbarte Pfarre Heiligenkreuz. Während Kronprinz Rudolf in der Habsburgergruft in Wien beigesetzt wurde, begrub man das 2. Opfer der Katastrophe Mary Vetsera im Friedhof von Heiligenkreuz, die Schwester der Verstorbenen Mary Vetsera setzte ihrer Schwester ein schönes Denkmal in der neuerbauten Gruft. Und noch im selben Jahre wurde nach den Plänen von Prof. Avanzo an der Ostseite des Friedhofes eine romanische Gruftkapelle erbaut und am Sonntag Allerheiligen 31. Oktober 1889 von Abt Grünbeck eingeweiht. Es wurde von der Ge1343
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1345 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999 1346 Schöffel, Josef (29.07.1832 Brünn – 07.02.1910 Mödling), Journalist, Politiker. Vertrat als Kommunalpolitiker die Idee des Heimat- und Naturschutzes und verhinderte durch Artikel im „Wiener Tagblatt“ 1870-1872 den Verkauf des Wienerwaldes an ein Holzschläger-Konsortium und somit die Abholzung des Wienerwaldes. 1347 Schöffel war von 1873-1882 Bürgermeister von Mödling und veranlasste u.a. die Gründung einer Waisenanstalt, organisierte im Landesausschuss von NÖ das niederösterreichische Straßenwesen, führte soziale Maßnahmen durch, regelte das Armenwesen und gründete die Besserungsanstalt Korneuburg. Als Kurator der „Hyrtl´schen Waisenhausstiftung“ in Mödling übergab Joseph Schöffel am 06.10.1901 dem Salzburger Gemeinderat Dr. Hermann von Vilas aus dem Nachlass des Anatomen Joseph Hyrtl (1801-1894) einen Schädel, der als „Mozart-Schädel“ fortan Medien und Fachleute beschäftigte (vergleiche auch: Bankl, Hans und Szilvassy, Johann: „Die Reliquien Mozarts – Totenschädel und Totenmaske“, Facultas Verlag, Wien 1992 1348 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980 1349 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999 1344
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nannten noch eine Messen- und Grabstiftung für die Verstorbene Mary Vetsera hierpfarrlich am 15. März errichtet.1350“
Kapitel 6 Die Hofbefehle
3. Die Umbettung in die Gruft
„Wie eine Blume spross der Mensch auf und wird gebrochen.“
Sockelinschrift der Gruft von Mary Vetsera 16.05.1990
Graf Taaffe suchte am 1. Februar 1889 die Baronin Vetsera auf und bat sie, innerhalb der ersten acht Tage nicht auf den Friedhof von Heiligenkreuz zu gehen, da sich in dieser Gegend noch immer viele Journalisten aufhielten1351. Die ersten Besuche der Mutter am „schmucklosen Selbstmördergrab1352“ ihrer Tochter erfolgte wohl ab Mitte Mai 1889. Sie kam meist einmal pro Woche nach Heiligenkreuz, begleitet von Hanna Vetsera, und legte stets eine Kamelie auf das eingesunkene Grab, das noch immer keinen Stein trug. Schon bald hatte Helene Vetsera den Wunsch, Mary in einer standesgemäßen Gruft beisetzen zu lassen. Helenes Bruder, Alexander Baltazzi, machte sie mit Abt Grünbeck, Prior Dedic und Kämmerer Wilfing bekannt, die sich „von da an wirklich auf christliche Art der so schwer geprüften Mutter“ annahmen1353. Da man jedoch nicht gestatten konnte, Mary in der von Helene Vetsera mitfinanzierten neuen Friedhofskapelle zu bestatten, stiftete die Schwester der Verstorbenen, Hanna Vetsera, aus ihrem Legat eine Gruft1354, die ab 24. April 18891355 im nördlichen Teil des Ortsfriedhofes ausgehoben und aufgemauert wurde1356. Alexander Baltazzi bestellte bei der Wiener Sargmacherfirma Beschorner1357 einen Kupfersarg1358, der laut einer schriftlichen 1350
zitiert aus Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968 Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1352 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980 1353 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980 1354 Die Grabanlage ist insgesamt 4,56 Meter lang und 3,23 Meter breit (Außenmaß) 1355 Abschrift einer Nota von Polizeipräsident Kraus in Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1356 Die eigentliche Gruft ist ca. drei Meter tief und aus roten Ziegelsteinen aufgemauert. An der Kopfseite befindet sich im oberen Bereich eine Nische im Mauerwerk. 1357 Metallwarenfirma A. M. Beschorner (Alexander Markus Beschorner, 1821-1896, besaß Produktionsstätten in und außerhalb der Monarchie, seit 1877 führte er den Titel „K.K. Hof-Metallwarenfabrikant“. Beschorner-Sarkophage wurden seit den 70-er 1351
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Anweisung des Herstellers einige Tage vor der Exhumierung getarnt nach Heiligenkreuz geschafft wurde1359. Der Sargdeckel erinnert in seinem Aussehen an jenen des Kronprinzen, ist von einem barocken Kreuz mit Corpus Christi sowie einer Textkartusche geschmückt. Am 14. Mai 1889 wurde der verschlossene hölzerne Sarg mit dem Leichnam Mary Vetseras in den Kupfersarg gestellt und in die neuerbaute Gruft umgebettet1360. Dieses Datum erschließt sich aus einem teilchiffrierten Telegramm, das Bezirkshauptmann Oser am 16. Mai 1889 aus Baden an den Polizeipräsidenten nach Wien sandte: „6 der 2 vorgestern anstandslos in 7 übertragen werde den akt zur einsicht senden = oser“. Hierbei steht die 6 für „Leiche“, die 2 für „Mary Vetsera“ und die 7 für „Heiligenkreuz“. Der Polizeipräsident informierte noch am gleichen Tag den Ministerpräsidenten: „Eure Exzellenz! Ich beeile mich, anliegend das Telegramm zur Einsichtnahme ergebenst vorzulegen, aus welchem zu entnehmen ist, daß die Exhumierung in Heiligenkreuz stattgefunden hat. Baronin Vetsera ist noch in Wien. Eurer Exzellenz ergebenster Kraus.1361“ Die Gruft ist von einem Eisengitter umschlossen. Der Steinsockel1362 mit seinem steinernen Kreuz stammt von dem Wiener Steinmetz E. Hauser. Aus diesem Sockel herausgearbeitet ist eine nahezu ovale Gedenktafel mit der Inschrift: MARY FREIIN v. VETSERA Geb. 19. März 1871 Gest. 30. Jänner 1889 Wie eine Blume sprosst der Mensch auf und wird gebrochen Hiob. 14,2 In den alten Unterlagen der Friedhofsverwaltung trägt die Gruft der Mary Vetsera die Nummer I/291363, könnte also die 29. Beisetzung im ersten Gräberviertel des Friedhofes gewesen sein1364. Nach Informationen von Hermann Swistun hatte Helene Vetsera die Gruft mit Grabstein dem Stift Heiligenkreuz zur ständigen Betreuung übergeben1365
Jahren des 19. Jahrhunderts vom Kaiserhaus verwendet (z.B. Erzherzogin Sophie 1872, Kaiser Ferdinand I. 1875, Kronprinz Rudolf 1889, Kaiserin Elisabeth 1898). Nach Kassal-Mikula, Renata: „Begräbnis und letzte Ruhestätte“, in: Elisabeth von Österreich - Einsamkeit, Macht und Freiheit“, Katalog zur 99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla 22. März 1986 bis 22. März 1987, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1358 Der prachtvolle, barockisierte Kupfersarg ist reich verziert. Auf dem Deckel befindet sich im oberen Bereich ein großes Kruzifix mit aufgelegtem Corpus Christi sowie im unteren Bereich eine längliche Reliefplatte. Der Sarg hat pro Seite zwei Tragegriffe. 1359 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980 1360 Den Entwurf der Gruft lieferte Marys Schwester, Hanna Vetsera. Die Entwurfsskizze ist abgebildet bei Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983. 1361 zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1362 Der Steinsockel hat eine Höhe von 124 cm, eine Basisbreite von 95 cm und eine Basistiefe von 77 cm. 1363 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1364 Als weitere Grabnummer ist in den nicht veröffentlichen Nachlasspapier von Dr. Fritz Judtmann die 338a notiert. Es muss sich jedoch hierbei nicht unbedingt um die Nummer der Grabstätte handeln, sondern kann auch die Anzahl der bislang erfolgten Beisetzung ausdrücken, wobei das a für eine zweite Bestattung der gleichen Leiche stehen mag. 1365 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999 222
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und dafür dem Stift eine Geldspende gewidmet1366. Im Pfarrgedenkbuch des Stiftes für das Jahr 1889 heißt es dazu: „Es wurde von der Genannten (d.h. Hanna Vetsera, d. V.) noch eine Messen- und Grabstiftung für die Verstorbene Mary Vetsera hierpfarrlich am 15. März errichtet.1367“ Bis heute pflegen die Totengräber des Friedhofes im Auftrag der Friedhofsverwaltung die Gruft ehrenamtlich1368. „Die Gruft der Baroness Vetsera wurde alsbald das Ziel zahlloser Besucher aus aller Herren Länder, gleich dem Grabdenkmal des Abälard und der Héloise am Père la Chaise in Paris“, berichtet Abt Gregor Pöck1369. „Der an der Gruft gepflanzte Efeu wurde mehrmals seiner Blätter beraubt. Diese fanden ihren Weg in die ganze Welt.“ Anfang April 1945 – so wurde es bisher überliefert – plünderten russische Soldaten, die Stellung an der Rabenplatte bezogen hatten, den Friedhof: Neben der Prälatengruft werden sieben weitere Grüfte1370, darunter auch die der Baroness Vetsera, aufgebrochen1371. Auf der Suche nach Schmuck und anderen Wertgegenständen öffneten die Täter teilweise auch Särge. In der Prälatengruft war der Sarg des Abtes Heinrich Grünbeck geöffnet worden; die priesterlichen Gewänder und die Gebeine des 84-jährigen wurden sichtbar, Ober- und Unterkiefer des Verstorbenen waren zahnlos1372. Auch der Sarg der Vetsera wurde „gesprengt und durchsucht“ – entweder, so der Totengräber in seinen Erinnerungen, seien alle drei Steinplatten zerstört oder aber nur an den Ecken abgesplittert gewesen. Andere Zeitzeugen berichten, die Plünderer hätten nur eine der drei Platte bewegt und dabei leicht beschädigt, doch habe in Folge lange Zeit durch diesen Spalt Regen ungehindert in die Gruft eindringen können1373. Nach dem Abzug der Rotarmisten wurde die Vetsera-Gruft zunächst provisorisch mit einer schweren Holzplatte verschlossen, die 1948 gegen drei neue, je 200 Kilo schweren Steinplatte ausgetauscht wurde1374. Marys Sarg verblieb jedoch im Zustand der Verwüstung1375. Zwischenzeitlich scheint uns die Fragestellung einer Diskussion wert, ob tatsächlich „die Russen“ die Grüfte auf dem Friedhof von Heiligenkreuz öffneten. Was spricht dafür und was dagegen? Sicherlich entspricht es den Tatsachen, dass der Sarg der Mary Vetsera aufgebrochen wurde, wie es das Pfarrgedenkbuch festhält. Da jedoch Pfarrchroniken und Gräberbücher meist erst viele Jahre nach Kriegsende nachgetragen wurden – im Falle des Vetsera-Eintrages schrieb Pater Walter Schücker den Eintrag erst 15 Jahre später auf oder ab, wobei ein Originaleintrag bislang nirgends aufscheint – und die Schreiber selbst die fragliche Zeit oft eher in sicherer Deckung als am „Ort des Geschehens“ verbrachten, sind diese Aufzeichnungen nicht als Quelle erster Hand anzusehen. Beim Eintrag des Pater Walter heißt es denn auch 1960 im Konjunktiv, der Sarg des Abtes Xaver Seidemann „soll auch ... aufgemacht worden sein“. Ob ein solider Metallsarg wie jener der Vetsera mit einer einfachen Gartenhaue geöffnet werden konnte, ist sehr fraglich. Auch Bestatter Halbwachs weist darauf hin, dass die Gartenhaue unter Umständen nur zum Durchwühlen des
1366
Hermann Swistun an den Verfasser, Wien 09.05.1992 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1368 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 10.01.2002 1369 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1370 nach Holler, Gerd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea Verlag, Wien 1988 waren es nur drei Grüfte, die geplündert wurden: die Äbtegruft in der Kapelle, die Vetsera-Gruft und die Gruft der französischen Adeligen Commoléra. 1371 Bis nach dem II. Weltkrieg gab es insgesamt neun gemauerte Grüfte auf dem Friedhof, sonst fanden ausschließlich Erdbestattungen statt. Zu den geplünderten Grüften gehörte auch die der französischen Adeligen, die in der heutigen Gruft der Familien Glaise, Helm und Blanc beigesetzt sind 1372 Mitteilung des Medizinalrates Dr. Josef Hofmann, 1978, zitiert bei Holler, Dr. Gerd: „Mayerling – Die Lösung des Rätsels“, Molden-Verlag, Wien 1980. Hofmann konnte 1945 die Grüfte inspizieren und stellte fest, dass auch in der erbrochenen Adelsgruft nur Skelette von Tote über 75 Jahren lagen (dies waren: Pierre de Commoléra, 1756-1833, d.h. gestorben mit 83 Jahren, Francoise de Commoléra, 1750-1871, d.h. gestorben mit 81 Jahren sowie FZM Theodor Braumüller von Tannbruck, 1829-1904) 1373 Mitarbeiter der Meierei Füllenberg an den Verfasser, Füllenberg 07.07.1993 1374 Fritz Klein, Sohn des Totengräbers Alois Klein, im Gespräch mit dem Verfasser, Heiligenkreuz 12.08.1991 1375 Pater Walter Schücker, Heiligenkreuz 29.04.1959 1367
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Sarginhaltes genutzt wurde1376. Der solide Sargdeckel war am gesamten Kopfende, an der linken Längsseite sowie zur Hälfte auch am Fußende aufgebrochen und dann nach oben rechts aufgeklappt worden. Die drei Quereverstrebungen des Deckels waren nicht durchtrennt worden1377. Wichtig erscheint der Hinweis, dass der Sargdeckel nicht an jener Stelle abgehoben wurde, an der er auf dem Sargboden ruht, sondern lediglich die gerade durchgehende Deckelplatte aufgehebelt wurde. Danach müssten die Grabschänder zwischen den Querverstrebungen des Sarges hindurch versucht haben, den Holzsarg zu öffnen und nach Wertsachen zu durchsuchen. Vielleicht wurde die Gartenheue auch jetzt erst genutzt, um die Holzbretter zu sprengen? Uns erscheint es durchaus möglich, dass die Gruft von Soldaten der Wehrmacht geöffnet worden sein könnte, um sich für einen drohenden Rückzug mit „Tauschware“ einzudecken. SS-Mitglieder schlachteten so vor ihrem Abzug am 4. April 1945 zahlreiche Schweine und füllten sich Wein aus dem Stiftskeller ab1378. Dass Einwohner des Ortes in den Kriegswirren die Grüfte aus dem gleichen Grund öffneten, ist ebenso denkbar. Unklar ist jedoch, warum die Plünderer die drei Goldfüllungen aus Marys Unterkiefer nicht herausbrachen und auch das silberne Kruzifix in der Gruft zurückließen. Gab es weitaus wertvollere Grabbeigaben – oder wurde in der Gruft gar nicht nach Wertsachen gesucht, weil sich diese ja noch immer Holzsarg befanden? Unsere Recherche hat gezeigt, dass direkte Friedhofsplünderungen durch Rotarmisten in Niederösterreich und dem Wiener Becken nicht bekannt sind. Lediglich in Heldenberg in Niederösterreich wurde das Mausoleum für die Feldmarschälle Radetzky und von Wimpffen geöffnet, jedoch nicht geplündert. Nach Expertenaussage kann man nach dem heutigen Wissensstand die Rotarmisten für die Übergriffe, wie sie in Heiligenkreuz vorgekommen sein sollen, nicht gesichert verantwortlich machen kann1379. Darüber hinaus sind Friedhofsschändungen durch die Rote Armee auch in den Nachbargemeinden Alland1380, der mir 32 zerstörten Häusern am schwersten getroffenen Stadt des Wienerwaldes, sowie Baden1381 nicht bekannt. Einen Hinweis auf besondere Zerstörungen bzw. Schändungen auf dem Friedhof des Stiftes und der Gemeinde Heiligenkreuz verzeichnet auch die Klosterzeitschrift „Sancta Crux“ nicht, als sie 1965 anlässlich des 70. Geburtstages des Abtes Karl Braunstorfer die zurückliegenden Jahre Revue passieren lässt1382. Die erste Erwähnung einer Plünderung durch Rotarmisten finden wir in einem bislang nicht veröffentlichten Teil eines Protokolls, das Hermann Zerzawy am 21. August 1954 mit der ehemaligen Pächterin des Mayerlinger Gasthauses „Zum alten Jagdschloss“, Isabella Vasak, aufnimmt. Aus diesem Protokoll zitieren wir erstmals jene Stelle, die sich auf die Plünderung bezieht: „So besuchte ich mehrmals das Grab der Vetsera und brachte ihr jetzt ein Kerzchen zu Allerheiligen. Bei einem solchen Besuch sprach ich 1949 mit dem Totengräber von Heiligenkreuz. Er erzählte, daß, gleich anderen Grüften, auch jene der Baronesse 1945 von den Russen erbrochen und nach Schmuck durch-
1376
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv 1377 Dieses Bild ergibt sich aus einer Skizze des Eduard Halbwachs vom 28.03.1978 im Nachlass des Dr. Gerd Holler, Baden, sowie aus der Fotoaufnahme des Sarges von Dezember 1992 durch Ferdinand Paur, Baden 1378 „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 1379 Rauchensteiner, Dr. Manfried, Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums Wien, telefonisch gegenüber dem Verfasser, 05.02.2002 1380 Pfarrer Pater Mag. Amadeus Hörschläger O.Cist, Bischofsvikar für das Vikariat Unter dem Wienerwald und Pfarrer der röm. Kath. Pfarre Alland, an den Verfasser, 30.01.2002 1381 Hnatek, Hilde, Städtische Sammlungen und Archiv, Baden bei Wien, an den Verfasser, 17.01.2002 1382 „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 224
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sucht wurde.1383“ Wichtig ist hierbei, dass Frau Vasak nur jene Version wiedergibt, die ihr Totengräber Klein erzählt haben dürfte. Weitere Erwähnung erfolgen 1959 im privaten Tagebuch des Stiftsarchivars Pater Hermann Watzl und 1960 im Nachtrag der Gräberbuches der Pfarre Heiligenkreuz, das Gerd Holler erstmals zitierte. Abschließend eine Aussage zu treffen, dass Heiligenkreuzer Bürger oder Wehrmachtssoldaten das Vetsera-Grab öffneten, ist nach jetzigem Forschungsstand nicht möglich, auch wenn es in Heiligenkreuz heißt: „Bis zum Abzug der deutschen Truppen aus Heiligenkreuz waren die Grüfte des Ortsfriedhofes intakt. Die Schändung der Grüfte sind von den russischen Soldaten ausgeführt worden, die dort wochenlang lagerten und die Bevölkerung daran hinderten den Friedhof zu betreten.1384“ Nachfolgenden haben wir aus allen derzeit zugänglichen Quellen zusammengestellt, welche Beschreibungen von der 1945 erbrochenen Gruft enthalten. Totengräber Alois Klein: „Wir fanden den Sarg erbrochen und der Kopf, an dem die beiden Schußverletzungen (Ein- und Austritt der Kugel) deutlich zu sehen war, lag neben dem Sarg auf dem Boden der Gruft.1385“ Klein war es wohl, der den Schädel zurück in den Sarg legte1386. 1954 berichtete Isabelle Vasak über folgende Äußerung Kleins: „Beim Schließen der Gruft sah der Totengräber noch das erhalten gebliebene volle schöne Haar der Baronesse1387“. 1959 ergänzt Klein, dass der Schädel zu diesem Zeitpunkt noch ganz1388 und die Gruft ohne Wasser gewesen sei1389. Pater Hermann Watzl O.Cist: „Die Gruft war damals erbrochen worden, ich konnte selbst in den Sarg hinab sehen, sah den Totenkopf u. etwas Braunes (es waren die Kleider) in dem Sarg1390.“ Gräberbuch Pfarre Heiligenkreuz am Schluss des III. Viertels, 05. Oktober 1960: „Das Vetsera-Grab wurde von russischen Soldaten aufgebrochen. Der Sarg enthielt nur Knochen, der Schädel lag neben dem aufgebrochenen Sarg in der Gruft. Auch die Gruft in der Friedhofskapelle wurde aufgebrochen. Der Sarg des Heinrich Grünbeck enthält seine Gebeine u. die priesterlichen Gewänder. Im Stift soll auch der Sarg des Abtes Xaver Seidemann aufgemacht worden sein.1391“ Medizinalrat Dr. J. Hofmann „sah das Skelett, das ihm klein erschien, ein dunkles Kleid und eine Fülle dunkler, sehr langer Haare. Der Schädel befand sich in der Gruft und ist nicht außerhalb der Grabstätte gelegen. So weit er es beurteilen konnte, war der Schädel unverletzt.1392“
1383
Protokoll, aufgenommen von Hermann Zerzawy, 21.08.1954, mit Frau Isabella Vasak; Nachlass Zerzawy (freundlichst zur Verfügung gestellt von Prof. Clemens M. Gruber, der andere Teile des Protokolls 1989 in seinem Werk „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg veröffentlichte) 1384 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002 1385 Alois Klein in „Große Österreich-Illustrierte“, Wien April 1951, zitiert in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999 1386 Fotografien des historischen ersten Sarges an seinem Standplatz auf dem Boden der Gruft zeigen, dass auf Grund seiner Trapezform in Kopfhöhe kaum zehn Zentimeter Platz zu den Seitenmauern besteht. Erst in Hüfthöhe ist es möglich, sich neben den Sarg zu stellen. Der Schädel der Vetsera kann also höchstens im Bereich zwischen Hüfte und Fußteil neben dem Sarg gelegen sein. 1387 Protokoll, aufgenommen von Hermann Zerzawy, 21.08.1954, mit Frau Isabella Vasak; Nachlass Zerzawy (freundlichst zur Verfügung gestellt von Prof. Clemens M. Gruber, der andere Teile des Protokolls 1989 in seinem Werk „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg veröffentlichte) 1388 Diarium vom Stiftsarchivar Prof. P. Hermann Watzl, Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik: 5, Faszikel HNW, Nr.: 139 über das Jahr 1959 1389 Fritz Klein, Sohn des Totengräbers Alois Klein, im Gespräch mit dem Verfasser, Heiligenkreuz 12.08.1991 1390 Diarium vom Stiftsarchivar Prof. P. Hermann Watzl, Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik: 5, Faszikel HNW, Nr.: 139 über das Jahr 1959 1391 Eintrag durch Dr. P. Walter Schücker O.Cist.; Kopie: Mayerling-Archiv 1392 Pers. Mitteilung an Gerd Holler, 1978, zitiert in Holler, Gerd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea Verlag, Wien 1988 225
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Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs berichtet 1978: „Der Schädel der Toten lag (1959) im Sarg, nachdem er 1945 durch die Plünderung bedingt, neben dem Sarg gelegen war und anlässlich des provisorischen Verschlusses der Gruft in den Sarg zurückgelegt wurde.1393“
1393
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II 226
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
5. Die Vetsera-Kapelle
„H:MARIA:MUTTER:GOTTES:BITTE:FÜR:UNS,“
Inschrift über dem Portal der Kapelle auf dem Heiligenkreuzer Ortsfriedhof
„Die Baronin ließ, zum größten Teil auf ihre Kosten, gegenüber dem Friedhofseingang durch die Architekten Professor Avanzo1394 und Lange eine Kapelle in neuromanischem Stil erbauen, in der auch eine große Gruft für die Äbte des Stiftes vorgesehen war.1395“ Abt Heinrich Grünbeck und Kämmerer Alberich Wilfing1396 bekundeten dazu im Jahr nach ihrer Fertigstellung, dass der Konvent des Stiftes die Kapelle „stets in gutem Bauzustande zu halten1397“ werde. Doch bis es zu dieser Erklärung kam, musste die Baronin ein weiteres Mal – Don Quixote gleich – gegen die Windmühlen der habsburgischen Bürokratie kämpfen. Nachstehend zeichnen wir die Chronik dieser Bemühungen nach. Als 1877 Abt Edmund Komáromy in der Mitte der östlichen Friedhofsmauer in einer Gruft beigesetzt wurde, gab es auf dem Ortsfriedhof erst wenige Gräber. Mitte 1889 wurde über der Abtgruft und in die bestehende Fried-
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv 1394 Die Architekten Professor Dominik Avanzo (04.01.1845 Köln – 08.09.1910 Wien) und Paul Lange (12.01.1850 Wien – 26.04.1890 Wien) zeichneten als Planer auch für die „Güld´ne Waldschnepfe“ an der Dornbacher Straße 88 im 17. Wiener Bezirk verantwortlich; Kronprinz Rudolf war oftmals Gast der Vergnügungsstätte mit Schrammelmusik. Weitere Bauten von Avanzo: u.a. die 1895 neu erbaute Kapelle in Grub (Pfarre Alland). 1395 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1396 Alberich Wilfing (14.08.1826-26.12.1897), beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz, Grab 68 1397 Das einseitige, mit dem Siegel des Stiftes beglaubigte Dokument hat den folgenden Wortlaut: „Erklärung. Wir Endesgefertigte: Heinrich Grünbeck, Abt des Cistercienserstiftes Heiligenkreuz-Neukloster, und der ehrwürdige Convent dieses Stiftes geloben und versprechen für uns und unsere Nachfolger, die in dem hiesigen Ortsfriedhofe befindliche und größtentheils auf Kosten der Hochwohlgeborenen Frau Baronin Helene von Vetsera neuerbaute gothische (soll heißen: romanische, Verf.) Kapelle stets in gutem Bauzustande zu erhalten. Ferner versprechen wir für uns und unsere Nachfolger, die auf demselben Ortsfriedhofe befindliche Gruft, welche die theuren Überreste der in Maierling am 30. Jänner 1889 verstorbenen und hier bestatteten Baronesse Marie von Vetsera, Tochter der Frau Baronin Helene von Vetsera, birgt, für immerwährende Zeiten intact bestehen zu lassen, und diesen Gruftplatz niemals einer anderen Bestimmung zu überlassen. Stift Heiligenkreuz, am 10. Jänner 1890 Heinrich Grünbeck Abt P. Alberich Wilfing Stiftskämmerer“ 227
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hofsmauer hinein die von Helene Vetsera gestiftete Friedhofskapelle errichtet. Am Allerheiligensonntag, dem 31. Oktober 1889, wurde die Friedhofskapelle von Abt Heinrich Grünbeck geweiht1398. In der in der Kapelle neu angelegten Prälatengruft wurde jedoch nur noch Abt Heinrich V. Grünbeck1399 1902 beigesetzt. Für die beiden Äbte wurde an der nördlichen, linken Innenwand eine Inschriftentafel angebracht: „Rev.ac Ampl.D.1400 Edmundus Komaromy – 22.12.1805-10.04.1877“ und „Rev.ac Ampl.D. Henricus Grünbeck – 24.11.1818-01.01.1902“. Auf der gegenüberliegenden, südlichen Innenwand befindet sich eine weitere Gedenktafel mit dem folgenden lateinischen Text: IN PIAM MEMORIAM LADISLAI ET MARIAE PROLIS DULCISSIMAE PRAEMATURE EREPTAE MATER DOLORE AFFLICTA VOTUM SOLVENS SACELLUM HOC FUNDAVIT ANNOS S. D. MDCCCLXXXIX1401 Judtmann fand im Stiftarchiv mehrere Entwürfe für die Inschrift dieser Tafel, die – ebenso wie die ausgeführte – in keiner Zeile den Namen Vetsera enthält. Den Grund teilte der damalige Kämmerer des Stiftes, Pater Alberich Wilfing, der Baronin in einem Schreiben mit1402: Das Stift sei Eigentümer der Kapelle und könne sich nicht in Wiederspruch zum Kaiserhaus setzen. Judtmann schließt daraus, dass der Hof die Nennung des Namens Vetsera in der Kapelle verboten habe. Im Archiv des Stiftes stießen wir bei unserer Recherche auch auf die Baupläne der Kapelle1403, wie sie am 15. Juli 1889 dem stiftlichen Kammeramt und später dem Badener Bezirkshauptmann Oser vorgelegt wurden. Es handelt sich hierbei um Skizzen im Maßstab 1:100, die jedoch in wenigen Details (Portal, Giebel, Altarfenster) von der heutigen Bausubstanz abweichen. Das große, oben halbkreisförmig abgerundete farbige Altarfenster gab bereits vor seiner Fertigstellung Anlass zu Polizeiberichten an Baron Krauß. Gegenstand war das Erscheinen der Baronin Vetsera beim Direktor der Tiroler Glasmalerei und Kathedralglas-Hütte, Carl Gold, in Wien1404. Die Baronin beauftragte Gold, für die Kapelle in Heiligenkreuz nach den Entwürfen des akademischen Malers Franz Jobst ein Glasfenster anzufertigen, das eine Muttergottes und zwei Engel zeige. Hierzu überreichte sie dem Künstler ein Foto der verstorbenen Tochter mit der Bitte, die Heilige Maria solle ihre Gesichtszüge erhalten. Gold nahm den Auftrag an, wurde jedoch schon bald von den Zisterzi1398
Über der schweren Holztür der Kapelle befindet sich das Wappen des Stiftes Heiligenkreuz, die segnende Hand. Unterhalb des mit einer steinernen Lilie bekrönten Portals und über dem Mittleren von drei Giebelfenstern, dem Glockenfenster, finden sich florale Steinmetzarbeiten. Auf der steinernen Altarbekrönung finden sich die Worte „MEMENTO INRI“ 1399 Abt Heinrich V. Grünbeck (1879-1902) 1400 „Reverendissimus ac Amplissimus Dominus“ – d.h. „Der hochwürdigste und hochangesehene Herr“ 1401 Zu deutsch: Zum frommen Gedenken an Ladislaus und Maria, den süßesten, frühzeitig entrissenen Kindern, hat die durch Schmerz betrübte Mutter, ein Gelübde einlösend, diese Kapelle erbaut Im Jahre des heiligen Herrn 1889 1402 Lt. Judtmann war ein Konzept des Briefes in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts für ihn im Stiftsarchiv einsehbar 1403 Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik 1m Faszikel I, Nr. 61 c 1404 Tiroler Glasmalerei und Kathedralglas-Hütte, Magdalenenstraße 29, 1060 Wien 228
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enserpatres daran gehindert, ihn auszuführen, „da das Stift Heiligenkreuz nie und nimmer gestatten werde, daß ein nach den Gesichtszügen der verblichenen Baronesse angefertigtes Votivbild auf dem Stiftsfriedhof aufgestellt werde1405“. Den Polizeiberichten1406 und einer im Heiligenkreuzer Stiftsarchiv von Judtmann eingesehenen Rechnung1407 der Glasmalwerkstatt kann entnommen werden, dass nach dem Einspruch des Stiftes das bereits fertiggestellte Madonnenantlitz geändert wurde und statt dessen die Gesichter der beiden knienden Engel die Gesichtszüge von Ladislaus (links) und Mary (rechts) erhielten1408. Die zwei gläsernen Rosetten, die Helene Vetseras ebenfalls hatte anfertigen lassen, waren für die Seitenwände der Kapelle bestimmt1409. Das Glasfenster mit der Inschrift „Mater Dolorosa“ über dem Altar wurde in Teilen durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zerstört und erst in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte der fehlende Kopf der Madonna rekonstruiert werden1410. In den Nachkriegsjahren wurde die Kapelle zunächst als Aufbahrungsraum bei Begräbnissen verwendet. Dazu standen bis Ende der 90er Jahre auch vier Holzbänke auf einfachen hölzernen Podesten sowie eine einfache Gebetsbank in der Kapelle. Seit dem Jahre 1999 wird die Vetsera-Kapelle auf dem Ortsfriedhof im Auftrag der Friedhofsverwaltung innen und außen saniert1411. Durch die Hanglage traten vermehrt Feuchtigkeitsschäden auf, so dass zur Trockenlegung des Mauerwerkes sogar der Altar abgetragen werden musste.
1405
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Ein Bericht ist nach Judtmann datiert vom 15.10.1889 1407 Rechnung vom 07.11.1889 über „Ein Figurenfenster Mutter Gottes mit zwei knieenden Engeln in feinster Ausführung incl. Neuzeichnung der Köpfe fl. 240,00“ 1408 Nach dem bei Judtmann zitierten Konfidentenbericht „kamen in Folge dessen abwechselnd 4 Geistliche des Stiftes Heiligenkreuz in das Atelier, um sich von dem Fortgang der Arbeit zu überzeugen.“ 1409 Rechnung vom 07.11.1889 über „2 Rosetten mit reichster Bordüre fl. 135,00“ 1410 Pater Walter Schücker berichtet am 29.04.1959, dass die Kapelle „bis heute in diesem Zustand ohne Restaurierung geblieben“ sei. 1411 Die Sanierung wird voraussichtlich im Herbst 2002 abgeschlossen sein und soll € 50.000,00 kosten; Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001 1406
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
6. Heiligenkreuz im II. Weltkrieg
„Nach Rücksprache mit unserem Archivar Dr. P. Alberich Strommer muß ich Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Besuch in Heiligenkreuz unerwünscht ist.“
Abt P. Gerhard Hradil O.Cist Heiligenkreuz, 07.09.1998
Die Heiligenkreuzer Festspiele im Klosterhof, 1935 zum 800-jährigen Klosterjubiläum vom Theaterverein der Gemeinde mit dem 12 mal aufgeführten Stück „Annodomini“ begründet, ziehe im Jahre 1937 erneut mehr als 15.000 Gäste in den Ort – bei rund 1.000 Einwohnern1412. Das Stück „Die Chronik spricht“ von Lothar Rogozinski zeigte in sieben Bildern die österreichische Geschichte von Marc Aurel bis Maria Theresia und Mozart. Zu dieser Zeit gibt es in Heiligenkreuz drei Greißler („Kramläden“), ein Kaffeehaus, drei Gasthäuser, eine Wagnerei und Schmiede, einen Schuster sowie Schneider, Fleischhauer, Fassbinder, Bäcker, Devotionalienhändler und eine Hebamme. Beschaulich soll es im Ort zugegangen sein – zumindest bis zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938. Heiligenkreuz wird zu einer Gemeinde des unter der Führung von Dr. Hugo Jury1413 stehenden „Ahnengaus des Führers Niederdonau“ in der „Ostmarkt“, den späteren „Alpen- und DonauReichsgauen“. Stift Heiligenkreuz zählt zu den drei Klöstern des Landes, die nicht von den Nationalsozialisten aufgehoben wurden1414. In den ersten Monaten des Jahres 1938 können sich Stift und Nationalsozialisten zunächst „arrangieren“. Prior Karl Braunstorfer stellt ihnen von Anfang Mai bis Herbst das Siegenfelder Pfarrheim für die N.S. Jugendverbände zur Verfügung, bis sie in das neue Parteiheim umziehen können1415. In der Pfarrchronik wird nach dem „Anschluss“ positiv verzeichnet, dass die Geburtenrate in Heiligenkreuz steigt und die „früher sehr zahlreichen Bettler“ aus der Pfarrkanzlei verschwunden seien. Doch Abt Gregor bemerkt auch den neuen Kurs der Politik, der auf eine „völlige Trennung von Kirche und Staat“ hinziele. Zunächst wurden auch in Heiligenkreuz die katholischen Jugend-
1412
1943: 1.005 Einwohner; 1939: 987 Einwohner; Statistik Austria, Rohdaten der Volkszählung 2001 Jury, Hugo, geb. am 13.07.1887 in Mährisch Rothmühl (Moravská Radiměř/Tschechische Republik), gest. am 08.05.1945 Zwettl, Niederösterreich durch Selbstmord; Arzt und Politiker. 11. März 1938 bis zum 13. März 1938 Minister für soziale Verwaltung der Regierung Seyß-Inquart; ab Mai 1938 Gauleiter des "Reichsgau Niederdonau", seit 1940 zusätzlich Reichsstatthalter und ab 1942 Reichsverteidigungskommissar für dieses Gebiet. 1414 Von 26 Großklöstern Österreichs, die Josef II. hatte bestehen lassen, wurden bis auf Heiligenkreuz, das Wiener Schottenkloster und Zwettl im Waldviertel alle aufgehoben und die Geistlichen vertrieben. 1415 „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 1413
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verbände verboten und in der Schule hörte das Schulgebet auf. „Um den neuen Verhältnissen Rechnung zu tragen, wurden von Oktober 1938 bis April 1939 ... jeden zweiten Sonntag die pfarrlichen Arbeitsgemeinschaften gehalten, bestehend aus Bibellesung, Glaubenslehre, Einführung in das Kirchenjahr, besonders auch Pflege des Kirchenlieds.1416“ Am 13. März 1938 setzten die Nationalsozialisten den Siegenfelder Gastwirt Martin Spörk1417 als Bürgermeister und NS-Ortsgruppenleiter ein. Im gleichen Jahr errichten die Nationalsozialisten beim so genannten Schächerkreuz auf der Anhöhe Richtung Alland ein Lager für die Arbeiter der Reichsautobahn, bestehend aus fünf Baracken, in die am 26. Juni 1940 rund 380 französische Kriegsgefangene von Kaiser-Steinbruch einziehen. Vom 20. Mai bis zum 24. November 1941 werden die französischen Kriegsgefangene von gefangenen Serben abgelöst. Zur gleichen Zeit entsteht auf der Hofwiese in Sattelbach ein weiteres Lager, dessen Insassen – zunächst Auslandsarbeiter, später ebenfalls Serben – bei den Arbeiten für die geplante Autobahnbrücke bei Heiligenkreuz eingesetzt werden. Ein drittes Lager entsteht in Sittendorf auf Gründen des Stiftes. Die Lager werden 1942 abgebrochen und die Arbeiten an der Autobahn eingestellt. Ab November 1938 musste das Stift Gründe in Alland, Heiligenkreuz, Sittendorf und Weißenbach bei Mödling zwangsweise an die Reichsautobahnverwaltung verkaufen1418. Bis 1938 befand sich in Heiligenkreuz eine Sängerknabenschule mit Untergymnasium und Konvikt, wie die seit 1929 erscheinende Stiftszeitung „Sancta Crux“ berichtet1419. Noch im „Anschluss“-Jahr verliert die theologische Lehranstalt ihre Öffentlichkeitsrechte und im September wird der Sängerknabenkonvikt aufgelöst. Am 1. Februar 1939 zwischen die Nationalsozialisten das Stift, das Forstgut Wasserberg bei Knittelfeld in der Steiermark an den Staat zu verkaufen, Gründe in Münchendorf1420 für den Bau eines Flugplatzes abzugeben und am 1. August wird der stiftliche Kindergarten endgültig von der N.S.V.1421 übernommen. Am 5. November 1940 droht die Räumung des gesamten Klosterkomplexes. Eine staatliche Kommission beschlagnahmt große Teile des Konvents und bis Mitte Oktober werden 200 internierte Franzosen dort einquartiert – der entsprechende Teil des Klosterhofes ist durch einen Holzzaun abgeteilt und in der Sommerküche wird für sie gekocht. Die Bewachungsmannschaft ist im Erdgeschoss östlich des Tores und im Pfarrstüberl untergebracht. Um ein Umsiedlerlager für Auslandsdeutsche zu errichten, werden weitere Räume des Klosters beschlagnahmt1422 und die Klausur muss auf den ersten Gebäudestock und Teile des Gartens beschränkt werden. Ende Januar 1941 ziehen 300 evangelische Umsiedler aus Bessarabien in das Lager ein. Da immer mehr Menschen nach Heiligenkreuz strömen, müssen im
1416
„Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 Spörk, Martin; Gastwirt in Siegenfeld; geb. 25.01.1894 in Baden, gest. am 22.10.1966 in Baden. Im Herbst 1944 wird er als Abteilungsleiter beim Bau des „Ostwalls“ eingesetzt, seine Vertretung als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter übernimmt bis Kriegsende der Kunstmaler Ludwig Bürgel aus Siegenfeld (geb, 27.08.1901 in Wien, gest. 15.09.1980 in Seekirchen/Salzburg). Spörk kehrt vor Einmarsch der Roten Armee zurück nach Siegenfeld und flieht von dort mit 54 Parteimitgliedern nach Westen. Er wird am 03.03.1946 in Bad Hofgastein aufgegriffen und verhaftet; später lässt er sich in Baden nieder, wo er 72-jährig verstirbt. 1418 „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 2000 1419 Ab September 1938 erscheint das Mitteilungsorgan unter dem Motto „Neue Zeit neues Kleid“ als „ein starkes Bollwerk echten Christentums und sicherer Hort volksverbundenem Deutschtums“ unter dem Namen „Das Heiligenkreuzer Blatt“ und ist in zehn Jahren 18 Mal erschienen. 1420 Der Flugplatz in Münchendorf wurde im April 1941 von der III. Gruppe des Kampfgeschwaders 2 für die Vorbereitung des Balkanfeldzugs belegt. Später wurden hier für die Reichsverteidigung Jagdflugzeuge stationiert. Der schwerste Luftangriff der US-Luftwaffe erfolgte am 16. Juli 1944 und forderte zahlreiche Tote unter dem Bodenpersonal und der Luftabwehr. 1945 wurde der Flugplatz von der Wehrmacht zerstört. 1421 N.S.V. = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt 1422 U.a. Klerikatsgebäude, der Konvent ohne Kreuzgang, Priorgang, Bibliothekstrakt und der beiden Dormitorien, zudem die Winterküche und das Waisenhaus. 1417
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Juli auch der Primizsaal, das Kammeramt, die Krankenräume und das obere Dormitorium von den Mönchen geräumt werden. Am 17. Mai ziehen die Franzosen aus dem Kloster aus und drei Tage später gefangene Serben ein; am 12. Dezember 1941 kommen 200 russische Kriegsgefangene hinzu. Schon bald grassiert im Lager eine Typusepidemie. Ende des Jahres 1944 wird das Umsiedlerlager aufgelöst und am 18. Dezember zieht in die Räume eine Dienststelle des „Festungsbereichs Südost1423“ unter Kommando des Generals der Panzertruppen, Nikolaus von Vormann1424, genutzt. Am 15. Januar 1945 kommt es zu einem Brand in der Offiziersküche, der den Hauptsaal des Stiftsmuseums zerstört – die Kunstwerke konnten jedoch gerettet werden. In den ersten Apriltagen des Jahres 1945 wird Heiligenkreuz Kriegsschauplatz. Das V. Garde Panzerkorps, das am 3. April Baden eingenommen hatte, schwenkte in das Helenental ab, und an ihm vorbei stieß das XXXVIII. GardeSchützenkorps nach Norden vor. Am 4. April erreichte es Heiligenkreuz und stieß weiter über Hochrotherd bis Wolfsgraben vor1425. Sowjetische Geschützbatterien bezogen Stellung beim höhergelegenen Heiligenkreuzer Friedhof und beschießen Alland. Zudem waren in diesem Raum Verbände der sowjetischen 6. Garde-Panzerarmee im Einsatz und schließlich wurden Truppen des XVIII. Panzerkorps nachgezogen1426. In der Nacht vom 30. auf den 31. März, dem Ostersamstag, flieht der Offizierstab des „Festungsbereichs Südost“ aus Heiligenkreuz und SS-Verbände gehen in Stellung. Kurz bevor die Kriegsfront entgültig den Ort erreicht, werden am 4. April durch deutsche Pioniere die beiden Sattelbachbrücken gesprengt. Die sechs Steinplastiken nach Giuliani-Modellen – der Heilige Johannes Nepomuk, der Heilige Florian, eine weitere Heiligendarstellung und drei Putti mit Kartuschen – der westlichen, 1729 von Abt Robert Leeb errichteten einfachen Rundbogenbrücke am Waschhaus, stürzen in den Sattelbach. Sie können nach dem Kriege geborgen und in den Werkstätten des Bundesdenkmalamtes anhand der erhaltenen Tonmodelle restauriert werden1427. Vom „Volkssturm“ werden zudem Straßensperren aus Baumstämmen gegen die anrückenden russischen Verbände errichtet. Im stiftlichen Weinkeller waren am 3. April auf Anordnung der SS die großen Fässer entleert worden, um Alkoholexzesse der Soldaten zu vermeiden. Ein Teil der Bevölkerung war bereits in den Wald beim Einsiedlerkreuz geflüchtet, kranke Mönche wurden in die Jagdhütte bei Grub gebracht1428, einige wenige Familien – meist Mitlieder der NSdAP – flüchteten in den Westen des Landes1429, etliche blieben in ihren Häusern oder suchten Schutz in den Kel1423
Festungsbereich Südost: Kommandant: General der Panzer-Truppen Nikolaus von Vormann; Chef des Generalstabes: Oberst i.G. Hans Hartl; Ia: Oberstleutnant Michaelis; IIa: Oberstleutnant von Pigenot; Stabsoffizier f. Artillerie: Oberst Auer; Stabsoffizier f. Panzer: Oberst Küchler; Höherer Pi. Führer: Generalleutnant Kliszcz; Kommandant Festungsabschnitt Niederdonau: Generalleutnant Gustav Adolph-Auffenberg-Komarów; Kommandant Festungsabschnitt Steiermark: Generalmajor Kurt Jesser. Um zu einer einheitlichen Leitung des Stellungsbaus an den Grenzen von Niederösterreich und der Steiermark zu kommen, wurde das Bindeglied zwischen dem OKD des Heeres und den stellv. Generalkommanden XVII und XVIII A.K. diese Dienststelle im Range eines Armeeoberkommandos geschaffen, die ihren Sitz zunächst in St. Gilgen am Wolfgangsee hatte. Zitiert nach Rauchensteiner, Manfried: „Der Krieg in Österreich 1945“, Österreichischer Bundesverlag, 3. Auflage, Wien 1985 1424 Vormann, Nikolaus von, geb. am 24.12.1895 in Neumark/Westpreußen, gest. am 26.10.1959. 1425 Rauchensteiner, Manfried: „Der Krieg in Österreich 1945“, Österreichischer Bundesverlag, 3. Auflage, Wien 1985 1426 Univ. Doz. Dr. Manfried Rauchensteiner an den Verfasser, Wien 02.12.1992 1427 Am 22. August 1955 werden die restaurierten Brückenfiguren zurück nach Heiligenkreuz gebracht. Der Heilige Florian steht seit 1983 im Stiegenaufgang zum Festsaal des Stiftes Heiligenkreuz. Der Heilige Johannes Nepomuk sowie zwei der Putten stehen heute am Sattelbachufer an der Stelle der alten Brücke. 1428 Hierhin nahm Pater Hermann Watzl in einem Koffer auch die Reliquien vom Heiligen Kreuz und der Dornenkrone sowie der Heiligen Leopold, Bernhard und Robert mit. Am 10. April kehrte die Kreuzesreliquie zurück ins Stift, die anderen Reliquien ruhten noch längere Zeit vergraben im Wald und wurden 1945 zurückgebracht, wobei die Robert-Reliquie jedoch verloren ging. 1429 Zu den Flüchtlingen zählt auch der Kunstmaler Ludwig Bürgel, der von herbst 1944 bis März 1945 als Bürgermeister und Ortgruppenleiter von Heiligenkreuz eingesetzt worden war. Bürgel löste Martin Spörk ab. Zu Kriegsende floh er nach Oberösterreich und lebte und arbeitete fortan in Seekirchen/Salzburg. Der am 27.08.1901 in Wien geborene Bürgel verstarb am 19.05.1980 und wurde in Seekirchen beigesetzt. 232
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lern des Stiftes. Hier bewahrte der damalige Prior und nachmalige Abt Karl Braunstorfer1430 Frauen, Kinder und alte Leute vor einer Erstürmung durch die Soldaten1431. Am 4. April um 12:30 Uhr hatten die letzten deutschen Soldaten Heiligenkreuz verlassen. Um 14:30 Uhr erreichen die russischen Truppen das Stift und nehmen Stellung im Kloster, in dem ein Lazarett eingerichtet wird. Die Mönche nehmen in der Folgezeit Flüchtlinge aus Ungarn auf, aber auch Obdachlose aus dem eigenen Ort. Als in diesen Tagen Tote auf dem Friedhof begraben werden soll, entdecken zwei Patres, dass einige Grüfte des Friedhofes – unter ihnen jene der Baroness Vetsera und die Äbtegruft in der Friedhofskapelle – aufgebrochen waren. Der Zutritt zur Kapelle wurde den Mönchen verwehrt. „In der Totenkammer hatten sowjetische Soldaten eine Kochstelle eingerichtet1432“ und auf dem Friedhof grasten die Pferde der Soldaten1433. Zu diesem Zeitpunkt wird auch das Altarfenster der Kapelle zerstört – russische Soldaten sollen es beschossen und den Kopf der Maria mit Steinwürfen zerstört haben. Am 18. April 1945 stirbt Abt Gregor an einer Lungenentzündung, die er sich am 11. des Monats in der kalten Klosterkirche zugezogen hatte. Er wurde am 21. April zunächst in einem notdürftigen Sarg vor dem Stephanialtar in der Kirche beigesetzt. Einen Grabstein erhält er erst am 13. August des Jahres 1949. Den 1. Mai feierten die russischen Soldaten im Refektorium und am 9. Mai verlassen sie bereits das Stift und das Lazarett. Schon am 22. April 1945 hatte der Badener Bezirkshauptmann, Hofrat Dr. Rupprecht, den Juristen Dr. Hanns Mädler1434 zum neuen Bürgermeister ernannt. Und mit der Wahl des neuen Abtes Karl am 9. August 1945 kehrt allmählich wieder Normalität in das Klosterleben ein.
1430
Braunstorfer, Karl Heinrich; geboren 03.05.1895 in Katzelsdorf; Ordenseintritt 22.08.1914; Profess 08.09.1918; Weihe 24.02.1919; Prior von Heiligenkreuz seit 23.12.1933; Abwahl am 09.08.1945; Resignation am 14.09.1969; gestorben am 20.09.1978 in Heiligenkreuz (Quelle: Sancta Crux 3/1979). Brauntofer war „der Mönch von Citeaux“ (Reinhold Schneider) – voll großer Güte, hoher Spiritualität und äußerst Liebenswürdig. Er erneuerte die monastische Ordnung im Stift und führte es durch die schwere Nachkriegszeit. 1431 Abt Karl wurde dafür 1965 für seinen Mut und seine Entschlossenheit vom Österreichischen Bundespräsidenten mit dem großen Silbernen Ehrenzeichen für Verdiente um die Republik ausgezeichnet. 1432 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1433 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 10.01.2002 1434 Mädler, Dr. Hanns, geb. 05.02.1894 in Heiligenkreuz, gest. am 07.10.1981 in Wien, beigesetzt auf dem Friedhof von Heiligeneich im Tullnerfeld. Mädler, einst Stiftsangestellter und Zentralsekretär der Zentralkanzlei des Stiftes Heiligenkreuz, war Ehrenbürger der Gemeinde und bis 1951 zur Übersiedlung nach Mödling deren Bürgermeister. 233
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
7. 1959: Ein neuer Sarg
„Die exhumierte Leiche wurde in derselben Gruft wieder beigesetzt.“
Amtsrat Lorenz Halbwachs Baden, 26.06.1959
Ende der 50-er Jahre erfolgt in Heiligenkreuz die Umbettung der sterblichen Überreste von Mary Vetsera in einen neuen Sarg. Am Dienstag, 7. Juli 1959, versammeln sich gegen 8:00 Uhr früh mehr als ein Dutzend Personen auf dem Ortsfriedhof an der Gruft der Baroness von Vetsera1435. Totengräber Alois Klein1436 und Meiereiarbeiter Kurt Burian1437 hatten bereits Stunden zuvor einen neuen Sarg1438 neben die Gruft gestellt und die Zinkblecheinlage mit Holzwolle gefüllt. Die weiteren Protagonisten der gespenstisch scheinenden Szenerie: Stiftspfarrer Pater Gerhard Hradil von Heiligenkreuz1439, Stiftsarchivar Pater Hermann Watzl, Prior Dr. Pater Walter Schücker1440 als Friedhofsverwalter, ein namentlich nicht genannte Gemeindesekretär als Vertreter der Gemeinde Heiligenkreuz1441, der spätere Amtsinspektor und damalige Amtsrat Eduard Halbwachs als Leiter der Städtischen Bestattungsanstalt Baden1442, Obersanitätsrat Friedrich Lorenz aus Baden in Vertretung des Gemeindearztes1443, der Heiligenkreuzer PolizeiPostenkommandant Strasser, der Badener Spenglermeister Josef Meixner aus der Neustiftgasse sowie zwei Helfer der 1435
Interessant erscheint uns, dass Judtmann die Namen aller Anwesenden kannte, diese jedoch an keiner Stelle aufführt. Alois Klein (Sattelbach 13.06.1899 – 17.11.1976 Heiligenkreuz; Tod durch Ertrinken nach einem Sturz in den Sattelbach), seit 1965 Totengräber in Heiligenkreuz. Vater: Alois Klein; Mutter: Maria Klein; Ehefrau gestorben am 17.10.1976; 5 Söhne, wohnhaft Heiligenkreuz Nr. 6 1437 Kurt Burian, Meiereiarbeiter, Sudetendeutscher. Bei einer Befragung durch den Autor am 23.11.1990 gibt Burian an, nicht bei der Umbettung beteiligt gewesen zu sein. Er sei mit zwei verstorbenen Freunden lediglich zum Kartoffelsetzen in der Nähe des Friedhofes gewesen. Als sie einen Menschenauflauf am Friedhof bemerkten, seien sie hingegangen, jedoch schnell wieder vertrieben worden. 1438 Der Sarg ist 201 cm lang, 68 cm breit und 62 cm hoch, wie bei der Bergung des Sarges 1992 bei einem Linzer Möbelhändler die Gendarmerie notiert. Er befindet sich im Stift Heiligenkreuz (Stand: 03.2007). 1439 Pater Gerhard Hradil, geb. 28.10.1928, Profeß 13.09.1948, Priesterweihe 23.11.1952, seit 10.07.1983 Abt von Heiligenkreuz, Resignation 11.02.1999. Mitbrüder charakteriesieren Hradil als „Seelsorgeabt“ – stets dienen für seine Mitbrüder, vorbildhaft im klösterlichen Leben und persönlich bescheiden. 1440 an anderer Stelle auch „Schicker“ oder wie bei Gerd Holler „Schüch“ (lt. „Personalstand der Welt- und Ordensgeistlichkeit der Erzdiözese Wien nach dem Stand vom 15.04.1958 handelt es sich um den Prior von Heiligenkreuz, P. Walter Schücker, Spiritual der Unbeschuhten Karmelitinnen in Mayerling, geb. Wien 18.09.1913, gest. 07.06.1977; beigesetzt auf dem Mönchsfriedhof der Abtei Heiligenkreuz) 1441 Bürgermeister war 1959 der Heiligenkreuzer Landwirt Josef Rattenschlager, geb. 06.03.1903 in Heiligenkreuz, gest. 29.12.1968 in Mödling, beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz (Grab IV/6); Rattenschlager war von 1956 bis 1968 Bürgermeister 1442 Halbwachs war nach Zeitzeugenaussage zugleich Schauspieler am Badener Stadttheater 1443 Da die Zuständigkeit für die Genehmigung von Exhumierungen nach dem NÖ Leichen- und Bestattungsgesetz in den Gemeindebereich fällt, kann die Vertretung ohne weiteres angenommen werden; Mitteilung von Amtsarzt Obersanitätsrat Dr. de Martin, Bezirkshauptmannschaft Baden, an den Verfasser, Baden 28.12.2001 1436
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städtischen Bestattung, Josef Schilk und Franz Ecker. Marys Cousin Heinrich Baltazzi-Scharschmid hatte erst am Vortag von der Umbettung erfahren und kam kurzfristig aus Baden nach Heiligenkreuz. Die Vorgeschichte dieser gespenstischen Szene beginnt bereits Mitte Mai 1959 im Büro der Städtischen Bestattungsanstalt Baden. Die zur Kur in Baden weilende Theresia Zar aus Triest erklärt Eduard Halbwachs, sie sei die Enkelin eines kaiserlichen Leibjägers1444 und fühle als solche sich moralisch verpflichtet, das Grab der Vetsera in Ordnung bringen zu lassen1445. Theresia Müllner, wie sie seit ihrer Eheschließung 1917 heißt, hatte zuvor das VetseraGrab in Heiligenkreuz besucht1446. Halbwachs bestätigt den Auftrag und wird die Exhumierungskosten mit 4.580,00 Schilling „laut Vereinbarung“ in Rechnung stellen1447. Die Auftraggeberin bezahlt die Summe im Voraus und reist ab1448. Für die Umbettung soll die Gesundheitsabteilung der Bezirkshauptmannschaft Baden am 1. Juli 1959 die Bewilligung erteilt haben1449. Für die Aktion legt Halbwachs am 23. Juni 1959 einen Akt1450 an und gibt ihm die Nummer 196151451. Bereist zu Jahresbeginn hatte Theresia Zar1452 versucht, in mehreren Briefen mit dem Stift Heiligenkreuz in Kontakt zu treten. Sie hatte angeboten, für eine Neubestattung der Vetsera finanziell zu sorgen, worauf das Stift auch einging1453. Der Prior schlug der Stifterin vor, zunächst durch die Friedhofsverwaltung einen Kostenvoranschlag für eine Umbettung in einen Eichensarg fertigen zu lassen. Verwendet wurde dann jedoch ein Sarg aus Zink1454. Mit dem einzigen zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Verwandten der Vetsera, ihrem Cousin Heinrich Baltazzi-Scharschmid, wird sie keinen Kontakt aufnehmen können, da weder das Stift, noch der Landwirt und Bürgermeister von Heiligenkreuz, Josef Rattenschlager1455, oder die Badener Gemeindeverwaltung seine Adresse weitergegeben hatten1456. Es ist
1444
A. F. Mels-Colloredo von der Salzburger Landesgeschäftsstelle der Kronprinz Rudolf-Gesellschaft geht in einem Schreiben vom 06.12.1970 an die Städtische Bestattung Baden davon aus, dass es sich um eine Nachfahrin des Franz Wodicka oder des Martin Kröppelt gehandelt haben könnte; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv. Nach Auskunft der Nichte von Theresia Zar, Frau Nicoletta Zar, sind beide Namen in der Familie nicht bekannt (Nicoletta Zar an den Verfasser, Triest 04.05.2002) 1445 Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv 1446 Protokoll, vermutlich aufgezeichnet von Oberamtsrat Johann Wagenhofer, Kurdirektor der Stadt Baden (verstorben 1986), im Archiv des Kaiser-Franz-Josef Museums für Handwerk und Volkskunst, Baden 1447 Rechnung für Frau Theresia Müllner in Triest, Baden 24. Juni 1959, „über die Exhumierungskosten der am 30.1.1891 verstorbenen Frau Mary v. Vetsera“. 1448 Protokoll, vermutlich aufgezeichnet von Oberamtsrat Johann Wagenhofer, Kurdirektor der Stadt Baden (verstorben 1986), im Archiv des Kaiser-Franz-Josef Museums für Handwerk und Volkskunst, Baden 1449 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Nach Mitteilung von Amtsarzt Obersanitätsrat Dr. de Martin, Bezirkshauptmannschaft Baden, an den Verfasser, Baden 28.12.2001, finden sich bei der Bezirkshauptmannschaft Baden keine Unterlagen zur Umbettung von 1959, da die Zuständigkeit für die Genehmigung von Exhumierungen nach Landesgesetz in den Gemeindebereich falle. 1450 Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 um 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im MayerlingArchiv 1451 Nach telefonischer Mitteilung der Bestattung Baden an den Verfasser, 23.05.2002, ist der betreffende Akt trotz intensiver Suche im Archiv nicht mehr aufzufinden. Auch die Vorgängerin der jetzigen Leiterin der Städtischen Bestattung konnte über den Verbleib nichts aussagen. Es liegt nahe, dass der Akt ausgeborgt und nicht zurückgegeben wurde. 1452 Teresa (Theresia) Zar, geborene Müllner (Pola 04.10.1896 – 30.05.1972), Hochzeit 21.08.1917 mit Ugone Zar (Lussinpiccolo 21.08.1884 – 16.09.1970); beide sind seit 1919 in Triest ansässig; 3 Kinder: Roberto (Pola 21.03.1919), Ernesto (Monfalcone 25.04.1922), Carlotta (Triest 09.02.1926): Der Vater von Theresia Müllner trug den Familiennamen Müllner, die Mutter den Familiennamen Ottenschläger (Mitteilung von Frau Nicoletta Zar an den Verfasser, Triest 04.05.2002; weitere Informationen zum Familienstand kann die Familie nicht geben, da die Großmutter nicht über ihre Vergangenheit sprach und die Familie dies akzeptierte). 1453 Prior Pater Walter Schmücker an Theresia Zar, Heiligenkreuz 29.04.1959 1454 Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 12.03.2002 1455 Rattenschlager, Josef, geb. 06.03.1903 in Heiligenkreuz, gestorben 29.12.1968 in Mödling, Landwirt und von 1956 bis 1968 Bürgermeister von Heiligenkreuz 1456 Heinrich Baltazzi an Theresia Zar, Baden 12.07.1959 235
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jedoch durchaus möglich, dass Baltazzi die Spenderin im August gleichen Jahres im Rahmen seiner Schiffsreise von Triest nach Dalmatien in ihrer Stadtwohnung besuchen konnte1457. Zurück zum 7. Juli 1959. Um neugierigen den Zutritt zu verwehren, hatte die Gendarmerie den Eingang zum Friedhof abgesperrt1458. Mit großer Anstrengung wuchten Totengräber Klein und die Mitarbeiter der Bestattung die drei, je 200 Kilo schweren Steinplatten von der Gruft – eine stellen sie auf die Kante und lehnen sie gegen den Grabstein, die zweite ziehen sie auf den Efeu am Rande der Gruft und die dritte fast bis durch das Tor hinaus auf den Gruftrand. Nun ist der Blick frei in die gemauerte Gruft. Zu sehen ist im trüben Grundwasser der links sowie am Kopf komplett aufgerissene und aufgestemmte, mit reichlich Grünspan überzogenen „bronzierter Kupfersarg“, dessen Deckel nach oben rechts hochgeklappt scheint1459. Gendarmeriepostenkommandant Strasser irrt, wenn er in den Postenchronik vermerkt, der ursprüngliche Sarg sei von Kaiser Franz Joseph gestiftet worden1460. Der prunkvoll verzierte Sarg wird im den oberen zwei Dritteln des Deckels von einem barocken Kruzifix mit Corpus Christi gekrönt. Im unteren Drittel befindet sich eine Inschriftentafel1461. Den Sarg mit einem Seil nach oben zu ziehen erweist sich als aussichtslos, da das Grundwasser ihn zu schwer werden lässt. So klettert Klein über eine mitgebrachte Leiter in die Tiefe und beginnt, mit einer Schöpfkelle Wasser in einen Kübel zu füllen, der von den Bestattern neben der Gruft ausgeschüttet wird. Da das Abschöpfen des Wassers jedoch sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, wird das Seil erneut am Sarg festgemacht und dieser an einer Seite so weit emporgezogen, bis er fast senkrecht an der Mauer lehnt. Doch nicht nur das Wasser ist zurück in die Gruft geflossen, auch die sterblichen Überreste der Vetsera sowie einige Überreste des ursprünglichen Sarges aus Tannenholz liegen nun in der untersten Ecke des Sarges wirr durcheinander unter Wasser. Klein versucht, die schlammigen Skeletteile zu ordnen und einiger maßen logisch in die Kübel zu packen. Die Umstehen betrachten die Knochen, ehe sie Halbwachs – nach einigen Zeugenaussagen ohne besondere Sorgfalt und regellos, nach eigenem Bekunden jedoch „topographisch richtig“ – in den neuen Sarg legt: zunächst den Schädel, dann das brünette Haar, Oberschenkelknochen, Becken, Wirbel, weitere Knochen. Die Kleider legt Baltazzi auseinander, die Schuhe obenauf. Aus dem Schlamm, der mit den Kübel ausgeschüttet wird, fingert Baltazzi ein kleines silbernes Kruzifix – das Holz ist bereits verrottet, doch er steckt den Corpus mit den drei Nägeln zu Erinnerung ein1462. Sanitätsrat Dr. Lorenz stand während des Vorgangs abseits der Gruft, „kümmerte sich aber in keinster Weise um die Vorgänge und hat auch nicht die Knochenreste begutachtet.1463“ Burian und die Arbeiter der Bestattung zerren den alten Sarg wieder in die ursprüngliche Lage zurück, drücken den gesprengten Deckel in die ursprüngliche Lage zurück und ziehen in rund 1,5 Metern Höhe am Kopf und Fuße der Gruft diagonal zwei Eisentraversen ein, auf die der neue Sarg gestellt werden soll. Dann wird das Kleid, die Schuhe und die Haare zu den Knochenresten gegeben und der neue Sarg vom Badener Spenglermeister Meixner zugelötet.
1457
Heinrich Baltazzi an Theresia Zar, Baden 12.07.1959 Entwurf und Protokoll vermutlich aufgezeichnet von Oberamtsrat Johann Wagenhofer, Kurdirektor der Stadt Baden (verstorben 1986), Archiv des Kaiser-Franz-Josef Museums für Handwerk und Volkskunst, Baden 1459 Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv 1460 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1461 Fotoaufnahmen des Sarges erstellte Ferdinand Paur/Baden bei Wien. Text: „MARY FREIIN VON VETSERA, GEBOREN IN WIEN 19TEN MÄRZ 1889 GESTORBEN IN MAYERLING 30TEN JANUAR 1889“ 1462 Der silberne Corpus von einem Kruzifix hat die Größe von 8,8 c 6,9 cm und ist im Besitz der Familie Mag. Bernhard und Mag. Christine Hollemann, geb. Baltazzi-Scharmid, in Baden 1463 Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv 1458
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Klein und die Arbeiter klettern aus der Gruft, legen Bretter darauf und stellen den neuen Sarg über die Öffnung. Während Pater Gerhard die Tote einsegnet, macht Baltazzi einige Fotos1464. Danach wird der Sarg hinabgelassen und die Gruft erneut mit den drei schweren Steinplatten geschlossen. Folgende Tabelle soll versuchen darzustellen, welche Quellen uns zu den geborgenen Überresten zur Verfügung stehen. Besonders aufgefallen ist uns bei der Recherche, dass in den Tagebuchartigen Aufzeichnungen von Fritz Judtmann aus den Jahren 1965 und 1966 weitaus mehr Informationen enthalten sind, als dieser in seinem Buch veröffentlichte. So wusste Judtmann von drei Augenzeugen – Pater Hermann Watzl, dessen Protokoll er zudem gekannt haben dürfte, Pater Gerhard Hradil und Heinrich Baltazzi-Scharschmid –, dass es ein Vorderteil des Schädels 1959 nicht mehr gab. Statt dessen weist Judtmann ausdrücklich unter Berufung auf drei Zeugen – u.a. Bestatter Halbwachs – darauf hin, dass „der Schädel vollständig erhalten und nur eine große Öffnung auf der rechten Seite“ – wobei Halbwachs stets auf die linke Seite verwies – aufwies.
1464
Vier Bilder im einstigen Archiv Swistun/Vetsera zeigen den Sarg von den Seiten, jedoch im Schatten der Bäume stehend. Baltazzi lässt sich zusammen mit Pater Gerhard vor dem Sarg fotografieren, fotografiert aber auch Halbwachs, P. Gerhard, P. Hermann, Gendarm Strasser und Dr. Lorenz vor dem Sarg (Kopien der Bilder aus dem Nachlass Dr. Gerd Holler im MayerlingArchiv). Nach schriftlicher Äußerung von Fritz Judtmann gab es auch Aufnahmen der Skelettteile, die ebenfalls von Baltazzi angefertigt wurden (zitiert aus Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv). 237
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
8. Das Watzl-Protokoll
„Im hiesigen Archiv nichts über die Affäre.“
Pater Hermann Watzl Heiligenkreuz, 20.04.1979
Der Archivar des Stiftes Heiligenkreuz, Professor Pater Hermann Watzl1465, machte sich ins einem Tagebuch unmittelbar nach der zweiten Umbettung der Vetsera handschriftlich Notizen1466. Da sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren und nur sieben Tage nach der Umbettung niedergeschrieben wurden, können sie als authentisches Zeugnis der Aktion gelten. Wir veröffentlichen erstmals den Text an dieser Stelle und bringen ihn in seiner Originallänge. „Am 7. Juli wurden die Überreste der Mary Freiin von Vetsera im hiesigen stiftlichen Friedhof aus dem alten soliden Kupfersarg von 1889 (korrigiert in 1890) in einen neuen Metallsarg übertragen. Die Idee hierfür ging aus von einer Frau namens Resy Müllner in Triest; diese Frau bezahlte auch den neuen Sarg (c 4000 Sch) u. die für die Transaktion entfallenen Kosten. Wieso diese Frau auf diese Idee kam, weiß ich nicht. Tatsache war, daß der alte Sarg, April 1945 von russischen plündernden Soldaten aufgeschlitzt worden war. Die Gruft war damals erbrochen worden, ich konnte selbst in den Sarg hinab sehen, sah den Totenkopf u. etwas Braunes (es waren die Kleider) in dem Sarg. Am 7. Juli erschienen zu dieser Transaktion: Dr. N. Lorenz, Amtsarzt Baden, Herr Baltazzi, Baden, ein Verwandter der Verstorbenen, P. Gerhard, P. Hermann, Gen. Inspektor Strasser, Baden-Heiligenkreuz, der Totengräber Klein, N. Halbwarx von der Städt. Leichenbestattung Baden, mehrere Arbeiter derselben. Vom hies. Meierhofe arbeitete Kurt Burian mit. Die Transaktion begann um 8 h mit Aufdeckung der 3 großen Gruftplatten, von denen jede c. 3 Zentner wiegt. Der Sarg war voll von Wasser. Das wurde mit einem Schöpfgeschirr in einen Kübel geschüttet, derselbe aus der c. 3 m tiefen Gruft heraufgezogen und entleert. Neben der Gruft stand der neue Sarg, dessen Boden mit Holzwolle ausgefüllt war. Da sehr viel Wasser im alten Sarg war, wurde dieser schließlich so weit emporgezogen, daß er fast senkrecht in der Gruft stand. Das Wasser floß heraus. Nun brachte der Klein in mehreren Kübeln die Überreste der Vetsera. Alles war mit einer feinen schwarzen Schlammschicht überzogen, aber deutlich erkennbar. Im ersten Kübel befand sich ein Teil des Kopfes, und zwar das Hinterhaupt, von der Schädeldecke getrennt. Die Schädeldecke war zerschlagen, – eine Hälfte fehlte, Der Sprung ging quer über den Kopf aber nicht bis zum Hinterhaupt, ungefähr im Zenit des Kopfes bog er in einem rechten Winkel ab. Wir befragten den Amtsarzt: „Ist dies der Sprung von 1889 oder später (1945)“ Er sagte: „Meine Dienstleistung ist, der Exhumierung beizuwohnen u. zu sehen, daß alles den Amtsvorschriften genau vorgenommen wird. Ob dem Kopf dieser Sprung 1898 (von Watzl auf 1889 korrigiert) vorgenommen worden ist o. später, darüber will ich keine Untersuchung vornehmen.“ Es fehlte – wenigstens sah ich nichts davon, - Unterkiefer u. Gesichtsteil. Totengräber Klein gibt an, der Schädel sei 1945, nach der Russenplünderung noch ganz gewesen, sei erst im Wasser zersetzt worden. Inspektor Strasser erzählte, daß ihm der alte Tischler Wolf aus Alland, der zuletzt im Asyl in Mayerling gelebt hat, erzählt habe, er sei mit seinem Vater, - Wolf war noch ein Knabe, sein Vater war Tischler – 1889 nach den Ereignissen von Mayerling, in das Schloß gerufen worden. Die Türen waren von außen eingeschlagen, im Sa1465
Professor Pater Hermann Watzl, gestorben 1986 in Heiligenkreuz Diarium vom Stiftsarchivar Prof. P. Hermann Watzl, Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik: 5, Faszikel HNW, Nr.: 139 über das Jahr 1959. Das Tagebuch ist zwar vorsorglich archiviert, befindet sich aber nicht im Archiv des Stiftes Heiligenkreuz und ist somit auch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Es kann ausschließlich vom jeweiligen Abt eingesehen werden. 1466
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lon alles kleingeschlagen, gewesen. Wir machen uns unsere Gedanken. Im zweiten Kübel der herauf kam aus der Tiefe der Gruft, respektive aus dem Holzsarge vom 30.I.1889, der in der stiftl. Tischlerei verfertigt worden war, und der in den neuen Kupfersarg aufgenommen worden war, - in diesem zweiten Kübel befanden sich die Haare der Vetsera. Ein Nodus, zusammengebunden, die äußeren Haare schlammig, die inneren brünet. Üppiger Haarwuchs. An den Haaren hingen noch die Hobelscharten, die 1898 als Kopfkissen in den Sarg gelegt worden waren. Im dritten Kübel kamen Kleider herauf und die Schuhe, alles gut erhalten, doch schlammig, darinnen vermutlich Wirbelknochen. An den Kleidern sah man eine Art Quasten, die Schuhe gut erhalten, klein u. zierlich mit hohen Stöckeln c. 4-5 cm hoch. Der dritte Kübel förderte Oberschenkel u. Becken zu Tage, ein ekelhaftes Kunterbunt von Knochen. Alles wurde regellos in den neuen Sarg geschüttet. Der alte Sarg blieb unten in der Gruft. Er soll sehr wertvoll sein. Dann zogen die Arbeiter breite Eisenstangen durch die Gruft, zwei Stück, dann wurde der Sargdeckel auf den neuen Sarg gelegt, von einem jungen Arbeiter zugelötet, dann wurden Balken über die Gruftöffnung gelegt, u. der neue Sarg daraufgestellt. P. Gerhard segnete dann die Überreste ein, ich respondierte, dann wurde der neue Sarg auf die zwei Träger hinabgelassen und das Grab wiederum geschlossen. Baltazzi machte Fotoaufnahmen.“ Eine Gartenhaue, die Watzl sich aus der Gruft für das Klosterarchiv1467 oder das Stiftsmuseum1468 geben ließ, war dort noch bis Ende der 70-er Jahre vorhanden. Gerd Holler konnte sie bei den Vorarbeiten zu seinem MayerlingBuch im Jahre 1978 untersuchen und fotografieren1469. Da im Besucherzimmer des Archivs nur ein dunkler Tisch stand, legte Pater Watzl für ein Foto eine gelb-weiß-karierte Serviette unter die Haue. Für die Veröffentlichung ließ Holler den Hintergrund dann wieder retuschieren1470. Zudem fertigte Holler eine Umrisszeichnung der Gartenhaue an1471. Viele Paters im Stift kannten die Haue noch, die jedoch nach unserer Recherche nicht mehr auffindbar ist1472. Holler vermutet, dass sie nicht im Archiv aufliegt, sondern dem Nachlass von Pater Watzl beigegeben wurde1473.
1467
Holler, Herd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea Verlag, Wien 1988 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1469 Die Gartenhaue hat auf der einen Seite ein dreieckiges Haueblatt, schnabelförmig aufgebogen und 12,5 cm lang, an der Basis 10 cm breit und auf der gegenüberliegenden Seite zwei 7 cm lange Zinken; insgesamt ist die Haue ca. 24 cm lang, der nicht erhaltene Stil steckte in einer eisernen Halterung zwischen Blatt und Dornen. 1470 Dr. Gerd Holler an den Verfasser, Baden, 06.09.1991 1471 Originalbild und Umrisszeichnung aus dem Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv 1472 Archivar Dr. P. Alberich Strommer an den Verfasser, Heiligenkreuz, 18.10.1989 1468
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Kapitel 6 Die Hofbefehle
9. Der juristische Aspekt der Beisetzung
„Ich meine, dass in der Zwischenzeit dieses Thema ohnedies hinlänglich untersucht wurde.“
Konsistorialrat Pater Mag. theol. Amadeus R. Hörschläger O.Cist, Pfarrer der Pfarre Alland Alland, 28.04.2002
Zwischen elf und zwölf Uhr des 31. Jänner 1889 erhielt Dr. Slatin von Graf Bombelles den Auftrag, gemeinsam mit Dr. Auckenthaler den weiblichen Leichnam aus Mayerling wegzuschaffen und ein entsprechendes Protokoll anzufertigen. In seiner späteren Denkschrift bemerkt Slatin, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens hegte: „Es war mit bekannt, daß die Ausführung dieses Befehls im buchstäblichen Sinne den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprechen würde, da zum Transport eines Leichnams von einer Gemeinde in eine andere die Bewilligung der politischen Behörde notwendig ist, und daß insbesondere bei plötzlichen Todesfällen besondere Vorkehrungen vorgeschrieben sind.“ Eben aus diesem Grund begab sich Slatin zunächst mit dem Mediziner zur Badener Bezirkshauptmannschaft, wo sie gegen 18:00 Uhr ankamen1474. Bezirkshauptmann Ernst Oser1475 befand sich gerade im Aufbruch nach Heiligenkreuz. „Er teilte mir mit, ``daß in Mayerling alles in Ordnung sei´´, worauf ich mit Dr. Auchenthaler dorthin weiterfuhr, während sich Oser nach Heiligenkreuz begab.1476“ Oser selbst reiste mit dem „k.k. Statthaltereikonzeptspraktikanten“ Dr. Novotny-Managetta und dem Polizeikommissar Wislouzil nach Heiligenkreuz. Wislouzil hatte bereits am Mittag des Vortages Oser seine Ankunft in Baden telegrafisch angekündigt1477. Vom Tode des Kronprinzen erfuhr Ernst Oser als erster offiziell vom Stationschef des Badener Bahnhofes, Josef Höffler. Auf einer Visitenkarte vermerk1473
Dr. Gerd Holler an der Verfasser, Baden 06.09.1991 1474 Zwar brannte 1945 das Archiv im Gebäude der Badener Bezirkshauptmannschaft völlig aus, doch sind im Akt des Polizeipräsidenten Krauss die aufgenommenen Protokolle sowie Polizeiberichte der Beamten Wyslouzil, Habrda und Gorup in Abschrift sowie die Telegramme über den Fortgang der Aktion im Original erhalten. Darüber hinaus befinden sich im Außendepot des Niederösterreichischen Landesarchiv in Bad Pirawarth 1 ½ Archivkisten mit Unterlagen der Bezirkshauptmannschaft für das Jahr 1889. Ob sich darin jedoch Oser-Materialien befinden, konnte bislang nicht recherchiert werden. Freundliche Mitteilung von Dr. Christina Mochty-Weltin, Niederösterreichisches Landesarchiv, St. Pölten, 25.02.2003 1475 Oser, Ernst, Bezirkshauptmann von Baden, ab Februar 1889 Hofrat, geboren 1845, gestorben 1902 in Oed/Niederösterreich (1972 wurden Markt Oed und die Gemeinde Öhling im Mostviertler Hügelland zur Marktgemeinde Oed-Öhling zusammengelegt). 1476 Zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 1477 Telegramm vom 30.01.1889 ab Wien 11:55 Uhr, an Baden 12:25 Uhr „Ich komme sofort nach Baden. Wislouzil“, Nachlass Oser/Steyr 240
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te dieser, nachdem Graf Hoyos am Morgen des 30. Januar in Baden den Fernzug hatte anhalten lassen, „Der Kronprinz liegt tod in Mayerling“ und sandte die Karte dann an den Bezirkshauptmann Oser in Baden1478. Slatin hatte gefürchtete, eine Amtshandlung „in ganz konfuser, unrichtiger, den Gesetzen in keiner Weise entsprechenden Form“ tätigen zu müssen. „Hätte ich damals den Befehl, wie Graf Bombelles ihn mir gegeben, wortgetreu befolgt, so wäre alles gesetzeswidrig gewesen und die Folgen nicht nur für mich kleinen Beamten, sondern für das Vorgehen des Hofes ganz unabsehbar gewesen.“ Ministerpräsident Graf Taaffe jedoch hatte festgelegt, „daß die politische Behörde die Beerdigung des übernommenen Leichnams auf gesetzlichem Wege ermöglichen sollte“. Die Willfähigkeit des Bezirkshauptmannes, der sich streng an die Gesetze halten konnte, machten dies möglich. Allerdings: Zuvor war die Ausgangssituation dem Willen Taaffes entsprechend zu manipulieren, denn: Voraussetzung zu diesem gesetzlichen Wege sollte ein gefälschter Obduktionsbefund werden. Bezirkshauptmann Ernst Oser hatte am frühen Nachmittag durch den aus Wien kommenden Oberkommissär Wyslouzil von den „kompetenterseits gefaßten Beschlüssen“ über die Beseitigung des weiblichen Leichnams erfahren und kam am Abend in Heiligenkreuz an1479. Nachdem dort die Leiche der Baroness in den Holzsarg gelegt wurde, zogen „sich Bezirkshauptmann Oser, Dr. Slatin und der Aktuar Dr. Managetta in ein Nebenzimmer1480 des Stiftes zurück und Oser begann mit der Amtshandlung.1481“ Zunächst legte Slatin Oser jenes in Mayerling aufgenommene Protokoll über die Auffindung des weiblichen Leichnams vor, das er auch in seiner Denkschrift veröffentlicht und dessen Abschrift im Krauss-Akt liegt. Protokoll vom 31. Jänner 1889 Aufgenommen vom Obersthofmarschallamte Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät im Schlosse weiland Seiner k. nu. k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Kronprinzen Erzherzog Rudolf zu Mayerling. Gegenwärtig Die Gefertigten Am 30. Jänner 1889 morgens wurde im Gemeindegebiet Mayerling ein weiblicher Leichnam aufgefunden. Der Herr Leibarzt Dr. Franz Auchenthaler constatirt zweifellos Selbstmord mittels Schußwaffe. (Min. Vdg. Vom 28. Jänner 1885. R.G.B. 26:3) An dem linken Stirnwandbein befindet sich ein 5 cm langer, 3 cm breiter lappiger Substanzverlust der Haut, in dessen Umgebung die Haare versengt sind; es ist dies also die Eintrittsöffnung des Projektils. Der Schußkanal geht quer durch das Gehirn und endet ca. 2 cm ober dem äußeren rechten Gehörgang, hier eine schmale kantige Ausschußöffnung bildend. Die Knochen um Ein- und Ausschuß sind ringsherum zersplittert, ebenso auch die Schädeldecke. Sonst ist keine Verletzung wahrzunehmen. Die Verletzung ist absolut tödlich und mußte der Tod augenblicklich eingetreten sein. Am Rücken und an den unteren Extremitäten befinden sich zahlreiche Totenflecken. Der mitgefertigte Herr Georg Graf Stockau sowie der gleichfalls mitgefertigte Herr Alexander Baltazzi agnosciren den Leichnam als jenen ihrer Nichte, der am 19. März 1871 in Wien geborenen Marie Alexandrine Freiin von Vetsera, Tochter des seither verstorbenen Herrn Albin Freiherrn von Vetsera und der Frau Helene Freiin von Vetsera, geb. Baltazzi. 1478 Visitenkarte des „Josef Höffler. Ingenieur der Südbahn, Bes. des gold. Verd. Kr. M. d. Kr., Ritt. Des pasr. Isabellen-, des serb. Tacoca- und des mont. Danilo-Ordnes, derzeit Stations-Chef Baden.“ Nachlass Oser/Steyr. 1479 Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 1480 Oser arbeitete während der Amtshandlungen augenscheinlich zu keinem Zeitpunkt mit dem damaligen Bürgermeisters von Heiligenkreuz, Adalbert Brenner, zusammen. Der Nachlass Brenners ist leider verschollen , so Bürgermeister Johann Ringhofer an den Verfasser, Heiligenkreuz, 06.08.2004 1481 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
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Sohin wird der Leichnam über Ansuchen des Vertreters der Familie Grafen Stockau fortgeführt und dieses Protokoll der politischen Behörde zur weiteren Amtshandlung übergeben. Dr. Heinrich Slatin Hofsekretär im Obersthofmarschallamte Seiner k. u. k. Apost. Majestät Dr. Franz Auchenthaler k.k. Leibarzt Georg Graf Stockau Alexander Baltazzi1482 „Als zweites Schriftstück wird das Ansuchen der Verwandten an die Bezirkshauptmannschaft Baden um Bewilligung zur Überführung und Beerdigung ihrer in Mayerling verstorbenen Nichte Mary Vetsera vorgelegt, das Graf Stockau und Alexander Baltazzi bereits in Mayerling unterschrieben hatten. Sie bitten darin um schleunige diskrete Erledigung im Namen der schwer getroffenen Familie.1483“ In Folge beginnt der Bezirkshauptmann mit der Routine eines erfahrenen Beamten, Erlässe zu diktieren und einen Akt anzulegen: Z. 12pr. Note An das hochlöbliche Obersthofmarschallamt Wien Ich gebe mir die Ehre zu bestätigen, daß mir der Akt betreffend den Todesfall der Marie von Vetsera ddo. 21.1.J. heute zugekommen ist. Auf Grund dieses Dokuments und über Ansuchen des Oheims der Genannten Grafen Stockau wird die Beerdigung erselben in Heiligenkreuz gestattet. Die Beerdigung der Marie von Vetsera wird in der Sterbematrikel Heiligenkreuz eingetragen; ich ersuche um Mitteilung, ob die Eintragung des Todesfalles in die Matrikel der Burgpfarre erfolgt, um erforderlichen Falles im verneinenden Falle dem Pfarramte Alland behufs Eintragung Mittheilung machen zu können. Baden 31. Jänner 1889 Oser1484 Zudem diktierte Oser seinem Aktuar Managetta betreffend Ansuchen des Grafen Stockau zur Leichenüberführung von Mayerling nach Heiligenkreuz: Votum: Entfernung unter einer Meile. Keine ansteckende Krankheit daher: 1. Ratschlaf für Graf Stockau. Die angesuchte Leichenüberführung wird nach dem Gesetze vom 3. Mai 1874 R.G.B. 56 bewilligt und mit Rücksicht auf die Entfernung von Heiligenkreuz – Maierling, die einfache Versargung gestattet. Hiervon wird das k.k. Obersthofmarschallamt bezüglich des exterritorialen Gebietes Maierlings ferner die GemeindeVorstehung und das Pfarramt Heiligenkreuz verständigt.
1482
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 1484 zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 1483
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2.3. Erlaß a. Hochw. Pfarramt Heiligenkreuz b. An den Gem. Vorstand Heiligenkreuz Ich erteile die Bewilligung zur Überführung der Leiche der Marie von Vetsera von Maierling nach Heiligenkreuz und genehmige die einfache Versargung. Ad b: aus diesem Grunde entfällt eine dir. San. Poliz. Amtshandlung. 4. Note an das hochlöbl. K.k. Obersthofmarschallamt Wien. Ich beehre mich mitzuteilen, daß ich gleichzeitig die Bewilligung zur Überführung der Leiche der Marie von Vetsera von Maierling nach Heiligenkreuz erteile. Baden 31. Jänner 1889 Oser1485 Letztlich diktiert Oser noch die Bewilligung zur Beisetzung des Leichnams: Z. 14 pr. Pro 31/1 89 Votum Nachdem mit z. 12 pr. Selbstmord der Ingenannten zweifelslos constatirt, kann nach Min. Vdg. 28/1 55 R.G.B. 26 PH. 3 die augenblickliche Bewilligung ertheilt werden und daher 1. Erlaß Gf. Stockau. Die Bewilligung zur Beerdigung der in Maierling verstorbenen Marie von Vetsera wird (gemäß Min. Vdg. Vom 28/1 55 R.G.B. 26/3) ertheilt. Hiervon wird das Pfarramt Heiligenkreuz als Eigenthümerin des Friedhofes und Matrikelbehörde verständigt. 2. Erlaß Pfarramt Heiligenkreuz Die von Gf. Stockau angesuchte Bewilligung zur Beerdigung der in Maierling am 30.1. verstorbenen Marie von Vetsera wird ertheilt. Das Pfarramt hat diese Beerdigung in die Sterbematrik einzutragen, 31.1.89 Oser1486 Da Oser um die höchst verworrene Sachlage wusste, schuf er zunächst durch seine Erlässe eine gesetzlich fundamentierte Grundlage. Fritz Judtmann entdeckte hierbei einige Schönheitsfehler, die einem erfahrenen Beamten nicht hätten unterlaufen dürfen und die beweisen, wie sehr Recht und Gesetz gebrochen wurden. Bei der bereits erwähnten Verordnung vom 28. Jänner 1855 handelt es sich um eine „Verordnung der Ministerien des Inneren und der Justiz“, gültig für die Kronländer mit Ausnahme der Militärgrenze1487. Die Verordnung sagt aus, dass von einer gerichtlichen Totenschau nicht nur „Ehre, Freiheit, Eigenthum und Leben“ der einer strafbaren Handlung beschuldigten Person abhänge, sondern auch „die Sicherheit der Gerechtigkeitspflege“. Der von Oser zitierte Paragraf drei bekräftig zudem die Notwenigkeit einer Totenbeschau insbesondere „wenn jemand (...) nach einer vorauserlittenen äußeren Gewalttätigkeit, als z.B. durch Stoßen, Hauen, Schlagen u.s.w. mit stumpfen, scharfen, schneidenden, stechenden, oder durch Gebrauch von Schuß-Werkzeugen (...) gestorben ist.“ Auf Grundlage des Gesetzes sieht Oser die Grundlage für die Beerdigung der Baroness geschaffen. Allerdings: Die Totenbeschau der Baroness, von der das Protokoll vom 31. Jänner 1889 zeugt, verstieß eindeutig gegen mehrere Paragrafen des Gesetzes. So waren bei der Totenschau nicht die vorgeschriebenen zwei Sanitätspersonen (dies sind der Gerichtsarzt, Amtsarzt oder der beeideter Totenbeschauer der Gemeinde) anwesend, sondern nur Dr. Auckenthaler (Verstoß gegen § 5), die Beschau fand nicht in Gegenwart eines Untersuchungsrichters oder seinem Stellvertreter statt (§ 10), es wurde augenscheinlich kein „Sections-Protokoll“ angefertigt (§ 15), ebenso fehlt das die Untersuchungsergebnisse zusammenfassende „Gutachten“ (§ 17), eine Beschreibung der Todesumstände (§ 29), der Kleidung des Toten (§ 31) und der Tatwerkzeuge (§ 33). Zudem fehlen Aussagen zur inneren Untersuchung der Toten (§ 38). Zusammenfassend kann gesagt 1485
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 1487 Reichgesetzblatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1855, Nr. 26, Verordnung der Ministerien des Inneren und der Justiz vom 28. Jänner 1855, ..., womit die Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Totenbeschau erlassen wird. 1486
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werden, dass die Untersuchung der Baroness keinesfalls nach den rechtlichen Grundlagen (Zweites Hauptstück, erster Abschnitt „Äußere Besichtigung der Leiche“ sowie zweiter Abschnitt „innere Untersuchung der Leiche“) des Reichsgesetzblattes erfolgte und somit von einem erfahrenen Beamten wie Oser auch nicht als Grundlage für die Beisetzung hätte herangezogen werden dürfen. Ein weiterer „Schönheitsfehler“ kann Oser bei der Leichüberführung von Mayerling nach Heiligenkreuz nachgewiesen werden. Auf Grundlage des Reichsgesetzblattes 561488 erlaubt der Bezirkshauptmann den Angehörigen der Toten, diese bei „einfacher Versargung“ zu überführen. Das entsprechende Gesetz erfordert bei einem Leichentransport zunächst die Genehmigung der politischen Behörden I. Instanz (§1), die Oser am 31. Jänner 1889 auch schriftlich erteilte. Die entsprechenden Transportbestimmungen, die Oser unter Bezug auf §4c1489 erlassen konnte1490, wurden jedoch – augenscheinlich auf Betreiben des Hofes und gebilligt von Oser – nicht eingehalten, da Mary in einem Fiaker sitzend nach Heiligenkreuz gebracht wurde1491. Auch in Heiligenkreuz wurden die Bestimmungen des Gesetzes nicht eingehalten: Weder wurde vom Stift der Leichenpass eingefordert und die darin verzeichnete Transportroute der Toten kontrolliert – augenscheinlich war am Sterbeort gar kein Leichenpass ausgestellt worden – , noch nach dem Leichenschaubefund gefragt (§8). Der Verstoß gegen Paragraf 8 belegt, dass auch die Verantwortlichen im Stift Heiligenkreuz einen Gesetzesbruch in Kauf nahmen, um die Angelegenheit Vetsera möglichst schnell zu bereinigen. Die Anfrage Osers an das Obersthofmarschallamt, ob der Todesfall in die Sterbematrikel der Burgpfarre einzutragen sei, bezog sich auf die besondere Stellung des Burgpfarrers. Dieser – ebenso wie alle Angehörigen des Hofes – galt als „exempt“, das heißt nicht dem fürsterzbischöflichen Ordinariat, sondern direkt dem Papst unterstellt. „Obwohl der Tod der Baroness in einem Hofgebäude erfolgt war, wurde die Anfrage des Bezirkshauptmannes nach Eintragung in die Matrikel der Burgpfarre verneint. So wurde der Tod der Baroness im Sterbebuch der Pfarre Alland1492, allerdings erst viel später, über Auftrag der Bezirkshauptmannschaft Baden am 2. April 1889 (...) eingetragen1493“ – jedoch ohne die sonst übliche Namensnennung des eintragenden Pfarrverwalters von Alland, Pater Rudolf Rath O.Cist1494. Nach dem Todesfall Josefa Willard (65 Jahre) aus Alland Nr. 16 vom 10. Jänner 1889 folgen zunächst noch sechs weitere Todesfalleinträge1495, ehe Marys Tod festgehalten wird:
30. Maierling Jänner Nr. /. 1889
Laut Die Leiche wurBaroness Marie 18 de nach HeiliAlexandrine Jahre Beschauzettel genkreuz überVetsera, ledig, Nr. Tochter des veran einer führt u. auf dem storbenen Albin Schussverletzung dortigen OrtsFreiherrn von friedhof beerdigt Vetsera u. der Baronin Helene Vetsera geb. Baltazzi
1488
Reichgesetzblatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1874, Nr. 26, Verordnung des Ministers des Inneren vom 3. Mai 1874, betreffend den Transport und die Ausgrabung (Exhumation) von Leichen.. 1489 „Bei Transporten in die Umgebung des Sterbeortes bis auf eine Entfernung von einer Meile hängt es von den Umständen ab, ob die gewöhnliche Versargung als genügend anerkannt werden darf, oder ob besondere Vorsichten anzuordnen sind.“ 1490 Die Entfernung von Mayerling nach Heiligenkreuz beträgt über Alland ca. 6,3 und über Sattelbach ca. 7,8 km. Aus diesem Grunde konnte Oser mit einigem Wohlwollen den die einfache Versargung anordnen, die noch bei Entfernungen bis zu einer Meile (ca. 7,59 km) möglich war. 1491 Hierbei wurde jedoch §7 erfüllt, nach dem „Zum Transport mit Zugthieren sind vollständig geschlossene Wägen (...) in Verwendung zu nehmen.“ 1492 Das Originalbuch wurde bei den Kriegshandlungen 1945 vernichtet; es existiert jedoch im Archiv der Pfarre eine Kopie des handschriftlich verfassten Sterbebuches. 1493 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 1494 Rudolf Rath, geboren 1843 zu Stüns, Profeß 1868 1495 dies sind: Therese Baumgartner (84 Jahre), Alland Nr. 116 am 07.02.1889; Witwe Therese Walter (78 Jahre), Alland Nr. 75 am24.02.1889; Franz Hanthofer (54 Jahre), Goisenbach Nr. 2 am 03.03.1889; Witwe Julie Hiller (64 Jahre), Alland Nr. 74 am 04.03.1889; Leopoldine Karaß (4 Monate), Glashütte Nr. 3 am 18.03.1889 und Josef Nagl (2 Monate), Windhag (2 Monate). 244
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In der letzten Spalte findet sich als besonderer Eintrag aus der Hand des Paters Rudolf folgende, kritische Anmerkung: „Die Eintragung erfolgt wörtlich in Folge Auftrags durch Zuschrift der k.u.k. Bezirkshauptmannschaft Baden ddo vom 2. April 1889 Zl 12. (unleserliches Wort) Zuschrift fehlte die Angaben über Sepeliens u. der Zeit des Begräbnisses.“ Auf Erlass an das Pfarramt Heiligenkreuz wurde zudem die Weisung gegeben, die Beisetzung auch in die dortige Sterbematrikel einzutragen:
Sepeliens:
P. Malachias Dedic Pfarrverwalter
Zeit des Wohnung Name der Sterund Nr. Gestorbebens: des Hau- nen: ses: 30. Maierling Marie Jänner Pfarre Alexand1889 Alland rine Freiin von Vetsera zu Wien am 19. März 1871 geboren, ledig, eheliche Tochter des + Albin Freiherrn von Vetsera und der Baronin Helene Vetsera geb. Baltazzi
Todesart Ort, wohin, Tag, an welchem die Begräbnis geschehen: An einer Heiligenkreuz der Pfarrfriedhof Schußverletam 1. Februar zung l. 1889 ohne GeTodespränge anzeige der ad hoc ernannten Commission, ddo Maierling, 31. Jänner 1889
Geschlecht:
Weiblich katholisch 18 Jahre
In der letzten Spalte findet sich eine Anmerkung, die auf einen Eintrag nach dem 2. April schließen lässt, da der Allander Eintrag bereits zitiert wird: „Über Auftrag des k.k. Bezirkshauptmanns von Baden, ddo. 31. Jänner 1889 Z. 313 n-314 ist die Leiche der Genannten hierher zur Beerdigung überführt wurden und unter einem die Eintragung in die pfarrl. Sterbematrikel angeordnet worden. Nachträglich erfolgte die Eintragung des Todesfalles – und zwar mit Reihezahl – auch in die Sterbematrikel der Pfarre Alland.1496“ Mit diesen Eintragungen in die Sterbematrikel war den gesetzlichen Vorschriften Genüge getan. Gegen 8:30 Uhr verließen Oser und Managetta am 1. Februar 1889 das Stift Heiligenkreuz und kehrten in die Statthalterei nach Baden zurück. Dort begann Oser sofort, über die Stunden in Heiligenkreuz ein „Promemoria“ zu verfassen1497. Dr. Albert Novotny-Managetta beeidete die Ausführungen seines Vorgesetzten am Ende der drei be1496
Zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968 Text: „3 12/6 13.14. Promemoria. Am Abend des 31. Jänner 1889 erschien bei mir der k.k. Hofsekretär des k.k. Obersthofmarschallamtes Zlatin und theilte mir mit, daß im Hofgebäude Mayerling die Leiche der dort durch Selbstmord verschiedenen Marie von Vetsera liege und daß der Vertreter der Verstorbenen, Georg Graf Stockau, dieselbe in Heiligenkreuz beerdigen lassen wolle. Ich fuhr sogleich mit dem k.k. Statthaltereikonzeptspraktikanten Dr. Novottny-Managetta nach Heiligenkreuz; in meiner Begleitung befand sich der k.k. Polizeikommissar Witlouzil aus Wien, welcher am 30. Jänner nach Baden entsendet worden war und den ich nach Heiligenkreuz mitnahm. In Heiligenkreuz, in den Zimmern des Stiftskämmerers P. Alberik Wilfing, fanden sich außer dem k.k. Hofsekretär Zlatin ein, der k.k. Leibarzt Dr. Auchenthaler sowie die Herren Graf Stockau und Baltazzi. Der Erstgenannte überreichte mir den von ihm und Dr. Auchenthalter aufgenommenen amtlichen Befund, nach we3lchem von dieser obersthofmarschallischen Behörde der zweifellose Selbstmord und der eingetretene Tod konstatirt wird. Graf Stockau übergab mir das Gesuch um Bewilligung zur Überführung der Leiche in einfacher Versargung und gab seine Bitte um Beerdigungsbewilligung zu Protokoll, wobei er um rasche und diskrete Erledigung ersuchte. Nachdem durch das Obersthofmarschallamt als Amtsobrigkeit 1497
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schriebenen Kanzleibögen. Während der Amtshandlung hatte Oser am 30. Januar zehn Telegramme und am 31. Januar zwei Telegramme versandt, wie Managetta vermerkte1498. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Oser zusammen mit Hofrat Kubasek, einem weiteren Hofrat sowie Kammerdiener Loschek am 4. Februar 1889 nach Mayerling fuhren, denn eine Notiz besagt: „7 Uhr Frühzug Südbahnhof nach Baden, von da zusammen nach Meierling am Montag den 4. Februar 18891499“. Es ist nicht auszuschließen, dass am Vortag Oser in Wien zum Hofrat ernannt wurde. Am 16. Mai 1889 schloss Bezirkshauptmann Oser zunächst den Akt über die Beisetzung der Marie Vetsera und sandte aus Baden ein teilchiffriertes Telegramm an den Wiener Polizeipräsidenten: „wien v baden bw no 456 18 16/5 12 10 m – 6 der 2 vorgestern anstandslos in 7 üebertragen werden den akt zur einsicht senden = oser +“, wobei 6 für Leiche, 2 für Marie Vetsera und 7 für Heiligenkreuz stand. Sieben Monate später befasste sich Oser jedoch erneut mit den Vorgängen. Der Bezirkshauptmann hatte augenscheinlich festgestellt, dass dem im Archiv des Amtes abzulegenden Akt der Totenschein der Vetsera fehlte. Er benachrichtigte wohl den Abt des Stiftes und erhielt handschriftlich den Inhalt in Textform übermittelt: Ex offo für die k.k. Bezirkshauptmannschaft Baden ad Z. 13.831 1889 Kronland: N.O. Bezirk: Baden Todtenschein. Von Seiten des gefertigten Pfarramtes wird hiermit aus der hiesigen pfarrl. Sterbe-Matrik-Tom. á 1862 ... Fol.: 168 – der Wahrheit gemäß bezeugt, daß Maria Alexandrine Freiin von Vetsera, zu Wien am 19. März 1871 geboren, katholisch, ledig, eheliche Tochter des + Albin Freiherrn von Vetsera, und der Helene, geb. Baltazzi, dessen Ehegattin – laut amtlicher „Todes-Anzeige“ am dreißigsten /:30:/ Jänner Eintausend achthundert achtzig neun /:1889:/ zu Maierling – Pfarre Alland – „an einer Schußverletzung“ gestorben, über Auftrag der k.k. Bezirkshauptmannschaft von Baden, ddo. 31. Jänner 1889 Z. 313 u. 314 ex Praes.,, hierher zur Beerdigung überführt und am 1. Februar 1889 auf dem hiesigen pfarrlichen Friedhof von dem Gefertigten nach christlich katholischem Gebrauch zur Erde bestattet worden ist. Unter einem wurde auch die Eintragung in die hiesige pfarrl. Sterbe-Matrikel angeordnet. Urkund dessen die pfarramtliche Fertigung. Stiftl. Pfarre Heiligenkreuz, den 31. August 1889 P. Malachias Dedic, f.n. geistl. Rath u. Pfarrer Siegel der Pfarre des Stiftes Heiligenkreuz
des bezüglichen Gebäudes zweifelloser Selbstmord festgestellt und durch dessen Sachverständigen der Tod konstatirt wurde, konnten die angesuchten Bewilligungen nach den inliegenden Erledigungen erteilt werden, Es wurden danach die Erledigungen verfaßt, und dieselben und den Beteiligten übergeben. Die Leiche der Baronin Vetsera wurde in meiner Abwesenheit in der Todtenkammer, wohin sie mittlerweile von Mayerling gebracht wurde, in einen einfachen Holzsarg beigesetzt und am Vormittag des heutigen Tages auf dem Friedhofe Heiligenkreuz beerdigt. Baden 1. Februar 1889 Ernst Oser k.k. Bezirkshauptmann.“ Das Promemoria befindet sich im Nachlass Oser/Steyr. 1498 „Telegramme. Anlässlich des Ablebens des allerhöchsten Kronprinzen versendet“, Nachlass Oser/Steyr. 1499 Kopie im Nachlass Ernst Oser, Steyer. Seine persönlichen Erinnerungen hatte Oser im Geheimfach seines privaten Schreibtisches hinterlegt. Dort fanden sich auch Telegramme u.a. aus Alland und Mayerling, diverse Visitenkarten, die Abschrift des Totenscheines, zwei Briefe von Graf Cappy u.a. auf Papier mit dem Prägedruck „MAYERLING“ und weitere Materialien. Heute bewahrt der in Steyr/Oberösterreich lebende Medizinalrat Dr. Wolfgang Oser, ehemaliger Amtsarzt in Ternberg, die „Mayerlingpapiere“ auf. Teile des Nachlasses wurden erstmals 1977 in der Bunten veröffentlicht (Prassl, Franz A.: „Der Kronprinz liegt tot in Mayerling“, in: Die Bunte, Ausgavbe 11 und Ausgabe 12 in 1972 246
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Da in dem Handschreiben des Stiftspfarrers vermerkt war, die Überführung der Leiche nach Heiligenkreuz sei „über Antrag der k.k. Bezirkshauptmannschaft von Baden“ erfolgt, kreuzte Oser die Stelle an und vermerkte auf der Rückseite, dass er vom Stift eine Korrektur für den Akt angefordert habe: „Wegen unrichtiger Ausfertigung richtiges Duplikat verlang. Oser 2/9.1889“. Die Erstfassung legte er seinen persönlichen Erinnerungen bei, die Zweitschrift dem archivierten Akt, der im zweiten Weltkrieg verbrannte1500. Im Archiv der Familie Vetsera-Baltazzi befand sich zudem eine Abschrift des Eintrags in die Sterbematrikel von Heiligenkreuz1501, die am 6. November 1890 – wahrscheinlich in Zusammenhang mit der Testamentseröffnung nach Mary Vetsera – in der k. Freistadt Pressburg von Expeditor Friedrich Dobelmann mit Dienstsiegel und Unterschrift beglaubigt wurde1502.
Amtliche Abschrift Ex offo Nieder-Österreich Bezirk Baden Erzdiözese: Wien Decanat: Baden Pfarre: Heiligenkreuz Todten-Schein für die k.k. Bezirkshauptmannschaft Baden ab Z. 13.831 Aus dem pfarrlichen Sterbe-Register, Tom. 162-Fol. 168, wird hiermit amtlich bezeuget, daß im Jahre des Heiles Eintausend achthundert achtzig neun (1889) am dreißigsten Jänner gestorben, und am 1. Februar 1889 von den Gefertigten dem christlichkatholischen Gebrauche gemäß zur Erde bestattet worden sei. Ort des Sterbens
Name des Ge- Todesart storbenen, Religion, Alter, Character, allenfalls des Ehegatten, Vaters.
Maierling Pf. Alland
Maria Alexandrine Freiin von Vetsera, zu Wien am 19. März 1871 geboren, röm.katholisch, ledig, eheliche Tochter des + Albrin Freiherrn von
Ort des Begräbnisses
Anmerkung
Schußverletzung Heiligenkreuz, Ist mit Genehmigung laut amtlicher der pfarrliche der k.k. BezirkshauptTodesanzeige, Friedhof mannschaft Baden ddo. ddo. Maierling 31. Jänner 1889 Z. 313 31. Jänner u. 314 hierher zur Be1889. erdigung überführt worden.
1500
Nachlass Ernst Oser, Steyer Augenscheinlich handelt es sich hierbei um die Abschrift der in Pressburg aufliegenden Originalabschrift, was der Zusatz des Expeditors belegt: „Mit dem hier sub Reg. Zl. II 78. ex 1888 vorliegendem Original gleichlautend!“ 1502 Original heute im Besitz von Frau Ingrid Fritz, Wien 1501
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Vetsera und der Helene, geb. Baltazzi, dessen Ehegattin
Urkund dessen ist des Gefertigten eigenhändige Unterschrift und Pfarrsiegel, Gegeben zu Heiligenkreuz am 31. August 1889, P. Malachias Dedic, m.p. Prior und Pfarrer.
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Kapitel 7 Denkschriften und Erinnerungen
1. Das Phänomen der Erinnerung
„... sensationeller Aufguss von nicht den Tatsachen entsprechenden Details.“
Hermann Swistun, Wien 1980
Viele Zeugen zur Mayerling-Tragödie haben – das stellte bereits Fritz Judtmann in seinen Untersuchungen fest – eines gemeinsam: „sie berichten oft mehr als sie wirklich erlebt haben und der Nachwelt dokumentieren können.1503“ Worin sind diese Probleme der „oral history“ begründet? Stellt man als Hypothese auf, dass Zeitzeugen nie ein Bild essen liefern, was in der Vergangenheit objektiv war – denn sie liefern ja nur ihre subjektive Sicht des Erlebten – so sind drei weitere Aspekte wichtig: eine ungewollte und zufällige Nähe zum Erlebten, charakterliche Schwäche der erlebenden Personen und schließlich die Zeitspanne zwischen erleben und erzählen. Voran jedoch steht das Wissen der Befragten, aus (mehr oder weniger) nächster Nähe ein Ereignis miterlebt zu haben, das Weltgeschichte schrieb. Aus einem zufällig beteiligten Handwerker, einem diensthabenden Gendarmen oder dem vorbeieilenden Nachbarn wird so in der persönlichen Wahrnehmung ein „Zeugen der Zeit“. Der Zufall hat es geschehen lassen, dass aus „Lieschen Müller“ die Kronzeugin der Anklage wurde – ganz ohne persönliches Dazutun, ohne eigenen Willen oder zielgerichtetem Streben. Daraus resultiert der zweite Aspekt: Die menschliche Schwäche, mit einer Position der „2. Reihe“ nur bedingt umgehen zu können. Lieschen Müller ist nicht Opfer und nicht Täterin – sie wurde unfreiwillig Zeugin. Und sie wird der Öffentlichkeit das Erlebte in einer Art Übersensation präsentiert, denn nur auf diesem Wege glaubt sie es zu schaffen, den Standpunkt und ihre Person aufzuwerten. Dass dies jedoch nur auf Kosten der Wahrheit funktionieren kann, liegt auf der Hand. Schnell wird mit persönlichem Anstrich aus der bekannten Mücke der Elefant. So menschlich diese charakterliche Schwäche ist, so schwer macht sie es dem Historiker: Wo ist der Kern der Wahrheit, was ist hinzugefügt und was wurde tradiert? Dritter Aspekt einer Verklärung sind die Faktoren Alter und Zeit, also die Zeitspanne zwischen Erlebtem und Erzählten. Wer als junger Mensch etwas erlebte, wird es als Älterer meist mit anderen Augen sehen – verklärt durch die verstrichene Zeit oder anders bewertet durch gewonnene Lebenserfahrung. Viele Protokolle, Denkschriften und Erinnerungen sind erst zehn, zwanzig oder mehr Jahre nach den Ereignissen zu Papier gebracht wurden. Vielen Zeitzeugen fällt es dann sehr schwer, das persönlich Erlebte frei von angelesenen oder gehörten Informationen wieder zu
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geben. So genannte „mediale Rückkopplungen“ sind hier besonders problematisch, denn im Gedächtnis der Menschen überlagert sich das Erlebte mit dem, was sie nur gehört oder gelesen haben. Weitaus schwieriger wird es für den Forschenden, garniert der Erzähler seine Geschichte bewusst als „sensationellen Aufguss von nicht den Tatsachen entsprechenden Details1504“ – um seine Familie abzusichern (wie Graf Hoyos), seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (wie Gräfin Larisch) oder einfach nur um die Stellung seiner Person oder seiner Familie aufzuwerten. Dies versuchte zum Beispiel der von vielen die ihn kannten als charmanter Plauderer und gesellschaftliches Ferment geschilderte ehemalige Wiener Polizeipräsident Ferdinand Baron Gorup. Im September 1927 erschien aus seinem Nachlass eine Artikelserie in der „Wiener Montagspost“, 1949 auf Basis seiner Mitteilungen ein Bericht in der Illustrierten „Film“ und 1954 auf Grundlage eines Gespräches mit ihm das Buch „Licht über Mayerling“ von Wilhelm Polzer. In der Rückschau behauptet Baron Gorup, er habe nicht nur an der Beerdigung Marys in Heiligenkreuz teilgenommen, sondern auch Graf Stockau und Alexander Baltazzi nach Mayerling mitgenommen, im Sterbezimmer noch den toten Kronprinzen gesehen und auf dessen Schreibtisch kurzerhand eine Abschieds-Denkschrift des toten Erzherzogs kopiert zu haben1505. Mit dem Auffinden des Polizeiaktes von Baron Krauss stürzt schon 1955 dieses Lügengebäude der Erinnerung ein: 1889 war Gorup Kommissar, stand rangtiefer als die Oberkommissare Habrda und Wyslouzil und war ausschließlich mit Marys Bestattung befasst. Tatsächlich konnte Gorup den toten Kronprinzen nicht sehen, da dieser bereits einen Tag vor seinem Eintreffen in Heiligenkreuz nach Wien gebracht wurde. Darüber hinaus hätte er auch sicher nicht ohne weiteres in das Jagdschloss gelangen können, da die Polizei dort keinen Zugang erhielt und die Truppe um Wyslouzil dort lediglich Absperrdienste leistete. Ähnliche Ungereimtheiten ergeben sich auch in den Erinnerungen weiterer, oft bemühter „Zeugen“. So will Emil Millner, Enkel einer Hebamme, einen Kranz der Gräfin Larisch an der Bahne des Kronprinzen in dessen Gemächern in der Wiener Burg gesehen haben. Eine Visitenkarte der Gräfin habe ihm alle Türen der Hofburg geöffnet, so dass er auch den Kronprinzen mit seiner verbundenen Schläfenwunde sehen konnte. Da Rudolf jedoch nur am 31. Jänner in seinem Appartement aufgebahrt wurde, die Gräfin jedoch erst an diesem Tage in Pardubitz aus der Zeitung von seinem Tode erfuhr und Rudolf bei ihrem Eintreffen in Wien bereits entweder noch auf dem Schaubett im Cerclezimmer oder bereits in der Hofburgkapelle aufgebahrt wurde, kann sie an diesem Tage auch niemandem eine Visitenkarte zum Eintritt in die Burg gegeben haben. Da Emil Millner seinen Bericht über die angeblichen Äußerungen seiner Großmutter über eine Schwangerschaft der Vetsera mit dieser Episode beschließt1506, lässt diese Ungereimtheit auch das Vorstehende in einem anderen Licht erscheinen. Im Folgenden werden wir uns mit dem Wahrheitsgehalt und dem Zustandekommen der Erinnerungen von Angehörigen und Freunden (Kronprinzessin Stephanie, Baronin Vetsera, Graf Hoyos und der späteren Kaiserin Zita), persönlichen Bediensteten (Loschek, Püchel, Schuldes), Dienstleistern und Tatortzeugen (Slatin, Wolf, Löffler) sowie Angehörigen von Tatortzeugen (Rosensteiner, Konhäuser, Deutsch Nehammer, Stock, Gruber, Vasak, Doblhoff, Loschek jun., Albercht) befassen und diese kritisch kommentieren.
1503 Swistun, Hermann: „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus der Sicht der Chronik Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Wien 1980 1504 Swistun, Hermann: „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus der Sicht der Chronik Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Wien 1980 1505 Polzer, Wilhelm: „Licht über Mayerling“, Karinger-Verlag, Wien 1954 1506 siehe Wochenausgabe des „Neuen Wiener Tagblattes“ vom 15. September 1928
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Kapitel 7 Denkschriften und Erinnerungen
4. Dienstleister und Tatortzeugen erzählen
„Auf Befragen des Kammerdieners Loschek teilte dieser mit, daß es in der vergangenen Nacht bei Wein, Weib und Gesang sehr lustig zugegangen ist.“
Mauritz Löffler, St. Christofen bei Neulenkbach-Mark 1943
Slatin Wolf Dieses Kapitel wird sich mit den Erinnerungen von Menschen befassen, als „Tatortzeugen“ in Mayerling waren und den Ort des Geschehens – oder aber auch Handlungen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod des Kronprinzen und der Baroness – sahen. Wir bringen an dieser Stelle die Protokolle erstmals im Wortlaut und weitgehend in der originalen Schreibwiese mit allen Anmerkungen der Autoren1507. 1953 kopiert Hermann Zerzawy die siebenseitigen Erinnerungen des Mauritz Löfflers aus dem Jahre 1943. Löffler äußert sich detailliert zu den Jagden des Kronprinzen Rudolf in Alland und Mayerling und kann auch die letzten Tage im Januar 1889 als Außenstehender. Der Text, erstmals im vollständigen Original wiedergegeben, lautet: „Anschrift des Originalberichtes. Das Drama von Mayerling verfasst und zusammengestellt aus eigenen Erlebnissen von Mauritz Löffler derzeit k.k. Förster in Gr. Grottenbach. Über das Drama v. Mayerling, welches sich mit dem ehemaligen Thronfolger und Marie Vetsera daselbst abspielte, wurde in den Tageblättern seit der Umbruchszeit d.i. 11. November 1918 viel verlautbart, welche Nachrichten aber alle unvollständig und der Wahrheit nicht entsprochen haben. Nachdem ich derzeit unweit von Mayerling als k.k. Förster u. zwar in Gr. Grottenbach Gemeinde Klausenleopoldsdorf stationiert war, wo ich sowie auch das übrigen k.k. Forstpersonal Sr. Kais. Hoheit, welcher das Jagdgebiet im weiten Umkreis der Staatsforste inne hatte, unterstellt war, gebe ich hiermit meine Erlebnisse über das Tun und Treiben der letzten Tage vor seinem Ableben ausführlich und wahrheitsgetreu hiermit bekannt.
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Am 28. Jänner 1889 kam Kronprinz Rudolf auf sein kleines Jagdschlösschen nach Mayerling, was eben sein Absteigequartier war, wenn er hier den Jagdvergnügen huldigte. Sein Jagdgebiet umfasste eine Fläche von beiläufig 16.000 ha. Bald nach seiner Ankunft besprach er mit seinem Jagdleiter, dem k.k. Forstmeister Hornsteiner von Alland die näheren Details betreffend einer auf zwei Tage anberaumten Hochwildjagd, wobei vereinbart wurde, daß am 29. Jänner in beiden zusammenstoßenden Revieren Gr. Krottenbach und Glashütte, und am 30. Jänner in Schöpfelgitter beim Förster Kubitschka gejagd werden soll. Am späten Abend obiger Vereinbarung d.i. am 28. Jänner überbrachte mir ein Bote ein Schreiben von der Jagdleitung Alland, welche 7 Km. Von meinem Wohnhause und 8 Km. von Mayerling entfernt war, worin ich aufgefordert wurde, am nächsten Tag den 29. Jänner mich mit 12 Treibern um ½ 9 Uhr vormittags beim Wagenhof, ein bei Alland an der Straße von Alland nach Glashütten gelegener Bauernhof als bekannten Rendezvous-Platz einzufinden wo auch Förster Oberhofer v. Glashütten mit gleichfalls mit 12 Treibern kommen wird und derselbst Sr. Kais. Hoheit mit seiner Jagdgesellschaft zu erwarten, nachdem er an diesem Tage in den beiden Revieren auf Hochwild zu jagen gedenkt. Auf Grund dieses Auftrages begab ich mich sofort zu meinen Holzarbeitern, welche als Treiber bei dieser Jagd zu fungieren hatten und beauftragte dieselben, daß sie am nächsten Tag d.i. am 29. Jänner 5 Uhr morgens bei mit zu erscheinen haben, wo wir dann mitsammen uns zu dem erwähnten Rendezvous-Platz begeben werden, was auch pünktlich geschah. Dort angekommen, war bereits mein College Wenzel Oberhofer von Glashütten mit seinen Treibern und der Privatjäger Ratschek, welcher blos die Feldjagd in der Umgebung von Mayerling zu beaufsichtigen hatte anwesend, wo wir dann gespannt die Jagsgesellschaft erwarteten. Endlich, es war schon längst 9 Uhr vorüber, kamen zu unserem Erstaunen blos zwei Schlitten mit den Jagdgästen u.zw. im ersten Schlitten war Jagdleiter Hornsteiner mit dem Leibjäger von Kronprinz Rudolf, Vodiczka, im zweiten Schlitten saßen Graf Hoyos und Prinz Coburg, eben der Kronprinz fehlte. Während die beiden Schlitten mit der unerwartet kleinen Jagdgesellschaft noch eine kleine Strecke weiter fuhren, wo selbe die Schlitten verlassen mussten, um vom Jagdleiter zu ihren Jagdständen geführt zu werden, berieten wir uns, was wir tun sollen, ob mit dem Treiben beginnen oder Seite 2 noch zu warten, da etwa der Kronprinz etwas später komme. Um nun allen Zweifel zu beheben wurde schnell ein Treiber dem Jagdleiter nachgeschickt um zu erfahren, was zu geschehen habe. Dieser kam auch bald mit der Weisung zurück, wir sollen nur mit der Jagd beginnen, denn der Kronprinz komme heute nicht zu Jagd, da er sich unwohl fühle, komme nur morgen bestimmt zur Jagd nach Schöpfelgitter. Ich und mein Kollege Oberhofer stellten nun die Treiber an und verteilten und auch selbst mit dem Jäger Radschek unter dieselben, damit das Treiben in Ordnung von sich gehe. - Gleich beim ersten Trieb, der genommen wurde, wo Prinz Coburg zwei Stück Hochwild fehlte, wurde von Graf Hoyos in Alttier angeschossen, worauf nachdem der Trieb zu Ende war, ich und der Jäger Radschek beauftragt wurden, das angeschossene Wild auf der Schweißfährte so lange zu verfolgen, bis es entweder verendet aufgefunden wird, oder durch einen Fangschuss zur Strecke gebracht werden kann. 1507
Einige der Aufzeichnungen hat Gruber, Prof. Clemens M. in seinem Buch „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 bereits in Zitaten bzw. ganz publiziert, jedoch ohne jeweils auf Zerzawy als Autoren hinzuweisen. 252
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Während nun die übrige Jagdgesellschaft die Jagd weiter fortsetzte, machten wir uns beide daran, die Nachsuche nach dem angeschossenen Alttier aufzunehmen. Es begann nun eine äußerst beschwerliche Nachsuche, erschwert durch den vielen Schnee und dem fast undurchdringlichen Dickicht in dem Jungwald, wo wir beide vor Überanstrengung fast nicht mehr weiter konnten. Endlich, es dunkelte bereits, bekamen wir das krank geschossene Tier in einer Waldlichtung zu Gesicht, wo wir beide gleichzeitig zwei Schüsse darauf abfeuerten, wo es von beiden Kugeln getroffen verendet liegen blieb, von wo wir es bis zur Straße am Schwechatbach abwärts zogen und durch einen Boten nach Alland zum Jagdleiter schaffen ließen. Ich und Jäger Radschek begaben uns beide nach hause. Nachdem ich von der Jagdleitung zu der am 30. Jänner in Schöpfelgitter anberaumten Jagd daran teilzunehmen nicht aufgefordert wurde, so ging ich meinen gewöhnlichen dienstlichen Verrichtungen nach, erfuhr auch den ganzen Tag nichts von der projektierten Jagd. Am 31. Jänner erfuhr ich nun, daß Förster Kubitschka mit seinen Treibern am Rendezvous-Platz in Schöpfelgitter bis 11 Uhr vormittags warteten, wo dann statt der Jagdgesellschaft blos ein leerer Fiakerschlitten kam, welcher die unwahre Nachricht brachte, Kronprinz sei krank und wird daher keine Jagd abgehalten. Noch am selben Tag erfuhr ich die erschütternde und unerklärliche Nachricht von dem plötzlichen Ableben des so gesunden und kräftigen Mannes. Es herrschte hier allgemeines Entsetzen über die ganz unerwartete Todesnachricht des hier so bekannten Mannes, den fast jedes Kind kannte, da er doch häufig als Jäger gesehen wurde, daher allgemein bekannt war. Über die Todesursache herrschte hier anfänglich allgemeine Verwirrung, denn daß er keines natürlichen Todes gestorben sei, das stund bald fast, aber was sich ereignet, was war die Todesursache, dieß war das anfängliche Räthsel. Anfänglich hieß es, Kronprinz habe sich mit seinem Gewehr erschossen, dann wurde wieder erzählt, von einem Förster sei er aus Eifersucht erschossen worden, zum Schluß habe ihn gar der Schlag getroffen, bis sich endlich das ganze Geschwätz als bloßte Phantasie von allwissenden Tratschen herausstellte. Wie bereits vorher erwähnt wurde, war für den 30. Jänner die Jagd in Schöpfelgitter anberaumt. Am Vortag, abends nach der Rückkehr vom ersten Jagdtage, erhielten die Jagdgäste von Sr. Kais. Hoheit und dem Jagdleiter die Weisung, daß morgen sich alle im Schlosshofe versammeln haben, wo dann zu Jagd weggefahren werde, worauf die beiden Herrn Graf Hoyos, Prinz Koburg und der Leibjäger Vodicka sich in die nahe gelegene Villa begaben, welche vom Kronprinzen eigens für sein Gefolge gemietet war, und zur Nachtruhe begaben. Seite 3 Pünktlich des anderen Tages um 8 Uhr früh versammelte sich die vorerwähnte kleine Jagdgesellschaft beim Schlösschen des Kronprinzen, welches er mit seinem Kammerdiener Loschek bewohnte, um Sr. Kais. Hoheit zur Abfahrt zu erwarten. Vergebens wartete man Minute zu Minute auf sein Erscheinen, doch der Kronprinz kam nicht aus seinem Schlafgemach. Auf Befragen des Kammerdieners Loschek teilte dieser mit, daß es in der vergangenen Nacht bei Wein, Weib und Gesang sehr lustig zugegangen ist, da die Geliebte des Kronprinzen „Marie Vetsera“ bereits vorgestern gekommen ist, wozu auch Leibfiaker Bratfisch, ein besonderer Liebling des Kronprinzen, welcher eins ehr guter Sänger und Komiker war, der Unterhaltung beigezogen ward, bis endlich der Schlaf und der Genuss von Alkohol in vorgerückter Nachtstunde der fidelen Unterhaltung ein En253
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de machte, worauf sich Bratfisch in sein Schlafgemach begab, und Kronprinz und Vetsera in bester Laune gleichfalls ihr Nachtlager aufsuchten, nicht ahnend, was ihnen schreckliches bevorstand. – Nachdem schon die bestimmte Stunde zum Wegfahren längst verstrichen war, so klopfte man an seiner Tür zum Schlafzimmer anfangs leise, dann stärker und immer stärker und als trotz allen Pochens und Rufens drinnen im Schlafzimmer alles ruhig blieb, so entschloss man sich, die Tür gewaltsam aufzusprengen, was auch geschah. Was für ein entsetzlicher unbeschreiblicher Anblick bot sich nun den Eintretenden dar. Am Fußboden lag Kronprinz Rudolf, Maria Vetsera, Graf Baltacy, alle tot und fürchterlich zerschlagen, Herzog Braganza lag ohnmächtig mit einem eingeschlagenen Auge unter sie; das ganze Zimmer und das Mobiliar, sofern es nicht zertrümmert war, voller Blut, überall Blut, die Sessel meist zerschlagen, um die Füße davon als Waffe zum Zuschlagen zu benützen, Champagnerflaschen, womit auch zugeschlagen wurde, lagen zertrümmert umher. Das Fenster war eingeschlagen und wie die Spuren im Schnee zeigten, wurde daselbst eingestiegen, worauf der Überfall auf die im Zimmer ahnungslos Schlafenden begann. – In der finsteren Nacht, da man doch derzeit kein elektrisches Licht hatte, daher man auch bei dem Gemetzel Freund und Feind nicht unterscheiden konnte, dürfte es wohl auch vorgekommen sein, daß man in dem fürchterlichen Chaos, was da geherrscht haben dürfte, auf seinen Anhang zugeschlagen habe. Während die Angreifer mit Säbeln bewaffnet waren, so hatten die Überfallenen, die sich in ihrem Heim hoch vollkommen sicher fühlten, nur Sektflaschen und Sesselfüße zu ihrer Verteidigung zur Verfügung. Bald hernach wurde durch die Ortsbewohner von Mayerling folgendes bekannt: Am späten Nachmittag des 29. Jänner kam von Baden ein Fiakerschlitten, welchem beim dortigen Gasthaus zwei entstiegen, worauf das Fahrzeug wieder zurück nach Baden fuhr, worauf die beiden Unbekannten unbeachtet verschwanden, wo sie sich so lange in der Umgebung aufhielten, bis die kleine lustige Unterhaltung zu Ende war und niemand als Kronprinz, Vetsera und der Kammerdiener Loschek im Schlösschen war, denn Graf Hoyos, Prinz Korbug, Leibjäger Vodicka und Fiaker Bratfisch schliefen in der nahe gelegenen Leinningschen Villa. Kammerdiener Loschek hatte sein Schlafgemach in unmittelbarer Nähe von Kronprinz seinem Schlafzimmer. Jetzt, da das Gelage zu Ende war und alles schlief, wurde von den beide abends zuvor angekommenen Fremden das Fenster eingeschlagen und daselbst Seite 4 in das Schlafzimmer eingestiegen, wo dann die furchtbare Schlägerei begann, welche den entsetzlichen Ausgang nahm. Es ist bis heute unerklärlich geblieben und wird es auch bleiben, wieso der in nächster Nähe des kronprinzlichen Schlafgemaches, wo das Gemetzel stattfand, der schlafende Kammerdiener Loschek nichts gehört haben soll? Er erklärte auf wiederholtes Befragen, fest geschlafen zu haben, daher von dem Lärm, der sich dabei abgespielt haben dürfte, nicht das geringste gehört zu haben. Nun soll, wie ich damals erfuhr, Graf Hoyos mit dem toten Kronprinzen im Fiaker nach Wien in die Hofburg gefahren sein, wo er diesen überbracht, während Prinz Koburg in Mayerling verblieb und dafür sorgte, daß kein Mensch von dem Vorgefallenen etwas erfahren oder gar Einsicht in das Schlafgemach, wo 254
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doch noch zwei Leichen und ein Schwerverwundeter lagen, wo aber trotz aller Vorsicht nicht gelang, die Sache geheim ui halten. Am 1. Februar kam bereits ein Geheimpolizist nach Alland, welcher den Eindruck eines simplen 4050 jährigen Mannes machte und die Verpflichtung zu haben schien, in öffentlichen Lokalen besonders in Gasthäusern zu forschen, was über die Affäre in Mayerling gesprochen wird und wenn er etwas Anstößiges höre, gebührend einzuschreiten und zu schweigen befehle. Im Postamt daselbst öffnete er abzusendende Briefe, las dieselben und wenn dieselben das Drama von Mayerling nicht berührten, verschloß er dieselben und übergab sie der Post zur Weiterbeförderung. Ich selbst habe ihn im Gasthof Jahn getroffen und beobachtet, wie er allein an einem Tisch bei einem Glas Bier saß, scheinbar eine Zeitung las und dabei unauffällig die Ohren spitzte um zu erlauschen, was von den Gästen gesprochen wird; natürlich nahm sich jeder Gast in acht, wein Wort über das Thema von Mayerling zu sprechen, obwohl es sonst Tagesgespräch war; Nur einmal u. zw. Sonntag den 10. Februar ereignete sich folgendes: Im Gasthof Jahn in Alland war unter den einheimischen Gästen auch ein Bauernknecht, welcher schon ein Glas zuviel getrunken hatte und die Bemerkung machte, daß er vor einigen Tagen spät nachts mit seinem Fuhrwerk durch Heiligenkreuz nach Alland nachhause gefahren sei und dabei zufällig gesehen habe, wie man um Mitternacht zwei Särge in den Friedhof trug, um sie geheim zu beerdigen; so etwas habe er noch nie gesehen .Der Detektiv, welcher diese Worte am Nebentisch hörte, gebot ihm sofort ganz energisch ruhig zu sein und solche Äusserungen nicht zu machen, das kümmere ihn einfach nichts. – Der Knecht aber, im vollen Recht seiner Sache, ließ sich nicht einschüchtern und wiederholte ganz ungeniert, bestimmt habe er so etwas noch nie gesehen und gehört, daß man Leichen in aller Stille um Mitternacht beerdigt. Obwohl der Detektiv ihm fortwährend Ruhe gebot und überdies schweigen, so ließ sich dieser umsoweniger einschüchtern und wiederholte immer wieder seine gemachten Beobachtungen um Mitternacht in Heiligenkreuz. Schließlich mußte der Detektiv einsehen, daß der Mann in seinem Rechte sei d.h. nur sagte was er gesehen habe, und forderte ihn nicht mehr zum Schweigen auf, worauf sich die Debatte allmählich auflöste und sich die erregten Gemüter beruhigten. Nun wird man fragen: wer waren die zwei misteriösen Leichen, welche man zu so einer ungewohnten Zeit beerdigte? Nun einfach: Maria Vetsera und Graf Baldacy.Seite 5 volle Bestätigung durch den nach Klausenleopoldsdorf zurückkehrenden Gendarmen, welcher mir, nachdem ich mit ihm sehr gut befreundet war, unter ehrenwörtlicher Verschwiegenheit erzählte, was er in dem Mordzimmer gesehen hatte, wo auch neben Kronprinz der je bereits von Graf Hoyos wie bereits erwähnt, sofort nach seiner Auffindung nach Wien fortgeschafft worden war, die übrigen Toten und der schwer verwundete Herzog v. Braganza lagen, während die beiden Toten, wie bereits erwähnt, um Mitternacht in aller Stille in Heiligenkreuz begraben wurden, verblieb der schwer verwundete Braganza nach vierzehn Tage bis er selber transportfähig war, in Mayerling liegen, wo er dann unbekannten Orts weggeschafft wurde, wo er auch für immer verschollen blieb.—
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Diese Schilderungen, welche ich jetzt durch den wieder zurückgekehrten Gendarmen erfuhr, waren noch ausführlicher als jene, welche ich vorher vernahm und konnte mir eine Vorstellung machen von dem fürchterlichen Chaos, welches in dem Schlafzimmer geherrscht haben musste, als man es auffand. Ich bewahrte auch die strengste Verschwiegenheit über die discrete Mitteilung des vorerwähnten Gendarmen bis zum Abschluß unserer Monarchie d.i. 11. November 1918 und erzählte erst dann die mir geschilderten Begebenheiten wieder weiter. Dies sind die einzig wahren Begebenheiten der letzten Tage des Thronfolgers Kronprinz Rudolf. Alle anderen in den Tagesblättern veröffentlichten sensationellen Nachrichten über die Todesursache werden in jeder Zeitung anders geschildert und können schon deshalb nicht glaubwürdig sein. Was die in den Gemächern der Wiener Hofburg vor dem Tode des Thronfolgers zwischen diesem und seinem Vater Kaiser Franz Josef bekannt gewordenen Besprechungen und Zerwürfnisse anlangt, stehe ich diesem Geschwätz deshalb misstrauische gegenüber, da doch kein Fremder bei solchen discreten familiären Abhandlungen, wie selben in den kaiserlichen Gemächern geführt sein sollten, zugegen sein kann und darf, wo man glauben könnte, daß die Öffentlichkeit d.h. das allgemeine Publikum hiervon Kenntnis erhalte. War doch das Liebesverhältnis zwischen Kronprinz Rudolf und Vetsera hier vollkommen unbekannt und dürfte nur Kammerdiener Loschek und Bratfisch, mit welchen er sehr vertraut war, hiervon Kenntnis gehabt haben. Ich will nun noch eine kleine Schilderung von Kronprinz Rudolfs Privatleben, soweit ich eben genaue Kenntnis erlangt habe, folgen lassen: Seite 6 Wenn ich es frei und rückhaltlos sagen soll, so erfreute sich Kronprinz Rudolf bei der h.o. Bevölkerung keiner besonderen Beliebtheit u. zw. Infolge der Jagd, indem er das Hochwild übermäßig hegte und zuwenig abgeschossen wurde, sich infolgedessen sehr stark vermehrte, infolgedessen in den Feldern wie auch im Walde großen Schaden anrichtete, welcher mitunter gar nicht oder nur mit einem lächerlich geringen Betrag der bäuerlichen Bevölkerung vergütet wurde. Die Wildschaden-Erhebungen wurden lediglich vom Jagdleiter dem k.k. Forstmeister Horsteiner in Alland vorgenommen, welcher eben, um dem Kronprinz zu gefallen, so schamhaft bei der Schadens-Abschätzung vorging, was eben die Missstimmung bei der Bevölkerung verursachte. Das Forstpersonal war ihm nicht gewogen, da er wohl ein guter Schütze, dafür aber kein guter Jäger war, d.h. er hat gut geschossen, hat aber von der Jagd wenig oder gar nichts verstanden sonst würde er oft nicht so lächerliche Forderungen an dem ihn bei Pürschgängen begleitenden Förster gestellt haben, worüber er nur nachher ausgelacht wurde. – Es ärgerte ihn z.B. schon, wenn bei Treibjagden ein von ihm eingeladener Gastschütze ein Stück Hochwild früher erlegte, als er, da er einfach nicht zu Schuss kam – oder wenn seine Gäste zusammen mehr Wild erlegten, als er allein – oder wenn ein starker Hirsch nicht von ihm , sondern von einem Gastschützen erlegt wurde. Da war an einem solchen Tag schon alles froh, wenn die Jagd zu Ende war. Was nun sein Familienleben anbelangt, so dürfte dieses nicht besonders rosig gewesen sein, denn bevor Kronprinz Rudolf das kleine Schlösschen in Mayerling erwarb, wo er auf tragische Weise sein Leben lassen musste, wohnte er mit seiner Frau Stephanie in Alland in einem leer stehenden ärarischen Forsthaus. Diese saß, wenn sie hier war, gerne vor dem Hause in dem dort befindlichen kleinen Garten, so sie sich mit Lesen 256
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oder kleinen Handarbeiten die Zeit vertrieb, von wo man sie von der nebenan vorbeiführenden Straße und den gegenüberliegenden Häusern leicht beobachten konnte. Da hatten nun die Bewohner der Nachbarhäuser öfters Gelegenheit, aus der Wohnung des Kronprinzen erst heftigen Streit, dann weibliches Jammern und Schreien zu hören, worauf sich dann die Kronprinzessin durch mehrere Tage im Garten nicht sehen ließ und dann nach einer solch einer häuslichen Szene man deutlich im Gesicht die Striemen von den erhaltenen Schlägen sehen konnte, welche wohl, wie die Zuhörer behaupten, durch Eifersucht hervorgerufen worden sind, obzwar derzeit das Liebesverhältnis mit Vetsera noch nicht bestanden haben dürfte; dieselbe überhaupt bis zu seinem Tode unbekannt war. Ich will noch erwähnen, daß die ganze Bevölkerung aus Mayerling, Alland, Klausenleopoldsdorf u.s.w., wo Kronprinz Rudolf allgemein bekannt war, über das plötzliche Ableben sehr erstaunt und über die furchtbare Todesursache sehr aufgeregt war, aber niemand besonders Leid um ihn getan hat. Wir, nämlich das k.k. Forstpersonal, erhielten gleich nach seinem Tode von der k.k. Forst- u. Domänen Direktion in Wien auf Weisung des k.k. Ackerbau-Ministeriums, den Auftrag, das Hochwild, welches eben so viel Schaden in der Landwirtschaft auf den Äckern, Wiesen u. Gärten, wie auch in der Forstwirtschaft durch Verbiß der jungen Pflanzen u. Schälen der Stangenhölzer anrichtete, abzuschießen, welchem Auftrag wir auch prompt befolgten und die Bevölkerung damit von einer großen Plage befreit wurde. Bratfisch der Leibfiaker des Kronprinzen Rudolf, welcher selben bei all seinen intimen Unterhaltungen begleiten musste und auch bei dem Champagner-Gelage in der verhängnisvollen Nacht zur lustigen Unterhaltung beitrug, erhielt vom Kaiser Franz Josef zwei schöne Zinshäuser am Franz Josef Quai in Wien, als Schweigegeld unter der eidlichen Verpflichtung Seite 7 nie in seinem Leben etwas von oder über Kronprinz Rudolf auszuschwätzen was dessen Ansehen, seine Autorität schädigen könnte. An Stelle des einstigen Jagdschlösschens wurde von Kaiser Franz Josef das gegenwärtige KarmeliterKloster gestiftet u. zw. Befindet sich die Kapelle an der Stelle, wo sich das ehemalige Schlafgemach des Thronfolgers befunden hat, wo such die eben geschilderten Greueltaten zugetragen haben. Die Ursache, daß die beiden Kavaliere Baldacy und Braganza zum Mörder des Kronprinzen und der Marie Vetsera wurden, soll Eifersucht gewesen sein. Ich schließe nun mit den Mitteilungen über das Leben und Sterben des Thronfolgers Kronprinz Rudolf, so weit ich Kenntnis davon habe mir dem bemerken, daß dieselben vollkommen der Wahrheit entsprechen, hingegen sämtliche Zeitungsberichte, welche ich gelesen habe und von seinem „selbstmörderischen“ Tod faseln, in den Papierkorb gehören. St. Christofen bei Neulenkbach-Mark 1943 Mauritz Löffler, m.p. Für die richtige Abschrift des bei mir befindlichen Original-Berichtes: Wien, am 5. Jänner 1953 Regierungsrat, em. Archivar im Bundeskanzleramt-Kriegsarchiv, Besitzer eines Kronprinz Rudolf-Archivs und Museums.“ 257
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Nach 54 Jahren scheint sich Mauritz Löffler noch sehr gut an die Jagden mit dem Kronprinzen zu erinnern. Ob er alles, was er berichtet, mit eigenen Augen sah bzw. selbst erlebte, bleibt fraglich, denn bereits in der Einleitung weist er darauf hin, dass seit dem Sturz der Monarchie im Jahre 1918 vielfach über das Drama von Mayerling berichtet wurde. So ist es wahrscheinlich, dass selbst Erlebtes mit Angelesenem vermischt wurde.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 7 Denkschriften und Erinnerungen 5. Angehörige von Tatortzeugen berichten
„Vorstehendes habe ich der Wahrheit gemäß nach bestem Erinnern angegeben..“ Marie Rosensteiner Baden, 22.08.1954
Dieses Kapitel wird sich mit den Erinnerungen von Menschen befassen, deren Angehörige als so zu nennende „Tatortzeugen“ in Mayerling waren und den Ort des Geschehens – oder aber auch Handlungen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod des Kronprinzen und der Baroness – sahen. Die nachfolgenden Protokolle wurden von dem Rudolf-Forscher Prof. Hermann Zerzawy verfasst. Wir bringen an dieser Stelle viele der Protokolle erstmals im Wortlaut und weitgehend in der originalen Schreibwiese mit allen Anmerkungen des Autoren1508. Zunächst die Erinnerungen der Marie Rosensteiner, der Gattin des Badener Fiakerunternehmers Leopold III. Rosensteiner. Nach der Erinnerung fuhr dieser zusammen mit seinem Bruder Josef am 29. Januar 1889 Jagdgäste des Kronprinzen – also Hoyos und Coburg – nach Mayerling und sah – als er Coburg am Morgen des 30. Januar vom Badener Bahnhof ins Schloss fuhr – dort eine eingeschlagene Tür. Zunächst der von Zerzawy erfasste Text: „Gedenkschrift. Über die Beziehungen der Badener Fiakerfamilie Rosensteiner zu Mayerling 1889 und vorher; sowie zum Kaiserhause. Ich heiße Marie Rosensteiner geb. Fischer und wurde am 23/8. 1873 in Baden (Leesdorf, Hintergasse 21 (jetzt Göschlgasse 21) geboren. Dort wohne ich jetzt noch. Mein Mann Leopold III. Rosensteiner, Fiaker, ist am 2/5. 1870 in Baden geboren. Auch sein Vater, Leopold II. Rosensteiner, geb. 10/9 1833 Weikersdorf, war Fiaker in Baden, und dessen Vater Leopold I. Rosensteiner Fuhrwerker in Wien. Als der Kronprinz Rudolf (29/1 1889) starb, war ich 16 Jahre, mein späterer Mann Leopold III. Rosensteiner 19 Jahre alt.
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Einige der Aufzeichnungen hat Gruber, Prof. Clemens M. in seinem Buch „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 bereits in Zitaten bzw. ganz publiziert, jedoch ohne jeweils auf Zerzawy als Autoren hinzuweisen. Die Kopien der Originalberichte stellte uns freundlicher Weise Prof. Clemens M. Gruber, Wien, zur Verfügung. 259
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Sein Vater Leopold II. Rosensteiner führte den größten Teil seines Lebens die nach Baden und ins Helenental kommenden Mitglieder der kaiserlichen Familie und deren Gäste, u.a. z.B. die Erzherzoge Rainer (Weilburg), Eugen, Wilhelm, Kpr. Rudolf, und Kaiser Franz Josef. Von Gästen z.B. Graf Hoyos, etc. Viele Fahrten gingen nach Alland und Mayerling. Seine beiden ältesten Söhne Leopold III. (mein späterer Mann) und dessen Bruder Josef halfen als Fiaker fleißig mit. Am 29.Jänner 1889 führten die beiden Brüder Jagdgäste in zwei Wägen nach Mayerling, wo Kronprinz Rudolf in Pantoffeln herausgekommen und die Gäste begrüßt und dann mit den zwei Brüdern Rosensteiner gesprochen habe. Der Kronprinz hielt ein Tüchlein vor dem Mund und war offenbar verkühlt. Da bemerkten die beiden, daß sich der Fenstervorhang verschob und eine junge Frau einen Augenblick herausschaute. Seite 2 Am Tag nach der Mayerling Affäre (30. Jänner 1889) in der Früh führte mein Mann den Grafen Hoyos von Baden in seinem Wagen nach Mayerling (Anmerkung am linken Rande „wohl Coburg, nicht Hoyos!“). Als mein Mann gleichzeitig mit dem Grafen Hoyos das Schloss betrat und nach ihm in den Gang schritt, sah er plötzlich eine eingeschlagene Tür. Daraufhin wurde er plötzlich vom Grafen zurückgewiesen und dieser rief: „Um Gottes Willen, Rosensteiner, gehen Sie fort! Wenn Sie hier jemand sieht!“ Vorstehendes habe ich der Wahrheit gemäß nach bestem Erinnern angegeben. Baden/bei Wien, Sonntag den 22. August 1954 Göschlgasse 21 Marie Rosensteiner geb. Fischer als Ehefrau des Leopold Rosensteiner Augusta Rosensteiner als Tochter des Leopold Rosensteiner1509“ Wir sind der Meinung, dass der Bericht – 65 Jahre nach den Ereignissen mit der damals 81-jährigen Marie Rosensteiner aufgenommen – nicht vollkommen falsch sein kann. Die Rosensteiner waren tatsächlich als Fuhrleute in Baden tätig und kutschierten bevorzugt Mitglieder des Kaiserhauses. So kann es tatsächlich sein, dass die Brüder Leopold III. und Josef am 29. Januar den Grafen Hoyos und Prinz Coburg von der Bahnstation in Baden nach Mayerling brachten. Tatsächlich irrt die Rosensteiner aber, wenn ihr späterer Mann am 30. Januar den Grafen Hoyos von Baden ins Schloss gefahren haben soll – dieser hatte ja die Nacht vor Ort verbracht und nur Prinz Coburg war zum Familiendinner über Nacht nach Wien gereist. Dass der Fiaker – gewöhnlich dürften die Wagen auf dem Wendeplatz vor dem Osttor gehalten haben – das Schloss betrat und die eingeschlagene Tür zum Schlafzimmer des Kronprinzen gesehen haben soll, scheint uns mehr als unwahrscheinlich, so dass an dieser Stelle Abstriche beim Wahrheitsgehalt der Aussage gemacht werden müssen. Ein bereits öfters zitiertes Protokoll ist jenes, das Zerzawy mit Antonia Konhäuser, der Tochter des Kutschers Josef Bratfisch, aufgenommen hat1510: „Denkschrift. Ich unterfertigte Frau Antonia Konhäuser, Tochter des Fiaker-Eigenthümers und Hausbesitzers Josef Bratfisch, jetzt wohnhaft Wien XVII, Dornbacherstraße 19 parterre, (geb. 30/3 1871 Wien XIV, Pfarre Reindorf, 1509
Handschriftlich – jedoch nicht von Frau Rosensteiner, wie der Vergleich zur Unterschrift zeigt. Schrift ist identisch zum später zitierten Vasak-Protokoll. 1510 Dieser Text auch in Gruber, Prof. Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989. Wir haben ihn hier in der Schreibweise von Gruber übernommen, ohne auf das Original zurück greifen zu können. 260
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im selben Jahr wie Mary Vetsera), teile, gänzlich unbeeinflusst und der reinen Wahrheit entsprechend, folgendes mit: 1. Mein Vater Josef Bratfisch (geb. 26/8 1847, Wien VII Apollogasse 8, Pfarre Schottenfeld, gest. 16/12 1892 im eigenen Haus Wien XVII, Lacknergasse 8, 45 Jahre alt, begraben am Hernalser Friedhof) war etwa 3 Jahre Leibfiaker des Kronprinzen Rudolf. 2. Damals wohnten meine Eltern und ich in Wien VIII, Laudongasse 52, parterre rechts. In dieser Wohnung hat uns Kpr. Rudolf zweimal im Herbst 1888 in Begleitung von Frl. Mitzi Kaspar besucht. Er kam eigens zur Jause, um des `garnierten Liptauers´ willen, den meine Mutter seiner Meinung nach ausgezeichnet anzurichten verstand und den er bei Hof nie derart bekam. Dazu wurde Bier und etwas Wein getrunken. Am Tische saßen noch meine Eltern und ich selbst, damals 17 Jahre alt. Der Kronprinz war sehr legère, versank aber wiederholt in tiefen Ernst, so daß seine Freundin – ich erinnere mich genau, ihm mahnend sagte: „Kaiserliche Hoheit nehmen die Sachen viel zu tragisch“; worauf der Kronprinz wieder lächelte. 3. Mitzi Kaspar, damals etwa 25 Jahre alt, war groß, schlank, dunkler Teint, sehr hübsch und sympathisch, war auch sehr nett zu unserer Familie. 4. Beim 1. Besuch brachte der Kronprinz meinem Vater, den er sehr schätzte, auch wegen seines Schönheitsund Kunstsinnes, ein Paar kostbare silbereingelegte Pistolen zur Bereicherung des von meinem Vater gesammelten Museums von Waffen, Jagdtrophäen, antiken Bildern (Aquarellen) etc. auch ein heil. Johannes (Holzschnitzerei) war dabei, ein seltenes Stück, das der Kronprinz sehr bewunderte. 5. Der Kronprinz war groß, schlank, trug Zivil, mit einem weichen Hut. Er sprach mit hoher Stimme, hatte prachtvolle Zähne und war äußerst lieb zu uns. Auch wir verehrten und liebten ihn sehr. 6. Bekannt wurde mein Vater mit Kronprinz Rudolf etwa 1866 im Schloß Orth durch seinen Freund Hans Schrammel, gelegentlich einer Hofjagd. Dort spielten des öfteren die Schrammeln, die meinen Vater als vorzüglichen Volkssänger gut kannten. Er sollte für den Kronprinzen als Überraschung dienen, die auch gelang. Der Kronprinz war über den Gesang und die bescheidene Natürlichkeit meines Vaters begeistert. Und als er überdies erfuhr, dieser sei Fiaker, zog er ihn bald in seine Nähe, besonders als er auch als er seine Verschwiegenheit kennen und schätzen lernte. So wurde mein Vater sein Leibfiaker, während Prechtel sein Leibkutscher bei Hof blieb. 7. Über diese Fahrten, mit Ausnahme der letzten, hat mein Vater nie gesprochen, ebenso wenig über die näheren Umstände in Mayerling. Er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen und alle in- und ausländischen reichen Geldangebote abgelehnt. 8. Die letzte Fahrt mit dem Kronprinzen ging am 29. Jänner 1889 in Vaters Wagen über Mauer und Roter Stadl nach Mayerling. Es war ein strenger Winter mit tiefem Schnee, die Räder blieben wiederholt stecken, so da0 der Kronprinz und der Vater wiederholt aussteigen und den Wagen schieben mussten. Dabei erhitzte sich und verkühlte sich der Kronprinz sehr arg, so daß er, wie bekannt, dann in Mayerling an der Jagd nicht teilnehmen konnte. 9. Als dann die Schreckensnachricht über die Katastrophe von Mayerling die ganze Welt durcheilte, blieb mein Vater 4 Tage lang verschollen. Ganz verstört kehrte er heim, sprach aber über die eigentliche Affäre kein Wort. Nur etwas brachte er mit: eine kleine goldene Damenuhr mit Brillanten, mit perlenbesetzter Sportkette mit anhängendem Goldring. Diese hatte ihm die Baronin Vetsera Mary im Jagdschloß Mayer-
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ling bei seinem Abgang mit den Worten geschenkt: „Nehmen Sie das zum Andenken, es ist ohnehin das letzte Mal.“ 10. Bei meinem Vater erschien dann eines Tages Graf Georg Stockach, Marys Onkel, mit der dringenden Bitte, ihm die Uhr für Marys Mutter (gegen eine ansehnliche Ablöse) zu überlassen. Zögern entsprach dem mein Vater. 11. Bald erschien auch der Obersthofmeister des Kaisers, Fürst Montenuovo. Sehr energisch sagte er meinem Vater: „Sie müssen fort von Wien.“ Darauf erwiderte dieser: „Mein Ehrenwort gilt auch soviel, wie das eines Kaisers.“ 12. Mein Vater ist dann in Wien, 45 Jahre alt, an Luftröhren-Entartung (Krebs) gestorben und wurde am Hernalser Friedhof, Gruppe K. N. 130, begraben. 13. Sein Ehrenwort, zu schweigen, hat er bis zu seinem Tode gehalten, selbst seiner Familie gegenüber. Vorstehende schlichte Wiedergabe meiner Jugenderinnerungen entspricht der vollen Wahrheit. Wien, Donnerstag, 18. April 1957. Als Zeugen für die Richtigkeit: Konhäuser, Antonia, Tochter des Josef Bratfisch, Leibfiakers des Kronprinzen Rudolf Hermine Konhäuser, Schwägerin d. Antonie Konhäuser Und Dr. Hermann Zerzawy, em. Regierungsrat und Archivar im Bundeskanzleramt“. Diese Erinnerungen der Tochter von Rudolfs Kutscher, im Jahre 1957 bereits 86 Jahre alt, zeugen von der äußersten Loyalität der Familie Bratfisch dem Kronprinzen gegenüber. Ebenso wie der Fiaker selbst lässt sich seine Tochter auf keine Spekulation ein und gibt sachlich Details zu Protokoll, die das Bild ihres Vaters festigen und keinen Raum für Gerüchte bieten. Hintergrund dürfte das Bemühe der Tochter sein, ihren oftmals in der Öffentlichkeit angegriffenen Vater (Verräter, Flüchtling, Trinker) zu rehabilitieren und das Bild eines loyalen Freundes zu zeichnen. Nun veröffentlichen wir den Wortlaut einer Erklärung der Tochter des Kammerdieners Karl Nehammer, der nicht in Mayerling weilte, da er krank in seiner Wohnung lag1511. In dem Text heißt es: „Erklärung. Als Tochter des Herrn Karl Nehammer (+ 17/2. 1907 Wien) k.k. Kammerdiener und Vertrauensmann weiland des Kronprinzen Rudolf gebe ich im Besitz meiner vollen Geisteskräfte eidesstattlich folgende Erklärung ab: Zur Zeit der Kronprinzen Katastrophe lag mein Vater (ab 13. Jänner 1889) mehrere Wochen hindurch krank in unserer Wohnung, damals Wien VII. Lerchenfelderstraße Nr. 63 II 17 (Notiz Zerzawy: „bis 1892!“) Der Kronprinz, der meinen Vater sehr schätzte und den er trotz dessen Hochbetagtheit nicht in Pension gehen ließ, ließ an dem historischen 29. Jänner (Notiz Gruber: „richtig: 28.1.“), an dem der Kronprinz dann nach Mayerling zur Jagd fuhr, in der Wiener Hofburg seinen Hausdiener ..... Krause rufen und sagte ihm (wie dieser uns am gleichen tage berichtete) folgendes: „Wie geht es Nehammer?“ Krause antwortete: „Leider noch immer gleich.“ – „Drum gehen Sie“, antwortete der Kronprinz, „gleich nachmittags hin, damit ich, wenn ich von Mayerling zurückkomme, weiß, wie es ihm geht.“ Der Kronprinz kehrte nie mehr zurück. – Vorstehender Satz ist bedeutend und lässt keine Selbstmordabsicht erkennen. 1511
Dieser Text auch in Gruber, Prof. Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 262
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Aus allem, was mir anderweitig und im Zusammenhang mit obigen letzten Worten des Kronprinzen gegenüber Krause bekannt geworden ist, glaube ich fest daran, daß der Kronprinz nicht durch Selbstmord endigte. Dies erkläre ich nach bestem Wissen und Gewissen. Wien XXIV (Brunn) Maria Enzersdorf, Franz Josefstraße 64, am Gründonnerstag den 22. März 1951. Anna Deutsch geb. Nehammer1512 Die Richtigkeit der Unterschrift bezeugen: Dr. Hermann Zerzawy, Wien VII, Lerchenfelderstr. 63 III 19 Rob. Pachmann, Wien XVIII. Semperstraße 60 Name/Vorname (unleserlich) Mitbewohnerin der Frau Deutsch in Maria Enzersdorf, Franz Josefstraße 841513“ Die Erinnerungen der Anna Deutsch, Tochter des Kammerdieners Nehammer, zeigen recht deutlich, wie sehr Loyalität der Eltern auf das Verhalten ihrer Kinder abfärben kann. Der kronprinzliche Kammerdiener hat sich gewiss nicht vorstellen können, dass sein Herr – der Sohn des apostolischen Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn – selbst an sich Hand gelegt haben könnte und seinem Leben ein Ende bereitete. Diese Überzeugung wird auch in der Darstellung der Tochter sichtbar, die ohne eigene kritische Meinung oder irgendwelche Hinterfragung diese Haltung tradiert und zu ihrer Position werden lässt. Kommen wir nun zum „Erinnerungsblatt“ eines Försters, der vom Hörensagen Äußerungen des in Mayerling beschäftigten damaligen Jungjägers Ratschek von 1904 und ohne Quellenangabe des Tischlers Wolf berichtet. Hier erstmals vollständig die Niederschrift nach Hermann Zerzawy: „Abschrift. Eduard Stock1514, Stiftsförster des Stiftes Lilienfeld, Revier Hühnerberg Wohnhaft Baden b. Wien, Göschlgasse 7 Geb. 8.2.1888 Guntramsdorf Erinnerungsblatt Ich kam 1904 als Forsteleve in das zur Laxenburger Hofverwaltung gehörige Hofjagdrevier Wr. NeudorfBiedermannsdorf. Mein Vorgesetzter und Lehrherr war der k.u.k. Hofjäger I. Klasse Karl Ratschek, vermutlich stammend aus Mähren, gestorben in Herrnstein im Alter von etwa 80 Jahren. Seine Frau ist eine geborene Höfling aus Alland. Karl Ratschek muss schon als Jungjäger und Hundeführer zum Kronprinz Rudolf, vermutlich nach Alland gekommen sein, wo der Kronprinz, sogar mit Stephanie, im Forsthaus wohnte, bevor er vom Stift Heiligenkreuz Mayerling gekauft hat.
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Notiz Zerzawy: „Über Karl Nehmammer: siehe Mitis / 267, 270 und HH und Staatsarchiv Wien, Karton 13 Kronprinz Rudolfakten“ 1513 Handschriftlich – jedoch nicht von Anna Deutsch, wie der Vergleich zur Unterschrift zeigt – auf einem Briefbogen A4 mit Stempel oben links „Anna Deutsch Wien XXIV, Ma. Enzersdorf, Franz-Josef-Straße 64“ 1514 Stock, Eduard, geb. 08.07.1888 in Guntramsdorf 263
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Mit Karl Tascheks Sohn, Josef Ratschek, machte ich gleichzeitig bei seinem Vater die Forst- und Jagdpraxis und zusammen in Wien in der Hochschule für Bodenkultur VIII Laudongasse im Jahre 1917 die „Staatsprüfung“ für den Forstschutz und techn. Hilfsdienst. Bezüglich „Mayerling“ kann ich folgendes erzählen: Gelegentlich einer Hofjagd 1904 in Münchendorf, bei der Erzherzog Franz Ferdinand, Graf Khielmannsegg etc. anwesend waren und wobei die ganze Hofjägerschaft der umliegenden (gepachteten) Hofjagdreviere herangezogen war, u.a. Karl Ratschek und ich als Forsteleve, fand eine Jägerjause statt. Im gemütlichen Teil wurden im Kreise der alten Hofjäger u.a. Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf erzählt. Ein Förster namens Rudler berichtete über seine vielen Marderabschüsse mit dem Kronprinzen Rudolf im grünen Lusthaus in Laxenburg. Seite 2 Karl Ratschek als Zuhörer meinte Dazu: „Das Alles hat ihm doch nichts genützt. Mit einem Hieb war er erledigt.“ Weiters sagte er kein Wort mehr. Vielleicht selbst etwas erschrocken, dass er schon zuviel gesagt hatte. Ich hörte diese Worte als unmittelbarer Nachbar auf der Weise, erinnere mich auf jedes einzelne Wort und könnte das Gehörte jederzeit beeiden. Ich diente 1907-1910 beim k.u.k. I.R. 4 (Deutschmeister) 4. Baon in Kojica in der Herzegowina. Dort sah ich während der Manöver an mehreren Orten Gedenksteine mit der Aufschrift „Zur Erinnerung an Kronprinz Rudolf.“ Er muss also wiederholt unten gewesen sein. Der spätere Forstinspektor beim Stift Heiligenkreuz Josef Weiss, mein Prüfungskommissär bei der Staatsprüfung in Wien, war zur Zeit der Mayerling Katastrophe Forstbediensteter in Raisenmarkt südlich von Mayerling. Im Gasthaus in Mayerling kam immer eine Gesangsrunde und Kartenpartie zusammen. In der Katastrophennacht (29.30.1.1889) um Mitternacht kam angeblich der Allander Tischlermeister Wolf in das Gasthaus und sagte: „Jetzt muass i no schnell a Totentruch´n machen für Heiligenkreuz.“ Das erzählte mir Forstinspektor Weiss etwa 1920 in Mayerling 2tes Schlössel, woselbst er wohnte. In der christl. Zeitung „Der Pilger“ Jg. 1888 bis 1890 stand über die Mayerlinger Affäre das ärztliche Parere des Leibarztes des Kaisers: „Zertrümmerung der Schädeldecke“. Diese meine vorstehenden Mitteilungen entsprechen der vollen Wahrheit. Baden bei Wien am Sonntag den 22. August 1954 Eduard Stock Stiftsförster Des Zisterzienserstiftes Lilienfeld1515“ Der im klösterlichen Dienst beim Zisterzienserstift Lilienfeld stehende Eduard Stock berichtet kaum Neues – er bestätigt lediglich, dass Karl Ratschek für den Kronprinzen tätig war und dass es in Mayerling die Erzählung des Tischlers Wolf gab, er müsse einen Sarg für Heiligenkreuz zimmern. Letzteres ist nicht richtig, denn dies wurde durch den Zimmerer des Stiftes Heiligenkreuz erledigt. Die 50 Jahre nach der Unterredung mit ihm wiedergegebenen Aussagen des Försters Ratschek erfolgten auch bereits 15 Jahre nach dem Vorfall in Mayerling, so dass auch diese Aussa1515
Maschinenschriftlich auf einem Briefbogen A4 ; ohne Unterschrift oder Anstreichungen. 264
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gen nicht unbedingt als Quelle eines Zeitzeugen gewertet werden können. Stock sieht jedoch in der Äußerung Ratscheks die Bestätigung dessen, was die amtliche Wiener Zeitung nach dem Tod des Kronprinzen vermeldet hatte – „Zertrümmerung der Schädeldecke“. Stock glaubt jedoch nicht an den damals gemeldeten Selbstmord, sondern führt den zerstörten Schädel auf einen Raufhandel zurück, denn Ratschek bemerkte ja, dass der Kronprinz „mit einem Hieb“ erledigt worden wäre. Kommen wir nun zu den Erinnerungen der Hildegard Gruber, geborene Beretits, einer in Mayerling Nr. 15 lebenden Frau. Ihr Vater war fast 40 Jahre als Lehrer in Oberwaltersdorf tätig und Nachbar des pensionierten Johann Loschek, den er gut kannte. Aus einer Bemerkung des einstigen Saaltürhüters leitet sie ab, dass der Doppelselbstmord nicht den Tatsachen entspräche. Hier zunächst der Text, den Zerzawy aufgenommen hat: „Mayerling, 25.8.1955. Denkschrift. Ich Hildegard Gruber geb. Beretits, Gattin des Oberf. Heinz Gruber i. P. wohnhaft in Mayerling 15, leiste über Ersuchen des Heimat und Kronprinz-Rudolf-Forschers Dr. Hermann Zerzawy aus Wien, aus den seinerzeitigen Mitteilungen meines am 22/10. 1921 in Oberwaltersdorf bei Wr. Neustadt verstorbenen Vaters, wahrheitsgemäß einen kleinen Beitrag zur sogenannten „Mayerling-Affaire“. Mein Vater war etwa von 1885 bis 1921 Schullehrer in Oberwaltersdorf. Neben dem Schulhaus lag das Wohnhaus des nach 1889 pensionierten Försters & Verwalters des Kronprinzen Rudolfs .......... (radiert) Loschek. Er war mit meinem Vater gut bekannt. Eines Tages, etwa im Jahre 1891, kam Loschek verängstigt ins Schulhaus gelaufen und raunte erregt meinem Vater zu: „Ich bitte Sie, Herr Lehrer, verstecken Sie mich schnell! Die Kronprinzessin Stephanie ist schon wieder von Laxenburg herübergeritten gekommen zu mir, um zu erfahren, wie es wirklich in Mayerling gewesen ist; und ich darf es doch nicht sagen! Darauf versteckte ihn mein Vater in einem Lehrmittelkasten. – Vorstehendes bezeugt in einwandfreier Weise, daß nicht einmal die Witwe des Kronprinzen (vielleicht nicht einmal das Kaiserpaar?) von den unter Eid genommenen Zeugen über die wahren Umstände des Kronprinzentodes (29.1.1889) Mayerling unterrichtet waren. Alle bisherigen & offiziellen und amtlichen Berichte über einen angeblichen einsamen Doppelselbstmord sind übereinstimmenden Nachrichten zufolge unrichtig. Warum hat man, wenn die offizielle Darstellung richtig war, die wirklichen Mitwisser alle vereidigt? Dies teile ich zur Steuer der Wahrheit mit. Hildegard Gruber geb. Beretits Oberförstergattin in Mayerling1516“ Die Schilderung der Oberförstergattin aus den Berichten ihres Vaters ist schon als „skurril“ einzustufen – der einstige Diener des Kronprinzen und Tatortzeuge Loschek soll sich in einem Lehrmittekasten vor der KronprinzessinWitwe Stephanie versteckt haben, um mit ihr nicht über Mayerling sprechen zu müssen. Daraus folgert die Toch-
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Handschriftlich auf einem Briefbogen A4 ; auf der Rückseite befindet sich ein maschinelles Anschreiben von Hermann Zerzawy an Frau Gruber, die er am 11.10.1952 bei einer Autobusfahrt kennen lernte, vom 10. Juni 1953. 265
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ter, weder die Gattin, noch die Eltern hätten tatsächlich gewusst, was in Mayerling geschehen sei. Dass „alle bisherigen und offiziellen und amtlichen Berichte über einen angeblichen einsamen Doppelselbstmord ... (nach) übereinstimmenden Nachrichten zufolge unrichtig“ seien, stellt Frau Gruber zwar in den Raum, erläutert oder untermauert diese These jedoch nicht. Und scheint die Flucht des Johann Loschek in einen Lehrmittelkasten als Fiktion. Zwei weitere Berichte fügt die Pächterin einer Expresso-Bar aus Baden bei Wien, Frau Isabella Vasak, der Liste hinzu. Die Frage, wann sie sich zu den Mayerling-Vorfällen geäußert habe, konnte die unter Vormundschaft lebende Frau im Jahre 1991 auf unsere Nachfrage leider nicht mehr beantworten. Das Zerzawy-Protokoll gibt Auskunft: es war am 21. August 1954: „Isabella Vasak, Inhaberin des Kaffee Expresso Baden b./W. Marchetsbrücke 23, Tel 25360 Denkschrift, betreffend Mitteilungen über die Katastrophe von Mayerling 1889, die mir von dortigen Einwohnern als Pächterin des Gasthauses „Zum alten Jagdschloss“ in Mayerling gemacht wurden u. zwar in den Jahren 1946 – 1953. 1.) Michael Kurzbauer1517, geb. 1870 (also 1889 etwa 19 Jahre alt), lebte die letzten Jahre im Greisenasyl Mayerling und starb dort am Gründonnerstag, 1952; Begraben in Alland, 82 Jahre alt. Wiederholt und immer wieder erzählte er mir, soweit er sie wüsste, Einzelheiten über die Mayerling Affäre von 1889 und machte mir den Eindruck vollster Glaubwürdigkeit. Er wohnte damals (1889) in Mayerling in einem der Häuser unweit des Schlosses. An dem betreffenden Abend (29. Jänner 1889) im strengsten Winter, an den er sich zurückerinnerte, war im Jagdschlösschen des Kronprinzen größere Gesellschaft, sehr laut. Auch war bis spät nachts Licht. Früh war dann das Schloss völlig abgesperrt und unzugänglich. Darum kamen die verschiedenen Gerüchte. Nach einem dieser Gerüchte soll eine schwere Rauferei gewesen sein und der Kronprinz mit einer Champagnerflasche erschlagen worden sein. Unter den Leuten wurde erzählt, daß am 29.1. die Vetsera angekommen sei, dann später am Nachmittag in einem Fiaker zwei Herren, Die andere Gesellschaft dürfte schon vor der Vetsera in Mayerling gewesen sein. Mutmaßlich wurde angegeben, daß einer von beiden Herren auch ums Leben gekommen sein soll. Auch wurde gesagt, daß nebst der Leiche der Vetsera, auch eine männliche (!) Leiche nach Heiligenkreuz weggeführt wurde. Das hat Herr Kurzbauer immer wieder betont. Man hat angenommen, daß es ein Baltazzi war. Seite 2 Von offizieller Seite wurde den Leuten dann gesagt, der Kronprinz hätte die Baronesse Vetsera und dann sich selbst erschossen. Das Schicksal des jungen Mädchens hatte immer besondere Teilnahme an ihrem Unglück erzeugt, u. zwar mehr als das des Kronprinzen, von dem die Einwohner erzählten, daß man vor ihm immer die schönen Dienstmädchen verstecken musste.
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2.) So besuchte ich mehrmals das Grab der Vetsera und brachte ihr jetzt ein Kerzchen zu Allerheiligen. Bei einem solchen Besuch sprach ich 1949 mit dem Totengräber von Heiligenkreuz. Er erzählte, daß, gleich anderen Grüften, auch jene der Baronesse 1945 von den Russen erbrochen und nach Schmuck durchsucht wurde. Beim Schließen der Gruft sah der Totengräber noch das erhalten gebliebene volle schöne Haar der Baronesse. Auf meine Frage, ob sie überhaupt dort ruht, bejahrte er dies. Auf meine weitere Frage, ob damals (30/1 1889) gleichzeitig am selben Friedhof noch eine 2. Bestattung stattgefunden habe, bejahte er dies ebenfalls. Es waren 2 Bestattungen nebeneinander, getrennt, an der Friedhofsmauer. Die Vetsera und eine männliche Leiche. Die Stelle ist dort, wo jetzt im großen Gemeinschaftsgrab aus dem letzten Krieg, mit den Leichen der ausländischen Zwangsarbeiter sich befindet. Es ist bekannt, daß die Mutter der Baronesse die Leiche ihrer Tochter – nach Überwindung großer Schwierigkeiten – exhumieren u. in eine Gruft am selben Friedhof beisetzen u. eine Friedhofskapelle errichten ließ. Ein Engelbild in letzterer soll ihre Tochter darstellen. Diese Angaben des Totengräbers dürften von seinem Vorgänger stammen. Vielleicht war es sein Vater. Baden bei Wien, Samstag den 21. August 1954.1518“ Die Erinnerungen der Frau Vasak bringen keine wirklichen Neuigkeiten. Der erste Teil ist lediglich die Wiedergabe einer Erzählung und eines darum rankenden Gerüchts – man kann jedoch davon ausgehen, dass sie es als Pächterin des heute unter dem Namen „Zum Alten Jagdschloss“ bekannten Gasthauses selbst gehört hat – und der zweite Teil ebenfalls nur eine Erzählung, die jedoch inhaltlich den ersten Teil unterstützt. Es scheint uns logisch, dass die Pächterin einer Schankstube in Mayerling viele Versionen des Dramas erfahren haben dürfte. Bei der Befragung durch Zerzawy gab sie jedoch nur zwei inhaltlich passende Geschichten zu Protokoll – wobei wir nicht sagen können, ob dies durch eine bewusste Fragestellung des Forschers geschah. Kommen wir nun zu dem ebenfalls sehr ausführlichen, handschriftlichen Protokoll des 1880 geborenen k.u.k. Rittmeisters und Malers Robert Baron von Doblhoff , der am 7. Juni 1960 in Wien verstarb. Seine Ausführungen untermauern im Kern die Aussage der Frau Vasak. Hier erstmals der Text in voller Länge: „Robert Baron Doblhoff (gest. 7/6 1960 Wien) Wien, den 30. August 1951. Lieber, verehrter Oberstleutn. Dr. Zerzawy! Sie baten mich Ihnen aufzuschreiben, was ich über den Kronprinz Rudolf und sein tragisches Ende in Erinnerung behalten habe, welcher Aufgabe ich mich hiermit, Ihnen zu gefallen, ferne unterziehe. Meine Zeilen sind Äußerungen meines Vaters der damals, als sich diese historischen Ereignisse zutrugen in Wien in einem Kreise lebte, in dem er Gelegenheit zur richtigen Orientierung zu seiner Verfügung hatte. In den 80-er Jahren, als Mary Vetsera nach ein Kind war, bewohnte sie mit ihrer Mutter, geborene Baltazzi, mehrerer Sommer eine
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Gruber gibt den Namen in seinem Buch „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 mit „Ernst Kurzbauer“ wieder und hat den von ihm nur teilweise zitierten Text auch inhaltlich modifiziert. 1518 Handschriftlich – jedoch nicht von Frau Vasak, wie der Vergleich zur Unterschrift zeigt – ohne Zusätze. Schrift ist identisch zum Rosensteiner-Protokoll. 267
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Wohnung in dem Schloße Tribuswinkel1519 bei Baden, das dem jüngeren Bruder meines Vaters, Rudolf, gehörte. Anläßlich einer geographischen Ausstellung, in der auch Bilder und Gegenstände aus Ostasien waren, welche mein Vater von seiner Reise nach Japan 1873-74 mitgebracht hatte. Als Mitglied der geogr. Gesellschaft, war er gebeten worden die Ausstellung zu eröffnen, Erzh. Rudolf zu führen und ihm Erklärungen zu geben. Als ich erwachsen war, erzählte mir mein Vater öfters, dass der Kronprinz an ihn solch naive, ja dumme Fragen richtete, dass er sich sagte: „Wenn mein Sohn (ich war damals 2 Jahre alt) später einmal solche Fragen stellen würde, wäre ich sehr unglücklich.“ Er machte auf ihn einen Eindruck von Intelligenz tief unter dem Durchschnitt. Kaiser Franz Josef, der seine vaterliebe ganz auf die jüngste Tochter Valerie conzentrierte, soll auch über diese mangelhafte Begabung seines einziSeite 2 gen Sohnes unglücklich gewesen sein, nicht nur über dessen haltungslose Lebensweise und Weigerung die ihm aus dynastischen Gründen bestimmte Braut, Prinzessin Stefanie von Belgien, zu heiraten. Als Rudolf zu seiner Verlobung nach Brüssel reiste, dies erzählte mir des Kaisers jüngerer Bruder Erzherzog Ludwig Victor beim Frühstück auf der Terasse des Schlosses Klessheim (1903), und nach den Feierlichkeiten Abschied genommen hatte, wollte Stefanie, seine Braut, ihn vor der Abfahrt seines Sonderzuges noch überraschen. Sie erschien unangemeldet mit ihrer Mutter, der Königin, einer geb. Erzherzogin von Österreich, am Bahnhof, ihm nochmals Adieu zu sagen. Zur peinlichen Überraschung der beiden hohen Frauen erblickten sie hinter den Spiegelscheiben des Salonwagens, in dem Rudolf bereits Platz genommen hatte, auch dessen Maitresse, eine Wiener Halbweltdame, die sich der Kronprinz zur Unterhaltung auf diese Reise mitgenommen hatte. Natürlich erfuhr Franz Josef diesen Skandal und war empört über diese Taktlosigkeit seines Sohnes. Frau Schratt schilderte mir die Gemütsverfassung des Kaisers, der die Befürchtung hatte, sein Sohn könne seinen Tod nicht erwarten, da erfürchte er werde weiss Gott wie alt werden als er auf den Thron kommen würde. Die Zügellosigkeit im Trinken und Rauchen (80 schwere ägyptische Zigaretten im Tag) wurde ihm von seinem Erzieher Graf Bombelles beigebracht, welcher, als entfernter Verwandter des Hauses Habsburg und Marineoffizier vom Erzherzog Karl Ludwig, Franz Josefs Bruder, empfohlen, es darauf anlegte Rudolf zugrunde zu richten, damit die Linie Karl Ludwig zur Thronfolge komme, wie es ja später tatsächlich geschah (Quelle: Oberstleutnant von Fritsche, der als unehel. Sohn des Herzogs von Seite 3 Württemberg und junger Leutnant dem Kronprinzen als Vergnügungs-Adjutant bis zu dessen Tod zugeteilt war). Er war es auch, der von Rudolf den Befehl erhalten hatte, der Wiener Ballettänzerin, mit der Rudolf die letzte Nacht vor seinem Tod zugebracht hatte, ein Couvert vom 8000.- fl. Inhalt, das er in seiner Schreibtischlade finden würde, zu überbringen. Fritsche führte diesen Auftrag auch aus und erzählte mir dieses Detail zwei Jahre vor seinem Tod. Die unerträgliche Ehe, in der Stefanie ihn seines Lebenswandels wegen ständig mit Vorwürfen überhäufte, wollte Rudolf durch Scheidung los werden unter dem Vorwand keinen männlichen Nachkommen zu haben und nicht wie es oft hieß, weil er die kleine Vetsera hätte heiraten wollen. Daran hat vielleicht sie und ihre Kupplerin, Rudolfs morganatische Cousine Gfn Larisch-Wallersee, aber er gewiß niemals gedacht. Aus ersterwähntem Grund schrieb Rudolf hinter dem Rücken seines Vaters an den Papst Leo 1519 Schloss Tribuswinkel, Traiskirchen (heute im Gemeindebesitz). 1877 erwarb der Bruder des Befragten, Rudolf Baron von Doblhoff, das Schloss Tribuswinkel. Zusätzlich zu seinen politischen Funktionen als Land- und Reichsratsabgeordneter wurde Doblhoff in Tribuswinkel Gemeinderat und später Bürgermeister. Dieses Amt bekleidete er bis zum Ersten Weltkrieg.
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XIII. um Lösung seiner Ehe, welche dieser jedoch ablehnte. Einige Monate vor seinem Tod ließ Rudolf seinen Spitzbart abrasieren und hatte zuletzt nur einen Schnurbart. Dies war die Folge einer Wette mit dem damals als Wohngast im Leopoldinischen Trakt der Hofburg zu Besuch weilenden Prinzen von Wales (Edward VII.), einem wüsten Lebemann und Spieler, dass derjenige, der zuerst von beiden bei einer Trinkerei unter den Tisch fallen würde sich des Spitzbartes entledigen müsse. Rudolf war der erste voll betrunkene. Mary Vetsera war Rudolf nur wenige Tage vor dem Ende auf der deutschen Botschaft vorgestellt worden. Seine Cousine Larisch, Protektionsnichte Kaiserin Elisabeths und bequeme Vermittlerin für Rudolf, dem sie natürlich Seite 4 als Zukunftskaiser Liebkind sein wollte, führte ihm Mary, die bildhübsch, ehrgeizig und erst 17 Jahre alt war, zu durch die eiserne Tür im Hofburgdurchgang beim Redoutensaal, die erst im vorigen Sommer zugemauert wurde, von wo sie ein Kammerdiener ungesehen in Rudolfs Wohnung im Schweizerhof geleiten konnte. Wenige Tage nach der ersten Begegnung fuhr Rudolf zur Jagd nach Mayerling in seinem Kutschierwagen. Gräfin Larisch scheint arrangiert zu haben, dass Mary von Rudolfs Fiaker Bratfisch ihm nachgeführt wurde, um ihm eine angenehme Überraschung zu bereiten. Fritsche versicherte mir, dass Rudolf gar nicht daran dachte aus dem Leben zu scheiden, sondern für die nächsten tage alles Mögliche vorgenommen hatte. In Mayerling verbarg Rudolf, vielleicht nicht so sehr über ihr Nachkommen erfreut, Mary in seinem Schlafzimmer, während er unten im Speisezimmer mit Josef Hoyos und dem Herzog von Coburg, seinem Schwager, supierte und, wie jeden Abend, übermäßig viel trank. Mary´s Ausbleiben versetzte ihre Mutter in große Angst. Gfn. Larisch, in die Enge getrieben, gestand wohin das Kind sich gegeben hatte, schob natürlich die Schuld auf den „Verführer“ Rudolf, was dieser gar nicht war, weil ihm das hübsche Mädchen ja zugeführt und geschickt worden war. Baronin Vetsera berief ihre Brüder Aristides und Henry Baltazzi, dieser Leutnant bei 9er Husaren und angeblich vorgesehener Bräutigam für Mary, deren Onkel er auch war. Er war außer sich und erklärte den Kronprinzen zur Rede stellen zu wollen, was Mary´s Mutter und Aristides, Gatte einer Gräfin Stockau, besorgt um ihre Stellung in der Gesellschaft, beide waren sehr snob, ihn auf keinen Fall zu tun beschworen, …iest durch Gräfin Larisch, deren Gewissen schwer Belastet war. Henry verließ jedoch die Familie und fuhr in seinem Fiaker sofort nach Mayerling, wo er abends während der Trinkerei, wozu Bratfisch pfeifen und singen mußte, eintraf und sich Eingang in das Speisezimmer erzwang. Er forderte die Herausgabe seiner Nichte um sie nachhause mitzunehmen. Der Kronprinz, jähzornig und beschwipst, Seite 5 leugnete zunächst Marys Anwesenheit in Mayerling. Es entwickelte sich ein heftiger Wortwechsel, da der Hausherr den Eindringling hinausjagen wollte. Dieser ließ sich nicht einschüchtern (Quelle: Ein Mitglied der Familie Dumba), worauf der Kronprinz einen Revolver aus der Tasche zog und auf Baltazzi, der vor der Tür stand, durch die er eingetreten war, mehrer Schüsse abgab. Henry B. wurde getroffen, ergriff die Champagnerflasche auf dem Tisch und zerschmetterte in Notwehr die Schädeldecke Rudolfs. Mary hatte, allein im Zimmer darüber, offenbar den Lärm des Streites vernommen und, in … Angst hinuntergeeilt um Frieden zu stiften, trat sie im Augenblick als Rudolf schoss durch die Tür hinter Henry ein. Sie wurde tödlich getroffen. Der damalige Haustischler von Mayerling mußte am folgenden Morgen die im Holz und der wand steckengebliebenen Revolverkugeln entfernen und die Löcher verkitten. Er war später in Baden, wo er dies erzählte. In
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einer Tramway Hotel Sacher-Bahnhof in Baden sprach ich später einmal mit einer Frau, die damals in Mayerling als Aufräumfrau bedienstet, das Speisezimmer in Ordnung bringen mußte. Sie erzählte mir, daß der Fußboden voll Blut und sogar am Plafond Blutspritzer und Gehirnteilchen von dem tödlichen Hieb mit der Champagnerflasche herrührend, ihr große Mühe bereiteten, um sie zum Verschwinden zu bringen. Henry Baltazzi, sehr schwer verwundet und transportunfähig, blieb sechs Wochen in Mayerling, wo er auf Befehl des Kaisers von Prof. Wiederhofer, der täglich aus Wien hinauskam, Seite 6 behandelt wurde. Das war dazumal in Baden bekannt. Später, nach Jahren, wurde Henry Baltazzi, verheiratet mit Baronin Scharschmid (er war nach der Mayerlingaffaire aus der Armee ausgetreten) Besitzer des Schlosses Leesdorf in Baden und dadurch nächster Nachbar meines Onkels in Tribuswinkel. Über sein Erlebnis in Mayerling hat er nie gesprochen, denn auch er war jedenfalls unter Eid zum Schweigen genötigt worden, wie alle Mitwisser, die tatsächlich ihren Eid bis zum Lebensende hielten. Die Selbstmordversion wurde als weniger anstößig erst einige tage nach dem Ereignis lanciert. Am Vormittag nach der Schreckensnacht ging mein Vater zufällig in dem Augenblick durch die Hofburg über den Franzensplatz (Burghof), als Graf Josef Hoyos vom Heldenplatz hereinfuhr und seinem Fiaker entstieg. Er sah bleich und verstört aus, was meinen Vater veranlasste auf ihn zuzugehen, ihn zu begrüßen und zu fragen was ihm fehle. Noch war niemand vereidet worden und die Nachricht nicht nach Wien gedrungen. Er sagte sehr bewegt: „Es ist etwas Furchtbares passiert, der Kronprinz ist todt, in einer Rauferei erschlagen worden. Ich soll Sr. Majestät davon in Kenntnis setzen. Ich habe den Triester Schnellzug in baden gerade zurecht erwischt, um ihn aufhalten zu lassen, um noch nach Wien zu kommen.“ Aus einem mir unbekannten Grunde wurde zuerst Frau von Ferenzi, die Vorleserin der Kaiserin zu rat gezogen, in deren Wohnung zufällig Frau Schratt zu einem Morgenbesuch anwesend war. Die beiden Damen begaben sich, sehr bestürzt, zur Kaiserin, die eben frisiert wurde und brachten ihr die Nachricht, die Hoyos mitgeteilt hatte, Seite 7 irgendwie, möglichst schonend bei. Zuerst wie versteinert von dem unerwarteten Schreck benahm sich Elisabeth, wie mir Frau Schratt (1923) selbst erzählte, heroisch. Sie begab sich allein in das Arbeitszimmer Franz Josephs, während die beiden Damen im Zimmer der Kaiserin zurückblieben, und brachte ihm selbst die Nachricht von dem Tod ihres Sohnes. Erst später brach sie dann unter dem Schlag seelisch zusammen. Sie wurde im Verlaufe der folgenden Jahre immer mehrt Sonderling und menschenscheu. Der Maler Franz von Pausinger, Jagdgefährte und des Kronprinzen Reisewerks-Illustrator (seine zahlreichen Bilder dazu hängen jetzt in der Bilder-Sammlung der Nationalbibliothek im neuen Trakt der Hofburg) wurde von Salzburg, seinem Domizil, berufen, um in der Hofkapelle eine Zeichnung des aufgebahrten Kronprinzen anzufertigen. Er war mit meinem Vater befreundet und erzählte ihm, daß er Gelegenheit hatte den Leichnahm aus allernächster Nähe zu betrachten und die Schädelverletzung, die mit Wachs überdeckt worden war, genau zu sehen. Es wäre unmöglich gewesen, daß sie, wie in der Selbstmordversion behauptet wurde, durch die Explosion in Folge eines Wasserschusses in den Mund entstanden wäre. Sie war sichtlich eine totale Zertrümmerung der Schädeldecke durch den Hieb mit einem breiten Gegenstand, wobei das Gesicht vom Augenbrauenbogen abwärts völlig unverletzt blieb. Ein Wasserschuss hätte vermutlich das ganze Gesicht zerrissen und nicht nur den oberen Seite 8
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Kopf. Es ist auch eine unerhörte Zumutung sich den Kronprinzen von Österreich vorstellen zu sollen, wie er neben seiner nackten 17jährigen geliebten im Nachthemd auf dem Bettrand sitzt, sein Jagdgewehr (das übrigens wahrscheinlich gar nicht ins einem Zimmer aufbewahrt wurde, sondern beim Büchsenspanner, der es doch zu betreuen und jeweils zu lasen hatte) zwischen den Knien, aus einer Flasche vom Waschtisch sorgfältig Wasser in den Lauf gießend (ohne Trichter), einen Stoppel darauf setzt (woher hätte er im Schlafzimmer gleich einen in den Lauf passenden Stoppel genommen) alles das um 8 h früh, bei tageslicht schon, um sich dann überlegt den Lauf in den Mund zu stecken und loszudrücken. Hätte er vorher die arme kleine Verführte, die bildhübsch neben ihm schlief, seelenruhig erschossen? Oder gar wenn sie noch wach war, wie hätte sich der Vorgang abgespielt? Es wurde auch behauptet, die Türe, die sonst immer offen blieb, wäre versperrt gewesen und mußte gewaltsam geöffnet werden auf Coburgs Initiative, der erst in der Früh hinausgekommen wäre. Dazu hätte er sein Palais in der Seilerstätte um 5 h früh bereits verlassen müssen, um um 8 h schon draußen zu sein. Und Hoyos erwähnte, dass Coburg abends mit ihm schon draußen war. Es wurde auch behauptet Gf. Hans Wilczek wäre dabei gewesen, worüber ich nichts weiss. Jedenfalls war Wilczek beim Kaiser nicht in Gnade, weil er als Dienstkämmerer der Kaiserin Eugenie diese anlässlich der Monarchen… in Salzburg bei Fürstenbrunn einen gefährlichen Steig benützen ließ und weil er dazu beigetragen hätte, daß der Kronprinz sich zu viel unterhielt. Es soll das Grund gewesen sein, weshalb Wilczek das ersehnte Gold. Vlies nicht bekam. Der Kaiser wollte ihn als „der Herr (Textverlust). Ich hoffe hiermit Ihrem Wunsch genügend Stoff geliefert zu haben. Mit besten Empfehlungen Ihr ergebener Robert Doblhoff.“ Zusatz auf eigenem Blatt „Ergänzend zu meiner früheren Mitteilung an Herrn Reg. R. Dr. Zerzawy und auf sein Ersuchen , möchte ich noch feststellen, was mir drei Jahre (1892) nach der Katastrophe von Mayerling, ich war damals circa 12 Jahre alt, durch die Erzählung des bekannten Jagdmalers Franz Ritter von Pausinger in dessen Atelier im Künstlerhaus in Salzburg im Gespräch mit meinem ihm befreundeten Vater anlässlich eines Besuches, als stummer Zuhörer zur Kenntnis kam. Pausinger erzählte, er sei nach dem Tod des Kronprinzen von Salzburg nach Wien berufen worden um eine Zeichnung des Aufgebahrten anzufertigen. Die Wahl fiel auf ihn weil er Rudolf nahe stand den er auf seinen Orient- und Jagdreisen als Illustrator begleitet hatte und auch sonst öfter sein Jagdgast war. Er zeichnete das Portrait in der Burgkapelle, ehe Besucher zugelassen wurden. So war es ihm möglich ganz nah an den offenen Sarg heranzutreten und sich davon zu überzeugen, dass die Schädeldecke des Toten in der Mitte zertrümmert war und die fehlenden Teile der von einem furchtbaren Hieb hervorgerufenen Wunde in kunstvoller Weise mit farbigem wach ergänzt und so nachmodelliert waren, daß dies in ganz geringer Entfernung schon nicht mehr erkennbar war. Zudem war der Kopf durch eine weiße Binde umhüllt. Auch andere denen dies aufgefallen war, wurden durch die Erklärung abgespeist, der Kronprinz habe sich durch einen sogenannten Wasserschuss aus seinem Jagdgewehr erschossen, dass durch die explosive Wirkung dieses Schusses die Wunde entstanden wäre. Dagegen spricht schon allein der Umstand, dass Jagdherren ihre Waffen damals in der Regel nicht in ihrem Schlafzimmer herumstehen ließen, sondern nach gebrauch dem Büchsenspanner oder Jäger zur Reinigung und Betreuung übergaben. Robert Doblhoff 14. Oktober 1952“
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Den Erinnerungen des zuletzt 72-jährigen Robert Doblhoffs, einem Adeligen aus der Region Baden, vermitteln zunächst den Eindruck von großer Detailkenntnis – nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er augenscheinlich u.a. mit Katharina Schratt, Erzherzog Ludwig Victor, dem Adjutanten von Fritsche und einem Mitglied der Familie Dumba in Kontakt stand. Bei genauer Textanalyse scheinen sich jedoch Zweifel zu bestätigen, denn viele der Aussagen, die der Baron gegenüber Professor Zerzawy tätigte, waren zu diesem Zeitpunkt bereits durch verschiedene Publikationen bekannt. Wenn wir davon ausgehen, dass Doblhoff diese Berichte kannte, so reduziert sich seine Aussage auf das uns bereits bekannte Gerücht, es habe neben den beiden Toten auch einen Schwerverletzten in Mayerling gegeben – Henry Baltazzi. Im Nachlass des Oberst fanden wir ein weiteres Protokoll, das dieser mit dem Sohn Loscheks, Johann Loschek jun., aufgenommen hatte1520. Wir bringen Teile des insgesamt dreiseitigen Protokolls erstmals im Wortlaut: „Mein Vater fuhr über Auftrag des Kronprinzen bereits am Tag vorher mit dem Badener Fiaker Rosensteiner von Baden allein nach Mayerling. Dort kam m nächsten Tag eine Jagdgesellschaft an unter anderen Graf Josef Hoyos und Dom Miguel von Braganza. Diese stiegen im nahegelegenen Gäste-Gebäude ab. (:..) Gegen ½ 7 h früh erschien der Kronprinz bei der Tür des Schlafzimmers und sagte: „Loschek gehen Sie hinaus und lassen sie einspannen.“ Mein Vater hörte kurz darauf 2 gedämpfte Schüsse und eilte zurück. Die Zimmertür war versperrt. (...) Mein Vater, der stets die Wahrheit gesprochen und niemals gelogen hat, teilte mir ausdrücklich mit, daß die wirkliche Todesursache des Kronprinzen, der sichtlich schon lange an schweren Gemütsdepressionen gelitten hatte, ein gemeinsamer Selbstmord mit Baroness Mary Vetsera gewesen ist. Beide sind durch die Revolverschüsse durch die Hand des Kronprinzen gestorben. Johann Loschek jun., Großwirtschaftsbesitzer, Auerhof, 27.08.1955” Viele Neuigkeiten bergen die Erinnerungen des Loschek-Sohnes nicht; sie geben viel mehr in anderen Worten das wieder, was der Vater bereits zwanzig Jahre zuvor in Anwesenheit des Sohnes berichtet hatte. Interessant scheint uns jedoch der ausdrückliche Hinweis zu sein, dass Loschek die Veränderungen im Geisteszustand des Kronprinzen bereits über einen längeren Zeitraum bemerkt hatte und auf diese den Doppelselbstmord begründet. Nicht von Hermann Zerzawy stammt folgendes Protokoll. Es wurde am 1. August 1963 im Gendarmerieposten Alland mit dem damals 72-jährigen Rentner Karl Albrecht1521 aufgenommen. Warum dieses Protokoll erstellt wurde, ist nicht bekannt. Hier der Text erstmals in vollem Wortlaut: „Mein Vater Thomas Albrecht war zur Zeit der Kronprinz-Rudolf Tragödie als Gendarmeriebeamter in Mayerling. Er machte seiner Zeit in dieser Gegend allein Dienst. Seine Kanzlei hatte er wie ich noch aus seinen Erzählungen weiß, im Jagdschloß Mayerling, heute Karmelkloster. Im Jahre 1893 ist dann mein Vater ständig mit der Familie nach Alland verzogen. Ich selbst war damals 2 Jahre alt. Nach dem 1. Weltkrieg, ich war damals 26 Jahre alt, hat mein Vater uns Kindern von der Mayerlinger Tragödie erzählt. Vorher hatte er niemals darüber eine Erwähnung gemacht, weil er vom Kaiserhaus und von der Gendarmerie strengste Schweigepflicht auferlegt bekommen hat. Als aber das Kaiserhaus abgeschafft war, glaubte er uns doch nun etwas von dieser Tragödie erzählen zu dürfen. Der Grund hierzu war der, weil man damals in den Zeitungen Berichte veröffentlichte die mein Vater als falsch hinstellte. Unter anderen erzählte er und das folgende:
1520
Nachlass Zerzawy, Staatsarchiv Wien, B/962, Nr. 4 Albrecht, Karl, geb. am 03.10.1891 in Bad Vöslau, zur Zeit des Protokolls wohnhaft Alland Nr. 133.Das mit ihm verfasste maschinenschriftliche Protokoll des Postens Alland trägt keine Zahl, d.h. es ist nicht offiziell im Postbuch vermerkt. 1521
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Ich habe an dem Tage, an dem sich die Tragödie in Mayerling abspielte, im Jagdschloß in Mayerling als Gendarmeriebeamter Dienst versehen. An diesem tage mußte Kronprinz Rudolf zum Kaiser Franz Joseph. Dieser hatte ihm über di Liebelei mit der Vetsera Vorwürfe gemacht und ihm Maßregeln erteilt die daraus hinausgingen, daß er sofort mit der Vetsera schlußzumachen haben. Kronprinz Rudolf fuhr dann noch in den späten Nachmittagsstunden mit seinem Leibfiaker Bratfisch zum Jagdschloß Mayerling. Kronprinz Rudolf hatte diese Fahrt deshalb unternommen, weil er mit der Vetsera Abschied feiern wollte. Vetsera hat Kronprinz Rudolf zu diesem Zweck von Wien nach Mayerling mitgenommen. Die Vetsera und Kronprinz Rudolf feierten dann im Schloß mit Champagner ihren Abschied. Um nicht gestört zu werden, mußte der Kammerdiener, der Name fällt mir nicht mehr ein, vor dem Eingang zu den Zimmern so Art Wache halten. In der Nacht, die Uhrzeit weiß ich nicht, sind dann 3 Männer und zwar Herzog v. Bragancer, Fürst Lonay und noch jemand durch ein Fenster in das Jagdschloß eingedrungen. Diese drei Männer wollten zum Kronprinz Rudolf vordringen. Dabei wurden (sie) von dem Kammerdienergestellt. Dieser verweigerte ihnen das Betreten des Raumes, wo sich Kronprinz Rudolf und Vetsera aufgehalten hat und erklärte nur über seine Leiche könne derartiges geschehen. Die drei Männer haben dann den Kammerdiener überwältigt, gefesselt und sind dann ohne weiteren Widerstand in das Zimmer des Kronprinzen eingedrungen. In diesem Raum kam es dann anschließend zu einer wüsten Auseinandersetzung wobei auch Stühle in Trümmer gegangen sind. Kronprinz Rudolf. Seite 2 soll sich dabei sehr zur Wehr gesetzt haben. Bei dieser wüsten Schlägerei hat dann einer dieser drei Eindringlinge eine am Tisch gestandene Champagnerflasche erfasst und diese mit Wucht dem Kronprinzen Rudolf auf den Kopf geschlagen. Dadurch ist Kronprinz Rudolf sofort zusammengebrochen. Einer dieser drei Männer hat inzwischen Vetsera auf ein Bett geworfen und sie mit einer Pistole erschossen. Hernach sind die drei Männer sofort fluchtartig davon. Es wurde dann die Badener Gendarmerie als Verstärkung herangezogen und der ganze Block abgesperrt. In der selben Nacht wurde dann Vetsera tot in einem Fiaker nach Heiligenkreuz gefahren und dort eingegraben. Kronprinz Rudolf wurde vorerst in Mayerling aufgebahrt und dann anschließend nach Wien überführt worden. Dies sind noch die sicheren Erinnerungen, die ich behalten habe, wie sie mein Vater erzählt hat. Bemerken möchte ich noch, daß die zerbrochenen Stühle der Tischlermeister Wolf aus Alland, welcher ebenfalls schon gestorben ist, repariert hat. [die drei handschriftlichen Zeilen unter dem Text können nur teilweise entziffert werden] Aufgenommen xxx xxxxxxxxxxxxxxxx Eugen xxxxx, xxx Das Protokoll aus Alland, für dessen Entstehen wir keinen Grund kennen, bringt keine Neuigkeiten – außer, dass es einen neuen Namen in die Runde wirft: den Grafen Lonay – gemeint sein dürfte der spätere Gatter der Kronprinzessin-Witwe Stephanie, Elemer Lonyay. Außer dieser Namensnennung zeigt auch diesers Protokoll, in dem ein 71-Jähriger von mündlichen Überlieferungen seines zum Zeitpunkt der Erzählung sicher auch schon betagten Vaters berichtet, wie sich die Inhalte von Geschichten in zwei Generationen ändern können. Der Erzähler, Karl Albrecht – oder bereits sein Vater Thomas Albrecht – hat angelesenes Halbwissen mit tatsächlich erlebtem Vermischt. Völlig
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falsch ist die Ortangabe des Gendarmeriepostens, denn dieser befand sich nicht im exterritorialen Bereich des kronprinzlichen Schlosses, sondern im Meiereihof. Zusammenfassend darf gesagt werden, dass die Protokolle, die Oberst Zerzawy in verdienstvolle Weise in den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts gesammelt hat, meist nur bereits bekannte Fakten unterstreichen und damit Berichte von anderen Personen untermauern (Rosensteiner, Konhäuser) – oder aber die von Zerzawy bis ins hohe alter Vertretene These unterstreichen, es habe neben den beiden Toten auch einen Verletzten in Mayerling gegeben – den Doppelmörder Henry Baltazzi. Durch die persönliche Nähe des Forschers zu Robert Pachmann kann sich zudem der Verdacht aufdrängen, dass Fragetechnik und Kernaussage der Antworten bewusst manipuliert waren. Denn: Hätte Pachmann, der zu dieser Zeit seinem juristischen Kampf um das Erbe des Kronprinzen vorbereitete1522, einen besseren Stand im Blick in der Öffentlichkeit gehabt, wenn sein möglicher Vater ein Mörder und Selbstmörder gewesen wäre?
1522
Siehe auch Altenberg, Hermann: „Um Recht und Nachfolge im Hause Habsburg“, Europa-Verlag, Wien 1966 274
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Kapitel 8 Amtliches und Nichtamtliches
1. Kommuniques und Obduktionsbefund
„…zur Annahme berechtigen, daß die That in einem Zustande von Geistesverwirrung geschehen ist.“
„Gutachten.“ Wien 02.02.1889
Fritz Judtmann geht davon aus, dass sich Kaiser Franz Josef, seine Ratgeber bei Hofe sowie die Regierung in einer „sehr schwierigen Situation“ befanden, nachdem der Tod des Kronprinzen in Wien bekannt wurden: eine Vergiftung des Thronfolgers durch seine Geliebte – die von Hoyos kolportierte erste Todesmeldung – wollte man unter keinen Umständen bekannt geben. So wartete man auf genauere Mitteilungen der Hofkommission und des Arztes, Dr. Widerhofer. Gegen Mittag erschien jedoch ein Extrablatt der „Wiener Zeitung1523“: „…Als sich die Jagdgäste heute Morgens versammelten und Se. k. und k. Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz nicht erschien, wurden dieselben nach sofortiger theilnahmsvoller Erkundigung durch die entsetzliche Nachricht von Schmerz überwältigt: daß der durchlauchtigste Kronprinz in Folge eines Schlaganfalles Seine edle Seele ausgehaucht haben.1524“ Woher kam diese erste Falschmeldung? Judtmann fand die Antwort im amtlichen Zeremoniell-Protokoll des kaiserlichen Hofes unter dem Datum des 30.01.1889: Das Extrablatt der Wiener Zeitung „wurde vom Ministerpräsidenten Graf Taaffe im Einvernehmen mit dem Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußeren Graf Kálnoky verfaßt.1525“ Eine Korrektur dieser Nachricht durch das Obersthofmeisteramte erfolgte „mit Allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät des Kaisers“ am Folgetag (31. Jänner 1889) im amtlichen Teil der „Wiener Zeitung“ sowie im amtlichen „Budapesti Közlöny“. Darin hieß es: „Seine k. und k. Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz Erzherzog Rudolph ist gestern, den 30. d. Mts., zwischen 7 und 8 Uhr früh in seinem Jagdschlosse in Meyerling bei Baden, am Herzschlag plötzlich verschieden.1526“ Judtmann geht davon aus, dass auch diese zweite Falschmeldung mit einer „medizinischen Abwandlung der SchlaganfallVersion“ von Taaffe redigiert wurde. 1523
„Wiener Zeitung“, älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt; erschien erstmals am 08.08.1703 als „Wienerisches Diarium“ und ab 01.01.1780 als „Wiener Zeitung“, seit 1810 Amtsblatt, ab 1812 offizielles Regierungsblatt, erscheint ab 1848 täglich außer montags; ab 1857 Druck in der K.K. Hof- und Staatsdruckerei; Chefredakteur 1872-1900: Friedrich Uhl (geb. am 14.05.1825 in Teschen [Česky Těšín, Tschechische Republik], gest. am 20.01.1906 in Mondsee/Oberösterreich, Erzähler, Feuilletonist und Kritiker; Schwiegervater A. Strindbergs) 1524 „Wiener Abendpost“, Beilage zur „Wiener Zeitung“, Ausgabe 25, Mittwoch, 30. Jänner 1889 (abends), Titelseite 1525 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1526 „Wiener Zeitung“, Ausgabe 26, Donnerstag, 31. Jänner 1889, Titelseite, „Amtlicher Theil“ 275
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Ritter von Loebenstein1527 als Zeremoniell-Protokollführer des Obersthofmeister-Amtes fährt fort: „Leider war die im amtlichen Theile angegebene Todesursache nicht die richtige. (…) Die plötzlich auftauchenden Gerüchte fanden im Publikum eine schnelle Verbreitung und es blieb kein anderes Mittel, als mit Genehmigung Seiner Majestät, im nichtamtlichen Theile der Wiener Zeitung vom 1. Februar 1889 den wahren Sachverhalt bekanntzugeben, wonach Seine kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz seinem Leben durch einen Revolverschuß selbst ein Ende bereitete.1528“ Dort ist auf Seite zwei zu lesen: „Die gestern von uns über das niederschmetternde Ereigniß des Hinscheidens Sr. k. und k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Kronprinzen Erzherzogs Rudolph gebrachten Mittheilungen stützten sich auf die ersten Wahrnehmungen, die von der nächsten Umgebung des erlauchten Dahingeschiedenen, unter dem betäubenden Eindrucke des schicksalsschweren Vorfalles hierher gelangten. Von dieser Seite wurde, nachdem die Thüre des Schlafzimmers erbrochen worden war, bei dem Eintritte, Se. k. und k. Hoheit entseelt im Bette gefunden. Auf diesem ersten Eindrucke beruhten die nach Wien gelangten Mittheilungen und die Annahme eines Schlaganfalls. Von den Anwesenden wurde der k.k. Hofrath Professor Widerhofer in einem dringenden Telegramme nach Mayerling berufen, wohin sich dieser mit dem nächsten Zuge alsbald begab. Hofrath Dr. Widerhofer constatirte bei der sofort vorgenommenen Untersuchung, daß am Kopf des Verewigten eine beträchtliche Wunde mit ausgebreiteter Loslösung der Schädeldecke und Schädelknochen vorhanden war, welche den sofortigen Tod zur Folge gehabt haben mußte. Dieselbe wurde als Schusswunde constatirt und an der Seite des Bettes, in unmittelbarer Nähe der rechten Hand, befand sich der entladene Revolver. Die Lage der Waffe ließ keinen Zweifel darüber, daß die Tödtung mit eigener Hand erfolgt ist. (…) Wir können nicht verschweigen, daß manche Personen aus der nächsten Umgebung Sr. k. und k. Hoheit in den letzten Wochen mehrfache Zeichen von krankhafter Nervenaufregung an höchstdemselben wahrgenommen, so daß man die Ansicht festhalten muß, dieses schreckliche Ereignis sei ein Ausfluß momentaner Sinnesverwirrung gewesen. Außerdem glauben wir anführen zu sollen, daß Se. k. und k. Hoheit seit einiger Zeit häufig über Kopfschmerz klagte, den er selbst auf einem Sturz mit dem Pferde im letzten Herbste zurückführte. Dieser Unfall wurde aber auf ausdrücklichen Befehl Sr. k. und k. Hoheit geheimgehalten.1529“ Eine offizielle Leichenbeschau, in deren Verlauf auch eine Obduktion1530 des Kronprinzen durchgeführt wurde, erfolgte am Donnerstag, 31. Januar 1889, ab 20 Uhr in seinem Junggesellenappartement in der Hofburg1531. Der Leichnam war hierfür auf einen Billardtisch gelegt worden, das medizinische Gerät hatte man aus dem pathologischanatomischen Institut der Universität Wien bringen lassen. Die beteiligten vier Ärzte wurden unter Eid genommen. Doktor Widerhofer führte, assistiert von Franz von Aukenthaler, die Leichenöffnung durch, während die beiden Universitätsprofessor Dr. Hofmann und Dr. Kundrat die Befunde analysierten. Das Protokoll der Obduktion fertigten 1527
Loebenstein von Aigenhorst, Heinrich Ritter von; Zeremoniell-Protokollführer; ließ 1896 ein 3-geschossiges Haus in Hietzing (Wien 13), Kupelwiesergasse 28, errichten, das 1918/1919 im Besitz des Wiener Fabrikanten Karl Strasser durch Adolf Loos umgebaut wurde 1528 zitiert nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1529 „Wiener Zeitung“, Ausgabe 27, Freitag, 1. Februar 1889, Seite 2, „Nichtamtlicher Theil“ 1530 Die Obduktion (= Leichenöffnung) ist eine innere Leichenschau zur Feststellung der Todesursache und zur Rekonstruktion des Sterbevorgangs. Weitere Worte für Obduktion: Autopsie (griechisch), Sektion (lateinisch), Nekropsie (griechisch) 1531 Die Totenbeschau wurde am 30.03.1770 in Österreich eingeführt; die Totenbeschauer mussten von der medizinischen Fakultät geprüft sein. Die Totenbeschau dient der Feststelklung des Todes, des Todeszeitpunktes, der Todesart und der Todesursache. 276
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Burghauptmann Kirschner und Regierungsrat Poliakovits1532 vom Obersthofmeisteramt. Judtmann geht davon aus, dass Obduktion und Protokoll in den frühen Morgenstunden abgeschlossen waren, denn die „Wiener Montags-Revue“ meldete am 4. Februar 1889: „Donnerstag abends 8 Uhr begann die Section, welche bis 2 Uhr Morgens dauerte, obwohl sie sich nur auf den Kopf erstreckte, da keinerlei Veranlassung aus früheren Krankheiten (…) zu weiteren Nachforschungen vorhanden war und die äußerliche Untersuchung des Leichnams absolut keine anderweitigen Verletzungen oder Änderung ergab.1533“ Nach Angabe der Zeitung war auch Loschek bei der Untersuchung anwesend, was jedoch in keiner anderen Quelle Bestätigung findet. Zwei Tage später wurde eine Zusammenfassung des Obduktionsprotokolls veröffentlicht, die als offizielle Todesbescheinigung angesehen werden muss: „Bei der mit Beobachtung der gesetzlichen Normen und von den hierzu gesetzlich berufenen medizinischen Fachmännern am 31. Jänner 1889 in der k.k. Hofburg zu Wien vorgenommenen Section der Leiche seiner k. und k. Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Rudolph ist auf Grund des protokollarisch aufgenommenen Sectionsbefundes ein mit der Unterschrift der funktionierenden Aerzte beglaubigtes Gutachten abgegeben worden, welches wörtlich lautet, wie folgt: Gutachten. 1. Seine k. und k. Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz ist zunächst an Zertrümmerung des Schädels und der vorderen Hirnpartien gestorben. 2. Diese Zertrümmerung ist durch einen aus unmittelbarer Nähe gegen die rechte vordere Schläfegegend abgefeuerten Schuß veranlasst worden. 3. Ein Schuß aus einem Revolver mittleren Kalibers war geeignet, die beschriebene Verletzung zu erzeugen. 4. Das Projectil wurde nicht vorgefunden, da es durch die über dem linken Ohre constatirte Ausschußöffnung ausgetreten war. 5. Es unterliegt keinem Zweifel, daß seine k. und k. Hoheit sich den Schuß selbst beigebracht hat und daß der Tod augenblicklich eingetreten ist. 6. Die vorzeitige Verwachsung der Pfeil- und Kranznaht, die auffällige Tiefe der Schädelgrube und der sogenannte fingerförmigen Eindrücke an der inneren Fläche der Schädelknochen, die deutliche Abflachung der Hirnwindungen und die Erweiterung der Hirnkammer sind pathologische Befunde, welche erfahrungsgemäß mit abnormen Geisteszuständen einherzugehen pflegen und daher zur Annahme berechtigen, daß die That in einem Zustande von Geistesverwirrung geschehen ist. Hofrath Doctor E. Hofmann m.p., Professor der gerichtlichen Medicin. Professor Doctor Hanns Kundrat m.p., Vorstand des pathologisch-anatomischen Institutes als Obducent. Professor Doctor Hermann Widerhofer m.p., k.k. Leibarzt. Vom Obersthofmeisteramte Sr. k. und k. Apostolischen Majestät.1534“
Wer waren jene Männer, die den Kronprinzen obduzierten? Wir stellen Sie kurz vor: Hofrat Dr. Eduard Ritter von Hofmann1535, Arzt, seit 1869 Professor der gerichtlichen Medizin, 1873 Dekan an der Universität Innsbruck, 1875 Professor in Wien, 1888 Präsident des Obersten Sanitätsrats; Leiter des Instituts für 1532
Poliakovits, Nikolaus, Wirklicher Regierungsrat im Obersthofmeisteramt, Gerichtsdolmetscher für die spanische Sprache „Wiener Montags-Revue“, 04.02.1889 1534 „Wiener Zeitung“, Ausgabe 28, Samstag, 2. Februar 1889, Titelseite, „Amtlicher Theil“ 1533
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gerichtliche Medizin an der Universität Wien; baute die Gerichtsmedizin als selbständige Wissenschaft aus und bereicherte sie um moderne Mikroskopie und Tierexperimente; Verdienste um die öffentliche Gesundheitspflege. Professor Dr. Hanns Kundrat1536, Schüler von Carl Freiherr von Rokitansky1537, Morphobiologe; Studien: „Selbstverdauungsprozesse der Magenschleimhaut“ (1877), „Arhinencephalie als typische Art von Missbildung“ (1882), „Porencephalie“ (1882) und „Lymphosarkomatose“; seit 1877 Professor für pathologische Anatomie, von 1879 bis 1880 als Nachfolger von Heschl Dekan der Medizinischen Fakultät der Karl-Franzenz-Universität Graz; von 1882 bis 1893 3. Ordinarius der pathologischen Anatomie (Vorstand des phatologisch-anatomischen Instituts). Dr. Hermann Widerhofer1538, seit 1890 Freiherr von, Leibarzt des Kronprinzen und der Erzherzogin Marie Valerie und später des Kaisers Franz Josef; Promotion am 22. Juli 1856 an der Universität Wien; Erster Universitätsprofessor für Kinderheilkunde, seit 1863 Direktor des St. Anna Kinderspitals, seit 1885 Professor für Kinderheilkunde. Widerhofer erhielt am 24. Februar 1889, also unmittelbar nach der Mayerling-Tragödie, den Orden II. Klasse der Eisernen Krone verliehen. Aus dem Nachlass der Kaiserin Elisabeth geht eine Petschaft mit blauem Griff an den Mediziner. Dr. Franz (von) Aukenthaler1539, Leib- und Hofarzt, Magister der Geburtshilfe, zugeteilt dem Hofstatt des Kronprinzen Rudolf. Aukenthaler wohnte nach dem Tode des Kronprinzen ebenso wie dessen Witwe im „Blauen Hof“ in Laxenburg, wo er auch ein Arbeitszimmer unterhielt1540. Laut Zeremoniell-Protokoll wurde der Untersuchungsbefund nicht als mündlicher Vortrag, sondern schriftlich und persönlich vom Ersten Oberhofmeister dem Kaiser übergeben und danach versiegelt im Obersthofmeisteramt aufbewahrt. Das Dokument wurde bisher im Original nicht veröffentlicht und nur als Auszug unter dem Titel „Gutachten“ publiziert, so dass Judtmann davon ausging, dass es verschollen ist1541. Wir können uns vorstellen, dass sehr bewusst auf die Veröffentlichung des Originaldokuments verzichtet und nur ein Extrakt bereitgestellt wurde. In der Regel sind klinische Obduktionsberichte nicht für die Allgemeinheit verfasst, beinhalten medizinische Fachausdrücke und beschreiben detailliert ärztliches Vorgehen jenseits einer Grenze, die „normalen“ Lesern nicht zugemutet werden kann. Auch heute gibt es – z.B. in Deutschland – nichtvertrauliche und vertrauliche Teile einer Todesbescheini1535
Ritter von Hofmann, Hofrat Dr. Eduard; geb. 27.01.1837 in Prag (Tschechische Republik), gest. 27.08.1897 in Abbazia (Opatija, Kroatien), beigesetzt Zentralfriedhof Wien, Gruppe 14 A Nr. 6 (Ehrengrab); Habilitation 1865 in gerichtlicher Medizin 1536 Kundrat, Professor Dr. Hanns; geb. 1845, gest. 1893; beigesetzt am 27.04.1893 auf dem Zentralfriedhof Gruppe 13 a, Hauptweg Reihe 2 Nr. 15. Kundrat starb nach langer Krankheit an einem Herzklappenfehler. Seine Frau Katharina Kundrat wurde am 15.04.1915 im gleichen Grab beigesetzt. Da das Paar keine Kinder hatte, erbte sein Neffe Dr. Rudolf Kundrat-Lüftenfeld, dessen Töchter Dora Altmann und Luzy Dressler über keinen Nachlass verfügen, da dieser 1945 weitgehend vernichtet wurde. 1537 Rokitansky, Carl Freiherr von, geb. 19.02.1804 in Königgrätz (Hradec Králové/Tschechische Republik), gest. 23.07.1878 in Wien; Mediziner, namhafter Pathologe. 1538 Widerhofer, Dr. Hermann; geb. 24.03.1832 im Haus Marktplatz 17 in der Marktgemeinde Weyer/Oberösterreich, gest. 28.07.1901 in Bad Ischl; beigesetzt in Wien, Friedhof Hietzing, Gruppe 16, Grab 30D. Im gleichen Grab wurde am 23.05.1930 Rosa Widerhofer beigesetzt. Eine Büste im Forum der Universität Wien erinnert an ihn. 1539 Aukenthaler (zeitgenössisch auch Auchenthaler oder Auckenthaler), Dr. Franz (für das von Judtmann genannt Adelsdiplom haben wir keine Bestätigung gefunden), geb. am 21.02.1840 in Bozen, gest. am 17.10.1913 in Wien; Sohn eines reichen Kaufmanns aus altem Tiroler Geschlecht; Leib und Hofarzt. Die Familie stammt vom „Innerhof“ im Pfletschtal bei Gossensaß am Brenner/Italien. Haupterbin war seine Nichte Melanie Dallago/Bozen, ein Nachlass ist nicht bekannt. Laut Holler befand sich bei Aukenthalers Großneffen, Wilhelm Petzold/Bremen eine Fotografie der Tochter Rudolfs mit persönlicher Widmung und die so genannte Vetsera-Decke, in die Leiche von Mary Vetsera auf der Fahrt von Mayerling nach Heiligenkreuz eingehüllt war. 1540 1891 sind ihm ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und eine Küche zugeteilt. 1541 Nach Mitteilung des Badener Mediziners Dr. Gerd Holler soll das das Original-Protokoll bis 1938 am Gerichtsmedizinischen Institut in Wien aufbewahrt worden sein. Danach verliert sich die Spur. Dass der Wiener Polizeipräsident Fitzthum das Dokument nach 1939 nach Berlin verbrachte, halten wir nach dessen Biographie-Forschung für falsch. Der Gerichtsmediziner Leopold Breitenecker (geb. am 14.04.1902 in Wien, gest. am 22.11.1981 in Wien) berichtete indes Freiherrn von Mitis, dass sich das Original des Obduktionsbefundes noch im November 1947 im Gerichtsmedizinischen Institut Wien befunden habe. Der UniversitätsProfessor Dr. Breitenecker war ab 1959 Ordinarius und Vorstand des Instituts für gerichtliche Medizin Wien 278
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gung1542. Informationen zu Harnmenge der Blase, dem Inhalt des Enddarmes, den identifizierbaren Teilen des Mageninhaltes, dem Gewicht des Herzens oder dem Zustand der Lunge sind tatsächlich nur für Mediziner und Kriminologen von Interesse, nicht aber für den Normalbürger. Über die Leichenöffnung des Kronprinzen berichten wir im Kapitel 10.4.
1542
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 3161-3179 (Heft 48) 279
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Kapitel 9 Der „Kampf“ um das kirchliche Begräbnis
2. Das Requiem
„Beim heutigen Seelenamte … kein Cardinal anwesend.“
Friedrich Graf Revertera von Salandra k.u.k. Botschafter beim Heiligen Stuhl Rom, 05. Februar 1889
Professor Fritz Judtmann fand im Revertera-Archiv auf Schloss Helfenberg/Österreich einen Originaldruck jener Einladung in italienischer Sprache, mit der am 2. Februar 1889 der Rektor der österreichisch-deutschen Nationalkirche in Rom1543, Monsignore Franz Maria Doppelbauer1544, zum Requiem1545 für den Kronprinzen bat. Judtmann veröffentlichte den Text erstmals in deutscher Sprache:
Der unterzeichnete Rektor der deutschen Anstalt der Santa Maria dell´Anima erlaubt sich Folgendes mitzuteilen: Nächsten Dienstag den 4. Februar1546 um 11 Uhr Vormittag wird in der deutschen Nationalkirche all´Anima ein Trauergottesdienst für das Seelenheil Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit, des betrauerten Kronprinzen von Österreich-Ungarn Erzherzog Rudolf stattfinden1547.
1543
Nationalkirche der Deutschen und Österreicher, Santa Maria dell´Anima, Via Santa Maria dell'Anima 61-64/Piazza Navona, Rom; geweiht am 13.09.1446. Kirchenportale von Andrea Sansovino. Der Glockenturm gehört zu den schönsten in Rom. In der Kirche befindet sich das Grabmal von Papst Hadrian VI. (Pontifikat 1522-1523). Aus dem ehemaligen Pilger-Hospiz wurde im Laufe der Geschichte ein Studienkolleg für Priester. Die Anima ist auch heute noch „Pfarrkirche“ der deutschsprachigen Katholiken in Rom. 1544 Doppelbauer, Franz v. Sales Maria, Bischof von Linz/Donau, geb. 21.01.1845 in Waizenkirchen / Oberösterreich, gest. 02.12.1908 in Linz/Donau. Von 1878 bis 1879 Vizerektor der Anima in Rom, am 27.02.1997 von Kaiser Franz Joseph zu deren Rektor ernannt. 1878 Promotion zum Dr. juris canonici, 1879 zum Dr. juris utriusque. Gründet 1887 in Rom eine katechetische Schule für die Kinder deutscher Katholiken. Am 17.12.1888 ernannte ihn Kaiser Franz Joseph zum Nachfolger des verstorbenen Linzer Bischofs Ernest Maria Müllers (1822-1888). Am 10.03.1889 empfing Doppelbauer in der Kapelle der Anima zu Rom durch Kardinal S. Vannutelli die Bischofsweihe. Die Inthronisation erfolgte am 05.05.1889 im noch unvollendeten "Neuen Dom" zu Linz. 1545 Das Requiem ist die Totenmesse der katholischen Liturgie (auch Missa pro defunctis). Das Wort bezeichnet sowohl diese Form der (römischen) Messe, die in ihrer heutigen musikalischen Form auf dem Konzil von Trient (1545) festgelegt wurde, als auch musikalischeKompositionen, die mit ihr in Zusammenhang stehen. Die Bezeichnung stammt aus dem Introitus Requiem aeternam dona eis Domine (ewige Ruhe schenke ihnen, Herr). Der liturgische Ablauf eines Requiems ist der der gewöhnlichen katholischen Messe, nur sind Gloria und Credo wegen ihres Charakters, der nicht zum traurigen Anlass passt, weggelassen und das Halleluja wird ersetzt durch den Tractusmit der Sequenz Dies irae. 1546 Der 4. Februar 1889 war ein Montag; dass jedoch Dienstag, der 5. Februar 1889 gemeint war, markierte Botschafter Revertera-Salandra auf dem Original. 1547 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 280
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„Dem Requiem wohnten viele Staatswürdenträger bei, so der Erste Generaladjutant des Königs Umberto I., General-Lieutnant Graf Pasi, der Zeremonienmeister Graf Gianotti, der Zivil- und Militärstaat des Königs und andere hohe Persönlichkeiten. Der Vatikan hingegen war nur durch den Sekretär der Kongregation für auswärtige geistliche Angelegenheiten, Monsignore Agliardi1548, vertreten. Das gesamte Kardinalskollegium war ferngeblieben.1549“ Lange Zeit über wurde das Fernbleiben der Kurie als ein sehr bewusster Boykott dieser kirchlichen Zeremonie für den Erzherzog Thronfolger angesehen. Als „Drahtzieher“ machte man Kardinal-Staatssekretär Mariano Marchese Rampolla del Tindaro1550 aus. Diese Meinung teilt Judtmann nicht. Als Begründung zitiert er Schriftstücke, die Auskunft geben über den guten Kontakt zwischen dem Kardinal-Staatssekretär in Rom und dem Kaiser in Wien noch Wochen nach der Tragödie. Diese Textpassagen bringen wir hier in Judtmanns übersetzter Widergabe: Rom, 1. März 1889 Seiner Ehrwürdigsten Eminenz dem Herrn Kardinal Rampolla Herr Kardinal, die vielen Sympathiebezeugungen, von welchen in nach dem Tode des Kronprinzen Erzherzog Rudolf zu berichten hatte, haben dem tiefbetrübten Herzen des Kaisers, meines erhabenen Herrschers, Trost gewährt. Ich bin beauftragt, Eurer Ehrwürdigsten Eminenz die besondere Dankbarkeit seiner Majestät für die Anteilnahme bei diesem schmerzlichen Anlaß auszudrücken und gleichzeitig beehrte ich mich Eurer Eminenz die Gefühle meiner ausgezeichneten Hochachtung und Wertschätzung von neuem zu bestätigen. Der Botschafter Österreich-Ungarns beim Heiligen Stuhl Revertera1551 sowie Rom, 2. März 1889 Herrn Grf. Revertera Botschafter Österreich-Ungarns beim H. Stuhl Exzellenz, Der von Eurer Exzellenz mit dem höflichen Brief von gestern ausgeführte Auftrag seiner Majestät, Ihres erhabenen Herrschers, hat mich mit größtem Dank erfüllt, weil ich dadurch den lebhaften Wunsch befriedigt sehe, soweit es in meiner Macht stand, beizutragen, dem von tiefer Trauer über den Tod des Kronprinzen Erzherzog Rudolf erfüllten Herzen Seiner Majestät einigen Trost zu bringen. Ich erstatte daher Seiner Majestät lebhaften Dank und wünsche ihm sehr langes Leben zum Wohle seiner Untertanen und zum Ruhme und Gedeihen der k.k. Familie, während ich mit den Gefühlen der ausgezeichnetsten Hochachtung mich beehrte zu verbleiben Eurer Exzellenz Ergebenster Diener M. Kard. Rampolla1552 1548
Agliardi, Kardinal Antonio, Erzbischof von Cäsarea, ab April 1889 bis 18893 päpstlicher Gesandter in München, von 1893 bis 1896 als 72. apostolischer Nuntius in Wien akkreditiert 1549 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1550 Rampolla del Tindaro, Mariano Merchese, seit 1882 Titulatrbischof von Heraklea, Mitglied des Kardinalskollegium seit März 1887, Kardinalstaatssekretär seit 02.06.1887,, geb. 17.08.1843 in Polizii/Sizilien, gest. 16.12.1913 in Rom; nach seinem Scheitern beim Konklav 1903 verlor Rampolla auch das Amt des Staatssekretärs und seine Karriere brach ab. Der dennoch immer wieder als Nachfolger des gesundheitlich labilien Papstes Pius X. gehandelte Rampolla erlebte das Konklav von 1914 nicht mehr. Allerdings wurde sein enger Mitarbeiter im Staatssekretariat, Giacomo della Chiesa, als Benedikt XV. zum Papst gewählt, so dass seine Politik posthum eine gewisse Anerkennung und Fortsetzung finden konnte. 1551 Archivo segreto Vaticano, übersetzt von und zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 281
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Fritz Judtmann entwickelte vielmehr die These, dass der Papst – durch innen- wie außenpolitische Probleme1553 zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich stark geschwächt1554 – sich nicht in der Lage sah, die Kardinäle auf eine Teilnahme am Requiem zu verpflichten. Vom kanonischen Standpunkt aus konnte er dies auch nicht, denn bereits 1835 hatte ein päpstliches Dekret festgelegt, dass „im Falle von Wahnsinn das kirchliche Begräbnis gewährt würde, jedoch ohne Zeremonie1555“. Es liegt nahe zu folgern, dass die Kardinäle nach der Zustimmung zum kirchlichen Begräbnis dem Dekret folgend einem zeremoniellen Requiem fern blieben. Dass in Rom kein Kardinal am Requiem für den Kronprinzen teilnahm, wurde in den politischen Kreisen Wiens zwar wahrgenommen, doch wurden dort die Ausmaße des Boykotts weitaus schwächer als man in der kaiserlichen Vertretung im Vatikan eingeschätzte. Wie teilen Judtmanns Vermutung, dass der Kaiser zu keinem Zeitpunkt von diesem Affront informiert worden war, denn sonst hätte er sicher nicht zwei Wochen nach der Beisetzung dem KardinalStaatssekretär Rampolla seinen Dank für sein Verhalten ausgesprochen (siehe oben). Rampollas Scheitern im Konklave nach dem Tode von Papst Leo XIII.1556 1903 ist – wie Judtmann bereits herausstellte – indes keine Folge seiner konservativen Haltung gegenüber einem Requiem für den Kronprinzen 1889. Vielmehr ließ Kaiser Franz Joseph bei der Wahl des neuen Papstes aus wohl kalkulierter politischer Rache im dritten Wahlgang durch den Krakauer Erzbischof, Kardinal Jan Puzyna de Kozielsko, eine Art Veto einlegen. Diese Exklusive – also das Ausschließungsrecht – nahmen die katholischen Monarchen seit de 17. Jahrhundert für sich in Anspruch, obwohl der Eingriff weltlicher Macht in innerkirchlichen Angelegenheiten im Kardinalskollegium auf Ablehnung stieß und dieses Veto im Kirchen- und Wahlrecht nicht verankert war. Das Veto des Kaisers war die Reaktion auf Rampollas Österreichfeindliche Haltung in der Zeit der Wiedererstehung des italienischen Königreiches. Seinerzeit hatte sich Papst Leo XIII. offensiv Frankreich und Spanien zugewandt, nachdem sich Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich 1882 im „Dreierbund“ mit Italien zusammengeschlossen hatten – wohl auf Bestreben Rampollas, dem eigentlichen Gestalter der päpstlichen Außenpolitik. Franz Joseph stand dem Kurienkardinal zudem skeptisch gegenüber, da dieser Sympathien für slawische und italienische Minderheiten und die christlich-sozialen Parteien in Österreich und Ungarn hegte; zudem wurde ihm Nähe zur Freimaurerei und dem Modernismus nachgesagt. Im siebten Wahlgang wurde am 04. August 1903 statt Rampolla der Erzbischof von Venedig, Kardinal Giuseppe Sarto1557, gewählt, der als Papst Pius X. den Stuhl Petri bestieg. Heute gilt die Vermutung, dass Rampolla auch ohne den Einspruch des Kaisers nicht gewählt worden wäre, denn die Kurie suchte nach dem Diplomatenpapst nun einen Seelsorgepapst. Dies hätte der politisch ambitionierte Rampolla sicher weder sein können noch wollen.
1552
Revertera-Archiv Helfenberg/Österreich, No. 90208 – vergleiche dazu Konzept des Schreibens im Archivo segreto Vaticano ohne die Schlussfloskel „ergebenster Diener“ – , übersetzt von und zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1553 1871 besetzen italienische Regierungstruppen den Kirchenstaat und gliedern diesen in das italienische Königreich ein; der König verlegte die Hauptstadt von Florenz nach Rom . Dem Papst verbleibt nach dem Garantiegesetz vom Mai 1871 als souveränes Gebiet nur der Lateran, die Sommerresidenz im Castell Gandolfo sowie das enge Gebiet des Vatikan, den er aus Prostest nicht mehr verließ. Papst Leo XIII und sein Nachfolger Pius X. lehnen das neue Italien ab. 1554 Papst Leo XIII. überwand die gesundheitliche Schwäche und regierte noch bis 1903. 1555 Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1556 Pecci, Vincenzo Giacchino, geb. 02.03.1810 in Carpineto Romano bei Agnagni, gest. 20.07.1903 im Vatican/Italien; seit 20.02.1878 als Papst Leo XIII. Kirchenoberhaupt 1557 Sarto, Giuseppe, geb. am 02.06.1835 in Riese bei Treviso/Italien, als Pius X. inthronisiert am 09.08.1903, gest. am 20.08.1914 in Rom; 1951 selig- und 1954 heilig gesprochen 282
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Kapitel 9 Der „Kampf“ um das kirchliche Begräbnis
3. Der Botschafter
„Es ist gewiß, dass der Revolver von der jungen Dame mitgebracht wurde, und dass diese zuerst starb. Man muß annehmen, dass sie (...) den Tod bringenden Revolverschuß gegen die eigene Schläfe richtete.“
Senator Constantino Graf Nigra Wien, 14.02.1889
Fritz Judtmann erwähnt „der Vollständigkeit halber“ in seinem Buch „Mayerling ohne Mythos“ die Berichte des italienischen Botschafters in Wien, des königlichen Senatoren Costantino Graf Nigra1558. Der Conte war von 1885 bis 1904 in Wien akkreditiert. Empfänger der Berichte war der italienische Ministerpräsident Francesco Crispi. Judtmann zitiert hierbei aus sieben Dokumenten, die der Washingtoner Mayerling-Forscher Wildon Lloyd am 30. Juni 1948 in Kopie aus dem italienischen Außenministerium erhielt1559. Judtmann vergab bei der Bearbeitung der Dokumente eigene Nummern, die wir den Inhalten voranstellen. Telegramm 1, Wien 30. Januar 1889: Todesnachricht Herzschlag (VII, 32): Nigra teilt mit, er habe am 19. Januar mit dem Kronprinzen diniert und ihn letztmalig in der Deutschen Botschaft gesehen. „Bei beiden Anlässen schien Rudolf bei guter Gesundheit1560“, auch wenn die Konstitution des Kronprinzen nicht sehr robust war. „Die unmittelbare Todesursache sei – so sage man – ein Herzschlag gewesen.1561“ Telegramm 2, Wien 31. Januar 1889: Ergänzung zum 1. Telegramm (VII, 33): Am Folgetag ergänzt der augenscheinlich gut informierte Botschafter seinen telegrafischen Bericht um Einzelheiten aus Mayerling (Auffinden der Leichen, Berichterstattung durch Graf Hoyos, Entsendung der Kommission, Abtransport der Leiche). Briefpost, Wien 01. Februar 1889: Übersendung „Wiener Zeitung“ (VII, 34): Nigra übersendet zusammen mit einem kurzen Anschreiben ein Exemplar der „Wiener Zeitung“ vom gleichen Tag mit der Meldung des
1558
Nigra, Costantino (Judtmann irrt in der Wiedergabe des Vornamens, wenn er Constantin schreibt) Graf, Schriftsteller, Komponist, Freimaurer, Volksliedforscher und Politiker, geb. 11.06.1828 in Castellnuovo/Italien, gest. 01.07.1907 in Rapallo/Italien 1559 Mayerling Lloyd-Mitis collection : a collection of newspaper clippings from rare and old issues, letters and documents, photographs, all related to the mysterious death of Crown Prince Rudolf of Austria in January 1889, and to the disappearance of Archduke Johann-Salvator of Tuscany in July 1890; also related to the number of impostors claiming to be the sons or daughters of Rudolf or those impersonating the lost Archduke Johann-Salvator. Library of Congress, Washington D.C., Microfilm 1673 1560 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1561 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 284
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Selbstmordes. Er weist darauf hin, dass „durch die verschiedenen Angaben der Todesursache, Schlaganfall, Herzschlag und Selbstmord, unter der Bevölkerung Unruhe und zahlreiche Gerüchte auftreten1562“ würden. Briefpost, Wien 02. Februar 1889: Übersendung Gutachten aus Obduktionsbefund (VII, 35): Der Botschafter übersendet zusammen mit einem Handschreiben die „Wiener Zeitung“, die das Gutachten aus dem Obduktionsbericht veröffentlicht hat. Briefpost, Wien 05. Februar 1889: Bericht über das Begräbnis des Kronprinzen (VII, 36): Am Abend des Tages berichtet der Botschafter über das Begräbnis des Kronprinzen am Nachmittag, dem er als offizieller Vertreter des italienischen Königs in der Kapuzinerkirche teilgenommen hatte. Auch hier ist Nigra Gruft informiert, denn er berichtet über den Kniefall des Kaisers in der Gruft, seine Tränen und das Verlassen der Gruft, in der der Botschafter zu diesem Zeitpunkt sicher nicht anwesend war. Telegramm, Wien 06. Februar 1889: Bericht über Gerüchte (VII, 371563): Nigra schreibt: „Am Mittwoch, den 30. Januar d. J, wurde der Erzherzog in seinem Bette in Mayerling durch einen Schuß in die Schläfe getötet aufgefunden. Neben ihm auf demselben Bette lag der Leichnam des Fräulein Maria Wetschera, Tochter der Witwe Baronin und des verstorbenen Barons Wetschera, eines ehemaligen österreichisch-ungarischen Konsularagenten in Ägypten, ebenfalls mit durchbohrtem Schädel, eine 18jähgrige, in der Wiener Gesellschaft wegen ihrer Reize sehr bekannte junge Dame. Es handelt sich offenbar um einen Doppel-Selbstmord.“ Nigra berichtet über das kennen lernen des Kronprinzen und der Baroness sowie über den Abend in der deutschen Botschaft: „Ich selbst sprach (mit der Baronin) und stand einige Zeit neben (der Baroness), nicht ohne zu bemerken, dass ihre Augen fortwährend auf den kaiserlichen Prinzen gerichtet waren. Man sagte mir, dass dieser zu ihr gesprochen habe. Ich habe es nicht gesehen. Aber es scheint sicher, dass die junge Dame während der Soiree entweder mündlich oder, wie man auch sagt, durch ein tags darauf übersandtes Billett den Prinzen benachrichtigte, dass sie ihn in Mayerling treffen wolle.1564“ Der Botschafter berichtet am Ende seiner Ausführungen noch über den bereits publizierten Abschiedsbrief des Erzherzogs an Szögyenyi-Marich. Briefpost, Wien 07. Februar 1889: Bericht über das Manifest „An meine Völker“ (VII, 38): Botschafter Konsul Nigra übersendet zusammen mit einem Bericht das kaiserliche Manifest „An meine Völker“. Nicht zitiert wird von Judtmann eine längere schriftliche Mitteilung Nigras an Crispi, die das Datum Wien, 14. Februar 1889 trägt. Wir wollen diese Darstellung hier in Auszügen wiedergeben. Der Botschafter berichtet sehr gut informiert über das Verschwinden der Baroness in Wien, die Rolle der Gräfin Larisch, die Mitteilung der Todesnachricht durch die Kaiserin an Helene Vetsera und di Beisetzung in Heiligenkreuz. Interessant scheint uns zu sein, dass Nigra in seinem Bericht ein neues Gerücht nach Rom in den Vordergrund stellt: „Es ist gewiß, dass der Revolver von der jungen Dame mitgebracht wurde, und dass diese zuerst starb. Man muß annehmen, dass sie (...) den Tod bringenden Revolverschuß gegen die eigene Schläfe richtete“, worauf sich in Folge der Erzherzog selbst das Leben nahm, um „die Ehre seines Hauses“ zu retten1565.
1562
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Da der von Judtmann veröffentlichte Text – sicher eine Übertragung aus dem Wildon Lloyd Mikrofilm – von dem bei Crispi veröffentlichten Text abweicht, bringen wir an dieser Stelle den Text nach „Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane & Co, Berlin 1912 1564 „Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane & Co, Berlin 1912 1565 „Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane & Co, Berlin 1912 1563
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Judtmann selbst scheint dem Botschafter nicht übermäßig Glauben zu schenken, denn den zeitgenössischen Berichten stellt er einen 18 Jahre später –anlässlich seines Todes – erschienenen Zeitungsartikel gegenüber. Im Nachruf des „Corriere della Sera“ vom 03. Juli 1907 wird Nigra zitiert, er sei am Nachmittag des 30. Januar 1889 zusammen mit Rudolf Leibarzt, Professor Widerhofer, nach Mayerling gefahren. Dort habe er gar den Kaiser getroffen, der ihn von Schmerzen übermannt umarmte. In einem weiteren Bericht gab Nigra seinen Eindruck wieder, „daß Rudolf einem Morde zum Opfer gefallen sei, und zwar müsse ihm – nach der Größe und der Art der Wunde zu urteilen, die Schädeldecke durch eine Flasche zertrümmert worden sein.1566“ In diesem konkreten Fall stellt Fritz Judtmann selbst keine Recherche an, doch er zitiert erneut die Dokumente des Wildon Lloyd-Mikrofilms. Der Amerikaner ließ sich von einem Verwandten des Grafen, dem Conte Francesco Nigra in Rom, in den Nachkriegszeit den Zeitungsbericht bestätigen. Zudem berichtete der Conte an Lloyd, dass der Botschafter „über die Leiche des Kronprinzen … keine besondere Erklärung“ abgegeben habe. Die Memoiren des Botschafters seien auch von seinem Sohn nicht aus politischen Gründen nicht veröffentlicht worden, sondern weil das Manuskript von Unbekannten vernichtet worden sei. Dass offizielle römische Stellen von einer Fahrt Nigras nach Mayerling nichts wussten, könne am privaten Charakter dieser Reise gelegen haben. Wir schließen heute nicht aus, dass sich auch der italienische Botschafter in Wien, Senator Conte Nigra, unter die Schaulustigen in Mayerling gemischt hat. So ist auch zu erklären, dass Nigra die Teilnehmer der Hofkommission namentlich benennen konnte. Insgesamt schein Nigra gut informiert gewesen zu sein, denn seine Berichte nennen Details, die über den Presse-Klatsch hinausgehen. Dass er jedoch am 30. Jänner 1889 in Mayerling den Kaiser getroffen habe, kann nicht stimmen. Der Monarch kam erst Monate später hinaus nach Mayerling. Offizielle Äußerungen des Botschafters Nigra zu Mayerling sind indes in politischen Kreisen Wiens nicht bekannt1567.
1566
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 freundliche Mitteilung von Dott. Ssa Carla Babini im Auftrag des italienischen Botschafters, Exzellenz Raffaele Berlenghi, Wien, 10.05.2005 1567
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
1. Mord oder Selbstmord?
„Contra factum non valet argumentum“
Pater Professor Dr. Augustinus Kurt Fenz O.Cist Heiligenkreuz, 03.05.2005
Mord oder Selbstmord? Der Heiligenkreuzer Stiftskämmerer Pater Alberik Wilfinger O.Cist. scheint hierüber gut informiert gewesen zu sein. Er äußerte sich jedoch offiziell sein Leben lang nicht über die Ereignisse – man hatte sein Schweigen mit einer hohen kirchlichen oder weltlichen Auszeichnung erkauft1568. Doch was war es nun wirklich, was sich in Mayerling am 30. Jänner 1889 abgespielt hatte – war es Tötung auf Verlangen, es Selbsttötung, war es gar ein Doppelmord?
1568
Pater Dr. Augustinus Kurt Fenz O.Cist in „Die Geschichte von Sittendorf“. Auf unsere Anfrage, ob es den Tatsachen entspräche, dass zumindest von einem Heiligenkreuzer Pater das Schweigen erkauft wurde, antwortete Pater Augustinus: „Contra factum non valet argumentum“; Heiligenkreuz, 03.05.2005 287
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
2. Die Geschichte der Kapuzinergruft
„SILENTIVM“
Sinnspruch über einem Abgang zur Kapuzinergruft Wien
Zwischen 1633 und 1989 fanden insgesamt 145 Habsburger – darunter zwölf Kaiser und 17 Kaiserinnen (Kaiser Maximilian von Mexiko und Maria Louise, Kaiserin der Franzosen mitgerechnet) – sowie eine „Bürgerliche“ (Gräfin Karoline Fuchs-Mollard) ihre letzte Ruhestätte in der so genannten „Kaisergruft“ oder „Kapuzinergruft“ am Neuen Markt 2 in Wien. Der Besucher kann heute 94, teilweise äußerst kunstvoll gestaltete Sarkophage bestaunen. 36 weitere Särge sind in den Nischen A, B, C und D der „Ferdinandsgruft“ eingemauert, wobei ein Sarg die Leichen einer Mutter mit ihrem Kind enthält. Hinzu kommt eine Aschenurne1569 (Nische D) sowie fünf Herzbecher (drei ohne Sarg1570, zwei mit Sarg1571). Traditionell – und seit 1844 mit kaiserlicher Genehmigung – wurden vom heute nicht mehr existierenden Gruftaltar aus gesehen Kaiser und Prinzen auf der Evangelienseite bestattet, die weiblichen Mitglieder des Erzhauses auf der Epistelseite. Im Zweiten Weltkrieg durch Bombensplitter im März und April des Jahres 1945 im Bereich der Fenster und Dächer schwer beschädigt, konnte die Anlage nur langsam wieder hergerichtet werden. Heute zählt die „Kaisergruft“ mit über 200.000 Besuchern pro Jahr zu einem der meist besichtigten touristischen Zielen Wiens. Die Geschichte der „Kapuzinergruft“ gleicht über 400 Jahren lang der Chronik einer ständigen Baustelle. 1617 stiftete Kaiserin Anna1572, die Gemahlin Kaiser Matthias1573, ein Kloster des Kapuzinerordens1574 am damaligen Mehlmarkt, dem heutigen Neuen Mark in der Wiener Innenstadt. Sie verfügte testamentarisch, dort eine Grablege für sich und ihren Gatten schaffen zu lassen. Die Grundsteinlegung erfolgte am 8. September 1622 – vier Jahre nach dem
1569
Erzherzog Leopold Maria Alphons, gest. 1958 Kaiserin Claudia Felicitas, gest. 1667 (Sarg in der Dominikanerkirche), Kaiserin Amalia Wilhelmine, geb. 1673, gest. 1742 (Sarg im Salesianerinnen-Kloster) und Königin Maria Anna von Portugal, geb 1683, gest. 1754 (Sarg in der Kirche der Theresianerinnen in Lissabon) 1571 Karl Joseph von Lothringen, Bischof von Osnabrück und Fürsterzbischof von Trier, gest. 1715 (Herzurne auf dem Sarg in der Neuen Gruft, Intestina in der Toskanagruft) und Henriette von Nassau-Weilburg, gest. 1829 (Herzurne auf dem Sarg in der Neuen Gruft, Intestina in der Toskanagruft) 1572 Kaiserin Anna, geb.04.10.1585, gest15.12.1618 1573 Kaiser Matthias, geb. 14.02.1557, gest. 20.03.1619 1574 Der Kapuzinerorden ist eine Reformbewegung innerhalb des Ordens der Mindener Brüder (Orden des hl. Franz von Assisi) und wurde als solcher 1528 kirchlich anerkannt. Zunächst auf Italien beschränkt, fanden ab 1574 auch Klostergründungen außerhalb des Landes statt, wie etwa in Innsbruck (1593). Im Jahre 1600 kam es zu Gründungen in Prag, Graz und Wien (Kloster in St. Ulrich am Plätzel bis 1815). 1570
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Tod der Kaiserin. 1633 war die Gruft1575 so weit hergerichtet, dass die sterblichen Überreste von Anna und Matthias – ihre Bleisärge und die vier Urnen1576 mit Herz sowie inneren Organe standen bis dahin in der Kirche des Königinnenklosters der heiligen Clara in der Dorotheergasse – mit großem Pomp dorthin überführt werden konnten. Kaiser Ferdinand III. legte mit dem Entschluss zur Erweiterung der „Gründergruft“ den Grundstein für das habsburgische Erbbegräbnis bei den Kapuzinern. Nach dem Regierungsantritt seines Nachfolgers Leopold I. im Jahre 1657 wurde mit dem Ausbau der „Leopoldsgruft1577“ begonnen, die direkt unter dem Hauptschiff der Kirche liegt1578. 1701 wurde die Anlage ein weiteres Mal in Richtung Westen bis in die heutige „Karlsgruft“ hinein erweitert. Bei Restaurierungsarbeiten wurden 1960 neben dem historischen, noch heute erhaltenen Gruftabgang in die acht Meter starke Fundamente der Kirche zwei Mal sechs Nischen (Arcosolien) eingebaut. In ihnen ruhen die Überreste von zwölf Kindern. Ihre ehemals in der Gründer- bzw. Leopoldsgruft aufgestellten Särge waren bereits im 19. Jahrhundert in einem so schlechten Zustand, dass man sie ungeöffnet in einheitliche Übersärge stellte. Sie sind jedoch weder beschriftet noch ist dokumentiert, welches Kind in welchem Sarg liegt1579. Die „Karlsgruft“ ist als Fortsetzung der „Leopoldsgruft“ angelegt und wurde unter Kaiser Joseph I. (1710) und unter Kaiser Karl VI. (1720) von Lukas von Hildebrandt erbaut – erkennbar an den Werkstattzeichen des Künstlers, den Nabelscheiben, an den Konsolenträgern des Gewölbes. Man betritt sie durch den steilen Abgang vom Kloster als erste Gruft der Anlage. Dort stehen insgesamt acht Prunksarkophage. Geographisch betrachtet liegt sie unter dem Presbyterium und dem Chorraum1580. Im Jahre 1717 wurde in der Gruft ein Altar errichtet. Aus diesem Grunde wurde die Anlage täglich für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, bis Reformkaiser Joseph II. 1787 verfügte, „kein Mensch ist mehr hinabzulassen1581“ – er ließ die Gruft schließen, die Abgänge vermauern und den Altar herausnehmen1582. Grund: Vandalismus und Diebstähle häuften sich. Hinzu kam seine generelle Reform des Bestattungswesens, in der die Auflassung aller Friedhöfe innerhalb des heutigen Gürtels und das Verbot der Gruftbestattung fielen. Bereits sein Nachfolger, Leopold II., ließ jedoch auf Bitten der Kapuziner die Gruft wieder öffnen und die Chronik verzeichnete zwischen 10 und 50 Besucher am Tag. Auch Kaiserin Maria Theresia besuchte die Gruft – zeitweise sogar täglich. Um ihr den Ab- und Aufstieg zu erleichtern, wurde 1778 hinter dem Klosterchor ein Aufzug eingebaut1583. Am 25. April 1753 wurde unter dem Sakristeigarten der Bau des Mausoleum für Kaiserin Maria Theresia und ihren Mann, Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen, begonnen – die „Maria Theresien-Gruft“. Der Raum und der prachtvolle Doppelsarkophag wurden von Maria Theresia und Kaiser Franz I. Stephan selbst entworfen – hier wird der
1575
Die niedrige, schmuck- und fensterlose „Gründergruft“ bzw. „Matthias-„ oder auch „Engelsgruft“ befindet sich unter der früheren Kaiserkapelle der Klosterkirche im Südwesten der Anlage. 1576 Die Urnen wurden nach Aufhebung des Klosters durch Josef II. in nach St. Stephan und St. Augustin gebracht. 1577 In der „Leopoldsgruft“ befinden sich 16 Sarkophage, 2 Herzurnen sowie die 12 Kindersärge in den Kolumbarien. 1578 Bereits der Sarg des 1657 verstorbenen Ferdinand III. musste in der Gruft quer auf die anderen Särge gestellt werden, da der Platz zu klein geworden war. In den Jahren zuvor hatte Ferdinand die Särge von sieben Angehörigen in die Stiftergruft schaffen lassen. 1579 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1580 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1581 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1582 Bereits 1720 ließ Kaiser Karl VI. schmiedeeiserne Gitter anfertigen, um die Särge vor Beschädigung und Beraubung zu schützen. Erst 1909 wurden die Gitter wieder entfernt. 1583 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 289
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Zweck der Gruft, nämlich die Aufnahme der Särge, baulich zur Verherrlichung der Verstorbenen überhöht. Um den elterlichen Sarkophag reihen sich die Särge ihrer Kinder. Ingesamt fanden in der Maria Theresien Gruft 16 Personen ihre letzte Ruhestätte. Als einzige Nicht-Habsburgerin ist die Gräfin Karoline Fuchs-Mollard, Erzieherin der Kaiserin, dort bestattet1584. Die kupferne Kuppel der Gruft erhebt sich bis in den zweiten Stock des Klosters und lässt Tageslicht auf das Grabmal fallen. 1824 entschloss sich Kaiser Franz II. (I.) zu einer neuerlichen Erweiterung der kaiserlichen Begräbnisstätte, da weder für ihn noch für seine Nachkommen in der Gruft Platz vorhanden war1585. Der Kaiser gab dem Hofarchitekten Johann Aman den Auftrag, im rechten Winkel zur Maria Theresien Gruft eine neue Grabkammer anzulegen: die achteckige, im Stil des Biedermeier gehaltene „Franzensgruft“. Hier ruhen Kaiser Franz II. (I.) und seine vier Gemahlinnen1586. Auch an dieser Stelle kann gedämpftes Tageslicht in die Anlage einfallen. Nördlich schließt an die „Franzensgruft“ die kühl wirkende „Ferdinandsgruft“ an. Ihr Bau erfolgte im Auftrag Kaiser Ferdinands I. von 1840 bis 1842 gleichzeitig mit dem Neubau des baufällig gewordenen Klosters. Für die Erweiterung wurden die zwei Schlusswände der „Franzensgruft“ durchbrochen. Im Gegensatz zu früher sind die angelegten Kolumbariennischen heute zugemauert, nur vier Marmortafeln verraten die Namen der 36 Habsburger, die in einer Umbettungsaktion 1960 dort bestattet wurden, um die Platznot in der „Toskanagruft“ zu mildern. In der Gruft selbst sind Kaiser Ferdinand I. und seine Gemahlin bestattet1587. Die 21 Meter lange und 5 Meter breite „Toskanergruft“ Gruft entstand gleichzeitig mit der „Ferdinandsgruft“ durch den Hofarchitekten Johann Höhne und ist von ihr durch einen Torbogen getrennt. Ihren Namen erhielt sie nach der von Kaiser Franz I. Stephan begründeten Nebenlinie, dem Haus Habsburg-Toskana. Ursprünglich glich die Gruft einem Sargdepot mit nahezu fünfzig Särgen. Heute beherbergt sie durch den Zubau der „Neuen Gruft“ und die Umbettung von 37 Toten in die Wandnischen nur noch 14 schlichte, aus Kupfer oder Gelbguss gearbeitete Sarkophage. Anlässlich seines 60. Regierungsjubiläums hatte Kaiser Franz Joseph 1908 den Auftrag gegeben, eine Kapelle und ein Mausoleum für sich sowie seine verstorbene Frau, Kaiserin Elisabeth, und den toten Kronprinzen Rudolf zu errichten. Hierzu mussten weitere Kellerräume des Klosters in den Bau einbezogen werden1588. Die sezessionistisch ausgestattete Gruft – seit 1909 elektrifiziert – bot ursprünglich Platz für vier Särge – die 1867 während einer Ungarnreise verstorbene Tochter des Kaiserpaares, Sophie Friederike, war ebenfalls dort bestattet, doch wurde ihr Sarg 1960 in eine Nische der Ferdinandsgruft umgestellt (78 B)1589. Ursprünglich standen die Särge auf einer Ebene, doch wurde später ein Sockel für den Sarg Kaiser Franz Josephs eingefügt. Nach Fertigstellung wurden die ursprünglich in der „Ferdinandsgruft“ aufgestellten Särge von Elisabeth und Rudolf in die „Franz-Josephs-Gruft“ überführt sowie nach fast 150 Jahren wieder ein Altar errichtet. Die neue Gruftkapelle beherbergt heute eine Gedenkbüste Kaiser Karls I. und den Sarg seiner 1989 verstorbenen Gattin, Kaiserin Zita. Die bronzene Madonnenstatue widmeten die ungarischen Frauen 1899 dem Gedenken an Kaiserin Elisabeth. Ursprünglich war das Denkmal an der Nordwand der „Ferdinandsgruft“ aufgestellt.
1584
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1585 Zu dieser Zeit bestanden auch Pläne, aus Platzmangel die Grablege der Habsburger Familie in die Krypta von St. Augustin zu verlegen – zudem schien die Gemeinschaft der Kapuzinerpatres vom Aussterben bedroht zu sein. 1586 ursprünglich waren in der „Franzensgruft“ elf Särge aufgestellt. 1587 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1588 Der Auftrag wurde von dem kroatischen Hofarchitekten Cajo Perisic ausgeführt. 290
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Zur Entlastung der engen Gruftanlage, zur Schaffung eines klimatisch günstigen Raumes und zur besseren Erhaltung der Särge wurde 1960 mit dem Bau der 280 Quadratmeter großen, 1962 von Kardinal König geweihten „Neuen Gruft“1590 unter dem Klostergarten begonnen. Sie bietet Raum für 26 Särge – an der Westseite die geistlichen Würdenträger des Hauses Habsburg, an der Ostseite die Eltern und Verwandten von Kaiser Franz Joseph sowie zwischen den Zugängen der Ferdinands- und Franz-Josephs-Gruft der Sarkophag von Maria Louise, der zweiten Gemahlin Napoleons und Mutter des Herzogs von Reichstadt. Die unbearbeiteten Betonwände sollen den Eindruck eines ausgeschachteten Grabes vermitteln. Seit dem 25. Juni 1986 findet sich an der Südwand eine Tafel „zum Gedenken an die ersten Opfer des Weltkrieges 1914-1918“, den in der Gruft des Schlosses Artstetten beigesetzten Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und seine Gattin Sophie Herzogin von Hohenberg. Eine weitere Vergrößerung der Anlage wurde trotz vorangeschrittener Planung aus Kostengründen nicht durchgeführt. Auch der von Oberbaurat Otto Wagner geplante Umbau des Klosters und der Gruft zu einem Denkmal für Kaiserin Elisabeth im Stil der Sezession und des Jugendstils aus dem Jahre 1906 wurde nicht ausgeführt – wie viele andere Pläne des Architekten1591. Österreichs letzter Kaiser, Karl I., verstarb am 1. April 1922 mit 35 Jahren in seinem Exil in Fuchal auf Madeira. Er wurde in der Wallfahrtskirche Nossa Senhora do Monte beigesetzt. In Zusammenhang mit dem von der „Kaiser Karl Gebetsliga für den Völkerfrieden“ betriebenen und 2003 abgeschlossenen Seligsprechungsverfahren wurde am 1. April 1972 die kirchlich vorgeschriebene Öffnung des Sarges vollzogen. Seit 1974 befindet sich das Herz Kaiser Karls I. in der Lorettokapelle im schweizerischen Kloster Muri. Dort wurde 1971 für die Angehörigen des Hauses Habsburg-Lothringen eine neue Familiengruft errichtet. An Karl I. – die Überführung des Leichnams von Madeira nach Wien ist seit langer Zeit im Gespräch – erinnert eine Gedenkbüste in der Gruftkapelle. Die vorletzte Beisetzung in der Kapuzinergruft erfolgte 1958, als ohne Feierlichkeiten die Urne mit der Asche des in den USA verstorbenen Erzherzogs Leopold Maria Alfons in Nische D beigesetzt wurde. Um 15 Uhr – in der Todesstunde ihres Gemahls Karl I. – fand am 1. April 1989 die Beisetzung der am 14. März 1989 mit 96 Jahren im Johannesstift in Zizers in der Schweiz verstorbenen Prinzessin Zita von Bourbon-Parma, der letzten österreichischen Kaiserin und ungarischen Königin, statt1592. Auf eigenem Wunsch war dem Leichnam das Herz entnommen worden und neben dem des Kaisers in der Lorettokapelle des Klosters Muri in der Schweiz bestattet. Über einige Monate stand zunächst nur der schlichte Holzsarg in der Gruft, ehe dieser in einen schmucklosen Kupfersarkophag gestellt wurde. Die feierliche Beisetzung der letzten österreichischen Kaiserin ist bislang die letzte in der über 400-jährigen Geschichte der „Kaisergruft“. Schon frühe Aufzeichnungen über die Gruft bei den Kapuzinern belegen, dass die dort eingelagerten Särge stets Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen ausgesetzt waren und sehr darunter litten. Eine erste Restaurierungskampagne erfolgte in den Jahren 1852/53. 1956 wurde die "Gesellschaft zur Rettung der Kapuzinergruft" ins Leben gerufen, um die Öffentlichkeit über den gefährdeten Zustand der Gruft zu informieren und Mittel für eine Restaurierung aufzubringen und erste Sanierungsarbeiten einzuleiten. Bereits 1965 wurden diese Restaurierungsarbeiten an den
1589 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1590 „Neue Gruft“ oder „Schwanzergruft“ 1591 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1592 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Särgen zu einer festen Einrichtung, für die auch im südlichen Teil der „Toskanagruft“ eine eigene Werkstatt geschaffen wurde1593. Im September 1997 wurde auf Grund der fortschreitenden Zerstörung der Särge diskutiert, die „Kaisergruft“ – „ein nationales Denkmal, eine historische Stelle der Besinnung, sowie ein bedeutender Fremdenverkehrsmagnet1594“ – für die Öffentlichkeit zu sperren. Immerhin besuchen rund 200.000 Gäste jährlich die Gruft – „deren Atemluft sowie nasse Kleidung setzten den Exponaten zu.1595“ Wiens ehemaliger Bürgermeister, Helmut Zilk, prophezeite, dass aber auch dann innerhalb von maximal 20 Jahren die Zinnsärge zerstört wären und suchte nach Sponsoren, die eine nötige Klimatisierung der Räume finanzieren würden. Kosten: 40 Millionen Schilling (rund 2,9 Millionen Euro) – ohne auch nur einen angegriffenen Sarkophag restauriert zu haben. 2003 wurden die Sanierungsarbeiten beendet – so die Installation der Klimaanlage, die bereits nach die Wochen die Luftfeuchtigkeit in dem Gewölbe von bis zu 90 Prozent auf rund 40 Prozent senken konnte und die Temperatur 17 Grad im Winter und rund 19 Grad im Sommer hält. Neben einer frischen Wandausmalung, der Neuaufstellung in der Toskanagruft und der Installation einer neuen Effekt-Beleuchtungsanlage wurden auch Überwachungskameras und Bewegungsmelder eingebaut, um Vandalismus einzudämmen. Am 15. Oktober 2003 wurden rechts des Kirchenportals1596 der neue Eingangsbereich mit Gruppen- und Einzelgarderobe, einem Shop, einer Toiletten- und Liftanlage eröffnet, so dass die Besucher „auf einen historischen Rundgang schickt (werden), der in der Leopoldsgruft beginnt und in der Gruftkapelle endet.1597“ Insgesamt kostet die Sanierung inklusive der aufwendigen technischen Einrichtung in den neuen, modernen und ebenerdig zur Gruft gelegenen Metallrestaurationswerkstätten für die Restauratoren und das Verlegen von fast 40 Kilometern Kabel für Licht-, Kamera- und Überwachungsanlage mehr als 1997 gedacht nämlich rund 3,7 Millionen Euro, die zu Teilen durch Fördergelder der Stadt und des Denkmalamtes aufgebracht wurden. Parallel zu den Arbeiten „unter Tage“ plant die Stadt Wien seit Beginn des 21. Jahrhunderts, den Platz vor der Kapuzinerkirche als Fußgängerzone weitgehend autofrei zu gestalten und die rund 200 oberirdischen Parkplätze zu verlagern. Hierzu ist der Bau einer automatischen Großtiefgarage für 350 Kfz-Stellplätze geplant, deren Rampe direkt vor der 1935/1936 rekonstruierten Fassade der Kapuzinerkirche mit dem Fresko von Hans Fischer hinabführen würde. Der Tiefbau der Parkanlage durch die W & MID Immobiliengruppe soll im Jahre 2006 beginnen. „Insgesamt würden für die Arbeiten am Neuen Markt rund zwei Jahre in Anspruch nehmen, da im Vorfeld archäologische Grabungen durchgeführt werden müssten.1598“ Zwischenzeitlich wurden die Arbeiten auf mindestens vier Jahre Ausgelegt: Eine Bürgerinitiative aus Anrainern und Geschäftsleuten unter Führung des Schauspielers und einstigen Nationalratsabgeordneten Herbert Fux indes spricht sich gegen den Bau aus, da dieser „ein Rückfall in die Methoden der 50-er Jahre“ sei und außerhalb des Neuen Marktes für Anwohner und Besucher ausreichend Parkraum zur Verfügung stünde.
1593
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1594 Rathaus-Korrespondenz, Wien 17.09.1997 1595 „Kapuzinergruft: Korrosion an Särgen gestoppt“, in: Die Presse, 14.07.2003 1596 Im Jahre 2003 wurde durch das Bundesdenkmalamt das Grabmal des Marco D´Aviano in die Kapuzinerkirche verlegt, wodurch die Umplanung des neuen Besuchereingangs – d.h. die Schaffung eines zeitgemäßen und behindertengerechten Zugangs zur Gruft getrennt vom Kloster – möglich wurde. Zur Realisierung des neuen Eingangs mussten auch die historischen Gräber der Kapuzinerpatres, die sich in diesem Bereich befanden, umgelegt werden. 1597 „Kapuzinergruft: Korrosion an Särgen gestoppt“, in: Die Presse, 14.07.2003 292
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
3. Habsburgs Totenkult1599
Zitat fehlt
Der Tod von Mitgliedern des Erzhauses Habsburg war stets mit besonderen kultischen Handlungen verbunden1600 – vor, während und nach der Beisetzung. „Beim Tod eines Herrschers kam jene Facette des Zeremoniells zur Anwendung, welches gleichwohl über den Toten als auch über die Lebenden verfügte.1601“ Eingeteilt wurde die Trauer – je nach rang des Verstorbenen – lokal in die Landes1602-, Hof1603- und Kammertrauer1604; die Bekleidung war in der tiefen, halben1605 oder kleinen Trauer festgeschrieben. Zusammen mit gedoppelter Trauer oder Trauergala ergab sich die Dauer der Trauerzeit1606. Vor der Beisetzung Exenterierung: Verschied ein Mitglied des Kaiserhauses, erfolgte in der Regel schon wenige Stunden nach Eintritt des Todes die Sezierung des Leichnams und die Entfernung der inneren Organe wie Herz und Eingeweide durch den Hofarzt – die so genannte Exenterierung. Anschließend erfolgte die Einbalsamierung. Bis 1878 wurden in der Kaisergruft mit wenigen Ausnahmen1607 ausschließlich die einbalsamierten Körper der Verstorbenen beigesetzt. Die Herzen – oftmals zusammen mit den Zungen – in silbernen Bechern in der Augustinerhofkirche und die Intestina (Eingeweide) in einem Kupfergefäß bei St. Stephan. Neue Konservierungsverfahren machten Ende des 19. Jahrhunderts die Exenterierung der Leichen unnötig, so dass sich bereits die Erzherzoginnen Maria Annunziata, Sophie Friederika und Kaiserin Carolina Augusta die Trennung von Leib, Herz und Eingeweiden verbaten. Das Trauerzeremoniell
1598
Skoda, Elisabeth: „Tiefgarage statt verparkter Neuer Markt“, in: „Vienna Online“, Wien 25.05.2003 vergleiche hierzu auch Hawlik-van de Water, Magdalena: „Der schöne Tod - Zeremonialstruktur des Wiener Hofes bei Tod und Begräbnis zwischen 1640 und 1740“, Herder Verlag, Wien 1600 vergleiche auch Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, HerderVerlag, Wien 2. Auflage 1993 1601 Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1602 Landestrauer: Tod des regierenden Herrschers, seiner Gemahlin oder von Kindern über 12 Jahren. Hauptmerkmal: Trauerläuten und diverse Veranstaltungsverbote. Dauer: meist sechs Wochen 1603 Hoftrauer: Tod von entfernten Verwandten des Herrschers oder als Ausdruck des Respekts beim Tode anderer regierender Häupter. Hauptmerkmale: Bekleidungs- und Drapierungsvorschriften für Gespanne, Kirchen und Räume. Dauer: kürzer als Landestrauer 1604 Kammertrauer: Tod von entfernten Personen. Hauptmerkmale: wurde nur vom Herrscherhaus und den zum Hof gehörenden Adeligen getragen. Dauer: meist vier Wochen 1605 Tiefe und halbe Trauer: Dauer: drei Monate (tiefe) bzw. sechs Wochen (halbe). 1606 nach: Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 1607 u.a. Kaiserin Eleonora Magdalena von Pfalz-Neuburg 1599
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Die eigentlichen Leichenfeierlichkeiten waren auch in Österreich – wie seit dem 12. jahrhundert üblich – allgemein in drei Teile geteilt: die öffentliche Aufbahrung, der Leichenkondukt und die Totenmesse. Wir gehen an dieser Stelle kurz und nur allgemein auf diese drei Bräuche ein. 1. Aufbahrung: Aufbahren bedeutete vom Ursprung her zunächst nur das auf eine Totenbahre legen. Erst als die Begräbnisfeierlichkeiten zur Selbstdarstellung einer Person und ihrer Macht wurde, verstand man unter Aufbahrung die feierliche Schaustellung des Leichnams. Galt es zunächst im privaten Rahmen nur die Zeit bis zur Leichenfeier zu überbrücken, erfolgte schon bald die öffentliche Schaustellung des Toten – meist in kirchlichem Umfeld. Hierfür wurde in einer schwarz ausgestatteten Kirche ein Katafalk errichtet, auf dem der Tote aufgebahrt wurde – ja nach Zustand im offenen oder geschlossenen Sarkophag. Die Bräuche des Mittelalters – Trauergerüst etc. – können an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. 2. Trauerkondukt: Die Begräbniszeremonie – die eigentliche „Reise ins Jenseits“ – erfolgte so, dass der Leichenzug zum Tor der Grablege zog. In Wien war es die „Kaisergruft“ bei den Kapuzinern, wo der Kustos mit den Patres das Trauerkondukt erwartete und diesen in die schwarz ausgeschlagene Kirche zur Totenmesse geleitete. Der Brauch, die Toten vom Sterbehaus auf einer Tragbahre in die Kirche zu tragen, war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich. Repräsentative, mit Pferden bespannte Leichenwagen wurden, im Gegensatz zu anderen europäischen Fürstenhöfen, beim Wiener Hof und in der Folge auch beim Adel erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendet. Entsprechend dem spanischen Hofzeremoniell durfte ausschließlich beim Begräbnis gekrönter Mitglieder des Kaiserhauses ein schwarzer Leichenwagen verwendet werden. Die Särge von Erzherzögen und Erzherzoginnen wurden in einem roten Wagen zur Kapuzinergruft gefahren. Der
aus
dem
18.
Jahrhundert
stammende
Leichenwagen
des
Wiener
Hofes
wurde daher für die Begräbnisse von Erzherzögen und Erzherzoginnen rot, für die Begräbnisse des Kaiser oder der Kaiserin hingegen schwarz lackiert und bespannt. Da dies stets mit beträchtlichen Kosten verbunden war und den Erhaltungszustand des Wagens stark belastete, entschloss man sich 1875, für die Begräbnisse gekrönter Familienmitglieder einen neuen, schwarzen Prunkleichenwagen in Auftrag zu geben. Der vorhandene Wagen blieb mit roter Lackierung für Begräbnisse der nicht regierenden Habsburger weiterhin in Verwendung. Der neue "Schwarze Leichenwagen1608" wurde innerhalb von 16 Monaten unter Aufsicht von HofWagenmeister Josef Findeisen in der Hof-Sattlerei gebaut und im Mai 1877 fertig gestellt. Er kam erstmals 1884 beim Begräbnis der Kaiserin-Witwe Maria Anna zum Einsatz und wurde in der Folge 1889 für die Begräbnisse von Kronprinz Rudolf, 1898 von Kaiserin Elisabeth, 1916 von Kaiser Franz Joseph und letztlich 1989 für das Begräbnis von Kaiserin Zita verwendet. 3. Totenmesse. Die Totenmesse erfolgte in der Kapuzinerkirche in Anwesenheit der allerhöchsten Herrschaften und geladener Gäste. Die Beisetzung des Körpers Einsargung: Die Toten ruhen in Holzsärgen, die mit Samt überzogen und mit Metallbeschlägen verziert sind. Für die Särge der regierenden Herrscher und ihrer Gemahlinnen wurde schwarzer Samt und Goldstoff, für die der Erzherzoge und -Erzherzoginnen roter Samt und Silberstoff verwendet. Diese einfachen Särge wurden dann in Prunksarkophage gebettet. Zu jedem Holzsarg gibt es zwei Schlüssel: einen verwahren die Kapuzinerpatres, der andere liegt im Schlüsselschrank der Geistlichen Schatzkammer der Hofburg. 1608
Kunsthistorisches Museum Wien, Sammlung Wagenburg in Schloss Schönbrunn, Wageburg Inventar Nr. W 5 von 1876/1877 294
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Umbettung: Nach der Totenmesse wurde der Sarg von den Kapuzinerpatres in die Gruft getragen. Dort wurde der Sarg nochmals geöffnet, und der Kustos überzeugte sich von der Identität des Verstorbenen. Einige Wochen später wurde der Holzsarg im Beisein eines Hofbeamten in den Übersarkophag gestellt und verschlossen. Die Beisetzung der Herzen Die 1642 von Kaiserin Eleonora von Gonzaga in der ehemaligen Hofkirche St. Augustin gestifteten „Loretokapelle“ wurde zur Herzgruft, als der junge König Ferdinand IV.1609 bestimmte, dass man sein Herz "unnser Lieben frawen Maria zu Loreto unter ihre füeß legen und begraben solte". Bis dahin wurden die Herzen der Verstorbenen in St. Stephan oder die Urnen mit dem Leichnam zusammen im Sarg beigesetzt. Zunächst wurde zwischen dem Altar und der Mauernische mit der Muttergottesstatue im Boden eine kleine, mit Marmor ausgekleidete Gruft angelegt – das Sepulcrum. Sie war ca. 40cm tief, und eine eiserne und darüber eine marmorne Platte bildeten den Verschluss. Insgesamt wurden hier 21 Herzurnen bis zur Verlegung beigesetzt. Nach der Klosteraufhebung 1784 wurden „Loretokapelle“ und Herzgruft in eine Seitennische der Georgskapelle verlegt. Bis zum Bau des heutigen „Herzgrüfterl“ 1802 wurden nun die Herzurnen in einem versiegelten Kasten verwahrt. In der neuen Gruft finden sind insgesamt 54 unterschiedlich gestaltete Silberurnen in zwei übereinander liegenden Reihen nach dem Sterbedatum angeordnet. Die letzte Herzbestattung – das Herz des Erzherzog Franz Karls – fand 1878 statt. Eine besonders große Urne auf der rechten Seite nahm die Herzen von Maria Theresia und ihres Mannes Franz Stephan von Lothringen auf. In der Herzgruft befindet sich auch das Herz des Herzogs von Reichstadt. Als dessen Sarkophag 1940 von den Nationalsozialisten aus der Kapuzinergruft geholt und auf Befehl Adolf Hitlers nach Berlin gebracht wurde, vergaß man seine Herzurne einfach… Die Beisetzung der Intestina Die Urnen mit den Eingeweiden der Verstorbenen kamen der Tradition folgend in die Katakomben von St. Stephan und erhielten ihren Platz in der alten Herzogsgruft. Im linken Querschiff des Domes befindet sich der Zugang zu der auch als „Katakomben“ bezeichneten Gruftanlage. Der älteste Teil unter dem Dom besteht aus der „Herzogsgruft“, in der sich die Särge des 1365 verstorbenen Herzogs Rudolf IV. des Stifters, und einiger seiner Angehörigen sowie die Intestina-Urnen befinden. Benachbart sind die „Bischofsgruft“ sowie die „Domherrengruft“. Der neuere Teil der Katakomben wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts unterhalb des Stephansplatzes angelegt und beinhaltet in 30 Kammern, von denen drei im Rahmen einer Führung zu sehen sind – die sterblichen Überreste von über 10.000 Wienern.
1609
Ferdinand IV., geb. 1633, gest. 1654 295
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
4. Leichenöffnung Rudolfs
„Was die Wünsche der Forschung betrifft, in die Särge Einblick zu nehmen, will ich Ihnen ganz offen sagen, daß ich absolut dagegen bin..“
Dr. Otto von Habsburg Pöcking, 17.01.1991
Die erste Leichenbeschau am Kronprinzen wurde von Dr. Widerhofer am 30. Jänner kurz nach 12 Uhr am Leichenfundort in Mayerling auf Veranlassung von Prinz Coburg und Loschek durchgeführt – sie hatten den Mediziner am Morgen per Telegramm aus Wien angefordert. Der Hofrat, der den Kronprinzen kannte und den Leichnam somit auch identifizieren konnte, stellte fest, „daß am Kopf des Verewigten eine beträchtliche Wunde mit ausgebreiteter Loslösung der Schädeldecke und Schädelknochen vorhanden war.1610“ Diese Schusswunde als mit dem Leben nicht zu vereinbarende Körperzerstörung musste den nichtnatürlichen Tod zur Folge gehabt haben (Todesfeststellung). In unmittelbarer Nähe der rechten Hand befand sich ein entladener Revolver. Es ist davon auszugehen, dass zwischen dem Auffinden des Toten am frühen Morgen und dem Eintreffen des Arztes die Leiche in ihrer Stellung nicht verändert worden ist, da der Raum versiegelt war. Im Tagebuch der Erzherzogin Marie Valerie heißt es, Widerhofer habe Rudolf „längst erkaltet“ und „in halbsitzender Position“ aufgefunden, und „den Schädel“ geborsten, da „die Kugel bei einer Schläfe hinein (und bei der) anderen hinaus“ gegangen sei1611. Der Arzt sei laut Loschek die erste Person im Zimmer gewesen, habe zunächst die Läden öffnen lassen – von wem? – und die Leiche zurückgelegt. Wahrscheinlich verband Widerhofer nach einer ersten Beschau die Kopfwunde des Kronprinzen, so dass sein Leichnam transportiert werden konnte. Dieser erste Mullbindenverband verlief über den Ohren und ca. Fingerbreit über den Augenbrauen, wie durch Bilder dokumentiert ist, die bei der ersten Aufbahrung – also noch vor der Obduktion – von einem Mitarbeiter des Wiener Fotoateliers Dr. Székely1612 angefertigt wurde1613. Hierfür wurde das Bett in Richtung Fenster gerückt, um ausreichend Licht zu erhal1610
„Wiener Zeitung“, Ausgabe 27, Freitag, 1. Februar 1889, Seite 2, „Nichtamtlicher Theil“ Conte Corti zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Diese Aussagen werden nicht erwähnt in „Marie Valerie - Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth von Österreich“, herausgegeben von Martha und Horst Schad, Langen Müller-Verlag, München 1998, da sich die Herausgeber auf die Abschriften von Dr. Richard Sexau beziehen. 1612 Székely, Dr. Josef, geb. 1838, gest, 1901, Atelier: Elisabethstraße 2 (Heinrich Hof), Wien; errichtet 1884 gemeinsam mit Viktor Angerer in Wien die Trockenplattenfabrik „Gelatine-Emulsionsplatten-Fabrik mit Maschinen-Präparation von Angerer & Székely“ (1891 an Stankovits, Preininger & Co. verkauft) 1611
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ten. Auf der Abstandsaufnahme erkennt der Betrachter im Bildhintergrund den Kamin des Raumes sowie eine Matratze, die an das Bettgestell gelehnt wurde. Von dieser Fotoaufnahme sind zwei Motive (Nah- und Abstandsaufnahme) erhalten1614. Dieser Darstellung widerspricht der dem Kronprinzen zugeteilte Ordonnanzoffizier des Kaisers, Arthur Giesl von Gieslingen, in seinen 1921 verfassten Erinnerungen. Nach seinen Angaben fand man den Kronprinzen, als der Transportsarg in der Hofburg geöffnet wurde, ohne Kopfverband vor. Diesen soll erst dann Dr. Aukenthaler angelegt haben. „… Dann legten wir den Kronprinzen ins ein Bett und bedeckten den Körper mit einer weißen Flanelldecke.1615“ Dr. Widerhofer hatte am Abend des 30. Januar Mayerling verlassen, erstattet jedoch erst am Morgen des 31. Jänner 1889 dem Kaiser Bericht. Nach Aufzeichnungen von Marie Valerie wird Widerhofer um 6 Uhr früh zum Kaiser gerufen – und berichtet dem Vater, dass sein Sohn „nicht einen Augenblick gelitten (hat), die Kugel ist so direkt in den Schädel gedrungen.“ Widerhofer kam es also zu, dem Kaiser vom Tod durch Erschießen zu berichten, da dieser noch immer an die Giftmord-Version des Grafen Hoyos glaubte. Die systematische Untersuchung des Leichnams fand am Donnerstag, 31. Jänner, in der Wiener Hofburg statt (siehe Kapitel 8.1). Nachdem der Tote in einem Transportsarg in die Hofburg gebracht worden war, hatte man ihn gegen zwei Uhr früh zunächst auf sein Bett im Schlafzimmer gelegt, wo er dann fast den ganzen Donnerstag aufgebart war. Der erste Verband wird sicher nicht abgenommen oder erneuert worden sein. Die Fenster des Schlafzimmers waren verdunkelt, am Fußende des Bettes stand eine Spanische Wand und neben dem Bett brannten links und rechts von einem Kruzifix Kerzen1616. Über die Anzahl der Personen, die am Donnerstag den toten Kronprinzen sahen, gibt es verschiedene Darstellungen. Nach Conte Corti war der Kaiser gleich nach der Unterredung mit Widerhofer in Rudolfs Gemächer gegangen und dort auf seinen Ordonnanzoffizier, der dem Kronprinzen zugeteilte Arthur Giesl von Gieslingen, und einen Geistlichen getroffen. Franz Joseph wird den Toten nicht gesehen haben, denn er fragte Giesl, ob die Leiche seines Sohnes sehr entstellt sei. Danach verließ er die Räume, kam jedoch gegen sieben Uhr in Uniform zurück und bleibt 15 Minuten schweigend vordem Leichnam stehen1617. Im Laufe des Donnerstags nahmen dann weitere Personen von Rudolf Abschied, wie seine Schwester Marie Valerie beschreibt: zwischen sieben und acht Uhr die Eltern mit Gisela und deren Mann Leopold, Kronprinzessin Stephanie mit Tochter Elisabeth sowie gegen Mittag erneut die Kaiserin und Stephanie, diesmal gemeinsam mit Marie Valerie und Franz Salvator sowie Elisabeths Schwester Sophie von Alecon nebst Mann1618. Für den Besuch der Kaiserin hatte auf Wunsch Franz Josephs bereits am Morgen Arthur Giesl von Gieslingen die Decke bis zum Kinn des To1613 Vielfach wird auch ein Bild publiziert (z.B. Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“. Verlag Mlakar, Judenburg 1989), dass einen Kopfverband zeigt, der deutlich über der Stirn und ca. fingerbreit über dem Haaransatz verläuft und große Teile der Koteletten freilässt. Dieses Bild ist u.a. im Krauß-Akt hinterlegt. 1614 Nahaufnahme NB 500.021, Abstand: HM Inv. 489.804/308 1615 zitiert in Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“. Verlag Mlakar, Judenburg 1989. Im Gegensatz hierzu berichtet Conte Corti, dass Giesel die Decke erst später auf Wunsch des Kaisers hochgezogen habe, als die Kaiserin ihren Sohn sehen wollte. 1616 So wird es auf einer Zeichnung von Theodor Breitwieser (geb. 1847 in Breitensee bei Wien, gest. 1930 in Kaltenleutgeben; ab 1866 an der Wiener Akademie, ab 1883 Mitglied des Wiener Künstlerhauses, 1915 mit der silbernen Medaille des AlbrechtDürer-Bundes ausgezeichnet) dargestellt; HM Inv. Nr. 165.473 bzw. NB/Bildarchiv 197.018 B 1617 Corti, Egon Cäsar Conte: „Elisabeth von Österreich - Tragik einer Unpolitischen“, Wilhelm Heyne-Verlag, München 10. Auflage 1989 1618 „Marie Valerie - Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth von Österreich“, herausgegeben von Martha und Horst Schad, Langen Müller-Verlag, München 1998
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ten heraufgezogen – Marie Valerie indes berichtet, dass das mit Blumen bedeckte „weiße Leintuch bis zur Brust“ reichte. Hieraus entstand das Gerücht, die verdeckten Hände des Erzherzogs seien ebenfalls verletzt gewesen1619. Elisabeth küsste bei ihrem zweiten Besuch ihren Sohn ein letztes Mal auf den Mund, was bei ihrer jüngsten Tochter starke Beachtung fand.1620 Danach brach sie schluchzend am Totenbett zusammen1621. Die besagte Bettdecke war mit Blumen aus den Treibhäusern des Hofes bedeckt: Auf den fotografischen Aufnahmen erkennt man Maiglöckchen, Alpenfeilchen, Flieder, eine Rose, zwei Nelken, eine Narzisse, Buchsbaumzweige und eine Hortensie1622. Zur offiziellen Untersuchung des Toten wurde dieser am Donnerstagabend (31. Januar) hinüber in das Billardzimmer seines Appartements gebracht, wo auf dem Spieltisch die Leichenöffnung durchgeführt wurde – nach Zeitungsberichten und dem Tagebuch von Marie Valerie jedoch nur am Schädel1623. Wir gehen hingegen davon aus, dass dies eine falsche Interpretation des „Gutachtens“ ist, denn darin wird ja mit Grund ausschließlich die Zertrümmerung des Schädels erwähnt. Eine weitergehende Leichenöffnung wurde vom Hof nicht kommuniziert, doch spricht das „Gutachten“ explizit von der „Section der Leiche seiner k. und k. Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Rudolph1624“ – ohne Beschränkung auf nur ein Körperteil. Voraussetzung für eine sorgfältige Untersuchung des Leichnams war die Entkleidung der Leiche sowie die Untersuchung aller Körperregionen einschließlich aller Körperöffnungen, des Rückens und der behaarten Kopfhaut. Der Kronprinz wurde also zunächst vollständig entkleidet, wobei nicht überliefert ist, in welcher Kleidung die Leiche transportiert worden ist1625. Danach musste der Schädelverband abgenommen werden. Aus unterschiedlichen Schilderungen können wir zusammentragen, wie der Schädel mehr als 35 Stunden nach dem Todeszeitpunkt aussah: Schädelknochen und vordere Hirnpartie waren zertrümmert1626, Schädeldecke und Schädelknochen hatten sich losgelöst1627, gegen die rechte vordere Schläfengegend – rechts seitwärts drei Zentimeter oberhalb der rechten Ohrmuschel am Schläfenbein1628 – war ein Schuss abgefeuert worden1629, die kreisrunde Schussöffnung war 7 Millimeter im Durchmesser und mit Brandrändern sowie von reichlich gestocktem Blut umgeben1630, der Schusskanal führte schräg auf-
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Der Schriftsteller Rolf Hochhuth zitierte hierzu im Magazin „Penthouse“ („Der weiße Hirsch“, Ausgabe Juni 1988) die Urenkelin des Kronprinzen, Stephanie Marie Eva Blundell-Hollinshead-Blundell geb. Prinzessin zu Windisch-Graetz (geb. 17.01.1939 in Brüssel), die auf Grund der „Hände unter der Totendecke“ eine Schussverletzung an der Hand des Kronprinzen vermutete. Diese habe sich der Erzherzog zugezogen, als er bei einem Kampf mit seinem Mörder in einer Abwehrreaktion auf einen Pistolenschuss die Arme vor den Kopf hielt. Der Vater der Prinzessin, Franz Josef Marie Otto Antonius Ignatius Oktavianus, genannt „Franzi“ Prinz zu Windisch-Graetz (geb. 22.03.1904 in Prag, gest. 01. Januar 1981 in Nairobi), ging nach Hochhuth davon aus, dass der Tod des Kronprinzen das Ende eines Vater-Sohn-Konfliktes war, dessen erster Höhepunkt Rudolfs misslungenes Attentat auf seinen Vater während einer Jagd im Höllgraben war. 1620 „Marie Valerie - Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth von Österreich“, herausgegeben von Martha und Horst Schad, Langen Müller-Verlag, München 1998 1621 Corti, Egon Cäsar Conte: „Elisabeth von Österreich - Tragik einer Unpolitischen“, Wilhelm Heyne-Verlag, München 10. Auflage 1989 1622 Freundliche Mitteilung des Magistrats der Stadt Wien, MA 42, vom 28.04.1988 1623 „Wiener Montags-Revue“, 04.02.1889 1624 „Wiener Zeitung“, Ausgabe 28, Samstag, 2. Februar 1889, Titelseite, „Amtlicher Theil“ 1625 Loschek erinnerte sich 1928, der Kronprinz sei bei ihrer letzten Begegnung um 6.40 Uhr „ganz vollständig angezogen“ gewesen, während Hoyos in seiner Denkschrift (1889) notierte, Loschek habe den Kronprinzen im „Morgenanzug“ gesehen. Arthur Giesl von Gieslingen berichtet (1921), dass der Kronprinz nur mit einem Nachthemd bekleidet war. 1626 Aussage Gutachten 1627 „Wiener Zeitung“, Ausgabe 26, Donnerstag, 31. Jänner 1889, Titelseite, „Nichtamtlicher Theil“ 1628 „Münchener Neueste Nachrichten“ vom 03.20.1889 unter Berufung auf das „Tagblatt“ vom 01.02.1889, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1629 Aussage Gutachten 1630 Hantschel, D. F., „Weiland Kronprinz Rudolf, mit besonderer Rücksichtnahme auf seinen Aufenthalt in Nordböhmen“, Leipa 1889, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 298
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wärts gegen die Scheitelwölbung1631, über dem linken Ohr gab es eine Ausschussöffnung des Projektils1632. Die Obduzenten kamen zu dem Ergebnis: Die tödliche Verletzung erfolgte durch einen Schuss. Die Kugel1633 wurde in Mayerling „am Eck der hölzernen Umrahmung der Platte des Nachtkästchens, welches links von dem in das Zimmer stehende Bett stand.1634“ Wann die Kugel entdeckt wurde – laut Widerhofer am 30. Januar, laut Schuldes nach dem 4. Februar – ist nicht zu klären. Bei der Sektion des Schädels werden die Ärzte die verbliebene Hirnmasse entfernt habe, um die Struktur der Schädelinnenseite zu begutachten. Aus den pathologischen Befunden (vorzeitige Verwachsung der Pfeil- und Kranznaht, eine auffällige Tiefe von Schädelgrube und der fingerförmigen Eindrücke an der inneren Fläche der Schädelknochen, eine deutliche Abflachung der Hirnwindungen und eine Erweiterung der Hirnkammer) schlossen die Ärzte, „abnorme Geisteszustände“ und kommen zu der Annahme, „daß die That in einem Zustande von Geistesverwirrung geschehen“ sei. Schauen wir uns Punkt 6 der Zusammenfassung an. Dort werden als pathologische Befunde zur Unterstützung der These „abnormer Geisteszustand“ bzw. „Zustand von Geistesverwirrung“ aufgeführt: 1. eine „vorzeitige Verwachsung der Pfeil- und Kranznaht“ 2. eine „auffällige Tiefe der Schädelgrube“ 3. eine auffällige Tiefe „der sogenannte fingerförmigen Eindrücke an der inneren Fläche der Schädelknochen“ 4. eine „deutliche Abflachung der Hirnwindungen“ 5. eine „Erweiterung der Hirnkammer“. Sind diese Aussagen pathologisch stimmig?
Am Ende der Schädelsektion dürfte der Einschussbereich von Blutresten und Schmauchspuren der Waffe gereinigt, die Schädelknochen an ihre morphologisch richtige Stellen gesetzt, die Hautbereiche gestrafft und die von der Obduktion erweiterte Schusswunde vernäht worden sein. Der Untersuchungsbereich wurde durch einen weiteren Verband geschlossen, der bis zur Oberkante der Ohren reichte und damit tiefer saß als der Erstverband. Im Anschluss wurde der Kopf des Kronprinzen durch eine Wachsmoulage für die zweite Aufbahrung präpariert. Abschließend wurde der Leichnam einbalsamiert und angekleidet. Presseberichten folgend, soll der Maler Professor Heinrich von Angeli1635 den toten Kronprinzen „im kaiserlichen Auftrag“ portraitiert haben. Dazu wurde er am Donnerstagvormittag von Bombelles für anderthalb Stunden an 1631
Hantschel, D. F., „Weiland Kronprinz Rudolf, mit besonderer Rücksichtnahme auf seinen Aufenthalt in Nordböhmen“, Leipa 1889, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1632 Aussage Gutachten 1633 Nach Julius Schuldes, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968, soll die Kugel für den Kaiser als Reliquie gefasst worden sein. 1634 Julius Schuldes, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1635 Angeli, Heinrich von, geb. 08.07.1840 in Ödenburg (Sopron, Ungarn), gest. am 21.10.1925 in Wien, Porträtmaler und Graphiker. Studien an den Akademien in Wien, Düsseldorf und München, 1862 Rückkehr nach Wien, ab 1876 Professor an der Wiener Akademie Zahlreiche Auslandsaufträge, beliebter Porträtist der europäischen Königshäuser 299
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das Bett des Toten geführt, wo er zunächst mit seiner direkten Auftraggeberin, Kronprinzessin Stephanie, sprach1636. Angeli berichtete, dass „die ganze rechte Schläfe zertrümmert“ gewesen sei. Man habe sie mit „Wachs und Farbe“ rekonstruiert und den oberen Teil des Kopfes „mit weißen Leinenbinden umwickelt.1637“ Diese Aussage ist falsch, denn am Donnerstagvormittag waren weder die Obduktion, noch die Einbalsamierung bereits erfolgt und der Leichnam demzufolge nicht präpariert. Die Darstellung des toten Kronprinzen durch Angeli konnte von uns nicht aufgefunden werden1638. Auch Franz von Pausinger1639 malte den toten Kronprinzen – jedoch erst bei der Aufbahrung in der Burgkapelle. Zusammenfassend gibt es vom toten Kronprinzen folgende Darstellungen: 1. Fotografische Aufnahme Atelier Dr. Josef Székely, Kronprinz Rudolf auf dem Totenbett, Linksprofil, tiefer Verband, Hände unter der Totendecke, Streublumen, NB 500.021 (Aufnahme der 1. Aufbahrung aus kurzer Distanz), erstmals 1938 durch Viktor Bibl publiziert. Die Photografie „nach der Natur … am 31. Jänner 1889“ wurde offiziell vertrieben, z.B. durch die Kunsthandlung Otto Kramer in Wien. 2. Fotografische Aufnahme Atelier Dr. Josef Székely, Kronprinz Rudolf auf dem Totenbett, Linksprofil, Halbfigur, tiefer Verband, Hände unter der Totendecke, Streublumen, HM IN. 49.804/308 (Aufnahme der 1. Aufbahrung aus der Distanz). Die Photografie „nach der Natur … am 31. Jänner 1889“ wurde offiziell vertrieben, z.B. durch die Kunsthandlung Otto Kramer in Wien. 3. Fotografische Aufnahme eines unbekannten Toten; Frontalansicht Halbfigur mit kleinem Kreuz auf dem linken Arm, gekleidet in weißem Hemd mit Stehkragen. Das Bild wurde am 10. Mai 1991 als „Foto mit Darstellung des aufgebahrten Kronprinzen Rudolf nach der Obduktion mit Wachsmontage der Gesichtspartie“ bei Hermann Historica München aufgerufen. Die Fotografie im Reiseportefeuille aus schwarzem Leder mit geprägtem, gekröntem Namenszug soll aus dem Nachlass der Kaiserin Elisabeth stammen, hat jedoch kein Inventaretikett des Privatfonds1640. Die Echtheit bestätigen fünf Übereinstimmung zur Abbildung Nr. 6 (NB/Bildarchiv 237.822B): Hintergrund, Kopfform/Beschaffenheit, Handhaltung mit Kreuz, Hemdkragen, Totendecke. 4. Zeichnung, Kronprinz Rudolf auf dem Totenbett, Linksprofil, Halbfigur, hoher Verband, Hände unter der Totendecke, einzelne Streublumen, rechts/links Kerzen. Das Bild wurde erstmals 1989 durch Clemens M. Gruber publiziert1641.
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„Illustriertes Grazer Extrablatt“ (o.D.) sowie „Österreichische Volkszeitung“ Nr. 36 vom 05.02.1889 Nowak, Karl Friedrich und Thimme, Friedrich: „Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts, Berlin 1932 1638 Weder die Angeli-Anekdoten-Sammler Elisabeth und Dr. Clemens-Mario Newzella (freundliche Mitteilung, Trautmannsdorf, 31.07.2002), noch die Sammlungen der Albertina (freundliche Mitteilung von Dr. Maria Luise Sternrath, Wien, 29.08.2002) des Historischen Museums der Stadt Wien (heute Wien Museum, freundliche Mitteilung Mag. Elke Doppler, Wien, 23.09.20032) oder das Kupferstichkabinett der Akademie der bildende Künste (freundliche Mitteilung Frau Monika Knofler, Wie, 16.09.2002) kennen das Leichen-Bildnis des Erzherzogs. 1639 Pausinger, Franz Xaver von, geb. am 10.02. 1839 in Frankenburg (Oberösterreich), gest. am 07.04.1915 ebenda, Ehrengrab der Gruppe 36 auf dem Kommunalfriedhof Salzburg; Tier- und Landschaftsmaler, Illustrator. Begleitete 1881 als Zeichner den Kronprinzen Rudolf auf einer Orientreise und war dann als Tiermaler und Illustrator in Wien, München und Salzburg tätig. 1640 Das Bild wurde in der 24. Auktion des Auktionshauses Hermann Historica München am 10.05.1991 für 800 DM aufgerufen. Den Zuschlag bekam ein Privatsammler bei 3.800 DM. Freundliche Mitteilung von Franz Hermann, Hermann Historica, München 29.09.1993 1637
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5. Zeichnung von Theodor Breitwiser: „Erste Aufbahrung der Leiche in den kronprinzlichen Zimmern der Hofburg“, betrauert von Elisabeth, Stephanie und Franz Josef, Linksprofil, hoher Verband, Hände unter der Totendecke, einzelne Streublumen, HM Inv. Nr. 165.473 bzw. NB/Bildarchiv 197.018 B 6. Zeichnung: „Die kaiserliche Familie bei dem todten Kronprinzen: Der Kaiser, die Kaiserin und Kronprinzessin Stephanie beten an der Leiche des Kronprinzen“, Oberkörper fast frontal im Bett aufgerichtet, kein Verband, Hände über der Totendecke, Blumengirlande, NB/Bildarchiv 237.822B. 7. Holzschnitt „Der Kronprinz im Sterbezimmer des Kaisers Franz“, betrauert von seiner Mutter, Ansicht im offenen Sarg von schräg oben, Linksprofil, ohne Verband, Hände über der Totendecke; „Das interessante Blatt“, 08.02.1889, NB/Bildarchiv 237.820B. 8. Zeichnung „nach der Natur“ von Rudolf Völkel, Kronprinz Rudolf auf dem Paradebett, Halbfigur, Rechtsprofil, dünne Verletzungswunde an der rechten Schläfe, ohne Verband. NB/Bildarchiv 500.241B. 9. Pastell von Late Corte, Kronprinz Rudolf auf dem Paradebett, Halbfigur, Rechtsprofil, dünne Verletzungswunde an der rechten Schläfe, ohne Verband, Hände mit Handschuhen über der Totendecke, Foto von A. Wimmer vertrieben durch A. F. Czihak´s Nachf. Wien. NB/Bildarchiv 509.867B 10. Zeichnung der Aufbahrung von David Mosé, Rechtsprofil, Halbfigur, ohne Verband, Hände (mit Kreuz) über der Totendecke, Sarg mit Kränzen geschmückte und von Kerzen umstanden. NB/Bildarchiv 502.988B (das Original hängt im Saal XIX der NB). 11. Zeichnung von S. Durand, Kronprinz Rudolf auf dem Katafalk in der Hofkirche, Darstellung mit Trauernden, Sarg von schräg oben, Rechtprofil, ohne Verband 12. Zeichnung von Wilhelm Gause „Der Tod des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich-Ungarn: Die Aufbahrung der Leiche in der Pfarrkirche der Hofburg“, Kronprinz Rudolf auf dem Katafalk, offener Sarg von der Seite, Rechtsprofil, ohne Verband, Hände auf der Totendecke, Darstellung mit Trauernden, Sarg von erzen umstellt 13. Zeichnung für das „Wiener Tagblatt“ von Wilhelm Gause (?) „Die Aufbahrung der Leiche des Kronprinzen in der Hofburgkirche“, Katafalk mit Trauerhimmel, Rechtsprofil, hoher Verband, Hände (mit Kreuz) auf der Totendecke, Sarg mit Kränzen geschmückte und von Kerzen umstanden, Darstellung mit Trauernden und vier wachhabenden Soldaten, NB/Bildarchiv 531.322B.
14. Zeichnung, Franz von Pausinger, Aufbahrung in der Burgkapelle – lt. Bericht von Robert Baron Doblhoff, 14. Oktober 1952. Die Zeichnung ist bisher unbekannt. 15. Zeichnung, Heinrich von Angeli (unbekannt)
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5. Einbalsamierung
„…unnser Lieben frawen Maria zu Loreto unter ihre füeß legen und begraben…“
Ferdinand IV. Wien, 1654
Verstarb ein Mitglied des Kaiserhauses, erfolgte in der Regel schon wenige Stunden nach Eintritt des Todes die Sezierung des Leichnams und die Entfernung der inneren Organe wie Herz und Eingeweide durch den Hofarzt – die so genannte Exenterierung. Anschließend erfolgte die Einbalsamierung mit „kostbaren Ingredienzien" wie Kräutern, Ölen und Bienenwachs. Die Teilung der Leiche in Herz, Eingeweide und Körper geht auf praktische Überlegungen des Mittelalters zurück: War ein Herrscher in einer Schlacht fern der Heimat verstorben, musste sein Leichnam für die Überführung und die anschließenden Trauerfeierlichkeiten konserviert werden1642. Der natürliche Verfallsprozess sollte verzögert und der Verstorbene bei der öffentlichen Aufbahrung auf dem „Paradebett" so pietätvoll wie möglich präsentiert werden. Bis 1878 wurden in der Kaisergruft mit wenigen Ausnahmen1643 ausschließlich die einbalsamierten Körper der Verstorbenen beigesetzt. Die Herzen – oftmals zusammen mit den Zungen – in silbernen Bechern in der Augustinerhofkirche und die Intestina (Eingeweide) in einem Kupfergefäß bei St. Stephan. Diese ab dem 17. Jahrhundert allgemein übliche Beisetzung an drei verschiedenen Orten geht auf die testamentarische Verfügung Ferdinands IV., des früh verstorbenen Bruders Kaiser Leopolds I., aus dem Jahre 1654 zurück. Er wollte sein Herz „zu Füßen Unserer Lieben Frau von Loreto" in der Hofpfarrkirche St. Augustin beigesetzt wissen. Dieser Wunsch entsprach der damals weit verbreiteten Frömmigkeit: durch eine Beisetzung an verschiedenen Orten wurden bestimmte Kirche ausgezeichnet und deren Bedeutung gesteigert. So sollten „drei Kirchen am Leichnam eines regierenden Herrn Anteil haben“: die von Kaiserin Anna gestiftete Kapuzinerkirche, die Hofpfarrkirche St. Augustin und der Dom zu St. Stephan. Neue Konservierungsverfahren machten Ende des 19. Jahrhunderts die Exenterierung der Leichen unnötig, so dass sich bereits die Erzherzoginnen Maria Annunziata, Sophie Friederika und Kaiserin Carolina Augusta die Trennung von Leib, Herz und Eingeweiden verbaten. 1642
Als Kaiser Maximilian II. am 12. Oktober 1576 in Regensburg starb, dauerte es fast vier Wochen, bis der Trauerzug stattfinden konnte, dem die Überführung des Leichnams per Schiff nach Prag folgte. 1643 u.a. Kaiserin Eleonora Magdalena von Pfalz-Neuburg 302
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6. Totenmaske und Wachsmoulage
"Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und eine solche Maske auf einen Block gesetzt, und das heißt man eine Büste. Wie selten ist der Künstler imstande, sie völlig wiederzubeleben."
Johann Wolfgang von Goethe Die Wahlverwandtschaften
Ob vom Gesicht des verstorbenen Kronprinzen eine Totenmaske abgenommen wurde, ist nicht bekannt – aber auch nicht unwahrscheinlich! Die Tradition der Totenmaske zumindest beginnt schon lange vor der Zeitrechnung, war jedoch lange ein Privileg bevorrechtigter Stände1644. Im 19. Jahrhundert begann dann die Blütezeit der Totenmaske als Kultobjekt des aufgeklärten Bürgertums. Sie repräsentierten als „Zimmerdenkmale“ die geistige Verbundenheit mit dem Dargestellten. Für Angehörige hat der Anblick des meist entspannten und ruhigen Gesichtsausdruckes oft etwas Tröstendes, da er einen friedlichen Eindruck hinterlässt. Aus dem österreichischen Kaiserhaus sind aus dem 19. und 20. Jahrhundert folgende Totenmasken bekannt: Erzherzog Karl, gest. 18471645. Napoleon Franz Joseph Karl, Herzog von Reichstadt, gest. 18521646
1644
Das historische Ägypten kennt Totenmasken in Form von Mumienportraits, Gesichtsmasken und Portraitköpfen. Das Abformen von Gesichtern mit Wachs und die Umwandlung dieser Negativformen in Positivabgüsse sind auch für das antike Rom und Griechenland dokumentiert. Seit 1422 wurden von den Gesichtszügen und Händen der französischen Könige Wachsabgüsse angefertigt. Die mit echtem Haar und Glasaugen ausgestatten Köpfe wurden zusammen mit den Händen an lebensgroßen Strohpuppen befestigt. Diese „Effigies“ wurden dann bei den oft wochenlangen Begräbnisfeierlichkeiten an Stelle des Leichnams zur Schau stellt. Ähnliche Praktiken sind aus England in den Jahren 1377 und 1509 bekannt. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurden Wachsabgüsse von Toten als Vorlagen für die Bildhauerei erstellt. Erst gegen Ende des 19 Jahrhunderts war die Totenmaske mehr als ein Hilfsmittel für Bildhauer oder Vorstufe der Effigies: sie bekam Erinnerungscharakter. Lessings Totenmaske von 1781 scheint erstmals nur aus einem Grund angefertigt worden zu sein – die Erinnerung an ihn zu bewahren! 1645 Abguss im Rollettmuseum, Baden/NÖ 1646 Reichstadt, Napoleon Franz Herzog von, geb. am 20.03.1811 in Paris (Frankreich), gest am 22.07.1832 in Schloss Schönbrunn (Wien), einziger Sohn Napoleons I. aus seiner Ehe mit Erzherzogin Marie Louise; König von Rom. Das Original der Totenmaske befindet sich in Paris, ein Abguss in Schloss Schönbrunn/Wien 303
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Maximilian, Kaiser von Mexiko. Das Original der Totenmaske befindet sich im Wiener Kapuzinerkloster1647, ein Abguss im Rollettmuseum Baden/NÖ. Kaiserin Elisabeth, gest. 1898. Die Totenmaske der Kaiserin wurde vom Hofmaler Franz Matsch1648 abgenommen1649. Ein Abguss befindet sich in der Kaiservilla Bad Ischl1650 sowie im Sisi-Museum der Wiener Hofburg. Erzherzog Franz Ferdinand, gest. 1914 und Sophie Herzogin von Hohenberg, gest. 1914. Die Totenmasken des Paares wurden am 28. Juni 1914 von Ludmilla und Rudolf Vasic in Sarajevo abgenommen. Je ein Abguss befindet sich auf Schloss Konopitscht in Tschechien sowie im Rollettmuseum Baden/NÖ1651. Kaiser Franz Joseph, gest. 1916. Die Totenmaske des Kaisers wurde in der Nacht vom 23. auf den 24. November 1916 von Rudolf Marschall abgenommen1652. Eine Totenmaske des Kronprinzen Rudolf konnte trotz langjähriger Forschung von uns nicht nachgewiesen 1653
werden
. Bekannt wurde zwischenzeitlich jedoch eine Lebendmaske des Kronprinzen aus dem Sammlungsbestand
der Österreichischen Nationalbibliothek, die nach heutigem Forschungsstand kurz vor seinem Tode – wahrscheinlich von Caspar von Zumbusch1654 – abgenommen wurde1655. In der Mayerling-Literatur wird im Zusammenhang mit der öffentlichen Aufbahrung des toten Kronprinzen immer wieder darauf hingewiesen, dass sein Schädel für die Exposition präpariert worden sei. Hierbei muss es sich um eine naturgetreue, kolorierte dreidimensionale Moulage1656 gehandelt haben. Bei dem toten Kronprinzen konnte jedoch nicht die traditionelle Moulagenfertigung zum Einsatz kommen, da diese auf einem mit Wachs ausgegossenen Gipsnegativ basiert. Bei Rudolf müsste zunächst die zerstörte Schädelpartie mit Gips oder Ton rekonstruiert worden sein, so dass ein Negativabdruck angefertigt werden konnte. Alternativ könnte die zerstörte Schädelregion direkt mit Wachs wieder aufgebaut worden sein. Handwerklich dürfte zur damaligen Zeit ein Bildhauer oder auch ein geschulter
1647
freundliche Mitteilung von Frau Doris Schneider, Österreichische Nationalbibliothek, Wien 03.11.1992 Matsch, Franz von, geb. 1861 in Wien, gest 1942 in Wien; 1891 wird Matsch Mitglied des Wiener Künstlerhauses, 1893 Professor an der Kunstgewerbeschule und Hofmaler, 1912 Erhebung in den Adelsstand mit dem Prädikat „von“. Arbeitete als Portraitist und Landschaftsmaler. Von ihm stammt die Kunstuhr des "Anker" am Hohen Markt in Wien. 1649 Fotografische Aufnahme, Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, NB 152.202/BR 1650 freundliche Mitteilung von EHZ Markus Salvator von Habsburg-Lothringen, Bad Ischl, 09.01.2006 1651 freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Wladimir Aichelburg, 13.01.2006, Wien 1652 Fotografische Aufnahme, Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, NB 525.767/BRF 1653 Dr. Günter Düriegl, Direktor der Museen der Stadt Wien, teilte uns am 06.09.1990 mit, dass sich in den Sammlungen der Museen der Stadt Wien keine Totenmaske des Kronprinzen befindet, sowie dass eine Totenmaske des Kronprinzen Rudolf „nicht (mehr?) existiert“. Dr. Peter Parenzan, wiss. Leiter Hofmobiliendepot Wien, teilte uns am 14.09.1990 mit, dass sich eine Totenmaske des Kronprinzen nicht in der Sammlung der Bundesmobilienverwaltung befinde: „Soweit mit bekannt ist, existiert keine Totenmaske des Kronprinzen Erzherzog Rudolf“. Direktor Dr. Walter Wieser teilte uns am 05.11.1992 mit, dass ein Bild der Totenmaske des Kronprinzen Rudolf im Bild-Archiv und der Portrait-Sammlung der Nationalbibliothek nicht vorhanden sei. EHZ Magister Markus Salvator von Habsburg-Lothringen teilte uns freundlicher Weise mit, dass in der Familie Totenmasken der kaiserlichen Kinder nicht bekannt sind, Bad Ischl, 09.01.2006. 1654 Zumbusch, Caspar Clemens Ed. Ritter von, geb. am 23.11.1830 in Herzebrock/Westfalen (Deutschland), gest. am 27.09.1915 in Rimsting bei Prien am Chiemsee (Deutschland), Bildhauer. Erste Ausbildung in München, 1857/58 Studienreise nach Rom, schuf 1866-72 in München das Denkmal für König Maximilian II. 1873-1901 Akademischer Professor in Wien; hier entstanden als seine Hauptwerke das Beethoven-Denkmal (1873-80) und das Maria-Theresien-Denkmal (1873-88) sowie die Reiterdenkmäler für Feldmarschall Graf Radetzky (1891) und Erzherzog Albrecht (1898/99). Wichtigster Monumentalplastiker der Ringstraßenzeit. 1655 Erstmals ausgestellt in „Ich bin andere Bahnen gegangen...“, Schloß Schönbrunn Kultur- und Betriebsgesellschaft, Hofburg, Wien 2000 1656 Moulage von frz. mouler – abformen. Moulagen gehen auf anthropomorphe Wachsplastiken der Antike zurück und hatten als Anatomica plastica im 18. Jahrhundert ihren Verbreitungshöhepunkt. Die europäische Moulagenkunst erlebte zwischen 17880 und 1940 ihre Blütezeit und fand die größte Verbreitung in der Darstellung pathologisch veränderter Körperregionen. 1648
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Mediziner in der Lage gewesen sein, den zerstörten Schädel nachzubauen. Allerdings könnte die Rekonstruktion auch über der Lebensmaske des Kronprinzen erfolgt sein, da dieses Positiv eine unversehrte Stirn- und Gesichtspartie wiedergibt1657. In den Zeitungen, so resümiert Brigitte Hamann, wurde peinlich genau über die „grausigen Veränderung der Gesichtszüge“ während der zweitägigen, öffentlichen Aufbahrung im geöffneten Sarg Buch geführt. So soll sich die Umgebungstemperatur durch die zahlreichen aufgestellten Kerzen so sehr angehoben haben, dass die Wachsmoulage zu zerfließen drohte.
1657 Mit dem Modelleur Anton Elfinger (geb. am 15.01.1821 in Wien, gest 19.01.1864 in Wien) begann in Wien die Moulagierkunst, die durch den Arzt Carl Henning (1860 bis 1917) und seinen Sohn Theo Henning (gest. 1946 in Salzburg) zur Perfektion gelangte. 1920 wandelte die „Henning-Dynastie“ das der Wiener Universität angeschlossene Moulagenatelier in das private „Wiener Moulage-Institut – vormals: Universitätsinstitut für Moulage: Gründer Dr. med. Carl Henning – Krankheitsnachbildungen, Lebend- und Totenmasken, kosmetische Gesichtsprothesen und Hauptplomben. Inhaber: akad. Maler Theo Henning, Wien IX, Mariannengasse 12“ um. Weitere bekannte Wiener Modelleure waren Dr. Alphons Raimund Poller (1879 bis 1930) und Maximilian Blaha (geb. 1905).
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
7. Aufbahrung und Begräbnis
„DENATVS. IN. VILLA. MAYERLING. DIE. XXX. MENSIS. IANVARII. MDCCCLXXXIX“
Deckelinschrift des Sarges von Kronprinz Rudolf in der „Kaisergruft“
Wien, 1889
Der Sarg des Kronprinzen wurde in der Mitte der Kapuzinerkirche aufgebahrt, das Fußende zum Altar. Interessant: Die Särge von Kaiserin Elisabeth und Erzherzog Albrecht wurden zwar ebenfalls in der Kapuzinerkirche aufgebahrt, jedoch direkt vor dem Altar und mit dem Fußende zur Orgelempore.
Am Samstag, den 20. April 1889, wurde der schlichte Sarg des Kronprinzen in einen erst jetzt fertigen Präsentationssarkophag umgebettet. Der kupferne Prunksarg1658 des Kronprinzen wurde – ebenso wie neun Jahre später, 1898, der seiner Mutter – bei der Penzinger Sargfabrik von Julius Maschner & Söhne, vormals A. N. Beschorner1659, hergestellt. Zunächst fand der Sarg in der Ferdinandsgruft Aufstellung, dem damals letzten Raum der Kapuzinergruft1660. Erst nach Fertigstellung des unter Kaiser Franz Joseph erbauten Gruftraumes 1908 wurde der Sarg an seinen heutigen Platz in der Franz Josephs-Gruft gebracht1661. Dort standen zunächst die Särge von Elisabeth, Rudolph und – 1658
Truhensarg mit profiliertem Deckel und antikisierender Ornamentik im Stil der Firma A. M. Beschorner, heraldische Ornamentik: Wappenschildern mit Herzogsmantel in reichem Faltenwurf auf Front und Seiten, seitliche Löwenkopfgriffe, Füße als Löwenpfoten, Kreuz mit plastisch geformten Corpus Christi auf dem Deckel 1659 Alexander Markus Beschorner, geb. Juni 1823 in Lévac (Levise, Slowakische Republik), gest. 31.10.1896 in Wien, entwickelte erstmals die Herstellung von Metallsärgen aus Zinkblech und gründete 1860 in Wien eine eigene Metallwarenfabrik (später auch in Berlin und Budapest), in der er u.a. auch Särge herstellte. Sein Sohn, Alexander Matthias, führte die Fabrik und gründete 1870 das private Leichenbestattungsunternehmen „Concordia“, das 1907 von der Gemeinde Wien gekauft wurde. Julius Maschner, der ab 1871 als Agent in Wien aufscheint, gründete 1884 die Firma „Julius Maschner & Söhne“, die Sargverzierungen und später auch Artikel für Leichenbestattungsunternehmer, ab 1892 auch Särge erzeugte. 1985 wurde die Firma liquidiert. Wann die beiden Unternehmen fusionierten, ist nicht bekannt. Freundliche Mitteilung der Bestattung Wien, Wien, 1803.2004 1660 Der Sarg des Kronprinzen stand dort schräg hinter dem Sarkophag von Kaiser Ferdinand I. mittig unter dem halbkreisförmigen Fenster. Heute befindet sich dort der Durchgang in die neue Gruft, das Fenster ist vermauert (vergleiche „Blick in die Kapizinergruft“, Aquarell von Heinrich Tomec [geb. 1863 in Prag, gest. 1928 in Wien], 1889, aus dem Besitz des Kaisers, angeboten als Los 133 in der Kaiserhausauktion vom 26.04.2005 im Wiener Palais Dorotheum) 1661 freundliche Mitteilung von Pater Gottfried Undesser, Wien o.D.. Sarg Nr. 144: Kronprinz Rudolf, Wien, „Kaisergruft“, Franz-Josephs-Gruft, rechts des Kaisers 306
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bis 1960 – Erzherzogin Sophie Friederike nebeneinander auf dem Boden. Nach dem Tode von Kaiser Franz Joseph wurde dessen schlichter Sarkophag in die Mitte gestellt, später dann erst erhöht auf einen Sockel. In der Folgezeit erhielt der Gruftraum einen Marmorsockel für die nun nur noch drei Särge1662. Im Jahre 2005 wurden die Särge mit einer gläsernen Einhausung versehen. Diese soll die Sarkophage während der Sanierung des Gruftraumes schützen1663. Nach Mitteilung der Kapuzinerpater ruht der Leichnam des Kronprinzen in einem hölzernen Innensarg, der mit zwei Schlössern versehen ist1664. Die Kartusche auf dem Deckel des kupfernen Prunksarges hat die lateinische Inschrift „RVDOLFVS. PRINCEPS. HEREDITARIVS. IMPERII. AVSTRIAE. REGNI HVNGARIAE. A. A. FRANCISCI. IOSEPHI. I. IMPERATORIS. AVSTRIAE. REGIS. HVNGARIAE ET ELISABETHAE. IMPERATRICIS. REGINAE FILIVS. NATVS. LAXEMBVRGI. DIE. XXI. MENSIS. AVGVSTI. MDCCCLVIII. DENATVS. IN. VILLA. MAYERLING. DIE. XXX. MENSIS. IANVARII. MDCCCLXXXIX. H. S. E.1665“ Bei den Kapuzinern werden die Schlüssel zu den Särgen der Familienmitglieder in einem verschnürten Leinenbeutel, der in einem älteren Kasten liegt, aufbewahrt. Sie tragen kein Namensschild, sondern sind fortlaufend nummeriert. 1998 wurde festgestellt, dass der Schlüssel zum Sarg des Kronprinzen nicht mehr vorhanden ist1666. Der erste Schlüssel zum Sarg von Kaiserin Elisabeth wird nicht bei den Kapuzinern aufbewahrt, sondern befindet sich – wie sonst nur für den zweiten Schlüssel üblich – ebenfalls in der Wiener Schatzkammer. Die 139 Sargschlüssel in der Schatzkammer der Wiener Hofburg – darunter fünf Schlüssel für Särge in der Gruft von Stift Neuberg sowie je ein Schlüssel für Sarkophage in den Grüften in Seckau und Mantua – werden heute in einem dreiflügeligen Nussbaum-Prunkschrank aufbewahrt1667. Jeder der unterschiedlich gestalteten Schlüssel liegt in einer kleinen Lade und hat einen Namensanhänger1668. Der Schlüssel zu Rudolfs Sarg1669 liegt in einem mit blauem Samt ausgeschlagenen Schubfach in der Abteilung A, dem Mittelkasten, und ist mit einem Anhänger und der Aufschrift „Kronprinz Erzh. Rudolf * 1889“ gekennzeichnet1670. Vor Aufstellung des Schrankes waren die Sargschlüssel in der mittleren Lade im altarförmig gestalteten Mittelteil des Kastens Nr. I der Geistlichen Schatzkammer verwahrt1671. In josephinischer Zeit war die Geistliche Schatzkammer dem Burgpfarrer unterstellt und die Inventare wurden nur flüchtig geführt. Es ist jedoch anzunehmen, dass in der Schublade nur schwer Ordnung zu halten war und sie sicher bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts überquoll.
1662
Blickt man aus der Gruftkapelle in die Franz Joseph-Gruft, so steht der Sarg der Kaiserin links und der des Kronprinzen rechts von Kaiser Franz Joseph. 1663 Die Kapuzinergruft“, Folge 3/2005 1664 Innensärge mit bis zu vier Schlössern sind möglich; freundliche Mitteilung von Pater Gottfried Undesser, Wien o.D. 1665 deutsche Übersetzung nach Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2. Auflage 1993 „Hier ruht Rudolf, Kronprinz des Kaiserreichs Österreich und des Königreichs Ungarn, Erzherzog von Österreich, Sohn des Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn Franz Joseph I. und der Kaiserin und Königin Elisabeth, geboren zu Laxenburg, den 21. August 1858, gestorben im Schloß Mayerling, den 30. Januar 1889“ 1666 Dies ist auch heute noch der Fall: Auf unsere Anfrage konnte der Schlüssel trotz umfangreicher Suche durch den Pater Guardian nicht aufgefunden werden; freundliche Mitteilung von Pater Gottfried Undesser, Wien, 07.10.2003 1667 Schatzkammer der Wiener Hofburg, Raum 6, Inventarnummer XVI A 24: Schrank zur Aufbewahrung der Schlüssel zu den Särgen der Habsburger; Hoftischler Alexander Albert, Wien 1895; Nuss und andere Hölzer. Höhe: 243 cm, Breite 149 cm, Tiefe 64 cm. Inschrift „CLAVES TVMBARVM DOMVS AVGVSTAE“ 1668 In der Schatzkammer werden die Schlüssel zu insgesamt 139 Särgen verwahrt, die in der Kapuzinergruft, aber auch in Seckau, Bozen, Gmünden, Gran/Estergom, Linz, Mantua und Neuberg stehen. Die Reihe der Schlüssel reicht bis zu Otto dem Fröhlichen (gest. 1339) zurück, wobei es sich jedoch um Neuanfertigungen handelt. Die ältesten Schlüssel gehören dem 17. Jahrhundert an. 1669 Schatzkammer der Wiener Hofburg, Raum 6, Inventarnummer XVa 110, Sargschlüssel zum Sarg von Erzherzog Rudolf; Länge: 6,9 cm, Material: Metall 1670 Der Mittelschrank ist den Kaisern und ihren engsten Angehörigen vorbehalten, die Sargschlüssel aller anderen Erzherzoge sind in den Seitenteilen untergebracht. 307
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Um Abhilfe zu schaffen, wurde ein neuer Schrank in Auftrag gegeben und die bislang verwahrten Sargschlüssel der Verwahrung der Weltlichen Schatzkammer überstellt und inventarisiert. In diesem gedruckten „Inventar der in der Schatzkammer aufbewahrten Schlüssel zu den Särgen verstorbener Mitglieder des allerhöchsten Kaiserhauses so dieselben in der kaiserlichen Gruft bei den P.P. Kapuzinern in Wien und auch an anderen Orten beigesetzt sind1672“ erhielt der Schlüssel zum Sarg des Kronprinzen die Inventarnummer 110, die er auch heute noch führt1673. In den letzten Jahren wurden mindestens zwei so genannte Erinnerungs-Schlüssel zum Sarg des Kronprinzen Rudolf in Auktionen angeboten – 1994 in München1674 und 2005 in Wien1675. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um echte Schlüssel, sondern um Stellvertreterobjekte mit Erinnerungscharakter.
1671
Der Schrank, im „Führer durch die Schatzkammer des allerhöchsten Kaiserhauses“, Wien 1896, als „Kasten XVII“ geführt, wurde „über Auftrag Seiner Excellenz des Herrn Oberstkämmerers Grafen zu Trauttmansdorff-Weinsberg“ von Wiener Betrieben angefertigt. 1672 Die Sargschlüssel von Kaiserin Elisabeth (Nr. 125) und Kaiser Franz Joseph (Nr. 138) wurden handschriftlich in das Druckwerk eingetragen; freundliche Mitteilung von Hofrat Dr. Helmut Trnek, Direktor der Kunstkammer, Wien 18.07.2003 1673 freundliche Mitteilung von Hofrat Dr. Helmut Trnek, Direktor der Kunstkammer, Wien 18.07.2003 1674 Hermann Historica oHG, München, 31. Auktion am 14. Oktober 1994, Los 1946: Sargschlüssel Kronprinz Rudolf, Bronze vergoldet mit Inschrift „Sargschlüssel Kronprinz Rudolf – Für Ehrzgin. Marie Valerie“, vernäht auf violettem Kissen, Hersteller „Geb. Rodek K.K. Hoflieferanten Wien“, Inventaretikett der Kaiserin Elisabeth und Kammerstempel der Erzherzogin Marie Valerie 1675 Palais Dorotheum, Wien, Auktion Kaiserhaus am 26. April 2005, Los 137: Sargschlüssel Kronprinz Rudolf, Messing, vergoldet, Länge 8,5 cm, in originalem Etui mit goldgeprägtem Datum „5. Februar 1889“ 308
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
8. Leichenöffnung Marys
„Einerseits will ich die Totenruhe nicht stören und andererseits auch die Wissenschaft nicht behindern.“
Eleonore Gräfin von Hoyos Salzburg, 09.08.1990
Kammerdiener Johann Loschek war am 30. Januar 1889 der Erste, der die Leiche der Baroness Vetseras sah – wenn auch zunächst nur aus ca. zwei bis drei Metern in einem verdunkelten Raum durch eine eingeschlagene Verbindungstür aus dem Entreezimmer heraus – neben dem toten Kronprinzen: „Rudolf lag entseelt auf seinem Bette angezogen, Mary Vetsera ebenfalls auf Ihrem Bette vollständig angekleidet. Rudolfs Armeerevolver lag neben ihm. Beide hatten sich überhaupt nicht schlafen gelegt. Beiden hing der Kopf herunter. Gleich beim ersten Anblick konnte man sehen, daß Rudolf zuerst Mary Vetsera erschossen hatte und dann sich selbst entleibte.1676“ Allerdings meint Loschek an späterer Stelle auch, erst er habe die beiden Toten in ihre Betten gebettet und diese „standen nicht wie Ehebetten nebeneinander, sondern an den beiden Wänden.1677“ Nach der später erfolgten Inventur ist jedoch ersichtlich, dass sich im Schlafzimmer des Kronprinzen nur ein Bett befand. In welcher Lage – unserer Meinung nach kann ein Kopf nur herab hängen, wenn die Person sitzt – und an welcher Position befanden die Leichen, wenn man von tatsächlich nur einem Bett ausgeht? Hofsekretär Slatin: „Ich erinnere mich mit voller Bestimmtheit, daß der Kronprinz im Bette links, die Baronesse Vecsera recht lag.1678“ Nach den von Conte Corti aus dem Tagebuch der Erzherzogin Marie Valerie zitierten Erinnerungen an ein Gespräch mit dem Leibarzt Widerhofer, soll der Baroness mit offenen Haaren über den Schultern und einer Rose in den gefalteten Händen ausgestreckt im Bett „aufgebahrt“ worden sein, währen der Kronprinz vornüber gebeugt am Bettrand saß1679: „Er [Widerhofer] legte Leiche [des Kronprinzen] zurück, längst erkaltet, der Schädel geborsten, die Kugel bei einer Schläfe hinein andere hinaus. Gleiche Wunde bei Mädchen.“ Hoyos erinnerte sich: „Nachdem die Thüre, durch die eingeschlagene Füllung greifend, mit dem Schlüßl von innen geöffnet war, trat Loschek ein, um nach wenigen Augenbli1676 Erinnerungen Johann Loschek, „Neues Wiener Tagblatt“ vom 24.04.1932, zitiert bei Loehr, Clemens: „Mayerling - Eine wahre Legende“, Amalthea-Verlag, Wien 1968 1677 Erinnerungen Johann Loschek, „Neues Wiener Tagblatt“ vom 24.04.1932, zitiert bei Loehr, Clemens: „Mayerling - Eine wahre Legende“, Amalthea-Verlag, Wien 1968 1678 Slatin, zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1679 zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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cken zu erklären, daß sich keine Spur von Leben in den Körpern befindet, der Kronprinz über den Bettrand gebeugt liege, eine große Blutlache vor sich…1680“ Soweit diese Berichte. „Nach Fertigung des Testamentsaufsuchungs-Protokolles durch sämtliche Anwesende“, so Slatin, wurde noch am 30. Januar „der weibliche Leichnam in ein anderes Zimmer gebracht1681“. Am Folgetag, dem 31. Januar, gegen halb acht Uhr abends führte Schlosswart Alois Zwerger Graf Stockau und Baron Baltazzi zusammen mit dem Arzt Dr. Auchenthaler und dem Hofsekretär Slatin in diesen Raum. Heinrich Slatin: „Der Leichnam wurde gereinigt, angekleidet und dem Grafen Stockau zur Überführung nach Heiligenkreuz übergeben.“ Tatsächlich fanden die Verwandten den Leichnam der Baroness in einem der parterre liegenden Zimmer des Schlosses, nachdem das Siegel der Tür erbrochen worden war. Darüber berichtet Helene Vetsera in ihrer „Denkschrift“ nach den Erzählungen ihres Bruders und Schwagers: „Die Leiche befand sich noch in demselben Zustand, in welchem sie tagsvorher mit jener des Kronprinzen aufgefunden wurde, die Augen weit geöffnet und starr hervorgetreten, aus dem halbgeöffneten Munde war ein gestockter Blutstrom hervorgequollen, der einen Teil des Körpers bedeckte. Die Arme ruhten leicht gebogen im Schoße, die linke Hand umschloß krampfhaft ein Taschentuch, welche nur mit Gewalt aus der erstarrten Hand entfernt werden konnte. Bei der ersten Auffindung wurde die Leiche im Zimmer des Kronprinzen am Rücken liegend aufgefunden. Sie war jedoch von dort in ein anderes Zimmer herübergetragen, auf ein Bett gelegt und mit den Kleidern derart überdeckt worden, daß sie erst nach Entfernung der Kleider sichtbar wurde.1682“ Slatin berichtet weiter: „Die Leiche wurde nunmehr vom Leibarzt Dr. Auchenthaler gereinigt und angekleidet und dann den Verwandten zur Überführung nach Heiligenkreuz übergeben. Vorher war ein Protokoll über die Auffindung der Leiche und die Beschaffenheit der Schusswunde verfaßt und darin die Bemerkung aufgenommen worden, daß offenbar ein Selbstmord vorliege!“ Das von Slatin verfasste Protokoll liegt in Abschrift im Polizeiakt der Baron Krauß auf. In dem von Slatin, Stockau, Baltazzi und dem „k.k. Leibarzt Dr. Franz Auchenthaler“ am 31. Januar 1889 unterzeichneten Protokoll heißt es zum Befund der äußeren Leichenschau u.a.: „An dem linken Stirnwandbeine befindet sich ein 5 cm langer, 3 cm breiter lappiger Substanzverlust der Haut, in dessen Umgebung die Haare versengt sind; es ist dies also die Eintrittsöffnung des Projektils. Der Schusskanal geht quer durch das Gehirn und endet 2 cm ober dem äußeren rechten Gehörgang, hier eine schmale kantige Ausschussöffnung bildend. Die Knochen um Ein- und Ausschuß sind ringsherum zersplittert, ebenso auch die Schädeldecke. Sonst ist keine Verletzung wahrzunehmen. Die Verletzung ist absolut tödlich und mußte der Tod augenblicklich eingetreten sein. Am Rücken und an den unteren Extremitäten befinden sich zahlreiche Totenflecken.“ Zusammenfassend sei gesagt, dass die fünf Zeugen der Leichenschau – neben Stockau, Baltazzi, Auchentaler und Slatin war ja noch Schlosswart Zwerger anwesend – den Leichnam einer weiblichen Person sahen, der als Mary Vetsera identifiziert wurde. Ob er vollständig bekleidet war, ist nicht bekannt. Er wurde jedoch entkleidet und gewaschen. Als Todesursache wurde „zweifellos Selbstmord mittels Schusswaffe“ angegeben. Am Kopf der Toten fand sich ein Schusskanal; die Verletzung des Schädels zwischen linkem Stirnwandbein und rechtem Schädel war tödlich. 1680
Denkschrift des Grafen Josef Hoyos, nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928, zitiert bei Loehr, Clemens: „Mayerling - Eine wahre Legende“, Amalthea-Verlag, Wien 1968 1681 Hermann Swistun führt in den Anmerkungen in seinem Buch „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau-Verlag, Wien 1983 aus, dass der Enkel von Graf Stockau, Franz Reichsgraf Wimpffen ihm im Juni 1971 gesagt habe, dieses Zimmer sei weder ein Dachboden noch eine Abstellkammer, sondern nach Aussage des Grafen Stockau Loscheks Schlafraum gewesen. Diese Tatsache kann auch erklären, warum im bereich dieses Zimmers die Seitenkapelle der späteren Klosterkirche errichtet wurde – zwingende Gründe hierfür gab es nicht. 1682 „Denkschrift“ der Helene Vetsera, zitiert bei zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 310
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Der Mund der Toten war halb geöffnet, die hervortretenden Augen waren weit geöffnet. Aus dem Mund war– zwischenzeitlich getrocknetes – Blut über einen Teil des Körpers geflossen. Die Haare, im Bereich der Einschussöffnung versengt, waren geöffnet. Die Arme waren gebeugt und im Schoß zusammengelegt. In der linken Hand befand sich ein Taschentuch. Die Tote wies am Rücken sowie an den unteren Extremitäten Leichenflecken auf. Eine weitere Untersuchung des weiblichen Leichnams fand nicht statt. Er wurde nach der Reinigung in die bei ihm gefundenen Kleidungsstücke gekleidet und nach Heiligenkreuz gebracht. Auch 1956, anlässlich der Umbettung der Skelettreste in einen neuen Sarg, fand keine Untersuchung der Gebeine der Baroness statt, da sich u.a. der anwesende Amtsarzt nicht für zuständig erklärte. Am 08. Mai 1978 erteilte Heinrich Baltazzi-Scharschmied, Cousin von Mary Vetsera, seinem Badener Hausarzt Dr. med. Gerd Holler die Vollmacht, die sterblichen Überreste der Mary Vetsera zu obduzieren. Während die Gemeinde Heiligenkreuz aus fremdenverkehrspolitischen Erwägungen gegen eine Untersuchung des Skelettes war, teilte als nächsthöhere Instanz die Bezirkshaupotmannschaft Baden dem Arzt mit, dass das Leichenbestattungsgesetz für diesen Fall nicht anwendbar sei. Der gutachterlich angerufene Verfassungsdienst der Niederösterreichischen Landesregierung bekräftige die Aussage und stellte fest, dass „es sich hier nicht mehr um eine Leiche im Sinne des Gesetzes handelt.1683“ Einzig die „zivilrechtliche Verfügungsmacht über die Grabstätte“, also das Stift Heiligenkreuz, habe über das Ansuchen zu entscheiden. Am 3. November 1978 bat Holler den Abt von Heiligenkreuz, der Untersuchung zuzustimmen – doch Franz Gaumannmüller1684 lehnte am 14. März 1978 ab: „Ich glaube ... der Toten verpflichtet zu sein, ihre Ruhe nicht zu stören.1685“ So schien es, wie bereits bei der versäumten Untersuchung 1959, als bleibe es weiterhin unklar, wie und woran Mary Vetsera und letztlich Kronprinz Rudolf starb. „Woran Sie wirklich starben.“ In Bezug auf Mary Vetsera hätte der Mediziner und Autor Hans Bankl im Sommer 1988 beinahe eine Antwort geben können1686. Nach persönlichen Gesprächen in den Jahren 1987 und 1988 hatten sowohl der Abt von Heiligenkreuz, Pater Gerhard Hradil, als auch die in Salzburg lebende Ferdinande Baronin Vetsera1687 dem Pathologen Professor Dr. Hans Bankl1688 die Genehmigung zur Obduktion der Mary von Vetsera gegeben1689 – und bald darauf wieder zurückgezogen. Wie kam es dazu? Universitätsprofessor Bankl hatte bereits „seit längerem schon den Plan verfolgt, die Affäre von Mayerling aus der Sicht des Mediziners neu aufzurollen.1690“ Ihm war jedoch klar, dass eine Untersuchung der sterblichen Über1683
Holler, Gerd: „Mayerling: Die Lösung des Rätsels – Der Tod des Kronprinzen Rudolf und der Baronesse Vetsera aus medizinischer Sicht“, Verlag Fritz Molden, Wien 1980 1684 Abt Franz Gaumannmüller regierte von 1969 bis 1983. Der Forstingenieur in Wasserberg hat sich im Stift durch seine rege Renovierungs- und Bautätigkeit entfaltet. Graumannmüller galt unter seinen Mitbrüdern als kraftvoller Wirtschaftsmann, jedoch auch als „Vater der Seinen“. 1685 Holler, Gerd: „Mayerling: Die Lösung des Rätsels – Der Tod des Kronprinzen Rudolf und der Baronesse Vetsera aus medizinischer Sicht“, Verlag Fritz Molden, Wien 1980 1686 Bankl, Hans: „Woran die wirklich starben - Krankheit und Tod historischer Persönlichkeiten“, Verlag Wilhelm Maudrich, Wien 3. Auflage 1992 1687 Ferdinande „Nancy“ Baronin Vetsera, 01.05.1905-24.05.1990, beigesetzt auf dem Kommunalfriedhof Salzburg 1688 Bankl, Hans. Geboren 1940 in St. Pölten, Großvater Fleischhauer, Vater Internist. Studium an der Universität Wien, 1965 Promotion zum Dr. med., 1972 jüngster Pathologie-Dozent Österreichs, Univ.-Prof. für Pathologie, seit 1977 Vorstand des Pathologischen Institutes des Krankenhauses der Stadt St. Pölten (heute: Institut für Klinische Pathologie des Allgemeinen Österreichischen Landeshauptstadt St. Pölten) , unterrichtet an der Kunsthochschule Wien „Anatomie für Künstler“. Der Medizinalrat ist Autor von über 160 wissenschaftlichen Publikationen, u.a. „Die Krankheiten Ludwig van Beethovens“, „Die Reliquien Mozarts (1992)“, „Die kranken Habsburger“, „Der Pathologe weiß alles ... aber zu spät (1997)“, „Woran sie wirklich starben – Krankheiten und Tod historischer Persönlichkeiten“, „Viele Wege führen in die Ewigkeit – Schicksal und Ende außergewöhnlicher Menschen“, „Der Rest ist nicht Schweigen – Lebenswerk und Lebensende bedeutender Menschen“, „Das Messer steckt im Rücken – Geschichten aus der Gerichtsmedizin (2002)“ 1689 freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Bankl an den Verfasser, St. Pölten 12.11.2002 1690 Markus, Georg: „Meine erste Begegnung mit Mary Vetsera“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien 25.12.1992 311
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reste des Kronprinzen außerhalb jeder Diskussion lag. „Also versuchte er die wissenschaftliche Aufklärung über die Vetsera.“ Die mündliche Genehmigung der Graböffnung durch die Nachfahren in Person der Nichte Ferdinande Vetsera lag bereits vor. Nachdem anlässlich der ersten Anfrage von Gerd Holler 1978 der Abt des Stiftes Heiligenkreuz, Franz Gaumannmüller, noch sein Veto eingelegt hatte1691, erklärte sich nach seiner Wahl Abt Gerhard Hradil O.Cist. mit einer Exhumierung einverstanden. Von einer Graböffnung versprach sich Bankl Antworten auf zwei Fragen: Starb Mary Vetsera durch eine Kugel aus nächster Nähe – also durch den Kronprinzen – oder wurde sie aus Entfernung erschossen? Und: War Mary tatsächlich schwanger, wie es seit etlichen Jahren immer wieder behauptet wurde1692? Bankl veranschlagte für die Untersuchungen einen Zeitraum von rund vier Wochen1693. Für die anstehende Untersuchung wurde eine Kommission aus Mitgliedern der Medizinischen Fakultät der Universität Wien zusammen gestellt1694. Im März 1987 vertraute sich Hans Bankl dem Wiener Krone-Kolumnisten Georg Markus an, der bereits mehrfach über den Universitätsprofessor berichtet hatte1695. Nach den beiden Einverständniserklärungen war nämlich noch offen, „wer das aufsehenerregende Forschungsprojekt finanzieren würde.1696“ Krone-Herausgeber Hans Dichand sicherte zu, die wahrscheinlichen Umbettungskosten in Höhe von 40.000 Schilling zu übernehmen. Bankls medizinischer Verlag stieg jedoch schon bald in die Verhandlungen ein, da der Arzt sich nur mit dem wissenschaftlichen Teil des Unternehmens beschäftigt hätte und „sich nicht um den kommerziellen Aspekt kümmern könne. Die ursprünglich besprochenen 40.000 Schilling wären nicht haltbar.1697“ Kurze Zeit später meldete sich im Namen des Medizin-Verlages ein Münchner Medienhändler bei der Kronen-Zeitung, und forderte für die Berichterstattung nun 350.000 Schilling. „Sollte die Kronen Zeitung nicht interessiert sein, hätte er die Zusage deutscher Illustrierten und anderer Zeitungen, die einen Betrag in dieser Größenordnung aufbringen würden.1698“ Da der einstige Geheimplan mittlerweile fast international im Gespräch war und täglich eine Zeitung über die geplante Exhumierung hätte berichten können, wurde Georg Markus nervös. „In diesem Stadium fühlte ich mich an mein Stillhalteabkommen nicht mehr gebunden. Und ich veröffentlichte eine Reportage in der Kronen-Zeitung.1699“ Seine Schlagzeile am 03. November 1988: „Mary Vetseras Grab wird jetzt geöffnet1700“. Die Resonanz für Bankl und sein Projekt war fatal. Am 12. November 1988 hätte die Gruft in Heiligenkreuz geöffnet werden sollen – doch ebenso wie der Abt von Heiligenkreuz zog auch Ferdinande Vetsera nach dem Bericht von Georg Markus ihre Einverständniserklärung zurück: „Der Zeitungsrummel störte mich, außerdem ist der Gerichtsmediziner Holczabek nicht mehr bei der Kommission, und deshalb fürchte ich um die Qualität der wissenschaft-
1691 Bankl, Hans: „Woran die wirklich starben - Krankheit und Tod historischer Persönlichkeiten“, Verlag Wilhelm Maudrich, Wien 3. Auflage 1992 1692 siehe auch Holler, Dr. Gerd: „Mayerling: Die Lösung des Rätsels - Der Tod des Kronprinzen Rudolf und der Baroneß Vetsera aus medizinischer Sicht“, Verlag Fritz Molden, Wien 1980 und Holler, Dr. Gerd: „Mayerling - Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988 1693 Markus, Georg: „Warum Mary Vetseras Grab nicht geöffnet wird“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien o.D. 1694 freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Bankl an den Verfasser, St. Pölten 12.11.2002 1695 so z.B. 1987 anlässlich der Beweisführung durch Bankl, dass Beethovens Taubheit auf eine frühzeitige Verknöcherung des Gehörganges zurückzuführen sei. 1696 Markus, Georg: „Meine erste Begegnung mit Mary Vetsera“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien 25.12.1992 1697 Markus, Georg: „Warum Mary Vetseras Grab nicht geöffnet wird“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien o.D. 1698 Markus, Georg: „Warum Mary Vetseras Grab nicht geöffnet wird“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien o.D. 1699 Markus, Georg: „Meine erste Begegnung mit Mary Vetsera“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien 25.12.1992 1700 Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling – Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea Verlag, Wien 1993
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lichen Resultate.1701“ Um diese jedoch zu erhalten, überlegte sich die Baronin, selbst ein internationales Expertenteam mit der Untersuchung zu beauftragen: „Ich möchte nämlich, daß meine Tante endlich in Frieden ruhen kann.1702“ Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Ferdinande Baronin Vetsera starb am Christi Himmelfahrtstag, den 24. Mai 1990, im 86. Lebensjahr an den Folgen eines Autounfalls. Ihre Schwester, Eleonore „Lori“ Gräfin Hoyos1703, stand einem weiteren Versuch, das Grab zu öffnen, skeptisch gegenüber: „Ich habe erst meine Schwester begraben. Jetzt will ich mit Friedhöfen einmal nichts zu tun haben.1704“ Zu einer Entscheidung konnte sich Lori Hoyos auch in der Folgezeit nicht durchringen. „Ich scheue diese Entscheidung. Einerseits will ich die Totenruhe nicht stören und andererseits auch die Wissenschaft nicht behindern. Deshalb soll das Grab erst nach meinem Tode geöffnet werden.1705“ Eleonore Hoyos starb – ebenfalls an den Folgen des Autounfalls in Ungarn – am 18. Mai 1991 im 84. Lebensjahr. Im Winter des Jahres 1992 durchbrach Markus die nach seinem Artikel entstandene vierjährige Kommunikationslücke, suchte eine Aussöhnung und weihte Bankl in die Geschichte um den Grabraub in Heiligenkreuz ein. Der Burgfrieden: Hans Bankl sollte der vom Chef des Gerichtsmedizinischen Instituts, Professor Georg Bauer, gebildeten Sonderkommission von Ärzten und Historikern angehören, die „die neuen Aspekte der Tragödie von Mayerling untersuchen wird.1706“ Doch was könnte eine Untersuchung der Gebeine für Aussagen bringen? Die Untersuchung, so Bankl, „könnte völlig neue und unerwartete Ergebnisse über die Todesumstände der Vetsera bringen, da ja die ersten Untersuchungen des Schädels entgegen allen bisherigen Meinungen keinen Hinweis für einen Schuß in den Kopf ergaben. Die Tragödie von Mayerling hat sich vielleicht ganz anders abgespielt, als wir es bisher vermutet haben.1707“
An dieser Stelle veröffentlichen wir den Wortlaut jener fünf Gutachten, die Helmut Flatzelsteiner nach dem Raub des Vetsera-Skelettes in Auftrag gab.
Zu einer endgültigen Stellungnahme kamen die Gutachter nach dem Grabraub jedoch nie mehr zusammen. Familienarchivar Hermann Swistun, ausgestattet mit Vollmachten der noch lebenden Nachfahren, Marys Cousine Franziska Bébis-Baltazzi und Otto Skbrensky-Hrzistic, will sich mehrfach mit dem damalige Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Dr. Erhard Busek1708, persönlich in Verbindung gesetzt haben, um die Angelegenheit
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Grassl-Kosa, Michael: „Mary Vetseras Nichte Ferdinande zur Woche: Das Grab bleibt zu“, in: Die Woche, Wien, November 1988 1702 Grassl-Kosa, Michael: „Mary Vetseras Nichte Ferdinande zur Woche: Das Grab bleibt zu“, in: Die Woche, Wien, November 1988 1703 Eleonore „Lory“ Gräfin Hoyos, geb. Baronin Vetsera, -18.05.1991, beigesetzt auf dem Sieveringer Friedhof in Wien 1704 Grassl-Kosa, Michael: „Erst nach meinem Tod wird Marys Grab geöffnet“, in: „Die ganze Woche“, Wien, 09.08.1990 1705 Grassl-Kosa, Michael: „Erst nach meinem Tod wird Marys Grab geöffnet“, in: „Die ganze Woche“, Wien, 09.08.1990 1706 Markus, Georg: „Meine erste Begegnung mit Mary Vetsera“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien 25.12.1992 1707 Markus, Georg: „Meine erste Begegnung mit Mary Vetsera“, in: Neue Kronen Zeitung, Wien 25.12.1992 1708 Busek, Dr. Erhard, Ehrendoktorat der Montan-Universität Krakau 1993, Ehrendoktorat der Universität Bratislava, Ehrendoktorat der Universität Czernowitz, geb. am 25.03.1941 in Wien, Promotion 1963 zum Dr. juris. Seit 1964 politisch in der ÖVP aktiv, 1975 bis 1995 Nationalratsabgeordneter, vom 13.11.1979 bis 09.12.1987 Wiener Vizebürgermeister, 24.04.1989 bis 02.07.1991 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung, 02.07.1991 bis 04.05.1995 Vizekanzler, 02.07.1991 bis 29.11.1994 Betraut mit der Leitung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, 29.11.1994 bis 04.05.1995 Betraut mit der Leitung des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, seit 2002 EU-Koordinator des Stabilitätspakts für Südosteuropa. 313
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„Vetsera“ zu einem schnellen Ende zu bringen1709: „Die Grabruhe wurde auf skandalöse Art und Weise gestört und vom Täter showbusineß artig vermarktet. (...) Ich bitte daher, daß jetzt die Totenruhe wiederhergestellt wird, und daß das Opfer von Mayerling nicht länger in Containern und Labors herumgeistern muß.1710“ Nach Medienberichten antwortete Busek nicht – laut Swistun1711 teilte er jedoch mit: „Obwohl die Untersuchungen am Gerichtsmedizinischen Institut stattfinden, habe ich rechtlich keine Möglichkeit dafür zu sorgen, daß die sterblichen Überreste Mary Vetseras wieder zurück ins Grab kommen. (...) Der eigentlich Zuständige ist der Abt von Heiligenkreuz.“ Doch dieser war zurzeit verreist und Pater Markus, Kämmerer des Stiftes, versicherte Swistun lediglich, dass man immer auf eine rasche Wiederbeisetzung gedrängt habe. Swistun wand sich auch an Professor Bauer, erhielt wohl auch dort keine Antwort. Der Gerichtsmediziner in den Medien: „Es stimmt, daß das Skelett nicht mehr zu wissenschaftlichen Zwecken hier bei uns aufbewahrt wird. Das Gericht braucht den Sarginhalt lediglich noch als Beweismittel.1712“ Ein parallel von Swistun auf Intervention einer Wiener Tageszeitung eingeschalteter Anwalt beantragt die Aufhebung der Beschlagnahmung sowie Überführung und Wiederbeisetzung der sterblichen Überreste – unter „Geltendmachung eines aus den guten Sitten und Gründen der Pietät abgeleiteten Verfügungsrechtes der Nachkommen.1713“ Mit einem Beschluss des Landgerichtes Wiener Neustadt vom 05. August 1993 wurde auf eine weitere forensische Begutachtung des Skeletts verzichtet1714 und gleichzeitig der Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 21. Dezember 1992 – die Beschlagnahmung des Skelettes – aufgehoben. Das Gerichtsmedizinische Institut musste Skelett, Zinnsarg und alle im Gerichtsbeschluss aufgeführten Gegenstände an das Stift übergeben1715. Da die Vorerhebungen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht abgeschlossne und alle Gegenstände weiterhin als Beweismittel in einem Strafverfahren anzusehen waren, wurde die Beschlagnahmung zunächst aufrechterhalten. Erst am 14. September 1993 stellte das Landesgericht Wiener Neustadt das Strafverfahren gegen Flatzelsteiner auf Antrag des Staatsanwaltes ein und gibt die Artefakte frei1716. So holte ein „Sorgeberechtigter“ in Begleitung des Abtes Gerhard O.Cist. die Gebeine der Vetsera am 27. Oktober 1993 in der Gerichtsmedizin ab und brachte sie zur Beisetzung nach Heiligenkreuz.
1709
Ein entsprechender Briefwechsel, der dies bestätigen könnte, ist bei keiner Partei erhalten, so CVhristine Hopf, Sachbearbeiterin im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur an den Verfasser, Wien 09.11.2002: „Da im Archiv des Ministeriums keinerlei Unterlagen (...) gefunden werden konnten, ist davon auszugehen, dass es sich um eine Privatkorrespondenz handelt.“. Dr. Erhard Busek an den Verfasser, Wien 21.11.2002: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich keinen Schriftverkehr vom Ministerium mit genommen habe.“ Hohengartner, Dr. Reinhold, Büro der Frau Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur an den Verfasser, Wien 22.11.2002: „Bei einem Ministerwechsel wird der gesamte private Schriftverkehr vernichtet. (...) Im offiziellen Schriftverkehr des seinerzeitigen Ministeriums ist jedenfalls nicht zu finden.“ 1710 Lux, Georg: „Laßt Mary endlich ruhen !“, in: täglich Alles, Wien 30.07.1993 1711 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Verlag Ueberreuter, Wien 1999 1712 Lux, Georg: „Laßt Mary endlich ruhen !“, in: täglich Alles, Wien 30.07.1993 1713 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Verlag Ueberreuter, Wien 1999 1714 Beschluss des LG Wiener Neustadt vom 05.08.1993, AZ 8c Vr 1/93 in Strafsachen gegen Helmut Flatzelsteiner wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4 StGB; in eventu § 135 Abs. 1 und 2 StGB; § 190 Abs. 1 StGB, zitiert bei Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Verlag Ueberreuter, Wien 1999 1715 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Verlag Ueberreuter, Wien 1999 1716 „Da die im Spruch aufgeführten Gegenstände sohin keine Beweismittel in einem gerichtlichen Strafverfahren mehr sind, bedarf es keiner weiteren Sicherstellung, weshalb die Beschlagnahmung dem Antrag der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt entsprechend wieder aufzuheben war. In Übereinstimmung mit dem Antrag der in diesem Verfahren einschreitenden Verwandten der Mary Baronin Vetsera (...) und mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vom 10.09.1993 war die Ausfolgung an den Abt des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz, der sich hierzu bereit erklärte (...), anzuordnen.“ Beschluss des LG Wiener Neustadt am 14.09.1993, AZ 1c Vr 1/93 in Strafsachen gegen Helmut Flatzelsteiner wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4 StGB; in eventu § 135 Abs. 1 und 2 StGB; § 190 Abs. 1 StGB, zitiert bei Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Verlag Ueberreuter, Wien 1999 314
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Das Ergebnis der stattgefundenen, nie abgeschlossenen Untersuchungen indes ist bislang nicht veröffentlicht worden – selbst Bankl kennt es nur vom Hörensagen1717 und Professor Dr. Georg Bauer hat bislang auch keine Veröffentlichung angestrebt1718. Auch ein DNA-Vergleich des aus dem Knochenmaterial gewonnenen Erbgutes mit noch lebenden Angehörigen der Familie Vetsera-Baltazzi unterblieb1719. Dennoch stand für Professor Georg Markus bereits im Jahresrückblick der Krone für 1993 fest, „das Kronprinz Rudolf die erst 17jährige Baronesse Vetsera mit seinem k.k. Armeerevolver vom System Gasser erschossen hatte und dann Selbstmord beging.1720“ Am 01. März 1993 wurde die gerichtmedizinische Untersuchung der Gebeine Thema im österreichischen Nationalrat1721. Die Antwort, die von den FPÖ-Abgeordneten erhofft wurde, blieb jedoch aus: Der Innenminister kannte das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung nicht und wusste nur zu berichten, dass „der Auftrag zur gerichtsmedizinischen Untersuchung (...) über richterliche Anordnung erfolgte. Ich kann daher über den Umfang der gerichtsmedizinischen Untersuchung keine Auskunft erteilen und sehe mich auch außerstande, die Notwendigkeit richterlicher Anordnungen zu beurteilen.1722“
1717
freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Bankl an den Verfasser, St. Pölten 12.11.2002 freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Georg Bauer an den Verfasser, Wien 26.11.2002 1719 freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Bankl an den Verfasser, St. Pölten 12.11.2002 1720 Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling“, in: Neue Kronen Zeitung, Jahresrückblick für 1993 1721 Anfrage der Abgeordneten Mag. Haupt und Haller, an den Bundesminister für Inneres, Dr. Frank Löschnak, unter Nummer 4374/J. 1722 Der Bundesminister für Inneres, Dr. Frank Löschnak, in seiner Antwort unter 4254/AB vom 14.04.1993 1718
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
9. Der Widerstand des Klerus: Stellungnahmen der Diözesen
„Der gestern eingetroffenen erschütternden Nachricht folgte heute die noch erschütterndere nach, dass de Kaisersohn sich selbst das Leben genommen. Tu autem Domine, miserere nobis. Was ist der 24. Juni 18591723 und der 3. Juli 18661724 gegen den 30. Jänner 1889?“
Tagebuch des Dompropstes Anton Erdinger1725 St. Pölten , 31. Jänner 1889
Fritz Judtmann kann berichten, dass Fürst Bismarck am 7. Februar 1889 von seinem österreichischen Gesandten, Prinz Reuß, über die Probleme bei der Durchführung von Trauerfeiern für den Kronprinzen unterrichtet: „ Nicht ohne Besorgnis sieht man hier dem Eindruck entgegen, den der Selbstmord des Kronprinzen auf die bigotte ländliche Bevölkerung der Alpenprovinzen allmählich ausüben wird. Der Klerus dortselbst nimmt größtentheils bereits eine gehässige Haltung an, die Seelenmessen werden aus einigen Orten theils ganz verweigert, theils nur in unzulänglicher Form abgehalten … An manchen Orten unterbleibt das Geläute, auch war man zur Konfiskation klerikaler Lokalblätter genötigt, z.B. der Innsbrucker Stimme … Der Nuntius klagte wiederholt, wie schwierig jetzt seine Stellung zwischen Wien und Rom und angesichts der hiesigen feudalkirchlichen Intransigenten sei. Letztere bedienten sich dabei des Erzbischofs Schönborn … auf die wiederholten Fragen Schönborns betreffs Theilnahme der Bischöfe an den Gedächtnis- und Begräbnisfeiern hat der Nuntius folgenden klugen Bescheid erteilt: offiziell und amtlich sei ihm Geistesstörung als Ursache des Selbstmordes angegeben, die Wissenschaft sage, die Vermuthung streitet für den Wahnsinn 1723
24.06.1859: Schlacht von Solferino, in der die Franzosen und Piemontesen die Österreicher in Norditalien besiegten und die an einem einzigen Tag 40’000 Tote und Verletzte forderte. Henry Dunant, ein Genfer Geschäftsmann, sieht das Schlachtfeld nach dem Kampf. Er ist so erschüttert von dem Zustand, in dem man die Verwundeten nach der Schlacht liegen lässt, dass er die örtliche Bevölkerung mobilisiert und eine Hilfsaktion improvisiert. Hieraus erfolgt die Gründung des „Roten Kreuzes“ 1862/1863 1724 03.07.1866: Schlacht von Königgrätz/Ostpreußen im preußisch-österreichische Krieg um das von Österreich verwaltete Herzogtum Holstein. Die preußischen Truppen besiegen die österreichisch-sächsische Armee, über 7.500 Soldaten verlieren ihr Leben. Nach Preußens Sieg wird der Deutsche Bund aufgelöst und aus der Neuordnung entsteht das Deutsche Reich. 1725 Diözesanarchiv St. Pölten, 5/43 316
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des Selbstmörder, die Kirche habe keinen Grund anders als die Wissenschaft zu urtheilen, wenn ihr nicht das Gegentheil beim Spezialfall bewiesen würde, Graf Schönborn möge gefälligst diesen Gegenbeweis erbringen. In Ermangelung dessen handle er, der Nuntius, strikt nach päpstlichem Befehl, in Gemäßheit dessen er alle Anfragen aus der Provinz mit der Weisung Fate come a Vienna bescheide.1726“ Für Judtmann war nach Durchsicht des Krauß-Aktes feststellbar, dass die Zeitungen ohne Zensur über den „Aufsehen erregenden“ Widerstand des Klerus in vielen Teilen der Monarchie berichteten. Zu diesem Verhalten sammelte Judtmann Beispiele: •
„In Ungarn mussten zwei Bischöfe eindringliche Hirtenbriefe an die Pfarrer senden, um den Klerus zur Raison zu bringen.“
•
In Warschau zog der Bischof die erteilte Bewilligung zurück, den Trauergottesdienst in einer Kirche abzuhalten – peinlich für den österreichischen Generalkonsul, der für das Requiem bereits Einladungen verschickt hatte.
•
In Ischl weigerte sich der Pfarrer, während der Begräbniszeit am5. Februar die Glocken zu läuten und einen Trauergottesdienst abzuhalten. Seine Begründung: Mit dem Abhalten des Requiems am 1. Februar in Anwesenheit der Behördenvertreter habe man allen Wünschen bereits Rechnung getragen. Die Gründe für dieses Verhalten glaubt Judtmann im ablehnenden Verhalten des liberale gesonnenen Kron-
prinzen gegenüber der Institution Kirche1727 und ihrer Geistlichkeit zu erkennen: Rudolf war schon in jungen Jahren gegen den „Klerikalismus“ ins Feld gezogen und hatte zudem mehrfach auch offen unter seinem Namen den Adel angegriffen, zu dem viele geistliche Würdenträger zählten1728. Doch waren daher wirklich so viele Geistliche der Monarchie Gegner einer religiösen Feier in den Pfarrkirchen? Wir haben hierzu in den Archiven der kronländischen Diözesen recherchiert und stellen dieses Ergebnis hier erstmals gesammelt vor: Diözese Gurk1729 im Kronland Kärnten Ob Diözesan- und Fürstbischof Josef Kahn1730 am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. Eine Weigerung der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, ist nicht bekannt. Das Requiem für den Thronfolger fand in der Domkirche zu Klagenfurt am 04. Februar 1889 um 10 Uhr statt. Ein Pfarrgottesdienst als Requiem für den Kronprinzen fand auch in der Pfarrkirche von Tultsching am 07. Februar 1889 um 9 Uhr statt.
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zitiert Nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Wir halten es für falsch, den Kronprinzen als Atheisten zu bezeichnen, denn er glaubte trotz aller Zweifel an einen höhere Gewalt, die das Weltgeschick lenkt. Aus seinen nachgelassenen Papieren zitiert Judtmann Teile eines Gebetes: „ (…) Du Schöpfer des menschlichen Geistes, lasse uns fortschreiten in wahrer Erkenntnis, in de Arbeit der Veredelung des Denkens. In gleicher Liebe wechselseitig vereint, mögen Deine Völker preisen immerdar: Den Herrn des Weltalls!“ 1728 Eine Bestätigung dieser ablehnenden Haltung des Kronprinzen ergab sich nicht zuletzt 1882, als der Prager Erzbischof, Kardinal Fürst Schwarzenberg, dem Kronprinzen in einer persönlichen Unterredung Vorwürfe machte, weil dieser statt die Sonntagsmesse zu besuchen am Vormittag auf die Jagd gehe. 1729 Bischöflich Gurker Ordinariat Klagenfurt. Freundliche Mitteilung durch Univ. Doz. Dr. Peter G. Tropper, Leitender Archivar der Diözese Gurk; Klagenfurt, 13.11.2001 1730 Kahn, Dr. Josef, Domherr zu Graz, geb. am 11.04.1839 in Döllach im Mölltal/Kärnten, gest. 15.02.1915 in Stift Tanzenberg, dort auch beigesetzt. Bischof von 1887 bis 1910. Kahn war bei der Neubesetzung des Bischofsstuhls Dritter der Vorschlagsliste. Kaiser Franz Josef entschied sich am 10.02.1887 dennoch für Kahn und nicht für den vom Ministerrat empfohlenen Erstgenann1727
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Diözese Salzburg1731 im Kronland Tirol Ob Erzbischof Franz Albert Eder1732 am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. Eine Weigerung der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, ist nicht bekannt. Das Pontifikal-Requiem für den Thronfolger fand in der Domkirche zu Salzburg am 08. Februar 1889 um 10 Uhr statt. In den Dekanaten Tamsweg und Taxenbach fanden ebenfalls Trauergottesdienste statt. Eine am 05. Februar 1889 veröffentlichte Currende ordnete zudem an, dass „in allen Seelsorgskirchen eine hl. Requiem-Messe (nicht Amt) für alle verstorbenen Mitglieder des allerhöchsten Kaiserhauses“ zelebriert werden solle. Ein eigener Gottesdienst für Schulkinder sei als Messe „in colore diei“ möglich. Am 3. März 1889 erfolgte eine weitere Anordnung eines Gottesdienstes „für Se. K. und K. Apostolische Majestät … und das ganze Kaiserhaus“, der ebenfalls mit dem tragischen Tod des Kronprinzen in Zusammenhang stand.
Diözese Trient im Kronland Tirol Ob Fürstbischof Eugenio Valussi1733 von Trient am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. Eugenio Valussi galt als Österreichtreuer Bischof.
Diözese Brixen im Kronland Tirol Ob Fürstbischof Simon Aichner1734 am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. Am Samstag, 9. Februar 1889, wurde in der Domkirche zu Brixen für den Kronprinzen ein Trauergottesdienst abgehalten. Aus der Diözese Brixen ist bekannt, dass es Kritik an jenen Geistlichen gab, die nicht „in voreiliger Weise die Abhaltung kirchlicher Gottesdienste“ ermöglichten. Kritisiert wurden „fanatische Pfaffen“ in Bozen, Meran und Ampezzo, die „bekannten Heißsporne der schärferen Tonart“ in Brixen“ sowie der „Zelotismus“ des Fürstbischofes von Trient. Diözese Innsbruck1735 Das Diözesanarchiv besitzt keine Materialien, da die Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch erst nach dem Ersten Weltkrieg 1921/1925 installiert wurde. Zuvor gehörten weite Teile der heutigen Diözese zum Bistum Brixen/Italien. Diözese Feldkirch1736
ten, den Probst der Wiener Votivkirche, Dr. Gottfried Marschall. Kahn leistete am 14.03.1887 in Budapest den Treueeid vor dem Kaiser, wurde am 18.03.1887 in Salzbug konsekriert und am 27.03.1887 in Klagenfurt inthronisiert. 1731 Freundliche Mitteilung von Elisabeth Engelmann, Erzbischöfliches Konsistorialarchiv Salzburg; Salzburg, 15.11.2001 1732 Eder, Franz de Paula Albert, geb. am 30.01.1818 in Hallein, gest. am 10.01.1890 in Salzburg, im Dom beigesetzt; Fürsterzbischof von Salzburg von 1876 bis 1890. 1733 Valussi, Eugenio Carlo, geb. 10.02.1837 in Talamassons/Italien, gest. am 11.10.1902 in Villa alle Sarche/Italien. Fürsterzbischof von Triest von 1886 bis 1903 1734 Aichner, Simon, geb. 19.11.1816 in Terenten/Italien, gest. 01.11.1910 im Augustinerchorherrenstift Neustift/Italien. Fürstbischof von Brixen von 1884 bis zur Resignation 1904, 1904 Ernennung zum Titularbischof von Theodosiopolis. 1735 Diözese Innsbruck, 1964 bzw. 1968 als Nachfolgerin der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch errichtet. Freundliche Mitteilung von Dr. Josef Franckenstein, Diözesanarchiv Innsbruck; Innsbruck, 15.11.2001 1736 Feldkirch, seit 1818 eigenständig als Generalvikariat in der Diözese Brixen, ab 1921 Teil der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch, seit 1964 eigenständige Diözese. Freundliche Mitteilung von Diözesanarchivar Dr. Elmar Schallert, Archiv der Diözese Feldkirch; Feldkirch, 18.01.2002 318
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Eine Weigerung der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, ist nicht bekannt. Ob der Feldkirchener Weihbischof Johannes Zobl1737 am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. Diözese Graz-Seckau1738 im Kronland Steiermark Ob Fürstbischof Johannes Baptist Zwerger1739 am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. Eine Weigerung der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, ist nicht bekannt. Bischofs Zwerger ordnet am 05. Februar 1889 an, dass „in allen Pfarrkirchen für … den durchlauchtigsten Kronprinzen wo möglich am Donnerstag den 7.d.M., sonst ehestens ein heil. Requiem-Amt“ zu feiern sei. Diözese Linz1740 im Erzherzogtum und Kronland Österreich ob der Enns Eine Weigerung der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, ist nicht bekannt. Das Bischöfliche Ordinariat ordnete am 04. Februar 1889 per Currende an, in den Pfarrkirchen der Diözese einen Trauergottesdienst abzuhalten und „alle k. und k. Behörden, sowie die Gemeinde-Vertreter und sonstige Corporationen und Institutionen … einzuladen“. Da die Diözese Linz zum Zeitpunkt des Todes sedisvakant war, konnte sie auch nicht in Wien vertreten werden. Diözese Eisenstadt1741 Das Diözesanarchiv besitzt keine Materialien, da die Diözese Eisenstadt erst 1960 aus der 1922 installierten Apostolischen Administratur Burgenland errichtet wurde. Die Nachforschung im Archiv der vorgehenden Diözesen im Königreich Ungarn, Raab (Györ/Ungarn) unter Bischof Johannes Zalka1742 und Steinamanger (Szombathely/Ungarn), brachten kein Ergebnis. Diözese St. Pölten1743 im Erzherzogtum und Kronland Österreich unter der Enns Eine Weigerung der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, ist nicht bekannt. Bischof Matthäus Joseph Binder1744 nahm am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teil und ordnete per Currende vom 01. Februar 1889 Seelenmessen in der Diözese an. Der Bischof von St. Pölten zelebrierte selbst am 07. Februar 1889 in der Domkirche ein Requiem mit Libera für den Kronprinzen. Diözese Wien1745 im Erzherzogtum und Kronland Österreich unter der Enns
1737
Zobl, Dr. Johann Nepomuk, geb. 18.01.1822 in Schattwald/Tirol, gest. am 13.09.1907 in Feldkirch/Vorarlberg; seit 1885 Weihbischof von Brixen und Generalvikar für Vorarlberg mit Sitz in Feldkirch 1738 Bischöfliches Ordinariat Graz Seckau. Freundliche Mitteilung von Magister Dr. Norbert Allmer, Diözesanarchiv, Graz, 15.11.2001 1739 Zwerger, Johann VII. Baptist, geb. 23.06.1824 in Cucal/Tirol, gest. am 14.08.1893. Fürstbischof von 1867 bis 1893. 1740 Freundliche Mitteilung von Diözesanarchivarin Dr. Monika Würthinger, Diözesanarchiv Linz; Linz, 19.11.2001 1741 Freundliche Mitteilung des Bischöflichen Ordinariats; Eisenstadt, 22.11.2001 1742 Freundliche Mitteilung des Archivars der Diözese Györ; Györ, 31.01.2002 1743 Freundliche Mitteilung von Diözesanarchivar Dr. Thomas Aigner, St. Pölten, 07.12.2001 1744 Binder, Dr. Matthäus Josef Binder, geb. am 19.08.1822 in Maria Lach am Jauerling, gest. am 14.08.1893; Bischof von 1872 bis 1893 1745 Freundliche Mitteilung von Dr. Johann Weißensteiner, Diözesanarchiv Wien; Wien 29.11.2001 319
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Weigerungen der Pfarrer, Seelenmessen für den Erzherzog zu lesen oder das Totengeläut anzustimmen, sind nicht vorgekommen. Ob Erzbischof Kardinal Cölestin Ganglbauer1746 am 05. Februar 1889 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Wien teilnahm, ist nicht bekannt. In der Domkirche wurden im Februar 1889 weder ein Requiem noch Gedenkmessen für den Kronprinzen abgehalten, doch hat Kardinal Ganglbauer am 10. Februar 1889 angeordnet, dass am 17. Februar 1889 in der Metropolitankirche St. Stephan, in der Kirche Mariahilf und in der Kirch zum Heiligen Joseph in der Lopoldstadt vormittags ein Bittgottesdienst und nachmittags eine Betstunde mit Rosenkranz und lauretanischer Litanei abgehalten werde. Mit Stiftbrief vom 03. März 1889 stiftete die kaiserliche Familie die Abhaltung einer täglichen Seelenmesse für Kronprinz Rudolf in der Metropolitankirche St. Stephan. Nebenbei: Die Anlegung von Kondolenzbüchern für Verstorbene, die heute durchaus üblich ist, gab es im 19. Jahrhundert in den Pfarren der Erzdiözese Wien nicht1747.
1746
Ganglbauer, Cölestin Joseph, geb. am 20.08.1817 in Thanstetten bei Steyr/OÖ, gest. am 14.12.1889 in Wien, beigesetzt im Stephansdom. Abt des Benediktinerstiftes Kremsmünster ab dem 19.04.1876, Erzbischof von Wien seit 11.09.1881, Kardinal von S. Eusebio seit 1884 1747 Freundliche Mitteilung von Dr. Johann Weißensteiner, Diözesanarchiv Wien; Wien 12.09.2005 320
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Kapitel 10 Vor und hinter den Kulissen
10. Stift Heiligenkreuz
„Unter der strengen Fassade ... verabschieden wir uns von dem Herrn Abt. Er allein, wie sehr empfinde ich das, hat ein Recht, hier zu sein; er ist eins mit dieser steinernen Größe,“
Reinhold Schneider Wien 1957
Leopold III.1748, Herzog der Mark „Ostarrichi“, gründete 1133 auf Bitten seines Sohnes Otto, des späteren Bischofs von Freising, in einem großen Waldgebiet am Sattelbach ein Kloster, dem er eine Reliquie vom Heiligen Kreuz1749 schenkte – das „Kloster der seligen Jungfrau Maria beim Heiligen Kreuz“. Der Babenberger Herrscher berief hierzu Mönche aus der Primarabtei Morimond im französischen Burgund. Das Kloster dieser Zisterziensermönche, rund 15 Kilometer westlich von Wien, ist das zweitälteste des Ordens. Heute betreuen die Zisterzienser 17 Pfarren, seit 1802 eine Philosophisch-theologische Lehranstalt – ab 1975 Hochschule – und pflegen das klösterliche Leben ebenso wie die Liturgie und den gregorianischen Choral. Leopolds Sohn Otto war 1132 mit 16 adeligen Freunden in Morimond in ein Tochterkloster des Ordens von Citeaux1750 eingetreten und bestürmte seinen Vater, ein Kloster dieses sich dynamisch entwickelnden Zisterzienserordens im Land der Babenberger Herzöge zu gründen1751. Der Weiler Sattelbach, in dem Leopold ein festes Haus besaß, schien optimal – abgeschieden genug für die heilige Betrachtung, umgeben von Felder für den Ackerbau und Wäldern 1748
Leopold III. (1073-15.11.1136), ab 1105 Babenberger-Markgraf von Österreich, Sohn von Leopold II, Vater von Heinrich II. Jasomirgott und Leopold IV. Stiftete neben Heiligenkreuz auch die Klöster Kleinmariazell und Klosterneuburg. Heiligsprechung 1485, seit 1663 Landespatron von Österreich und Wien. 1749 Leopold III. schenkte den Mönchen aus Morimond zunächst eine kleine Reliquie es Kreuzes, das am 3. Mai 320 von Kaiserin Helena, der Mutter Konstantins des Großen, in Jerusalem aufgefunden worden war. Leopold V., der Tugendhafte, brachte 1182 auf seiner ersten Pilgerreise aus Jerusalem ein großes Stück des Heiligen Kreuzes mit, das er am 31. Mai 1188 bei einem feierlichen Taiding in Mautern seinem Lieblingskloster als Schenkung vermachte. Die erste, kleinere Reliquie, wurde am 1. Januar 1649 bei einem Einbruch in die damalige Kreuzkapelle über dem Karner gestohlen und ist seither verschwunden. Die große Reliquie, das größte Kreuzpartikel nördlich der Alpen, ist seit dem Mittelalter Ziel vieler Wallfahrten und wird seit 1749 unter Abt Robert Leeb (1728-1755) in einer kostbaren Rokokofassung aufbewahrt. 1933 war die Reliquie im Wiener Stephansdom ausgestellt, 1992 erhielt sie eine neue Monstranz. Seit 1983 steht sie in einem modernen Glasschrein in der Heiligenkreuzer Kreuzkirche. 1750 Citeaux = lat. Cistercium ; Zisterzienser sind demnach Benediktinermönche, die sich nach ihrem Mutterkloster Citeaux richten ; als Devise steht über dem Badener Tor in Heiligenkreuz „Cistercium Mater Nostra“ 1751 Die „weißen Mönche“ betreuten bereits im 12. Jahrhundert ungefähr 340 Abteien, ein halbes Jahrhundert später waren es 500, zum Ende des Mittelalters rund 700. Vor der Reformation dürfte es viele Zehntausend Zisterziensermönche in Europa gegeben haben (Elm, Kasper: „Zahlreich wie die Sterne“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.1998) 321
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für die Holzwirtschaft sowie an zwei Bächen gelegen, die eine Fischzucht speisen konnten und an denen Mühlen errichtet werden sollten. Das Motiv für die Gründung war ein spiritueller – ein Haus des Gebetes zu erschaffen. Zudem war die Gründung jedoch auch eine strukturpolitische Maßnahme, an der noch offenen und beweglichen Ostgrenze seines Reiches einen Musterbetrieb zu schaffen, in dem modernste Techniken der Land- und Forstwirtschaft, der Fischzucht und des Weinbaues zur Anwendung kommen sollten. Nicht zuletzt gab es jedoch auch den dynastischen Aspekt, in Heiligenkreuz eine Grablege für das Geschlecht der Babenberger und eine Ort ewiger Anbetung zu schaffen1752. Wahrscheinlich am 11. September 1133 errichteten die ersten zwölf Zisterziensermönche mit dem Gründerabt Gottschalk1753 und einer Anzahl von Laienbrüdern an der Straße von Mödling und Gaaden nach Alland ein Kloster. „Wegen des sieghaften Zeichens unserer Erlösung“ benannte Leopold den Ort Sattelbach um – fortan hieß die Siedlung Heiligenkreuz. In der Stiftungsurkunde ist das Land festgelegt, das dem Kloster von seinem Landesherren gegeben wurde – im Großen und Ganzen das Gebiet der heutigen Katastralgemeinde Heiligenkreuz. Zwischen 1133 und 1135 erwirbt Leopold III. das Gut Preisfeld – 15 Häuser, landwirtschaftliche Fläche und einen Gipsabbau – für das Stift. Bereits im Jahre 1187 wird die Klosterkirche geweiht. Schon kurz nach der Gründung erlebte das Kloster seine erste Blüte. Während sich die Mönche in erster Linie dem Chorgebet und der privaten Meditation widmeten, erwirtschafteten die Laienbrüder auf den umliegenden Wirtschaftshöfen, den „Grangien“ in Mönchhof und Podersdorf, den Lebensunterhalt der in ihrer Blüte 300 Mönche und Laienbrüder zählenden Gemeinde1754. Da schon kurz nach der Gründung feststand, dass mit der ersten Schenkung die wirtschaftliche Basis des Klosters nicht gesichert war und die Mönche nach Ungarn abzuwandern drohten, erhielten sie auch die Grangien Trumau (Korn) und Thallern (Winzerei) hinzu, „um den Brüdern in Krankheit zur Stärkung Wein zu geben“. Das Gebiet der Heiligenkreuzer wurde noch weiter vergrößert: unter Herzog Heinrich II. nach Osten um Schwechatbach (1156), Siegenfeld (1166) sowie unter Herzog Leopold V. nach Nordwesten um den Gruber Forst (1177), den Rossgipfel im Gruber Forst und Rohrkogel in Sulz (1188). In einer Urkunde aus dem Jahre 1332 bestätigte Herzog Albrecht II. dem Heiligenkreuzer Abt Jakob Herkler und dem Konvent das landesfürstliche Obereigentum in Götzendorf und Blumenthal im Weinviertel und nutzte zur näheren Ortsbestimmung die lateinische Formulierung „silva wiennensi“ – der Begriff Wienerwald war erstmals erwähnt1755. Die „beschauliche“ Atmosphäre vor Ort wandelte sich, als eine Zunahme an Aufgaben den klösterlichen Klausurrahmen mehr und mehr sprengte. Die Mönche, die im Mittelalter in immer größerer Zahl auch die Priesterweihe empfingen, übernahmen die Pfarrseelsorge der dem Kloster eingegliederten Pfarren. Diese Entwicklung halten kurz nur die Reformation im 16. Jahrhundert, plündernde türkische Heere im Jahr 1683 und der Josiphinismus Ende des 18. Jahrhunderts auf. Während in ganz Österreich Klöster aufgehoben werden, bleibt Heiligenkreuz bestehen, muss jedoch gravierende Änderungen hinnehmen: weitere Pfarren sind zu betreuen, das Chorgebet wird als „gesund1752
Im Kapitelsaal des Stiftes sind 13 Mitglieder der herrschenden Babenberger – unter ihnen Markgraf Leopold V. (um 110818.10.1141 Niederaltauch), der 1192 König Richard I. von England, genannt „Löwenherz“, nach der Teilnahme am 3. Kreuzzug gefangen nahm und gegen ein enormes Lösegeld freiließ – sowie zwei Habsburger begraben. In der Mitte des Saales befindet sich das Hochgrab des letzten Babenbergers, des 1246 im Kampf gegen die Madjaren gefallenen Herzogs Friedrich II., des Streitbaren. Er hatte 1230 mit seinem Wappen – dem rotweisroten Bindenschild – die österreichischen Landesfarben eingeführt. 1753 Abt Gottschalk (1135-1147, + 1147) 1754 Hradil O.Cist, Abt Gerhard (Herausgeber): „Im Zeichen des Kreuzes – Geist und Leben in unserem Kloster Heiligenkreuz“, Heiligenkreuzer Verlag, Heiligenkreuz 1990 1755 Urkunde der herzoglichen Kanzlei, Wien, 29.03.1332; Original im Archiv des Stiftes Heiligenkreuz 322
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heitsschädlich“ abgeschafft und die betenden Mönche auf die Empore der Kirche verbannt1756, die Heiligenkreuzer Pfarrkirche abgerissen und die Klosterkirche zur Pfarrkirche erklärt1757. Als Reaktion auf die Aufklärung – und las Maßnahme, sich von der staatlichen Bevormund zu lösen – gründen die österreichischen Zisterzienseräbte 1802 die eine Philosophisch-theologische Hauslehranstalt in Heiligenkreuz. Im Jahre 1881 erfolgte mit der Übernahme der in Not geratenen Zisterzienserabtei Neuklosters in Wiener Neustadt und dessen acht Pfarreien ein weiterer Zuwachs an Aufgaben1758. Die Heiligenkreuzer Klosteranlage stammt zum Teil aus dem Mittelalter: Das romanische Langhaus der Stiftskirche1759 wurde 1187 geweiht, der gotische Hallenchor 1295. Der Kreuzgang mit Kapitelsaal1760, Parlatorium1761, Fraterie1762, Sakristei1763, Calefaktorium1764, Refektorium1765, Dormitorium, Annakapelle1766 und Brunnenhaus1767 ist im romanisch-gotischen Stil des 13. Jahrhunderts errichtet. Bereits 1190 entstand ein Hospital zu St. Nikolaus, das bis zu 30 Laien eine Übernachtung außerhalb der Klostermauern ermöglichte. Zu den Kunstschätzen des Stiftes zählen zwei Gemäldegalerien, eine Bibliothek mit mehr als 50.000 Bänden, einem Mineralien sowie sonstige Kunstsammlungen. Die Bibliothek besitzt aus der Zeit von 1136 bis 1299 377 Pergamenturkunden – 43 von Babenbergern, 10 von Arpaden, 11 von deutschen Kaisern sowie 39 Papstbullen, u.a. die Goldbulle Kaiser Friedrichs II. von 1237. Diese Dokumente waren bis 1912 im Heiligenkreuzerhof in Wien untergebracht und wurden erst dann in die Sommerprälatur der Abtei überführt. Die finanzielle Not nach 1918 ließ jedoch Notverkäufe aus den Sammlungen notwendig werden. Der so genannte Kaisertrakt des Stiftes, die einstigen Räume für das allerhöchste Herrscherhaus, wurde nach umfangreicher Renovierung am 11. Juli 1993 anlässlich des 10. Jahrestages der Weihe von Abt Gerhard Hradil O.Cist. neu eröffnet. Seit seiner Wahl am 11. Februar 1999 regiert der einstige Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke in Österreich, Pater Gregor von Henckel-Donnersmarck1768, als 67. Abt das Stift Heiligenkreuz. Der Diplomkaufmann
1756
Erst 1948 wurde das gemeinsame Chorgebet wieder eingeführt. Zudem wurde unter Joseph II. dem Konvent die Aufnahme von Novizen untersagt, so dass dieZahl der Mönche bald drastisch sank. Ferner wurde dem Stift der Verkehr mit dem franzöischen Mutterkloster untersagt und dem Wiener Erzbischof unterstellt. 1758 Hradil O.Cist, Abt Gerhard (Herausgeber): „Im Zeichen des Kreuzes – Geist und Leben in unserem Kloster Heiligenkreuz“, Heiligenkreuzer Verlag, Heiligenkreuz 1990. Das Kloster in Wiener Neustadt wird heute – ebenso wie Bochum-Stiepel – als Priorat geführt. 1759 Die Westfassade der Kirche ist ein hervorragendes Werk der Romanik mit der für Zisterzienser typischen 3-Fenster-Front. 1760 Kapitelsaal; zu Beginn des 13. Jahrhunderts errichtet, Ausmalungen aus dem 18. jahrhundert, Glasfenster aus dem 19. Jahrhundert. Grablege der Stifterfamilie und Hochgrab des letzten Babenbergers, Friedrich II. des Streitbaren 1761 Parlatorium = Raum, in dem gesprochen werden durfte. Später von Giovanni Giuliani barock gestaltet als „Totenkapelle“, in der die Mönche bis zum Begräbnis aufgebahrt sind. 1762 Fraterie = Arbeitsraum. Mit mittelalterlicher Bemalung in Weiß und Rot sowie einem Fußbogen in rot und weiß versehen. 1763 Sakristei; unter Barockabt Clemens Schäfer als reich dekorierter Raum errichtet; im Stil des Rokoko eingerichtet. Die Sakristeischränke mit ihren Einlegearbeiten naiver Scheinarchitektur wurden von Laienbrüdern des Klosters zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstellt. 1764 Calefaktorium = beheizter Raum 1765 Refektorium = Speisensaal 1766 Annakapelle; als „Amarium“ ehemals Nebenraum der alten Sakristei und Aufbewahrungsort kirchlicher Bücher; heute Grablege des Abtes Gerhard Weichselberger auf dem 18. Jahrhundert 1767 Brunnenhaus; an der Südseite des Kreuzgangs als Zweckraum für Waschungen im gotischen Stil um 1290 errichtet. Die Glasscheiben stammen zum Teil aus der Bauzeit des Brunnenhauses. Der Brunnen selbst ist ein typischer Renaissance-Brunnen, an dem sich im Laufe der Jahrhunderte Silikate abgelagert haben. 1768 Henkel-Donnersmarck OCist, Prälat Abt Dkfm. Mag. Gregor, geb. am 16.01.1943, Matura 1963, Bundesheer 1964, Hochschule für Welthandel 1964-1969, Fa. Schenker 1970-1977, Geschäftsführer Schenker Spanien 1973-1977, Eintritt Heiligenkreuz 15.11.1977, Priesterweihe 01.08.1982, Prior im Kloster Rein bei Graz 1986-1991, Assistent des Generalabtes der Zisterzienser in Rom 192-193, Nationaldirektor von Missio Austria 1994-1999. Abtweihe am 14.03.1999; von 2003 bis 2007 Abtpräses der Österreichischen Zisterzienserkongregation 1757
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stammt aus altem schlesischen Adel und war vor seiner Berufung mit 34 Jahren in den Zisterzienserorden als Diplomkaufmann für die Spedition Schenker in Spanien, Deutschland und Österreich tätig. Hier die Historie des Stiftes bis ins Jahr 2000 in Kurzversion1769: 1133 11. September: Mönche aus Morimond gründen Heiligenkreuz, gestiftet vom heiligen Markgraf Leopold III. auf Anraten seines Sohnes Otto. 1138 Heiligenkreuz gründet Zwettl in Niederösterreich 1141 Klosterweingut Thallern bei Gumpoldskirchen wird angelegt 1142 Heiligenkreuz gründet Baumgartenberg in Oberösterreich 1142 Heiligenkreuz gründet Czikádor in Ungarn 1153 20. August: Tod des heiligen Bernhard von Clairvaux 1187 31. Jänner: Weihe der romanischen Abteikirche 1188 31. Mai: Schenkung der großen Kreuzreliquie durch Leopold V. 1194 Heiligenkreuz gründet Marienberg in Westungarn 1202 Heiligenkreuz gründet Lilienfeld in Niederösterreich 1240 Weihe der Klosteranlage 1246 Tod des letzten Babenbergers Friedrich II., des Streitbaren, begraben im Kapitelsaal von Heiligenkreuz 1263 Heiligenkreuz gründet Goldenkron in Südböhmen 1295 Weihe des gotischen Hallenchores von Heiligenkreuz 1327 Heiligenkreuz gründet Neuberg in der Steiermark 1444 Mönche von Rein übernehmen das Neukloster in Wiener Neustadt, gestiftet von Kaiser Friedrich III. 1529 Erste Türkenbelagerung Wiens 1672 Errichtung des Kirchturmes und Abtragung der romanischen Kreuzkapelle 1683 Zweite Türkenbelagerung Wiens und Brandschatzung von Heiligenkreuz 1693 Tod des großen Bauabtes Klemens Schäffer 1734 Übernahme der ungarischen Abtei Sankt Gotthard 1744 Tod des Bildhauers Giovanni Giuliani im Heiligenkreuzerhof 1745 Tod des Malers Martino Altomonte in Heiligenkreuz 1783 Heiligenkreuz entgeht knapp der Aufhebung durch Kaiser Joseph II. 1790 Tod Kaiser Josephs II., doch Fortdauern des Josephinismus und der Aufklärung 1800 Einstellung des Chorgebetes „aus gesundheitlichen Gründen“ 1802 25. März: Gründung des „Institutum Theologicum“, der späteren Hochschule, als gemeinsame Bildungsanstalt („Commun-Anstalt“) der Zisterzienserklöster Heiligenkreuz, Lilienfeld, Zwettl und Neukloster 1822 Wiederaufnahme des gemeinsamen Chorgebetes 1878 Loslösung der Abtei St. Gotthard von Heiligenkreuz 1881 Übernahme des Stiftes Neukloster und seiner Pfarren 1888 Regotisierung der Stiftskirche 1914 Mehrere Mitbrüder im Felddienst während des 1. Weltkrieges 1938 Nationalsozialistische Machtübernahme. Einschränkung der Seelsorgearbeit. Kirchenverfolgung. Mehre1769
Quelle: Stift Heiligenkreuz, August 2006 324
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re Mitbrüder in Gestapo-Haft 1945 Ende des 2. Weltkrieges. Heiligenkreuz unter russischer Besatzung 1954 Gründung des Zisterzienserinnenklosters Marienkron in Mönchhof 1962 bis 1965: Abtpräses Karl Braunstorfer nimmt als Konzilsvater am 2. Vatikanischen Konzil teil 1968 Wahl und Benediktion von Abt Franz Gaumannmüller, vormals Forstdirektor. Beginn einer regen Restaurierungstätigkeit 1975 Gründung des Regensburger Priesterseminars „Collgium Rudolphinum“ 1976 Umwandlung des „Theologischen Instituts“ in eine staatlich anerkannte „Philosophisch-Theologische Hochschule“ 1978 Eigenes Zisterzienserbrevier in lateinischer Sprache von Heiligenkreuz nach den Normen des 2. Vatikanischen Konzils herausgegeben 1982 Weihe der Kreuzkirche als Pfarrkirche für Heiligenkreuz 1983 Wahl und Benediktion von Abt Gerhard Hradil (1983 bis 1999). Jubiläum des 850-jährigen Bestehens des Klosters. Beginn einer regen Restaurierungstätigkeit im Stift und in den Pfarrhöfen unter Zentraldirektor P. Sighard Sengstschmid 1988 Heiligenkreuz gründet das Kloster Stiepel in Bochum in der BRD 1989 Ende des Staatskommunismus in Osteuropa 1990 Abt Gerhard Hradil weiht am 11. Oktober das Kloster Stiepel 1995 Bergung der Gebeine Herzog Friedrichs II. des Streitbaren im Kapitelsaal und Neubestattung ebendort 1996 Jubiläum 1000 Jahre Österreich 1999 Wahl und Benediktion von Abt Gregor Henckel-Donnersmarck
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
1. Die Testamente
„Meiner Gemahlin Stephanie bestimme ich den lebenslänglichen Nutzgenuß des gesamten Vermögens.“
Kronprinz Rudolf Testament, Wien 2. März 1887
Im Alter von 21. Jahren hatte Kronprinz Rudolf am 15. April 1879 in Prag sein erstes Testament verfasst – kurz vor Antritt einer Reise nach Spanien. Darin heißt es: In wenigen Tagen beginne ich eine große Reise. Bei meiner Freude an wilden Jagden und schwierigen Unternehmungen aller Art ist es leicht möglich, dass ich großen Gefahren entgegengehe, bei einer derselben mein Leben lasse. Aus diesem Grunde drängt es mich, einige Verfügungen zu treffen. Alles, was ich von baarem Gelde hinterlasse, soll für wohlthätige Zwecke verwendet werden. Bombelles soll in gleichen Theilen meiner ganzen Dienerschaft, auch allen jenen, welche hier in Prag mich bedient haben, von meinem baaren Gelde geben; was übrig bleibt, ist für Schulen. Meine Kleider gehören meiner Dienerschaft. Alle meine Schriften, Briefschaften und Papiere, die sich in meinen Schreibtischen in Wien und Prag befinden, soll Bombelles vernichten. Meine Bibliothek soll an Schulen der ganzen Monarchie vertheilt werden. Meine Bilder und übrigen Kleinigkeiten können Leute, die es der Mühe werth finden, von mir Andenken zu besitzen, sich nehmen; was überhaupt mit alledem geschieht, ist mir ganz gleichgiltig. Meine Sammlungen, alle, wie sie sind, ungetheilt der Wiener Universität, deren Kapazität ich so viel verdanke. Meinen Hund Blak soll Latour in der Erinnerung an mich gut pflegen, es war ein treuer Jagdkumpan. Kastor und Schlifferl soll Bombelles pflegen und erhalten, der eine ist gut und treu und der andere kann sehr schön lachen. Meine Uhu´s und Schweißhunde so wie die Dachseln armen Jägern. 326
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Meine Insel Lacroma lege ich meinem Vater zu Füßen. Er möge sie gnädigst erhalten, ihr Seinen Schutz angedeihen lassen, sie nicht in andere Hände kommen lassen. Es ist ein Andenken an den armen Onkel Max und ein echt südslawischer Boden, den man heutzutage nicht verachten darf. Meine Dienerschaft empfehle ich dem allerhöchsten Schutze seiner Majestät, es sind brave Leute, die mir stets treu gedient haben; desgleichen bitte ich Ihn aus ganzem Herzen, gnädig des Majors Spindler und seiner Familie zu gedenken. Seit meinem dritten Jahr ist er bei mir; und immer hat er seine Pflicht gewissenhaft erfüllt. Beiliegender Brief ist für Wilczek bestimmt, auch sollen ihm 20,000 fl. von meinem baaren Geld übergeben werden. Meinen Feinden, allen jenen, die mich, besonders in der letzten Zeit oft geärgert haben, verzeihe ich; ich bin andere Bahnen gegangen, als die meisten meiner Verwandten; doch auch ich habe nur immer die reinsten Motive gehabt. Unsere Zeit fordert neue Ansichten. Reaktion ist überall, besonders aber in Österreich, der erste Schritt zum Untergang. Diejenigen, die Reaktion predigen, sind die gefährlichsten Feinde, sie habe ich immer verfolgt, vor ihnen warne ich! Heil Österreich und seinem großen Kaiser! Heil Österreichs Heer. Sieg seinen Fahnen! Ein Gruß dem 36ten Regiment, meiner eigentlichen Heimat. Ein letzter Abschiedskuß in Gedanken allen schönen Frauen Wiens, die ich so sehr geliebt! Meinen Eltern küsse ich aus ganzem Herzen die Hände und bitte sie um Verzeihung für jeden Kummer, den ich Ihnen gethan. Meine Geschwister umarme ich. Ihnen allen danke ich für Ihre Liebe. Der letzte Gruß allen meinen Bekannten, meinem ganzen lieben Österreich! Rudolf1770 Acht Jahre später – vor der Reise zum deutschen Kronprinzen nach Berlin – sah sich Rudolfs genötigt, ein neues Testament zu verfassen, das er am 3. März 1887 in Anwesenheit von Regierungsrat und Kanzleidirektor Dr. Rudolf Kubasek, dem Protokollführer Hugo Ritter von Imhof sowie dem Leiter des kronprinzlichen Sekretariats, Heinrich Ritter von Spindler im Obersthofmarschallamt hinterlegt1771. Der Text1772, nach Vermutung von Fritz Judtmann mit einem Rechtsbeistand verfasst, lautet: Nachstehendes Testament habe ich bei vollkommen klarer Besonnenheit, eigenhändig niedergeschrieben und bitte Seine Kaiserlich und Königlich Apostolische Majestät unterthänigst die Mühe als TestamantsExecutor gnädigst auf sich nehmen zu wollen, und auch die Vormundschaft über meine Tochter Elisabeth zu übernehmen. Zur Universalerbin meines beweglichen und unbeweglichen Vermögens bestimme ich meine Tochter Elisabeth; meiner Gemahlin Stephanie bestimme ich den lebenslänglichen Nutzgenuß des gesamten Vermögens. Im Falle ihrer Wiederverehelichung hört der Nutzgenuß gänzlich auf und geht auf meine Tochter über. Im Falle der Verehelichung meiner Tochter wird der Nutzgenuß zwischen beiden getheilt. 1770 1771
Zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928 HHStA, OMaA 421 III/B 101-108 1886-1910 327
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Ferner bestimme ich: 1. 50.000 fl. schenke ich dem Leiter meines Secretariats Oberst von Spindler, im Falle seines Ablebens, seinem Sohne oder falls dieser nicht mehr lebt, seiner Tochter. 2. 20.000 fl. schenke ich dem Obersthofmeister Graf Carl Bombelles; im falle er nicht mehr am Leben wäre, fällt der Betrag an die Universalerbin zurück. 3. 30 000 fl. sollen nach Angabe und Ermessen meiner Frau an meine Kammerdiener, Büchsenspanner, Stallpersonale und an jene Personen des Jagdpersonals im Wienerwald, Görgény, Laxenburg und den Donau-Auen vertheilt werden, von denen sie weiß. Dass sie mich besonders gut bedienten. 4. Den großen Kasten mit den Aquarellen1773 vermache ich den Hofsammlungen. 5. Von meinen in Gebrauch habenden Säbeln und modernen Jagdwaffen sowie auch von allen meinen Jagdtrophäen, sollen an Bekannte und Verwandte, nach Angaben meiner Frau, Andenken vertheilt werden, was erübrigt, vermache ich meinen Kammerdienern und Leibjägern. 6. Alle meine Jagd- und Luxushunde vermache ich meinem Personale im Wienerwald und in den Donau Auen. 7. Alle meine Kleider, Wäsche, Schuhe vermache ich meinen Kammerdienern. 8. Meine Naturhistorische Sammlung vermache ich Wiener Unterrichtsanstalten nach Ermessen meiner Frau. Ich befehle ferner, daß die bestehenden Jagdpachtungen in Görgény Szt. Imre, Siptan1774 und im Wienerwald nach meinem Ableben augenblicklich aufzulassen sind, desgleichen nach Aufräumung meines Besitzes die Pachtung des Schlosses in Görgény Szt. Imre. Meine Schreibtische in Wien und Laxenburg sollen in Gegenwart meiner Frau, vom Sections-Chef im Ministerium des Äußeren, Herrn Ladislaus von Szögyény-Marich aufgemacht und die Schriften nach seinem Ermessen, theils vertilgt, theils aufgehoben werden. Daß diese eigenhändig von mir geschriebene Anordnung mein freier Wille ist, bestätige ich mit meiner Unterschrift und meinem Siegel. Wien, 2. März 1887 Kronprinz Erzh. Rudolf, F.M.L.1775 Im gleichen Umschlag befand sich – zusammengestellt von Oberst Heinrich Ritter von Spindler – eine Übersicht seines Vermögens – bei der Minderjährigkeit der Universalerbin war dies vorgeschrieben. Das „Allgemeine Inventar“ wurde in 15 Rubriken geordnet, die jeweils in verschiedene Posten unterteilt wurden:
1772 1773
I.
Immobilien
II.
Gold, Schmuck, Werthpapiere
III.
Sammlungen
IV.
Waffen
V.
Kleider und Toilettegegenstände
zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Anmerkung: Hochzeitsgeschenk der Wiener Industriellen
1774 hier irrt Judtmann bei der Abschrift: statt Siptan muss es Liptau heißen. Liptau (slowakisch Liptov, ungarisch Liptó, lateinisch Liptovium, polnisch Liptów) ist eine Region in der nördlichen Slowakei und gleichzeitig die Bezeichnung eines historischen Komitats im Königreich Ungarn. Die richtige Schreibweise war bereits von Kronprinzessin Stephanie veröffentlicht (Lonyay, Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Ich sollte Kaiserin werden - Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn, Von Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 1935) 1775
: Archiv des Obersthofmarschallamtes Gruppe III Neueres 108/4 328
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VI.
Uhren und Ringe etc.
VII.
Schreibtischgarnituren
VIII.
Türkisches Zimmer
IX.
Bade Einrichtung
X.
Tafel Service
XI.
Silberservice
XII.
Tafelwäsche
XIII.
Pferde und Wägen, Sättel und Geschirre
XIV.
Jagd- und Zimmerhunde
XV.
Sämtliche Ordensdekorationen
Das zweite Testament des Kronprinzen kann mit seiner schweren Erkrankung vom Frühjahr 1886 zusammen hängen, zu der sich im Februar 1887 eine Augenkrankheit hinzugesellte. Judtmann vermutet, beides habe zu schweren Depressionen geführt, so dass sich der 29-jährige entschloss, ein zweites Testament aufzusetzen. Eine handschriftliche Kopie des Testaments in einem Umschlag mit der Aufschrift „Abschrift meines im K.K. Hofmarschallamte erliegenden Testaments. März 1887. Kronprinz Erzherzog Rudolf Feldmarschallleutnant.“ erhielt auch Stephanie, die dieses in ihrer Biographie veröffentlichte1776. Nachdem am 30. Januar nachmittags in Mayerling die amtliche Hofkommission1777 u.a. das Kondizill des Kronprinzen aufgefunden hatte, trafen sich einige Mitglieder der Kommission am 31. Januar um 12:00 Uhr zur formalen Testamentsaufsuchung in den Räumen des Kronprinzen in der Burg1778. Sie übernahmen den Schreibtischinhalt in fünf Pakete und versiegelten nach zwei Stunden den Schreibtisch des Kronprinzen, indem der Zugangsschlüssel in einer Schublade in Siegelwachs gedrückt wurde. Dieser Kommission gehörten vom Obersthofmeisteramt Hofrat Dr. Theodor Ritter von Westermayer und sein Adjunkt Carl Kuhn, vom Obersthofmarschallamt Kanzleidirektor Dr. Rudolf Kubasek und als Protokollführer Hofsekretär Dr. Heinrich Slatin, aus dem k.u.k. Ministerium des kais. Hauses und des Äußeren Sektionschef Ladislaus Szögyény-Marich und Carl Ritter Schultes von Felzdorf sowie der kronprinzliche Obersthofmeister, Carl Graf Bombelles, und der Leiter des kronprinzlichen Sekretariats, Heinrich Ritter von Spindler an1779. Obersthofmarschall Anton Graf Szécsen von Temerin legte in einem Vortrag am 2. Februar 1889 dem Kaiser das Testament des Kronprinzen vom 2. Mai 1887 samt Inventar vor und bat seine Apostolische Majestät, die Stelle des Testaments-Exekutors zu übernehmen. Der Kaiser stimmt am nächsten Tag zu und bestellt den Hof- und Ge-
1776
Die Abschrift wurde zum Aufrufpreis von 650 Mark zusammen mit dem Abschiedsbrief (Aufrufpreis 500 Mark) und der eigenhändigen Niederschrift seines Telegramms vom 29. Jänner 1889 an Stephanie (Aufrufpreis 360 Mark) und einem Rudolf gehörenden Brustbild von Mary, das aus einem Gruppenkabinettbild ausgeschnitten war samt Visitenkarte von Alexander Baltazzi (Aufrufpreis 25 Mark) versteigert. 1777 Kommissionsmitglieder nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 waren: Hofrat Dr. Rudolf Kubasek (Kanzleidirektor des Obersthofmarschallamtes), Regierungsrat Nikolaus Poliakovits (Obersthofmeisteramt), Karl Ritter Schultes von Fetzdorf, Sektionsrat im Ministerium des kaiserlichen Hauses und des Äußeren, Hof- und Burgpfarrer Dr. Laurenz Mayer, Regierungsrat und Burghauptmann Ferdinand Kirschner, Hofbahnreisedirektor Claudius von Klaudy, Hofsekretär Dr. Heinrich Slatin (Obersthofmarschallamt) Vizeadmiral Carl Graf Bombelles, Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha, Leibarzt Hofrat Professor Dr. Hermann Widerhofer. 1778 Szögyény-Marich und Dr. Kubasek hatten bereits in den frühen Morgenstunden, dem Kondizill des Kronprinzen folgend, den Schreibtisch durchsucht. 1779 HHStA, neue Zeremonialakten Rub. VI, Hoftrauer 1889, f 2/3 329
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richtsadvokaten Dr. Victor Ritter von Raindl zum Vertreter1780. Am Folgetag, 03. Februar 1889, informiert Szécsen schriftlich Ladislaus Szögyény-Marich offiziell vom Inhalt des Testaments und den ihm zukommenden Aufgaben. Nach Rudolfs Tod wurde seiner Frau der Titel „Ihre k.u.k. Hoheit, die durch. Frau Kronprinzessin-Witwe, Erzherzogin Stephanie“ zugesprochen. Die Witwenbezüge, von denen am 6. Februar 1889 der Erste Obersthofmeister, Constantin Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst, den Kaiser in Kenntnis setzte, regelte der Ehevertrag: „Nach den Ehepakten gebühren der Kronprinzessin-Witwe aus der Hofdotation: 1. Ein Witthum jährlicher, 100.000 Gulden ö. W. 2. 5% Interessen (= Zinsen) der Widerlage von 100.000 Gulden, d.i. der betrag jährlicher 5.000 Gulden 3. Außerdem das in der Privatkassa verwahrte Heiratsgut von 100.000 Gulden entweder in Kapital erfolgt oder die davon entfallenden Interessen jährlich ausbezahlt.“ Stephanies Vater, König Leopold von Belgien, soll nach verschiedenen Berichten empört über die Behandlung seiner Tochter am Wiener Hof gewesen sein. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht zu erklären, dass der Kaiser schon am 8. Februar 1889 die Witwenpension der Schwiegertochter um 50.000 auf 150.000 Gulden erhöhte und am 2. März 1889 seiner Enkelin, der Erzherzogin Elisabeth, ein Kapital von in Gold vermündelten Wertpapieren im Wert von 2.000.000 Gulden schenkte1781. Der Ehevertrag sicherte Stephanie als Wohnsitz die Hofburg oder ein vom Kaiser zu bestimmendes Schloss vor; Franz Joseph überließ ihr Appartements in der Burg und in Laxenburg. Mit ihrer Wiedervermählung am 22. März 1900 erlosch ihr Anspruch auf einen Wohnsitz.
1780
HHStA, Kabinettarchiv, Separatakten Nr. 49 vom 02.02.1889 330
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
2. Die Inventur in Wien und Mayerling
„Durch den Verkauf aber gelangt der Nachlaß zu einem nicht unbedeutenden Kapital, was für beide kaiserlichen Hoheiten wünschenswert erscheint.“
Dr. Victor Ritter von Raindl an das Obersthofmarschallamt Wien, 14.04.1889
„In einem Vortrag schlägt der Obersthofmarschall Graf Szécsen1782 am 2. Februar 1889 dem Kaiser vor, bei der Inventurs-Errichtung möglichst große Vereinfachungen und Erleichterungen bei der Verzeichnung und Schätzung des Nachlasses eintreten zu lassen.1783“ Mit der Aufgabe, die Inventur aufzustellen, wurde Hofsekretär Dr. Heinrich Slatin1784 beauftragt – er musste in Folge rund 24.000 Gegenstände aufnehmen, verzeichnen und Schätzen lassen. Unterstützung erhielt er durch die Hofleibdiener Franz Sattler und Josef Krause sowie bei der Schätzung von Gemälden durch die k.k. Hof-Kunsthandlung L. T. Neumann/Kohlmarkt 11, bei der Schätzung von Büchern durch den Bücherschätzmeister Anton Einsle/Riemergasse 28 sowie vom 6. bis 21. März 1889 bei der Schätzung des Mayerlinghofes durch die Güterschätzmeister Carl Schelnberger und Carl Ritter von Umlauff1785. Interessanter Weise nahmen die Nachlassschätzungen nicht die Schätzleute des Obersthofmarschallamtes vor. Slatin begann „seine Tätigkeit in Mayerling, setzte diese dann in der Hofburg in Wien, dann im Schloß Laxenburg fort und betrieb durch die zuständigen Gerichte die Inventuraufnahmen in Lacroma und Görgény Szt. Imre.1786“ Die Inventur in Wien ergab an Bargeld1787 35.474,65 Gulden, an Wertpapieren 304.717,44 Gulden sowie Pri1781
HHStA, Kabinettarchiv, Separatakten/Separatbilletts B.5 s ex 1889 vom 02.03.1889 Szécsen, Anton Graf von Temerin 1783 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1784 Slatin, Freiherr Heinrich von, geb. 09.10.1855/Ober St. Veit, gest. 24.10.1906, beigesetzt auf dem Friedhof Ober St. Veit/Wien; Dr. jur., seit 1887 wirklicher Hofsekretär im Obersthofmarschallamt, später Sektionschef und Kanzleidirektor des Oberststallmeisteramt; 1992 Träger des Ritterkreuzes 1. Abteilung der großherzogliche Sachsen-Weimar´schen Hausorden (HHStA, OMaA 16 I/B Nr. 92 Personalakten) 1785 HHStA, OMaA 421/III ff. 1786 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Dort auch der Hinweis: „Über die Inventuren in Wien und Mayerling liegen Bücher mit goldgedruckten Titeln vor; über Laxenburg, Lacroma und Görgény bestehen geheftete Akten“. 1787 In Verwahrung des Sekretariats: 31.991,46 Gulden (dies ist die von Graf Hoyos ins einer Denkschrift erwähnte Summe an Bargeldresten – dort: 30.000 Gulden); in Verwahrung des Generalstabschefs: 3.351,09 Gulden; in Verwahrung des Kammerdieners: 142,10 Gulden. 1782
331
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vatforderungen in Höhe von 9.465,19 Gulden. Zusammen mit Pretiosen1788, Kleidung1789, Einrichtungsgegenständen1790, Türkisches Zimmer1791, Teppichen1792, Schreib- und Rauchgarnituren1793, Gemälden1794, Fotografien1795, Antiquitäten1796, Büchern1797, Diplomen1798, Münzen1799, Sammlungen1800, Waffen1801, Jagdrequisiten1802, Pferden1803, Porzellan1804, Wäsche1805 und Weinen1806 ergab sich eine Gesamtsumme von 467.199,97 Gulden. Besonders die Inventur im Schloss von Mayerling bereitete Slatin erhebliche Schwierigkeiten. Um den Besitz aus dem Erbe auskaufen und neu widmen zu können, musste er zunächst geschätzt werden. Hierzu wurde für das Gebäude eine mögliche Mieteinnahme auf Basis der Vermietung im Sommer errechnet – 1.600 Gulden, von denen 15 Prozent als Erhaltungskosten (= 240 Gulden) abgezogen werden mussten. Von diesem Mietzins (1.360 Gulden) wurde eine Hauszinssteuer in Höhe von 26 2/3 Prozent berechnet und diese Summe mal 60 genommen. Das Ergebnis war ein geschätzter Wert von 21.162,60 Gulden. Auf gleichem Wege wurden die Villa (10.881, 60 Gulden), der Wirtschaftshof (5540,80 Gulden), Arbeitsmaterial (822,60 Gulden) sowie die Ländereien (14.747,60 Gulden) geschätzt, so dass
1788
100 Posten Gold- und Silbergeräte sowie 79 Orden; die goldene Tabatiere der Baroness Vetsera scheint nicht auf, jedoch wurde eine goldene Tabatiere in Futteral von der Kronprinzessin übernommen; Wert: 57.868,50 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1789 Leibkleidung, Leibwäsche, Toilettegegenstände; Wert: 2.553,15 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1790 Außer dem Türkischen Zimmer war fast die gesamte Einrichtung in Wien hofärarisches Eigentum, das nicht in die Inventur übernommen wurde; Wert: 403,50 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1791 Wert: 5.586,00 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1792 Teppiche und Vorhänge; Wert: 124,00 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1793 Wert: 757,41 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1794 Ölgemälde, Aquarelle, Kreidezeichnungen, insgesamt 162 Posten, darunter kein bedeutendes Kunstwerk; Wert: 1.713,20 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1795 Fotografien, Farbdrucke, Stiche, insgesamt 214 Posten, darunter zahlreiche Fotoalben; Wert: 1.713,20 – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1796 Wert: 3.313,50 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1797 Bücher, Karten, Globen mit 636 Posten; die 5.000 Bände und 1.500 Broschüren belegen Rudolfs literarisches Interesse; Wert: 4.469,70 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1798 Adressen, Diplome, Widmungs-Alben; Wert: 4.440,10 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1799 Münzen und Medaillen; mit 26 Posten von hohem Wert; Wert: 12.716,50 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1800 Naturhistorische Sammlungen, ausgestopfte Tiere, Felle, Geweihe, Skelette und Jagdtrophäen; Wert: 4.349,38 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1801 Wert: 712,50 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1802 Jagd- und Reiserequisiten, Wagen, Geschirre und Stallrequisiten; Wert: 1.853,80 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1803 die Pferde „Ri-Ri“ (Fuchsstute), „Manessi“ (Grayfelter Grauschimmel-Hengst), „Mizzi“ (braune Stute) und ein SchimmelPony ohne Namen (Rudolfs Lieblingsstute „Lori“ scheint nicht auf) sowie 25 Hunde: Bracken („Waldl“, „Waldine“, „Stella“, „Flora“ und 4 junge Hunde), Dackel („Schundy“, „Flock“, „Maus“, „Lady“), sechs Otterhunde, Hunde verschiedener Rassen („Hector“, „Hasan“, „Caesar“, „Faust“, „Rustl“), Schweißhunde („Haltan“, „Selma“) und ein Vorsteherhund („Cikan“); Wert: 1.205,00 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1804 Glas und Porzellan; Wert: 658,00 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1805 Tafelwäsche; Wert 154,60 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1806 Weine und Liköre; Wert: 1.170,25 Gulden – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 332
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Slatin auf eine Gesamtschätzsumme von 53.655,20 Gulden kam. Hiervon mussten jedoch wieder 2.000 Gulden als Garantiesumme zum Erhalt der Laurentiuskirche abgezogen werden1807. Wenn man berücksichtigt, dass der Kronprinz erst drei Jahre zuvor den Hof für 95.000 Gulden vom Grafen Leiningen erworben und für den Neubau des Prunkstalles rund 35.000 Gulden gezahlt hatte, mit dem Stift Heiligenkreuz Grundstücke im Wert von 15.000 Gulden getauscht bzw. 25.000 Gulden aufgezahlt wurden und weitere Umbauten stattfanden, so investierte Rudolf fast 200.000 Gulden in das Jagdschloss1808. Der Kaiser erwarb das Anwesen für 60.000 Gulden, das Obersthofmeisteramt Möbel für 12.426 Gulden – letztlich wären dem Erbe rund 72.426 Gulden zugeflossen. Da der Erzherzog jedoch fast 200.000 Gulden investiert hatte, sah sich der Kaiser veranlasst, weitere 53.438 Gulden aufzuzahlen, so dass sich die Verkaufssumme auf 127.864 Gulden erhöhte – und doch noch immer weit unter dem wahren Wert lag1809. „Die Laurentiuskirche, die sich im Besitz des Stiftes Heiligenkreuz befand, das übrigens auf das Gut Mayerling ein Vorkaufsrecht besaß, auf dieses jedoch zugunsten des Kaisers verzichtete, kaufte Franz Joseph um 1.000 Gulden, da das Gotteshaus nur zum Zweck der Demolierung erworben wurde.1810“ Slatin schloss eine Inventarliste für Mayerling am 23. März 1889 ab – das letzte Siegel wurde am 09. April 1889 aufgesetzt, der letzte Eintrag erfolgte am 19. Oktober 1889 mit dem Hinweis, die 73 Falschen Wein des Jagdschlosses verkauft zu haben. Slatin gab jedem Raum eine Nummer, beschrieb für diese Räume1811 nach bestem Wissen und Können die Einrichtungsgegenstände und vermerkte, wie mit diesen verfahren wurde: Verbleib im Karmel – dies waren insgesamt 163 Gegenstände ohne größeren Wert – , Abgabe an das Asyl, Verbringung nach Neuberg oder Laxenburg1812, Abgabe an die Generaldirektion der Familienfonde, an Kronprinzessin Stephanie1813, an Erzherzogin Gisela oder an Kaiserin Elisabeth bzw. Vernichtung – wie eine Strohmatte aus dem Badezimmer („wurde ausgeschieden und verbrannt“) und je ein Bettvorleger und Garniturteppich aus dem Schlafzimmer des Kronprinzen, zu denen es heißt „Kommissionell verbrannt – lt. Zwerger“. Das gesamte Inventar des Sterbezimmers wurde an das Obersthofmeisteramt verkauft bzw. vom Hof zurückgekauft. Die 55 Edelhirsch- und 183 Rehgeweihe konnten an das „Naturhistorische Museum“ nach Wien überstellt werden1814. Insgesamt ergab die Inventur in Mayerling folgende Vermögensschätzung1815: A. I.
Bewegliches Vermögen Bargeld
Gulden Gulden
1807
Summe 507,44
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Ein Grundbuch der Liegenschaften aus Mayerling ging 1928 in Verlust 1809 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1810 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1811 Dies waren: Vorhalle EG, Kleiner Holzkeller, Kabinett Nr. 24, Jägerzimmer Nr. 22, Zimmer Nr. 21, Billardzimmer Nr. 25, Zimmer Nr. 20, Entree-Zimmer Nr. 16, Schlafzimmer Nr. 12, Zimmer Nr. 15 (Loscheks Raum), Vorraum zum Badezimmer, Badezimmer Nr. 14, Kleine Schneckenstiege/Wendeltreppe, Hauptstiege; 1. Stock: Stiegenhaus, Stiegenhaus/Billard/Vorzimmer, Speisezimmer Nr. 1, Cercle, Cercle samt Erker, Vorzimmer Nr. 2, Schreibzimmer der durchl. Frau Kronprinzessin Witwe Nr. 3, gemeinsames Schlafzimmer Nr. 11, kleines Vorzimmer Nr. 4, Zimmer für Kammerdienerin Nr. 6, Badezimmer Nr. 7; Ebenerdiger Verbindungstrakt de Schlosses mit Elisabethtrakt: Silberkammer Nr. 2, Zimmer Nr. 3, Bodenstiege Nr. 4, Zimmer Nr. 6,7,8,9,12, Zimmer 11, Zimmer 48, Zuckerbäckerei Nr. 13, Speisenkammer Nr. 18, Zimmer Nr. 43, Zimmer Nr. 41, Kleine Speisenkammer Nr. 40, Kleine Küche Nr. 14; Elisabethtrakt: Leiblakeienzimmer Nr. 39, Entree Nr. 15, Salon Nr. 32, Schlafzimmer, Fräuleinzimmer Nr. 34/35, Keller Nr. 16, Lichthof, Küche Nr. 17, Abwaschkammer, Speise, Schoppen, auf dem Boden, Theepavillon, Schiesstätte. 1812 Stephanie erhielt für Laxenburg hauptsächlich Möbel aus der Villa Leiningen, ihre Schwester und ihr Schwager für das Laxenburger Appartement jedoch Möbel aus dem Schloss. 1813 Stephanies zweite Kammerdienerin Ida Haas reiste am 06. März 1889 nach Mayerling, um die Übernahme der Objekte zu begutachten (OmaA, III/B 108III/ad 358/1890). 1814 Inventar, HHStA, OMaA 422, III/B 108, Inventare 1889, Nr. 109-115 ex 1889-1916 1815 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1808
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II. Einrichtungsgegenstände III. Teppiche und Vorhänge IV. Schreibtischgarnituren, Rauchrequisiten, Nippes etc. V. Ölgemälde, Aquarelle, Federzeichnungen VI. Fotografien und Stiche VII. Geweihe (55 Edelhirsch- und 183 Rehgeweihe) VIII. Hunde („Ani“, „Hector“, „Scheck“) IX. Weine Zusammen B. Unbewegliches Vermögen inkl. Vorräte und Fundus
Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden
12.544,01 2.196,10 415,60 266,00 182,20 216,00 16,00 46,85 16.390,20 51.045,501816
Fritz Judtmann recherchierte, dass der Verkauf des Gutes Mayerling dem Obersthofmarschallamt als Gerichtsbehörde des Hofes nicht plausibel erschien und sie „über die Verschleuderung des Gutes Bedenken geäußert hatten1817“. Der Wiener Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Victor Ritter von Raindl, den der Kaiser als Vertreter der minderjährigen Erzherzogin Elisabeth eingesetzt hatte, stellte jedoch fest, dass der vom Kaiser angeordnete Verkauf für die Erbin Vorteile gebracht habe: Der Vorteil sei „nämlich darin gelegen, daß die Realität wegen der traurigen Erinnerungen, welche sich daran knüpfen, durchaus nicht geeignet ist, weder jemals zum eigenen Gebrauch Ihrer kais. Hoheit der durchl. Frau Fruchtniesserin oder der durchl. Frau Erbin zu dienen, noch gegen Entgelt in fremde Benutzung überlassen zu werden, und daher einen mit Erhaltungsauslagen und anderweitigen Kosten belasteten Besitz bildet, dessen aus der Verpachtung einzelner Grundstücke zu erwartende Erträgnisse diese Auslagen niemals erreichen können. Durch den Verkauf aber gelangt der Nachlaß zu einem nicht unbedeutenden Kapital, was für beide kaiserlichen Hoheiten wünschenswert erscheint.1818“
1816
eigentlich – so Judtmann zuvor und in Folge – belief sich der Wert des unbeweglichen Vermögens in Mayerling auf 51.655,20 Kreuzer 1817 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 334
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
3. Die Auflösung des Hofstaates
„Saaltürhüter Loschek: zum Kammerthürhüter befördern und der besonderen Gnade zu empfehlen.“
Carl Graf Bombelles Wien 1889
Am 20. März zahlte Bombelles aus dem Nachlass des Kronprinzen – und von Kronprinzessin-Witwe Stephanie genehmigt – das Kammer-, Stall und Jagdpersonal aus. Insgesamt war dafür ein Legat von 30.000 Gulden vorgesehen. „Die Verteilung des Legats für das Kammer-, Stall- und Jagdpersonal verursachte einiges Kopfzerbrechen, wie vielfach geänderte Entwürfe zeigen.1819“ Kammerdiener Carl Nehammer und Carl Beck sowie der Kammertürhüter Johann Loschek erhielten letztlich mit jeweils 2.600 Gulden die höchsten Einzelsummen, gefolgt von Büchsenspanner Rudolph Püchel und Franz Wodicka sowie dem königl. ungar. Zentral-Forstinspektor Josef von Pausinger in Görgény mit jeweils 1.600 Gulden1820. Je 1.000 Gulden gingen an den k.k. Forstmeister Hornsteiner in Alland, den Forstmeister Paul im Lainzer Tiergarten, den k.k. Hofjäger Wenzel Nebesky in Laxenburg und den Bereiter Stößner, der Einzelbetrag von 2.000 Gulden ging an den Leibbereiter Dorntreil vom Hofstallpersonal. Die Restsumme teilten sich 56 weitere Personen1821 - insgesamt fünf Förster und Jäger im Wienerwald, drei in den Donauauen, drei in Orth und vierzig Mann Hofstallpersonal. Kleider, Wäsche und Schuhe wurden den Kammerdienern geschenkt, viele Jagdwaffen ebenso verteilt: Loschek erhielt einen Artilleriesäbel, Püchel und Nehammer je einen russischen Infanteriesäbel, Beck einen preußischen Generaldegen, Walter und Berger je einen russischen Säbel, Wodicka einen Hirschfänger. Auch die Gewehre des Naturalien-Cabinetts und aus der Gewehrkammer wurden im April 1889 unter Aufsicht von Wodicka unter dem Kammerpersonal aufgeteilt. Rudolfs Witwe Stephanie stellte selbst eine Liste von Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zusammen, die Andenken erhielten. Unter Ihnen waren u.a.:
1818 Ritter von Raindl, Dr. Victor an das Obersthofmarschallamt, Wien, 14.04.1889, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1819 Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea-Verlag, Wien 1968 1820 Pausinger sollte zunächst ebenfalls 2.000 Gulden erhalten, doch musste Bombelles diese Summe auf Wunsch der Kronprinzessin-Witwe um 400 Gulden nach unten korrigieren. 1821 HHStaA, OHMaA, III/108 55 ad 489/1889
335
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Baronin Welden („Wowo“, Rudolfs Aja)
Herz-Jesu-Bild
Bombelles
Uhrkette
Feldmarschall-Leutnant v. Latour
Säbel
Graf J. Hoyos
Geweih, Hirschfänger
Graf Kálnoky
Ring mit Türkis
Graf S. Teleki
Hirschfänger
Graf Wilczek
Gewehr
Herrn N. von Dumba
silb. Cigarettendose
Hofburgpfarrer Mayer
Gebetbuch
Hofrat Dr. Billroth
silb. Cigarettendose
Hofrat Dr. Widerhofer
Gewehr
Hofrat von Weilen
Chinesische Vase und Cigarettentasche
Maurus Jokai
Goldknöpfe
Pausinger
Cigarrentasche
Pol.-Kom. Habrda
Taschenfeuerzeug aus Email
Sectionschef v. Szögyény-Marich
Manschettenknöpfe
Spindler
Ring, Becher
1. Ulanen-Regiment
Hissfahne
10. Artillerie-Regiment
Hissfahne
19. Infanterie-Regiment
Hissfahne
36. Infanterie-Regiment
Säbel
Schon Judtmann bemerkt, dass ein Geschenk an Polizeikommissär Habrda als „sonderbar“ zu bezeichnen sei, da dieser bei der merkwürdigen Beisetzung der Baroness Vetsera in Mayerling eine wichtige Rolle gespielt hatte. Doch vielleicht war dies für die Witwe der Grund, den Beamten mit einem Geschenk zu bedenken? Nun musste der Hofstaat des Kronprinzen aufgelöst werden, dem zuletzt folgende Personen angehörten1822 (in Klammern: biographische Daten, halbfett: Dienstzeit bei Kronprinz Rudolf1823) Obersthofmeister Carl Graf Bombelles zugeteilt: Major Maximilian Graf Orsini und Rosenberg, Kämmerer und Flügeladjutant Seiner Majestät des Kaisers (1846-1922) 1885-1889 Hauptmann Arthur Freiherr Giesl von Gieslingen, Ordonanzoffizier Seiner Majestät des Kaisers (1857-1935) 1887-1889 MDr. Franz Auchentaler, k.k. Leibarzt Sekretariat Leitung:
1822 1823
„Hof- und Staatshandbuch der öster.-ung. Monarchie“ für 1889 (gedruckt 05.12.1888) HHStaA, Nachlass Corti, Karton 29/Korrespondenz, C202 336
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Oberleutnant der k.k. Trabanten-Leibgarde und k.k. Oberst Heinrich Ritter von Spindler (1822-1890) 18851889 zugeteilt: Oberleutnant Victor Fritsche (1857-1945) Sekretariats-Kanzlist Cihlo Wenzel Verwaltung von Lacroma: Franz Kukol, Custos Kammer Kammerdiener: Carl Nehammer/Carl Beck Saalthürhüter: Johann Loschek Kammerbüchsenspanner: Rudolph Püchl, Franz Wodicka (1857-1928), Johann Walter (prov.) Hausdiener: Franz Thorand Kammerweib: Anna Schlandt Über die Auflösung des Hofstaates verfasste Graf Bombelles einen Entwurf, den er dem Ersten Obersthofmeister des Kaisers, Constantin Prinz Hohenlohe-Schillingsfürst, vorlegte. Dieser führte Korrekturen aus (halbfett) und die Auflösung des Hofstaates konnte vollzogen werden. In seinem Vortrag bei Kaiser Franz Joseph heißt es: Kammerdiener Nehammer: mit vollem Gehalt zu pensionieren. Kammerdiener Beck: ebenso Saaltürhüter Loschek: zum Kammerthürhüter befördern und der besonderen Gnade zu empfehlen. (durchgestrichen und ersetzt durch: ebenso) Oberlieutnant Fritsche: Zum Regiment einrücken, jedoch für irgendeine Personaladjutantenstelle vormerken. Oberst von Spindler: Stillschweigend in der Trabantanleibgarde fortdienen. Da Bombelles in seinem Entwurf über seine eigene Zukunft keine Angaben gemacht hatte, schlug ihn Prinz Hohenlohe bei seinem Vortrag dem Kaiser zur Pensionierung vor. „Während Bombelles eine Pension von 13.300 Gulden jährlich erhielt, mußte sich Loschek mit 1.300 Gulden begnügen. Loschek erhielt das goldene Verdienstkreuz mit der Krone. Kammerbüchsenspanner Rudolf Püchel wurde zum Saaltürhüter ernannt und anderweitig in der Hofburg verwendet.1824“ Zudem erhielt Bombelles das Großkreuz, Graf OrsiniRosenberg das Ritterkreuz des Leopoldsordens, Hauptmann Giesl-Gieslingen wurde mir dem Eisernen Kronenorden 3. Klasse dekoriert. „Somit war die Auflösung des Hofstaates beendet.1825“ Am 3. Mai 1889 wurde der Allander Oberförster Ludwig Hornsteiner von seinem Amt als Oberaufseher über den Besitz des Kronprinzen in Mayerling, das er seit 22. Juni 1886 inne hatte, enthoben.
1824
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea-Verlag, Wien 1968 337
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
4. Görgény Szt. Imre
„Der Empfang daselbst durch die Spitzen der Behörden und der Bevölkerung, die aus der näheren und weiteren Umgebung zusammengeströmt war, war festlich und enthusiastisch.“
Rudolf Püchel Görgény, 1881 „Das Jagdhaus in Görgény Szt. Imre1826 war von einer Krondomäne gepachtet und lag im Tal des GörgényFlusses, einem Nebenfluss der Maros, in Siebenbürgen1827, heute Rumänien.1828“ Das angrenzende GörgényGebirge1829 galt unter Jägern als Dorado für Bären, so dass der Kronprinz alljährlich im September, Oktober oder November mit vielen Gästen dort Jagden veranstaltete. Verwaltet wurde das Jagdhaus von dem königl. ungar. ZentralForstinspektor Joseph von Pausinger, einem Bruder des mit Rudolf befreundeten Jagdmalers Franz von Pausinger1830. Der Verwalter erhält nach Rudolfs Tod auch als einziger Angestellter aus Görgény einen Teil des Legats für Forstpersonal. Zusätzlich waren in Görgény zwei Ober- und acht Unterhof-Jäger angestellt. Treiber waren meist Walachen in Tracht, die Hornsignale gaben Zigeuner, welche auch die Bärenhunde ausbildeten1831. Am 21. November 1879 erlegte Rudolf bei Muncacs seinen ersten Bären. Aus einem Schreiben von Graf Bombelles vom 30. Dezember 1880 wissen wir, dass sich der Thronfolger seither für die ungarischen Reviere interessierte. In der Folge erwarb er vom ungarischen Staat die Jagdrechte für Görgény1832 und Vichod1833 – und somit auch die Nutzung des wohl 1807 errichteten Schlosses von Görgény1834 „am Fuße des weithin sichtbaren hutförmigen
1825
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea-Verlag, Wien 1968 ungarisch: u.a. Görgenyszentimre, deutsch: Görgen; rumänisch: Gurghiu; insgesamt gibt es fast ein Dutzend historische Namen für den Ort, der wirtschaftlich von einem noch heute existierenden Sägewerk abhängig war. 1827 Komitat Maros -Torda 1828 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1829 Das rumänische Gurghiu-Hochgebirge ist ein vulkanischer, westlicher Teil der Ostkarpaten. 1830 Pausinger, Franz Xaver von, geb. 10.02.1839 in Frankenburg /Oberösterreich, gest. 07.04.1915 in Frankenburg /Oberösterreich, Tier- und Landschaftsmaler, begleitete Kronprinz Rudolf auf einer Orientreise 1831 Jagdzeit – Österreichs Jagdgeschichte – eine Pirsch; Katalog zur 209. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996/1997 1832 Die ärarische Herrschaft Görgény gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Familie Bornemisza, berichten die Autoren in „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, Ungarn, VI. Band, „Das Maros-Tordaer Comitat“ 1833 heute Vychod/Tschechien 1834 Oberhalb des Schlosses lag einst die Burg von Görgény, von der bereits zu Rudolfs Zeiten nur noch eine Ruine existierte. Diese Burg ist eng mit der Geschichte des Landes verbunden und wurde zuletzt 1708 belagert und in Folge geschliffen. Das dem Steinmaterial soll dann das Schloss von Görgény errichtet worden sein. 1826
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Rákoczyberges1835“. Erstmals besuchte Rudolf gemeinsam mit Kronprinzessin Stephanie das Jagdhaus am 13. November 1881 in Begleitung des Erzherzog Friedrich, Louise und Philipp von Coburg und Gefolge. „Der Empfang daselbst durch die Spitzen der Behörden und der Bevölkerung, die aus der näheren und weiteren Umgebung zusammengeströmt war, war festlich und enthusiastisch.1836“ Bis zum 20. November bleiben die beiden hohen Paare mit ihrem Gefolge vor Ort, dann reisten sie über Prag zurück nach Wien – Glück auf der Bärenjagd hatten sie indes keines. Trotz Misserfolg bei der Jagd ließ Rudolf um 1882 das Schloss renovieren und wohnlich einrichten – mit Salon, Speisesaal, Arbeitszimmer, Rauch- und Schlafzimmer sowie einigen Gästezimmern mit insgesamt 26 Betten. „Wir hatten uns bemüht, das Schloß Görgény Szent Imre, welches der Kronprinz als Jagdhaus gekauft hatte, so bequem und gemütlich als möglich einzurichten, um unsere stets zahlreichen Gäste empfangen zu können.1837“ Zu den Gästen, die der Kronprinz mit nach Görgény brachte, zählten auch der Prinz of Wales und Erzherzog Franz Ferdinand1838. Bei einer weiteren Bärentreibjagd des Kronprinzen, am 21. Oktober 18851839, wäre es in den Wäldern um Görgény beinahe zu einer Katastrophe gekommen. Rudolf hatte durch eine schnelle Bewegung eine Bärin in unmittelbarer Nähe des Jagdsitzes auf sich aufmerksam gemacht. Trotz mehr als zehn Schüssen, die der Kronprinz abgab, stand die Bärin „mit offenen Fängen“ während des Nachladens plötzlich vor ihm. Der Jäger Püchel erkannt die Brisanz und hielt dem Tier sein Gewehr vor den Fang, das er sogleich erfasste und drückte ab. Der Bär war tot. „Nach einer Weile erfasste der Kronprinz meine Hand und sagte: Püchel, das war eine ernst halbe Minute.1840“ Das Fell der zerschossenen Bärin befindet sich im Besitz der Familie des Jägers, aus einem Knochen wurde ein Bärenmesser für die Kronprinzen hergestellt. Eine Zeichnung Püchels, die einen der von Rudolf erstreckten Bären zeigt, ist im Besitz des Jagdmuseums Marchegg1841. Insgesamt wurden bei der Bärenjagd in Görgény in fünf Tagen 19 Bären gestreckt, hiervon vier durch Rudolf1842. Einige der vom Kronprinzen in Görgény erlegten Bären existieren heute noch als Präparate – z.B. im Jagdmuseum von Marchegg sowie in der ehemaligen Rudolph-Villa in Reichenau1843. „Die Gesamtsumme der Schätzung betrug 10.412,90 Gulden, wobei der größte Teil der Möbel an Ort und Stelle für 4.251,38 Gulden verkauft wurde.1844“ Zuständig für die Inventur war das örtliche Gericht. Das auffallend gut erhaltene und gepflegte Schloss in Rumänien existiert noch heute und beherbergt die „Scola Silvica Gurghiu“, eine 1893 gegründete Forstschule. Zur der U-förmigen Anlage gehören neben dem zweistöckigen Hauptgebäude mit Turm eine kleine Kapelle sowie Stallungen und Nebengebäude, die sich um einen begrünten Hof 1835
„Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, Ungarn, VI. Band, „Das Maros-Tordaer Comitat“ Püchel, Rudolf: „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel“, Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 1837 Lonyay, Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von: „Ich sollte Kaiserin werden - Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, Von Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 3. Auflage 1935 1838 „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, Ungarn, VI. Band, „Das Maros-Tordaer Comitat“ 1839 Das Datum stammt von Püchel; laut Jagd-Journal fand die Bärenjagd jedoch 1885 nur am 14., 15. und 18. Oktober statt. „Kronprinz Rudolf als Jäger“, in: „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Ausstellungskatalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989. 1840 Püchel, Rudolf: „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel“, Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 1841 Jagdzeit – Österreichs Jagdgeschichte – eine Pirsch; Katalog zur 209. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996/1997 1842 Tomiczek, Herbert: „Kronprinz Rudolf als Jäger“, in: „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Ausstellungskatalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989 1843 Sockelinschrift: „Braunbär Krondomäne Görgeni-Szent-Imre Erleger Kronprinz Rudolf Nov. 1882“ (muss heißen Oktober), nach Jagdzeit – Österreichs Jagdgeschichte – eine Pirsch; Katalog zur 209. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996/1997 1844 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1836
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gruppieren. Vom Hauptgebäude aus gelangt man in einen gepflegten Park mit beeindruckendem Baumbestand. Neben der Forstschule hat in dem Schlossgebäude ein kleines Jagdmuseum Platz gefunden, das neben Exponaten der heimischen Pflanzen- und Tierwelt wie einem präparierten Braunbären und Trophäen des Grafen Teleki auch die Fauna des Donau-Deltas erläutert1845.
1845
freundliche Mitteilung von Alexander Schneider. Hamburg 17.07.2003 340
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
5. Lacroma
„Ein Freund in der Not, Ein Freund im Tod, Ein Freund hinterm Rücken, Muß es dir glücken“
Sinnspruch über dem Eingang zum Kloster auf der Insel Lacroma
Der letzte Besitz des Kronprinzen, der geschätzt und inventarisiert werden musste, war die Insel Lacroma bei Ragusa in Dalmatien – das heutige Locrum vor Dubrovnik in Kroatien. In seinem ersten Testament hatte Rudolf die Insel seinem Vater ans Herz gelegt und auch Kronprinzessin Stephanie war von ihr sehr angetan1846. Als Verwalter war Franz Kukol in Lacroma eingesetzt. „Lacroma ist eine bewaldete Insel knapp vor Ragusa mit Resten einer alten Kirche und eines Klosters1847. Erzherzog Max, der spätere Kaiser Maximilian von Mexiko, hatte die Insel angekauft1848. Nach seinem Tod ging sie für kurze Zeit in fremde Hände über, bis sie Kronprinz Rudolf erwarb1849. Er hatte die Absicht, das Kloster zu einem Palast in dalmatinischen Stil auszubauen, wie sich aus Plänen ergab, die wir im Bildarchiv der Nationalbibliothek auffinden konnten.1850“ Zu dem geplanten Umbau kam es jedoch nicht1851.
1846
Über der Tür des Hauptgebäudes war der Sinnspruch zu finden: „Ein Freund in der Not – Ein Freund im Tod – Ein Freund hinterm Rücken – Muß es dir glücken“, nach Püchel, Rudolf: „Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel“, Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978 1847 Nach Lonyay, Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von: „Ich sollte Kaiserin werden - Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, Von Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 3. Auflage 1935, war das Kloster von Richard Löwenherz gegründet worden, der bei seiner Heimkehr vom 3. Kreuzzug aus Palästina in Seenot geriet und zum Dank für seine Errettung die Abtei stiftete. 1848 Gilt heute die Schloß- und Gartenschöpfung von Miramar als das eigentliche Vermächtnis Maximilians, hätte sie ein Gegenstück in Lacroma gefunden. Was lange Zeit als Hirngespinst und Wachtraum des in Querétaro gefangenen Fürsten gegolten hat, belegen in der Graphischen Sammlung Albertina wie in der Österreichischen Nationalbibliothek identifizierte Projektentwürfe für eine Umgestaltung der meist mit Erdbeerbäumen und Seestrandkiefern bewachsenen, zum Teils ehr felsigen Insel. Wie sehr Maximilian seine Insel geschätzt hat, zeigen zudem seine Gedichte über das Eiland, das Stephanie 1892 in dem Büchlein „Lacroma. Mit Illustrationen nach Originalen des k. und k. Kammer-Marie-Malers A. Perko“ bei Künast in Wien veröffentlichte. 1849 Nach Lonyay, Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von: „Ich sollte Kaiserin werden - Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, Von Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 3. Auflage 1935, lernte Maximilian die Insel kennen, als vor ihrer Küste das österreichische Kriegsschiff „Triton“ 1859 nach einer Explosion der Pulverkammer versank – ein Kreuz auf der Insel erinnerte daran. Der Erzherzog erwarb die Insel von der Stadt Ragusa und baute die Abtei zu einem Wohnsitz aus. Nach seinem Tode gelangte die Insel in den Besitz eines Sanitätsoffiziers, der sie in einen Kurort verwandeln wollte. 1850 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 341
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Im März 1886 erholten sich Stephanie und Rudolf auf Lacroma von ihren schweren Erkrankungen1852. Das Paar blieb vom 8. März bis 29. April auf der Insel, wobei Rudolf in den letzten Wochen bereits an Ausflügen, ornithologischen Beobachtungen und Jagden teilnahm. Die Erzherzogin, gepflegt von ihrer Schwester Louise, erholte sich nur langsam in dem nun zum Sanatorium gewordenen Kloster. Stephanie: „Aus allen Fenstern genoß man eine unvergessliche Aussicht auf das tiefblaue Maar und das blühende Eiland. Der Schlosshof, ein ehemaliger Kreuzgang, war entzückend; Glyzinien und Rosen umstanden die Säulen und rankten zu den schön gemeißelten Kapitälen empor, während in der Mitte Kamelien und Stockrosen blühten.“ Die Inventur der Liegenschaft beschränkt sich 1889 auf die Räume des alten Klosters – das Refektorium war als großer Wohnraum eingerichtet, die Gäste wurden in den 20 Klosterzellen untergebracht und man speiste gemeinsam in einem großen Saal. Der Garten wurde von einem Kreuzgang eingeschlossen1853. Die Schätzung der Gerichtsbehörde in Ragusa ergab für die Insel einen Wert von 2.520,00 Gulden, für die Gebäude einen Wert von 2.285,50 Gulden und für die Möbel einen Wert von 6.070,70 Gulden, zusammen 10.876,20 Gulden. Zunächst ging die Insel in den Besitz der Universalerbin, Erzherzogin Elisabeth, über. Im Winter 1890/91 rechnete Dr. Victor Ritter von Raindl als Vertreter der Universalerbin vor, dass die Kosten für den Erhalt der Insel mit 1.893,65 Gulden im Jahre 1890 keinen Einnahmen gegenüber gestanden hätten. Da die Insel sehr abgeschieden nahe der montenegrinischen Grenze lag, müssten jedoch ein Aufseher bestellt und Steuern bezahlt werden, so dass Auslagen entstünden, die in keinem Verhältnis zum realen Wert des Objekts stünden. Der Kaiser stimmte einem Verkauf um den Schätzwerk von Insel und Gebäuden zu. Als Käufer trat jedoch nicht Erzherzogin Stephanie auf, die von der Insel so angetan war1854, sondern der Orden der Dominikaner in Dalmatien. Dieser konnte jedoch den Kaufpreis nicht aufbringen, so dass der Kaiser auf Einnahmen verzichtete und die Insel zur Verfügung stellte. Der Kaufvertrag wurde am 4. Februar 1891 in der Landeshauptstadt des Königreiches Dalmatien, Zara (heute Zadar), und am 1. April 1891 in Wien unterzeichnet1855. 1892 – also bereits nach Übergabe der Insel – veröffentlichte Stephanie bei Künast in Wien unter dem Titel „Lacroma“ ein 42-seitiges Buch über die Insel, das vom Adjunct ihres Sekretariats, dem k.k. Kammer-Marine-Maler Anton Perko1856, mit 20 Abbildungen illustriert wurde1857. Sie selbst hatte die Insel für das so genannte „Kronprinzenwerk“
1851
Von dem Architekten Franz Kaym (1891-1949), einem Schüler Otto Wagners, ist das nie verwirklichte "Idealprojekt" eines "Schul- und Festhauses auf der Insel Lacroma" aus dem Jahr 1913 überliefert. Auf zwei Blättern in Bleistift, Feder und Kreide werden die Entwürfe für die Hotelfassade sowie für die Bühne der Arena anschaulich dargestellt. So finden sich auch genaue Angaben zur Innenausstattung. "Mit Ausnahme der Decke Mahagoni vertäfelt, vergoldetes Messing, dunkelrote Fauteuils, ocker Vorhänge" heißt es da. 1852 Rudolf berichtete seinem Vater in Wien in einem Handschreiben vom 26.03.1886 „über die ganze Krankheit Stephanies die erwünschten genauen Erklärungen“. 1853 Die von Judtmann aufgefundenen Pläne zeigen, dass der Kronprinz die fehlende Seite des Kreuzganges durch einen Neubau zum Meer schließen wollte. Beiderseits des Mittelsaales sollten links die Appartements der Kronprinzessin, rechts Rudolfs Wohnräume errichtet werden. 1854 zeitweise reiste sie sogar unter dem Pseudonym „Gräfin Lacroma“ 1855 Im Tagebuch der Erzherzogin Marie Valrie ist am 08.06.1889 vermerkt: „Wiederhofer liess mir durch Zummel sagen: Der Fluch der Benediktiner (Lacroma) stehe in einem noch erhaltenen Buch. So erzählte ich es heute Mama, die natürlich Papa bitten will, die Insel, welche jetzt der kleinen Erzsi gehört, zu verkaufen.“ Zitiert in: „Marie Valerie - Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth von Österreich“, Herausgegeben von Martha und Horst Schad, Langen Müller-Verlag, München 1998 1856 Perko, Anton, (geb. am 05.07.1833 auf Schloss Purgstall/Stieremark, gest. am 03.06.1905 in Ragusa), österreichischer Marineoffizier und Maler, kurze Zeit Schüler von Sellenyund Durand-Brager. Perko begleitete 1875 Kaiser Franz Josef nach Dalmatien, erhielt den Titel Kammer-Marinemaler. Später Kaiserlicher Verwalter auf dem Hradschin in Prag, seit 1895 in Ragusa ansässig. 2 Aquarelle in der Wiener Albertina. 342
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
6. Laxenburg
„Nichts erweckte die Empfindung von Wärme und Behaglichkeit.“
Kronprinzessin Stephanie über Laxenburg 1935
Im so genannten „Blauen Hof“, dem Laxenburger Schloss1858, bewohnten Rudolf und Stephanie eine Flucht von Salons in der ersten Etage recht. Rudolf knüpfte an Laxenburg enge Bande – am 21. August 1958 erblickte er dort das Licht der Welt, er verbrachte die Hochzeitsnacht und die Flitterwochen mit Stephanie in Laxenburg und am 2. September 1883 wurde dort Erzherzogin Elisabeth geboren. Über ihre erste Begegnung mit dem außerhalb Wiens gelegenen Schloß berichtet Stephanie: „Unsere Räume, zu denen wir sogleich geführt wurden, lagen im Blauen Hof, gegenüber der Schlosskirche. Ich erwartete schöne, freundliche Appartements. In allen Zeitungen war zu lesen gewesen, es seien vierzehn Gemächer, welche man seit Wochen renoviert und neu möbliert habe. Als wir in die für uns vorbereiteten Gemächer traten, schlug uns eine modrige, atembenehmende eisige Kellerluft entgegen. Nicht eine blühende Pflanze, keine Blume, um meine Ankunft zu feiern, um etwas Freude und Heiterkeit in diese ungenügend erleuchteten Zimmer zu bringen! Nichts schien hergerichtet. Nirgends lagen weiche, schmeichelnde Teppiche, kein Toilettetisch, kein Badezimmer, nur ein Lavoir auf einem dreibeinigen Schemel. Ich möchte annehmen, daß man in Laxenburg seit der Niederkunft der Kaiserin Elisabeth 1857
Stephanie, Erzherzogin, Kronprinzessin-Witwe: „Lacroma“, Verlag Künast, Wien 1892. Illustrationen: Anton Perko k.k. Kammer-Marine-Maler. Das Buch erschien in der „Traduzione di A. de Eisner-Eisenhof“-Edition im gleichen Verlag 1897 auch in italienischer Sprache. 1858 Die erste Nennung des Gebäudekomplexes erfolgte als Freihof unter Melchior Arguello (Melchor de Argüello) 1544. Spätere Besitzer waren die Brüder Bloe (Bloenstain/Blauensteiner), Rätsch, Eibiswald und andere. Ab 1705 war Reichsvizekanzler Friedrich Karl Schönborn Eigentümer, der den vorhandenen Bau durch seinen bevorzugten Architekten Lukas von Hildebrandt zwischen 1710 und 1720 großzügig ausbauen ließ. Etwa 1729 erfolgte der Verkauf an seinen Nachfolger im Amt des Reichsvizekanzlers, Graf Adolf Metsch, der es an seinen Schwiegersohn Khevenhüller-Metsch vererbte. Sodann befand sich das Gebäude im Besitz der Grafen Daun, die es 1762 gegen das Palais Dietrichstein (= Grünne-Haus) eintauschten. Nun erwarb Maria Theresia den Blauensteiner-Hof und das angrenzende Prucknerische Haus. Ab 1756 erfolgte ein großer Ausbau durch den Hofbauarchitekten Nicoló Pacassi. Zirka 1770 wurde das Belvedere aufgesetzt. Pacassi veränderte den Bau, wobei die Einfahrt von der Ost- auf die Nordseite, also zum Schlossplatz hin, verlegt wurde. Die Eingangsfront am Schlossplatz wird von den stark vorgezogenen Eckrisaliten beherrscht, die dem gekrümmten Verlauf der alten Angergrenze folgen. Der Mittelrisalit wird durch Portikus, Balkon und Attikazone mit Uhr betont. Im Hof ist die verschiedenartige Ausbildung der Fensterverdachungen als Hinweis auf Haupt- und Nebentrakt bemerkenswert. Die Ausstattung der Innenräume, soweit noch erhalten, stammt im Wesentlichen aus den Jahren 1853/54. Die Laxenburger Schlossanlage (Altes Schloss, Franzensburg, Blauer Hof, Schlosspark). Das Schloss wird heute von der Schloss Laxenburg Betriebsges.m.b.H. betreut, der Blaue Hof und das Schlosstheater werden seit der umfangreichen Sanierung des heruntergekommenen Baukomplexes seit 1980 als „Conference Centrum Laxenburg“ von der IIASA - International Institute for Applied Systems Analysis - verwaltet und sind nur im Zusammenhang mit Veranstaltungen öffentlich zugänglich. 343
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im Jahre 1856 nichts verbessert hatte. Die Betten, Matratzen und Vorhänge stammten allem Anschein nach aus dieser Zeit. Nichts erweckte die Empfindung von Wärme und Behaglichkeit.1859“ Die Appartements in Laxenburg stellten den „Sommerséjour1860“ des Kronprinzenpaares dar. Die Einrichtung der Räume bestand hauptsächlich aus hofärarischen Möbeln, so dass sich die Inventur auf nur 14.849,90 Gulden belief1861. In den Gängen und Stiegen des Schlosses hingen zudem unzählige Jagdtrophäen des Kronprinzen, die in den Inventarabhandlungen für jede Wand exakt eingezeichnet wurden: 761 Hirschgeweihe, 116 Auerhahnköpfe, 62 Mufflonhörner, drei Wildschweinköpfe, zwei Steinbockgehörne, zwei ausgestopfte Bären, 495 Gemskrickeln usw. Nach Rudolfs Tode wählte Stephanie neben den kronprinzlichen Appartements der Wiener Hofburg den „Blauen Hof“ als Witwensitz, den sie erst mit Ihrer zweiten Hochzeit im Jahre 1900 aufgeben musste.
1859 Lonyay, Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von: „Ich sollte Kaiserin werden - Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, Von Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 3. Auflage 1935 1860 Sommerséjour = Sommersitz 1861 Da in Mayerling kein geeigneter Platz für finden war, hatte der Kronprinz das Hochzeitsgeschenk der Wiener Industriellen, eine Aquarellsammlung, im Speisesaal zu Laxenburg aufhängen lassen. so dass letztlich 9.663 Gulden der Gesamtinventursumme auf Gemälde und Aquarelle entfielen – nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
7. Das Erbe des Kronprinzen
„Mitis hat alle … Schriftstücke in ein Selekt vereinigt und sie leider mit Verwischung der Provenienzen geordnet.“
Ludwig Bittner Wien 1937
Bevor Hofsekretär Heinrich von Slatin mit der Aufstellung des Hauptinventars beginnen konnte, gab es für ihn am 6. Mai 1889 noch eine Überraschung1862: Er erfuhr von der „k.k. Privat- und Familien-Fonds-Kassa“, dass aus dem Nachlass bereits eine Summe von 164.031,51 Gulden ausbezahlt wurden, die jetzt von der Verlassenschaftsabhandlung abzuziehen seien – Zahlungen an das Jagdpersonal im Wienerwald in Höhe von 441,60 Gulden1863, eine Zahlung an den Fotografen G. Klörz in Budapest in Höhe von 1.239,06 Gulden1864, Zahlungen zur Schuldentilgung bei der Hof-Fourage-Verwaltung in Höhe von 12.350,85 Gulden1865 sowie unter P.N. 1352/89 eine Darlehensrückzahlung in Höhe von 150.000 Gulden an Bankier Baron Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth1866. „Fruchtniesserin“ des nachgelassenen Vermögens war zunächst nach dem Testament des Kronprinzen seine Frau Stephanie, Erbin die gemeinsame Tochter Elisabeth. Die Hauptinventur für die Hinterlassenschaft des Kronprinzen ergab unter Berücksichtigung sämtlicher Einzelschätzungen folgendes Ergebnis: A.
Bewegliches Vermögen in Wien in Mayerling in Görgény Szt. Imre in Lacroma in Laxenburg zusammen
B.
Unbewegliches Vermögen Besitz in Mayerling Insel Lacroma zusammen
467.199,97 16.390,20 10.412,90 6.070,90 14.849,90 514.412,67
Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden Gulden
51,655,20 4.805,70 56.460,70 514.412,67
Gulden Gulden Gulden Gulden
A. Bewegliches Vermögen 1862
HHStA, OHMaA. 421 III/108 55 ad 489/1889 Postennummer 1365/98 1864 Postennummer 1385/98 1865 Postennummer 1367/98 1866 Postennummer 1352/98; Judtmann fand bei seinen Nachforschungen den Akt nicht auf und vermutete, dass er wegen seines brisanten Inhalts vernichtet wurde. 1863
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B. Unbewegliches Vermögen Wert des gesamten Nachlasses
56.460,70 571.384,34
Gulden Gulden
Am 20. April 1889 übernahm Kaiser Franz Joseph die Rechte am so genannten „Kronprinzenwerk“1867. Die Verlassenschaftsabhandlung nach Kronprinz Rudolf konnte am 28. Mai 1889 offiziell durch das Obersthofmarschallamt abgeschlossen werden1868. Der schriftliche Nachlass des Kronprinzen wird heute im Österreichischen Staatsarchiv1869 aufbewahrt. Doch wie entstand das „Selekt Kronprinz Rudolf“ im Haus-, Hof- und Staatsarchiv? „Am 24. Juli 1877 übergab der Erzieher des Kronprinzen Feldmarschallleutnant Josef Latour von Thurnburg sämtliche auf die Studien des Erzherzogs bezüglichen Akten aus der Zeit vom November 1864 bis Juli 1877 sowie schriftliche Ausarbeitungen, die der Erzherzog während seiner Studienjahre verfaßt hatte, dem StA.; ferner übereignete der Genannte am 30. Juli d. J. dem Archiv schriftliche Arbeiten des Kronprinzen, die er in seiner freien Zeit angefertigt und seinem Erzieher gewidmet hatte, sowie Schriften, die Latour während seiner Dienstzeit als Erzieher Rudolfs zugegangen waren. Endlich übergab Latour dem Archive noch am 21. Juni 1889 drei Pakete mit Aufzeichnungen, die den Kronprinzen betrafen.1870“ Die Schriften waren in zwei kleineren Kisten und in einem großen weißen Koffer in völlig ungeordnetem Zustand verwahrt. Dieser Koffer wurden im Jahre 1903 – unverdient – berühmt, als zwei Zeitungen1871 behaupteten, in ihm befänden sich die am Sterbetag in Mayerling aufgefundenen Briefe und Schriften des Kronprinzen. „Im gleichen Jahr erhielt das Archiv vom ersten Obersthofmeister des Kaisers vier Bände mit tagebuchartigen Aufzeichnungen der Flügeladjutanten des Kronprinzen, welche vom 24. Juli 1877 bis 30. Sept. 1878 und vom 1. Aug. 1884 bis 30. Jan. 1889 reichen. Diese Tagebücher sollen aus dem Nachlaß des Obersthofmeisters Grafen Bombelles in Privatbesitz gekommen sein und vom Obersthofmeisteramt durch Kauf erworben worden sein.1872“
1867
HHStA, Kabinettarchiv, Separatakten Nr. 140 vom 20.04.1889 HHStA, Kabinettarchiv, Separatakten Nr. 180 vom 31.05.1889 1869 Das Österreichische Staatsarchiv (bis 1918 der Staatskanzlei bzw. dem Außenministerium ressortiert, heute dem Bundeskanzleramt zugeordnet) wurde 1945 aus dem 1940 geschaffenen Reichsarchiv Wien, dem Kriegsarchiv und dem Verkehrsarchiv gebildet. Es besteht seit seiner Gründung wenige Monate nach der Befreiung Österreichs im Jahre 1945 aus a) Generaldirektion, b) Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), c) Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), dem auch das Verkehrsarchiv eingegliedert ist, d) Finanz- und Hofkammerarchiv (FHKA), e) Kriegsarchiv (KA) und f) Archiv der Republik (AdR). Die Generaldirektion, das Archivamt und die Abteilungen c, e, f befinden sich im 1988 eröffneten Archivgebäude Wien 3, Nottendorfergasse 2. Das „Geheime Hausarchiv“ wurde im Zuge der zentralisierenden Staatsreformen 1749 von Maria Theresia zur Erfassung aller für das Herrscherhaus und den Staat wichtigen Dokumente gegründet, 1762 der Geheimen Haus-, Hof- und Staatskanzlei angeschlossen und dadurch zum Archiv des Herrscherhauses, der Hofverwaltung und der Außenpolitik. Joseph II. wies ihm die Bestände aufgehobener Klöster zu. 1840 wurde es zur wissenschaftlichen Anstalt erklärt und 1868 für die Benützung freigegeben. Bis zum Ende des 19. Jahrhudnerts befand sich das Archiv im Reichskanzleitrakt der Wiener Hofburg. Heute besitz das Haus-, Hof- und rund 75.000 Urkunden, 15.000 Karten und Pläne, etwa 3.000 handschriften und auf 16.000 Laufmetern über 130.000 eschäftsbücher und Aktenkartons. Das Hausarchiv befindet sich in dem 1899-1902 errichteten Zubau des Bundeskanzleramtes am Minoritenplatz 1 und wurde nach zweijähriger Umbauzeit im Jahre 2003 wieder eröffnet. Der 9,7 Millionen Euro teure Umbau des 11 geschossigen Speicherschachtes mit hinein gestallten Eisenständern, Aktenborden und Fußböden aus Gitterrosten und 1.500 Aktencontainern aus feuerfestem Eisenblech brachte den vollkommen unzureichenden Brandschutz des Archivs auf den neuesten Stand. 1870 Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50. Hierzu gibt es eine handschriftliche Übernahmenotiz von Archivdirektor Alfred von Arneth (Historiker, geb. am 10.07.1819 in Wien, gest. am 30.07.1897 in Wien) 1871 siehe „Budapester Tagblatt“ vom 04.01.1903 und „Neues Wiener Tagblatt“ vom 06.01.1903 1872 Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50 1868
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„Am 15. Juli 1889 hinterlegte der geheime Rat Josef Graf Hoyos im StA. Aufzeichnungen über den Tod des Kronprinzen.1873“ „Am 12. Jan. 1899 ließ Kaiser Franz Joseph dem Ministerium des Äußeren Briefe des Kronprinzen an die Journalisten Berthold Frischauer und Moritz Szeps übergeben, welche dem StA. überantwortet wurden1874. 1910 wurden vier Briefe des Kronprinzen an Szeps nachgeliefert. 1910 übergab Szeps´ Sohn Julius noch einige im Nachlaß seines Schwagers des Hofrates Professor Emil Zuckerkandl gefundene Briefe des Kronprinzen und Aufzeichnungen seines Vaters über Unterredungen mit diesem dem Ministerium des Äußeren1875; auch diese gelangten 1928 in das StA.1876“ Ein weiterer Teil des Selekts Kronprinz Rudolf sind die Aufzeichnungen aus den Schreibtischen in Wien und Laxenburg. In seinem Testament vom 02. März 1887 hatte der Kronprinz verfügt: „Meine Schreibtische in Wien und Laxenburg sollen in Gegenwart meiner Frau vom Sektionschef im Ministerium des Äußeren Herrn Ladislaus von Szögyény aufgemacht und die Schriften nach seinem Ermessen teils vertilgt, teils aufgehoben werden.“ Dazu das Gesamtinventar des Archivs: „Szögyény übergab in Durchführung dieser Bestimmung die von ihm zur Aufbewahrung bestimmten Schriften am 16. Nov. 1910 in das Eigentum des Ministeriums des Äußeren; hier wurden sie zunächst im Politischen Archiv verwahrt, am 21. Sept. 1914 aber an das StA. abgeliefert1877. Bei einer im Oktober 1921 vorgenommenen amtlichen Öffnung des Nachlasses1878 wurde festgestellt, daß zwei Briefe Kaiser Friedrichs und ein Brief der Kaiserinwitwe Viktoria am 26. Jan. 1890 Franz Joseph übergeben worden waren1879, daß ein Bündel1880 fehlte und daß sich auch Briefe und Akten aus dem Nachlaß des Grafen Karl Bombelles darunter befanden1881. Sie dürften nach der Ansicht Mitis´ in der Sterbewohnung Bombelles, der am 29. Juli 1889 verschieden ist, beschlagnahmt worden sein.1882“ 1895 oder 1896 wurden aus dem Nachlass des ungarischen Journalisten Gyula Futtaki1883 98 an ihn gerichtete Briefe des Kronprinzen der Kabinettskanzlei übergeben – wo sie jedoch vernichtet wurden1884. Mitis konnte im Besitz der Erben die erhaltene Abschrift eines Briefes (09.06.1884) auffinden und diese in Auszügen veröffentlichen. „Am 12. Jan. 1923 wurde ferner ein Paket mit Abschriften von Archivalien, die den Kronprinzen betreffen, von einem privaten Eigentümer im Archiv hinterlegt1885. Während die übrigen Teile dieses Bestandes der Forschung zugänglich sind, ist dieser nur mit Bewilligung des Eigentümers benützbar.1886“ 1873
Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50. Das versiegelte Paket wurde 1917 zwei Mal für Kaiser Karl und 1922 durch Archivdirektor Mitis geöffnet. Im gleichen Jahr erhielt Mitis vom Oberhaupt der Familie Hoyos die Genehmigung zur ausschließlichen literarischen Verwertung der Denkschrift. 1874 Freiherr von Chertek hatte die Briefe an Szeps und Frischauer dem k.u.k. Ministerium des Äußeren übergeben; am 12.01.1899 wurden sie vom Staatsarchiv mit der Verpflichtung übernommen, dass der betreffende Karton „verschlossen aufbewahrt, vor Ablauf von fünfzig Jahren nicht geöffnet und daß von dessen Inhalt in keiner Art und zu was immer für einen Zweck gebrauch gemacht werde“. Die gleiche Klausel betraf die vier Briefe aus dem Jahre 1910. Erst 1921 wurden die Briefe auf Veranlassung der Habsburg-lothringischen Vermögensverwaltung zur literarischen Verwertung frei gegeben. 1875 Hierbei handelte es sich um elf Stücke, die nach Mitis bereits 1923 in den Besitz des Archivs kamen. 1876 Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50 1877 Hier wurden sie zunächst in den so genannten geheimen Urkundenkassetten hinterlegt. 1878 Die 29 versiegelten Pakete wurden mit Genehmigung des Bundeskanzlers im Oktober 1921 geöffnet. 1879 Szögyény hatte die Briefe am 26. Januar 1890 aus dem Paket Nr. 7 entnommen und dem Kaiser übergeben. 1880 Es fehlte das versiegelte Paket mit der Registernummer 2. 1881 Diese Unterlagen waren im Paket mit der Registernummer 15 verwahrt. 1882 Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50 1883 Futtaki, Gyula, geb. 25.12.1850 in Futtak/Komitat Bács-Bodrog, gest. 10.12.1895 in Budapest 1884 Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 192 1885 Hierbei handelte s sich um die Materialien aus der Familie Szögyény, die „seitens der Eigentümer der Verwertung nicht frei gegeben wurden“. das versiegelte Paket sollte „bis auf weiteres im Direktionszimmer verwahrt“ werden. 1886 Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50 347
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„Nach der Öffnung des Nachlasses des Kronprinzen hat Mitis alle aus den vorgenannten Provenienzen stammenden Schriftstücke in ein Selekt vereinigt und sie leider mit Verwischung der Provenienzen geordnet. 1929 bereicherte Mitis dieses Selekt aus eigenem Besitz durch Korrespondent, die er anlässlich seiner Forschungen über das Leben des Kronprinzen geführt hat, und durch von ihm gesammelte Sonderabdrücke und Zeitungsausschnitte. Von Mitis stammt auch ein ausgezeichnetes, die Provenienzen zum Teil angebendes Aufstellungsverzeichnis, welches als AB. 301b eingereiht ist. Schließlich sei noch erwähnt, daß Mitis leider erfolglos das Archiv des Sekretariats des Kronprinzen gesucht hat, von welchem einzelne Splitter im Kart. 13 liegen.1887“ Mitis teilte den Nachlass des Kronprinzen in Kartons auf und legte folgende inhaltliche Gliederung vor (halbfett kursiv: ab 1948 eingefügte Materialien): 1. Jugend und Erziehung des Kronprinzen / Schriften aus der Schenkung Latour 2. Aufzeichnungen und Aufsätze des Kronprinzen Rudolf aus der Schenkung Latour 3. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 4. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 5. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 6. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 7. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 8. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 9. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 10. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 11. Vormerkhefte der Lehrer und Studienhefte des Kronprinzen 12. Entwürfe von Briefen aus der Jugendzeit des Kronprinzen (Schenkung Latour und Nachlass Rudolf) 13. Persönliche Akten (Tagebücher der Flügeladjutanten; Notiz- und Tagebücher des Kronprinzen) 14. Aufzeichnungen und Erinnerungen über Reisen 15. Schriften und Akten politischer Natur / Journalistische Artikel / Gedichte / Ornithologisches und Jagd / Politische Denkschrift des Kronprinzen und Bericht über Rudolfs Gedichte (4 Konvolute, u.a. aus Politischem Archiv, geheim XXIII) 16. Briefe des Kronprinzen an Latour 1872-1888, Kálnoky 1884-1888, Bombelles 1878-1888 und Frischauer 1884-1889 17. Briefe des Kronprinzen an Moriz Szeps 1882-1889 18. Briefe an den Kronprinzen 19. Briefe an den Kronprinzen 20. Zeichnungen des Kronprinzen / verschiedene Erinnerungsstücke aus dem Nachlass Latour / Notizen aus dem Nachlass des Kronprinzen / ein Album in den Nachlass von Maximilian von Mexiko übergeben 21. Aufzeichnungen von Moriz Szeps über seine Unterredungen mit dem Kronprinzen / Denkschrift des Grafen Hoyos / Schriften aus den Nachlässen Latour und Bombelles / Artikel „Der Untergang des Kronprinzen
1887
Rudolf“
(Berliner
Börsen-Kurier
vom
24.02.1889)
Bittner, Ludwig, Gesamtinventar des Wiener HHStA, 2. Band, Wien 1937, S. 47-50 348
/
diverse
Photografien
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/Aufzeichnungen und Studien, die dem Kronprinzen übergeben wurden sowie das Material Mitis (Grundlage seiner Biographie) 22. Verschiedene Separatabdrücke zur Biographie Franz Josephs und des Kronprinzen Rudolf / Zeitungsausschnitte 23. Briefe des Kronprinzen an Szögyény (Schenkung Graf zu Eltz) / Telegramme und Notizen zur Nachlasseröffnung / Material aus dem Besitz von Sektionschef Polzer / Briefe des Malers Franz von Pausinger (engl. Übersetzung) / Korrespondenz Mitis/Szögyény / Zeitungen / Auktionskatalog / Fotoglasplatten vom Brief Rudolf an Szögyény / Bericht über Besuch Ferdinand Coburgs in Berlin 1886 (12 Seiten eigenhändig von Rudolf) Mit heutigem Stand umfasst das Selekt Kronprinz Rudolf 23 Einzelkartons, die fortlaufend ergänzt werden1888. Ludwig Bittner1889, seit 1926 Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs und Verfasser des 5-bändigen Gesamtinventars des Archivs1890, ließ ab 1940 nach und nach Archivfonds seines Hauses aus Wien auslagern1891. Das Selekt Kronprinz Rudolf wurde in Folge der seit August 1943 vermehrt stattfindenden Luftangriffe1892 auf die Stadt im Jahre 1944 aus Wien heraus gebracht und in das Prämonstratenserstift Geras1893 geschafft1894. Lief bei vielen Archivgütern die Zurückstellung noch bis in das Jahr 1948, so dürften die Rudolf-Materialien bereits 1946 nach Wien zurückgekehrt sein1895. Ordnung in das Material brachten die Archivare Dr. Anna Hedwig Benna und Dr. Rudolf Neck1896. Ein erster Archivbehelf wurde am 17. März 1948 abgeschlossen. Neck notierte am 21. Oktober 1955: „Nach der Zerstörung des Selekts `Kronprinz Rudolf´ im Bergungsort während des 2. Weltkrieges, wurden die in den verschiedenen Beständen verstreuten Splitter durch Frau Dr. Benna und durch mich auf Grund des vorliegenden Verzeichnisses in die entsprechenden Kartons eingelegt. Das Archiv ist bis zum Sommer 1955 zu ca. 70 % wiederhergestellt. Einzelstücke tauchen beim Ordnen anderer Archive laufend auf.1897“
1888
Gruppe X: Habsburg-lothringisches Familienarchiv/Hausarchiv/Estensisches Archiv, neue Signatur X/10, alte Signatur 301b, Selekt Kronprinz Rudolf 1889 Bittner, Ludwig (geb. 19.02.1877 in Wien, gest. 02./03.04.1945/Wien; er begeht gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord durch Gas in einer Gartenhütte), Archivar; beigesetzt auf dem Döblinger Friedhof/Wien; seit 1900 Mitarbeiter des Staatsarchivs, 1918 stellvertretender Direktor, 1919 Sektionsrat, 1926 Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, 1941 Direktor des Reichsarchivs Wien. Leitete nach 1918 die Verhandlungen über Archivalien mit den Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie. Der Nachlass befindet sich im HHStaA. Bittners Bruder Julius, geb. 09.04.1874/Wien, gest. 09.01.1939/Wien zählte zu den erfolgreichsten österreichischen Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts. Zu seinem Tode erhielt Ludwig Bittner Kondolenzschreiben u.a. von Jean de Bourgoin, Egon Caesar Conte Corti, Albert Freiherr von Margutti u.v.a. 1941 übersandte Bittner das von ihm zwischen 1936 und 1940 erstellte, 5-bändige Gesamtinventar des Archivs an Reichsinnenminister Dr. Hans Frick nach Wien. 1890 Auf Anregung von Staatsarchivar Dr. Rudolf Neck kam es zu Beginn der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts zu einer Neuordnung und Neuaufstellung der Archivbehelfe des HHStA in 23 Gruppen. 1891 freundliche Mitteilung des HHStaA, OR Dr. Elisabeth Springer, Wien 21.11.1994 1892 von 1943 bis 1945 erlebte Wien insgesamt 53 Luftangriffe 1893 Geras, Bezirk Horn/NÖ, im nordöstlichen Waldviertel nahe der Grenze zu Tschechien gelegen; PrämonstratenserChorherrenstift, um 1153 als Doppelkloster mit Geras-Pernegg gegründet. 2004 in die Schlagzeilen gekommen, da ein Priester wegen sexueller Übergriffe auf minderjährige angeklagt wurde und Abt Angerer im Februar 2004 resignierte, nachdem ihm Mitbrüder und Vititation Veruntreuung von Ordengeldern vorgeworfen und nachgewiesen hatten. 1894 Bergungsakten des HHStaA Wien, Direktions-Akten, Sonderreihe, K. XVI 1895 „Reste zurückgek. Zl. 368/1946“, Handvermerk des Archivars Paul Kletler (1893-1966) am Rand des allgemeinen „BergungsVerzeichnis II“; freundliche Mitteilung des HHStaA, OR Dr. Elisabeth Springer, Wien 18.03.1996 1896 Neck, Rudolf, geb. 1921, gest. ; Archivar, Staatsarchivar, wirklicher Hofrat, Generaldirektor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Historiker der österreichischen Arbeiterbewegung und zeitweise Geschäftsführer der „Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte 1927 bis 1938“. 1897 Eintragung im Archivbehelf X/10, „Rekonstruktion des Selekts Kronprinz Rudolf durch Dr. Anna H. Benna und Dr. Rudolf Neck“. 349
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1940 wurden das Stiftsgebäude von Geras von den Nationalsozialisten beschlagnahmt1898, die maximal fünf Chorherren und der Abt des Stiftes in Pfarrhöfe und Privatunterkünfte ausquartiert1899 und die Räume bis Kriegsende als Umsiedlungslager der Deutschen Mittelstelle genutzt1900. Mit Erlass vom 5. Oktober 1944 durch den Reichsstatthalter in Niederdonau wurden zudem Räume für die Auslagerungen von Dokumenten konfisziert1901. Hierfür erhielt das Stift ab Juni 1944 800 Reichmarks pro Jahr als Entschädigung1902. Am 05. Februar 1944 teilte das Wiener Reicharchiv dem Prälaten von Geras, Abt Friedrich Silberbauer1903, mit, dass drei Tage später „zwei Möbelwagen mit Aktenfaszikeln“ sowie mit dem Vormittagszug weiteres Material aus Wien nach Geras komme. Für das Abladen bestellte man „Fuhrwerke oder einen Traktor und einige Leute1904“. Tatsächlich wurden in Geras Akten des Wiener Universitätsarchivs und des Reichsarchivs eingelagert1905. Aus dem Reichsarchiv kamen mit Stand 1944 nach Geras u.a. das Selekt Kronprinz Rudolf mit 22 Einheiten, das Archiv Maximilian von Mexiko mit 203 Einheiten und die Kurrentakten des Archivs bis 1917 mit 144 Einheiten. Laut Verzeichnis kamen mindestens 27 verschiedene Aktenbestände in das Stift1906. So ist die mündliche Überlieferungen aus dem Stift, dass auch die „Mayerling-Akten“ in Geras eingelagert waren1907, belegt. Am 29. August 1945, dem ersten Tag nach der Einquartierung von Soldaten der russischen Roten Armee in das Kloster, wurde „zwischen 9 und 11 Uhr“ in die Kirche des Stiftes eingebrochen, worüber das Wiener Staatsarchiv vom Prälaten umgehend Mitteilung erhielt1908. Nach der Schadensmeldung1909 drangen rund 40 Mann durch eine Bretterwand in den Kirchenbereich ein und entwendeten dort zahlreiche liturgische Gegenstände wie Kelche, Kreuze und Ornate und Altartücher. Aus dem „Museum“ des Stiftes wurden „gegen 100 Stück“ gestohlen. „Das Archiv, welches mittels eines uralten massiven Vorhangschlosses und durch ein festes Fallschloß an einer eisernen Tür versperrt war, war erbrochen und die Tür ausgehängt.“ Auch hier wurden einige Objekte entwendet. „In der Wandelhalle sind Bücher vom Reichsarchiv in Wien eingelagert. Mehrere Schachteln wurden geöffnet und es fehlen Teile des Archives.“ Durch Kriegsschäden, erlitten zwischen dem 9. Mai und dem 9. November 1945, entstanden dem Stift nach Ausstel-
1898
Dass Materialien aus Wien in dem kleinen Stift „und dem damals sehr ungeordneten Archiv“ ausgelagert worden sein sollen, kann sich der Abt des Stiftes Geras nicht vorstellen. Mitbrüder, die diese Zeit erlebt haben, leben heute nicht mehr. Freundliche Mitteilung des Abtes von Geras, Universitäts-Professor DDr. Joachim Angerer an den Verfasser, Geras 21.05.2003. Siehe hierzu die Unterlagen Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19, die eindeutig Art und Umfang der Einlagerungen belegen. 1899 Auf Intervention des Bischofs von St. Pölten bei der Wiener Gauleitung durch das Konvent später in ein Nebengebäude des Stiftes einziehen. Dazu war die Adaptierung der dort gelegenen Räumlichkeiten notwenig. Der Konvent verblieb bis zur Wiederherrichtung des Stiftes zum bis 29. August 1945 in diesen Räumen. Da die Stiftskirche auch Pfarrkirche ist, blieb für Konvent und Bevölkerung der Zutritt gestattet. Freundliche Mitteilung von Magister Johannes Mikes, Archivar des Stiftes Geras, an den Verfasser. Trabenreith, 02.10.2003 1900 Freundliche Mitteilung von Magister Johannes Mikes, Archivar des Stiftes Geras, an den Verfasser. Trabenreith, 02.10.2003 1901 Hierbei handelte es sich um zwei unter Denkmalschutz stehende Prunkräume und einen großen hallenartigen Raum, der längsseitig zur Hälfte über dem linken Seitenschiff der Kirche liegt, die so genannte „Wandelhalle“ oder „Oberkirche“. Vergleiche: Schreiben des Landrates des Kreises Horn an das Reichsarchiv Wien u.a., Horn 13.10.1944; Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19 1902 Schreiben des Reichsarchivs Wien an den Prälaten von Geras, Wien 09.06.1944; Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19 1903 Silberbauer, Friedrich, Abt des Stiftes Geras von 1931 bis 1952 1904 Schreiben des Reichsarchivs Wien an den Prälaten von Geras, Wien 05.02.1944; Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19 1905 Die Materialien des Universitätsarchivs wurden zwischen Mai und 28. Juni 1946 zurück nach Wien gebracht; Schreiben des Obmannes des Archivsausschusses der Universität Wien, Prof. Dr. Richard Meister, an den Prälaten von Geras, Wien 26.05.1946; Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19 1906 Verzeichnis der Akten des Reichsarchivs von 1944, Stift Geras; Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19 1907 freundliche Mitteilung des Stiftsarchivars Mag. Johannes Mikes, Irnfritz 18.08.2003 1908 Der Einbruch wurde beim 11-Uhr-Läuten entdeckt. Freundliche Mitteilung von Magister Johannes Mikes, Archivar des Stiftes Geras, an den Verfasser. Trabenreith, 02.10.2003 1909 Übersicht der Kriegsschäden, insgesamt 6-seitige Aufstellung aus dem Stift Geras; Stiftsarchiv Geras, Akten der Prälatur PR 19 350
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
lung rund 118.000 Reichmarkt Schaden – ohne den Einbruch vom 29. August und die Wiederherrichtung von 25 kleinen und 26 großen Räumen, die von den Soldaten verwüstet wurden1910. Woher die tatsächliche Zahl von 30 Prozent Verlust kommt, ist nicht mehr feststellbar – ein Vergleich des ursprünglichen und des neuen Verzeichnisses zeigt in der Angabe der Materialien keine Unterschiede1911. Zu Kriegsverlusten werden u.a. drei von vier Bänden Journale der Flügeladjutanten des Kronprinzen aus der Zeit vom 24. Juli 1877 bis 30. September 1878 und 1. August 1884 bis 30. Januar 1889 gerechnet1912. Hierzu schrieb Conte Corti am 23. Dezember 1947 an den amerikanischen Kronprinz-Rudolf-Forscher Wildon Lloyd, dass die Tagebücher der Flügeladjutanten im Karton 12 alt während der Auslagerung verbrannt seien1913. Zu Rudolfs schriftlichen Zeugnissen sind auch folgende Stücke zu zählen, die sich im Nachlass des Dr. Albin Schager-Eckartsau, dem Verwalter des habsburgischen Vermögens nach 1918, im Wiener Staatsarchiv befinden. Dies sind u.a. Briefe Kalnocky´s aus 1887 und 1888, Briefe von Szeps aus Paris und Berlin von 1887, ein Brief von Frischauer aus 1887, die Fiaker-Lieder des Kronprinzen und ein Bild der Mizi Caspar. Darüber hinaus verteilte sich der bewegliche persönliche Nachlass des Kronprinzen auf verschiedene Personen und Institutionen. I.
Kronprinzessin Witwe Stephanie
II.
Erzherzogin Elisabeth
III.
Museen und Sammlungen. Die Münz- und Medaillensammlung des Kronprinzen wurde am 13. Juni 1889 vom Oberstkämmerer Graf Trauttmannsdorff um 15.300 Gulden an die Sammlung des Kunsthistorischen Museums verkauft1914.
Rudolfs einzige Tochter Elisabeth Marie, geborene Erzherzogin von Österreich, starb am 16. März 1963 in ihrer Villa in Wien-Hütteldorf. Bei der Testamentseröffnung war folgender Artikel – zur Überraschung aller – von großer Bedeutung: „Ich habe veranlaßt, daß sämtliche Kunstgegenstände und Bücher, die in kaiserlichem Besitz waren, gegen den Willen meines Mannes, der sie den Kindern erhalten wollte, an Museen oder an ihre alten Plätze zurückgestellt werden, da ich der Ansicht bin, daß kaiserlicher Besitz nicht Ausländern zukommen soll und nicht in Auktionen versteigert werden darf.1915“ Weit über 500 Gegenstände kamen auf diese Weise in den Besitz diverser Bundesmuseen, wie der Albertina, dem Kunsthistorischen Museum, dem Museum für angewandte Kunst und der Bundesmobilienverwaltung Wien. Heute sind die Objekte – Möbel, Bilder und kleinere Einrichtungsgegenstände – an ihren ursprünglichen Aufstellungsorten in der Hofburg und in Schloß Schönbrunn zu sehen1916. Im November 1984 verschenkte Philipp Windisch-Graetz aus
1910 Die Wirtschaftsführung zwischen 1940 und 1945 erfolgte durch den Forstmeister des Stiftes, der seine Kanzlei im Stift hatte, kommissarisch für das Stift. Freundliche Mitteilung von Magister Johannes Mikes, Archivar des Stiftes Geras, an den Verfasser. Trabenreith, 02.10.2003 1911 freundliche Mitteilung des HHStaA, OR Dr. Elisabeth Springer, Wien 18.03.1996 1912 Die Journale wurden aus dem Nachlass des Grafen Bombelles erworben; Kurrentakten Zl. 394/1889. Heute ist nur der Band drei für die Jahre 1884-1888 erhalten. 1913 HHStA, Nachlass Corti, Karton 29/Korrespondenz. Nach dem ersten Archivbehelf befanden sich die Tagebücher jedoch in Karton 13. 1914 HHStA, Separatakten des Kabinettsarchivs, 1889, Nr. 190/1889 1915 Parenzan, Peter: „Zum Nachlaß der Kronprinzen-Tochter“, in: Elisabeth von Österreich Einsamkeit, Macht und Freiheit“, Katalog zur 99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla 22. März 1986 bis 22. März 1987, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1916 Parenzan, Peter: „Zum Nachlaß der Kronprinzen-Tochter“, in: Elisabeth von Österreich Einsamkeit, Macht und Freiheit“, Katalog zur 99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla 22. März 1986 bis 22. März 1987, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien
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dem Legat seiner Mutter, das nicht an die Museen abgetreten wurde, ein Bidet des Kronprinzen an die Sanitärsammlung des ÖSPAG in Gmunden.
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Kapitel 11 Die Verlassenschaftsabhandlung
8. Der Nachlass der Baroness
„Mir geht selbst schon längere Zeit meine Archiv-Unordnung auf die Nerven.“
Hermann Swistun Wien, 30.06.1990
Eigenhändige Briefe der Baroness Mary von Vetsera als Quellenmaterial heranzuziehen ist fast unmöglich. Begründet ist dies in der Tatsache, dass nach dem 30. Jänner 1889 vieles gezielt vernichtet wurde. Aber auch später – nach dem Tote von Marys Mutter Helene im Jahre 1925 – fielen etliche Briefe und Notizen den Flammen zum Opfer: So verbrannten der ehemalige Leiter der Spanischen Hofreitschule, der Familienfreund Graf Rudolf van der StratenPonthoz1917, und Anna Leschanz, die Kammerfrau von Helene Vetsera, ein Konvolut von Schriftstücken, Briefen und Notizen. Sie handelten dabei auf Bitten von Franz Albins Witwe, Margit Vetsera, die dies ihrer Schwiegermutter als letzten Willen versprochen hatte1918. Verloren gingen auf diesem Wege wahrscheinlich Marys kalendarisches Tagebuch, ihre Abschiedsbriefe an die Mutter und den Bruder, vielleicht Originalbriefe an Helene Tobis, die diese an Marys Mutter zurückgegeben hatte samt Abschriften dieser Briefe, sowie sonstige Schriften zur Tragödie wie die kaiserliche Antwort auf das Majestätsgesuch der Baronin Vetsera von 1889, die Antwort der Hofkanzlei auf das zweite Majestätsgesuchen von Alexander Baltazzi aus dem Jahre 1910, ein Brief der Gräfin Larisch aus Pardubitz von 1889, die Korrespondenz mit den Heiligenkreuzer Zisterziensern zur Errichtung der Gruft und Kapelle, ein ungekürztes Manuskript der Rechtfertigungs-
1917
van der Straten-Ponthoz, Rudolf Graf (geb. am 28.02.1877, gest. am 15.05.1961). Eintritt in die k.u.k. Armee, Absolvent als Dragoner-Offizier des Wiener-Militär-Reitlehrer-Instituts von 1904-1906 mit sehr gutem Erfolg und Ausbildung zum CampagneReiter, 1902 von Kaiser Franz Joseph zum k.k. Kämmerer ernannt; 1907, 1908 und 1911 als Reitlehrer in Kavallerie-BrigadeSchulen kommandiert; Bestellung zum Ersten Stallmeister und in dieser Funktion Begleiter des Leichenzuges Kaiser Franz Josephs; Adjutant des Erzherzogs Franz Ferdinand d´Este und später Adjutant Kaiser Karls, Einsatz an der Front, vor Kriegsende 1918 Rückkehr in den Hofstall und seit 1921 Leiter der neuen Republikanischen Spanischen Reitschule; Organisation der ersten Auslandstourneen nach Berlin (1925), London (1927), Den Haag (1928) und Brüssel (1932), um die finanziell schlecht gestellte Schule zu sanieren; Rücktritt 1939 aus politischen Gründen; Tod nach Ende des Zweiten Weltkrieges, verheiratet, drei Töchter. Sein Nachfolger als Leiter der „Spanischen“ wurden 1939 Major Alois Podhajsky. Freundliche Mitteilung Hofrat Dr. Georg Kugler, Kunsthistorisches Museum/Lipizzaner Museum Wien, 06.11.2002 1918 Baltzazzi-Scharmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau Verlag, Wien 1980 353
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schrift und die Korrespondenz mit Verwandten und Freunden aus dem Jahre 18891919. So sind die meisten schriftlichen Zeugnisse der Mary von Vetsera, meist jene Briefe an ihre einstige Klavierlehrerin Hermine Tobis, nur aus der Rechtfertigungsschrift ihrer Mutter Helene zu rekonstruieren. Dem gegenüber steht eine ganze Anzahl von Briefen der Baronin Helene1920, ihres Mannes Albin1921 und ihrer Brüder1922, die sich heute in verschiedenen Archiven befinden. Lange Zeit schien es, als besäße das Archiv Vetsera/Swistun in Wien nicht nur die umfangreichste Sammlung an Fotographien und weiteren Nachlassgegenständen der Familien Vetsera und Baltazzi, sondern auch die meisten schriftlichen Zeugnisse der jungen Baroness. Mit dem Tod von Archivar Hermann Swistun1923 im Jahre 1999 ist das Archiv jedoch als verloren anzusehen1924. An schriftlichen Zeugnissen der Mary von Vetsera sind erhalten geblieben und belegt:
MV01: ein eigenhändig in Tinte verfasster Brief an Gabriele Tobis, um 1886/87, mit eigenhändiger Unterschrift „Mary“; Mary beschriebt auf deutsch verschiedene Verpflichtungen; Goldrand, Doppelbogen mit goldgeprägtem Kopf „Helene“, gefaltet 14,6 x 11,8 cm1925, im Original bekannt. MV02: ein eigenhändiger Kartenbrief an Herrn Dubary mit eigenhändiger Unterschrift „Mary Vetsera“, ohne Ort, ohne Datum (wahrscheinlich 1887); Mary berichtet in deutscher Sprache über die bevorstehende Reise ihrer Familie nach Deutschland; 2 Seiten mit Trauerrand und bekröntem Namenszug „Mary“, gebrochen, zwei braune Flecken von Klebestreifen1926, Text nicht bekannt. MV03: ein eigenhändiger Brief an Herrn Dubary mit eigenhändiger Unterschrift „Mary Vetsera“, Claridges Hotel, Brook Street/London, „Lundi 1888“ im Juli1927; Mary beschreibt in französisch, dass sie in tiefer Trauer aus Wien abgereist sei, Paris von ihm gegrüßt habe und sehr an der Hitze leide, die nichts für ihre „pauvre nerfs“ sei. „...Maintenant, entre nous, on croit toujours rencontrer des connaissances parce que un Anglais est différent de l´ 1919
Baltzazzi-Scharmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau Verlag, Wien 1980 1920 siehe Handschriftensammlung Wien 1921 Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur Schlagintweit V.1.10.393. Brief des Diplomaten Albin von Vetsera, Darmstadt 13.11.1870 an Robert von Schlagintweit 1922 siehe Handschriftensammlung Wien 1923 Swistun, Hermann (*23.04.1914, + 26.06.1999/Wien, beigesetzt am 05.07.1999 auf dem Wiener Zentralfriedhof in der Gruft von Hector Baltazzi), eigentlich Schwanzer, Autor (3 x verheiratet, 2 x geschieden, 2 Töchter, 1 Sohn; Bruder war Chirurg) litt noch in hohem Alter an einer Malariaerkrankung, die er sich im Zweiten Weltkrieg holte. Nach Ende des Krieges kam er zu Fuß aus Italien nach Wien und arbeitete beim Film, wo er über Hector Krauss die Familien Baltazzi und Vetsera kennen lernte. Nach anderer Quelle („Die Presse“, 14.01.1993) lernte er auf dem Zentralfriedhof die Haushälterin eines Adjutanten des Kronprinzen, Giesl von Gieslingen, kennen und erhielt von dieser dessen Nachlass sowie einen ersten Kontakt mit den Vetsera-Schwestern; er selbst will ein Nachkomme des Grafen Stockau gewesen sein. In seinen letzten Lebensjahren verkam und verdreckte das Familienarchiv in der 230 Quadratmeter großen Wiener Wohnung Swistuns, da sowohl seine Katze als auch sein Schäferhund auf die Dokumente urinierten bzw. sie anknabberten. Im Jahre 1998 wollte er das gesamte Archiv für 150.000 Schilling (= rund 11.000 EUR) verkaufen, nachdem ihm die Stadtwerke das Gas abgestellt hatten. Nach einem Schlaganfall kam Swistun in das Allgemeine Krankenhaus, später wohl in ein Pflegeheim, in dem er am 26.06.1999 verstarb. 1993 bekundete er, er wolle in der von ihm erworbenen Gruft von Hector Baltazzi auf dem Zentralfriedhof beigesetzt werden. 1924 Noch zu Lebzeiten hatten Nancy Vetsera und Nora Hoyos dem Wiener Hermann Swistun – mit ihm waren Sie mindestens seit 1976 bekannt – sämtliche Dokumente des Familienarchivs überlassen bzw. geschenkt (Swistun, Hermann an den Verfasser, Wien 09.05.1992). Nach dem Tode Nora Hoyos erhielt Swistun auch ein Kästchen mit Familienschmuck. Im Archiv Vetsera/Swistun befanden sich u.a. umfangreiche Fotoalben mit Bildern der Familien Baltazzi (3 Alben, meist alle inkl. Negativen) und Vetsera (darunter rund 50 Fotos von Mary), diverse Briefe mit Passagen über Mayerling, das Original der Denkschrift in der Abschrift von Hanna Vetsera, die amtliche Abschrift des am 31. August 1889 ausgestellten Totenscheins von Mary Vetsera (heutiger Besitz: I.F./Wien), Adelsdiplome von Albin Vetsera (heutiger Besitz: I.F./Wien und für das Freiherrendiplom von 1870: Schloss Schönbrunn Betriebsgesellschaft), ein von Kaiserin Elisabeth überreichter gläserner Rennpokal, aus dem von Fritz Judtmann übernommenem Nachlass von Hans Sokol eine Holzschindel vom Jagdschloss Mayerling (heutiger Besitz: I.F./Wien), aus dem Nachlass Kerzel-Graf die Hubertusuhr (Verbleib unbekannt, wurde um 500,00 Euro verkauft) und Blumen von Rudolfs Bahre (heutiger Besitz: I.F./Wien). 1925 MV01 versteigert am 09.11.2001 bei der 41. Auktion unter Losnummer 4222 bei Hermann Historica München für DM 3.400,00 (ca. 1.700,00 Euro) ; im Besitz des Mayerling-Archivs. 1926 MV02 versteigert am 18.11.1994 bei der 5. Auktion unter Losnummer 1284 der Wiener Kunstauktionen im Palais Kinsky für ATS 10.000,00 (Schätzpreis: ATS 3.000,00 – 4.000,00) 1927 Im Juli des Jahres 1888 reiste Mary erneut nach London. 354
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autre comme deux gouttes d´ eau...1928“ ; 4 Seiten mit Trauerrand und bekröntem Namenszug „Mary“ und Umschlag, etwas fleckig, Einrisse in den Knickfalten, kleine Randschäden1929. Der Brief stammt aus dem Nachlass von Gabriel Dubary1930 und ist im Faksimile bekannt. MV04: ein eigenhändiger Brief an Herrn Dubary, ohne Ort, „Wednesday 18871931“ im Juli; Mary beschreibt auf Französisch eine Rückschau auf ihren Pariser Aufenthalt „... Mais vos savez on est bien vite fatiguée du Bois [de Boulongne]. Toujours les mènes personnes, toujours les mènes grand chapeaux ...“ und ihre ersten Londoner Eindrücke „... Londres a eu avant hier soir l´ honneur de me voir pour la première fois je le préfère beaucoup à Paris, Londres est beaucoup plus sympathique ...“1932; 4 Seiten, etwas fleckig, Einrisse in den Knickfalten, kleine Randschäden. Der Brief stammt aus dem Nachlass von Gabriel Dubary 1933 und ist im Wortlaut bekannt. MV05: ein eigenhändiger Brief plus eigenhändiger Umschlag an Herrn Dubary in Wien, Paris, Juni 1887, 2 Seiten, auf Briefpapier des „Hotel du Rhin, 4 et 6, Place Vendome“; Mary schreibt auf Französisch von ihrem Besuch in Paris und richtet Grüße an Gattin und Tochter von Dubarys Cousin aus1934. Der Brief stammt aus dem Nachlass von Gabriel Dubary1935 und ist im Faksimile bekannt.
1928 Der übersetzte Brieftext findet sich in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983: „Lieber Herr Dubary! Ich werde versuchen, Ihnen keinen allzu dummen Brief zu schreiben, aber ich bin noch wie in einem Traum, Wien verlassen zu haben und so weit, so weit zu sein. Ich bin sehr schweren Herzens abgereist und hoffe, bald in die Heimat zurückkehren zu können, es ist merkwürdig, wenn man fort ist, weiß man, was das ist. Was machen Sie ...“ Es folgt nun die von Swistun nicht wörtlich zitierte Klage den lärmenden Verkehr in Paris und London und sehnt sich nach Ruhe, die sie dringend bräuchte; In Paris seien Sie nur kurz gewesen, hätten einen Nachmittag im Louvre verbracht und hatten auf der Überfahrt nach England „ein sehr unruhiges Meer“ und sie „habe den Fischen ein reichliches Mittagessen geliefert! Ein Engländer würde sagen: Oh shocking.“ 1929 MV03 als Faksimile abgebildet bei Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983. 1930 MV03 versteigert am 20.05.1997 unter der Losnummer 617 beim Buch- und Kunstauktionshaus F. Zisska & R. Kistner oHG München. MV03 wurde gemeinsam mit MV04 und einem französischen Brief von Helene Vetsera [im Katalog fälschlich als Ladislaus Vetsera deklariert] vom 23.08.1889, einem französischen Brief von Franz Albin (Feri) Vetsera vom 19.02.1889 sowie einem Exemplar der Vetsera-Denkschrift aus dem Besitz von Heinrich von Liechtenstein von Juni 1889, einer zeitgenössischen Abschrift dieser Denkschrift – am 17.10.1972 im Dorotheum Wien für ATS 8.000,00 versteigert, siehe MV05 – und fünf zeitgenössischen Portraits der Mary Vetsera versteigert und erzielte einen Zuschlag von DM 11.500,00 (Aufrufpreis: DM 3.000,00) – siehe auch MV05 1931 Mary reiste 1887 mit ihrem Vater Albin Vetsera, der Mutter und der Schwester Hanna zunächst nach Bad Homburg, dann nach Paris und besuchte schließlich in London die Familie Nugent, mit der sie einen großen Festumzug anlässlich des Regierungsjubiläums der Queen Victoria erlebten. 1932 Der übersetzte Brieftext findet sich in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983: „Lieber Herr Dubary! Sie haben Recht daran getan meine Fehler nicht durch eine Brille zu betrachten, sonst hätten Sie nie mehr einen Brief von meiner reizenden Hand erhalten. Wann gehen Sie ins alte Reichenau, ich nehme an, daß in Wien eine drückende Hitze herrscht. Heute sind Rennen in Auteuil, aber wegen der großen Hitze gehen wir nicht hin. Aber Sie wissen, man halt bald genug vom Bois, immer dieselben Leute, immer dieselben großen Hüte, ich ziehe bei weitem die Stadt vor. Denken Sie nur, wir waren wegen der Hitze kein einziges Mal im Theater, aber wir waren einmal im Louvre. Ich hatte so große Lust, einen Ballon zu kaufen! London hat vorgestern Abend die Ehre gehabt mich zum ersten Mal zu sehen, ich ziehe es Paris bei weitem vor. London ist viel sympathischer. Die Prozession war prachtvoll, wir waren von 9 Uhr morgens bis Abends 4 Uhr an einem Fenster. Nun Adieu, leider Herr Dubary, ich zerdrücke Ihre Hand. Mary Vetsera.“ 1933 MV04 versteigert am 20.05.1997 unter der Losnummer 617 beim Buch- und Kunstauktionshaus F. Zisska & R. Kistner oHG München, seit 2007 Ziska & Schauer/München. 1934 Der übersetzte Brieftext MV05 und die Abbildung der ersten Seite findet sich in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983: „Lieber Herr Dubary! Bin ich nicht sehr lieb, daß ich Ihnen schreibe? II. Ich ersticke vor Hitze in Ihrer Hauptstadt! Ich finde diese comfortables ekelhaft. III., Ich finde die Geschäfte und alles, was man darin findet herrlich. IV., Mit Ausnahme der Hitze und der Vehikeln amüsiere ich mich sehr, sehr gut. Kann ich Ihnen etwas mitbringen aus Paris oder London? Was macht Paulchen dieser Esel, und Feri desgleichen? Ich gehe jetzt aus, ich werde später fortsetzen. Wir waren am Abend noch in den Champs Elysees wo es sehr schön war mit dieser langen Reihe von Laternen. Jedenfalls braucht man viel Geld in Paris. Adieu jetzt, auf Wiedersehen, mit tausend Grüßen Mary Vetsera Meine Hochachtung für Frau Pio sen. und Grüße an Frau Pio jun.“ (Paulchen = Paul Bourgoing; im gleichen Alter wie Marys Bruder Feri; Pio = richtig: Piots; Gattin und Tochter von Dubarys Cousin, des in Wien arbeitenden Architekten Albert Piots). 1935 MV05 versteigert am 19.10.1972 unter den Losnummern 664 (MV05), 665 und 666 bei der 402. Kunstversteigerung des Dorotheum Wien für zusammen ATS 13.500,00. MV05 Erneut versteigert am 24.04.2007 bei Ziska & Schauer/München für 2.600,00 Euro. Deutscher Privatbesitz. MV05 wurde gemeinsam mit MV03 und MV04 sowie einem französischen Brief von Helene Vetsera [im Katalog fälschlich als Ladislaus Vetsera deklariert] vom 23.08.1889 und einem französischen Brief von Franz Albin (Feri) Vetsera vom 19.02.1889 nebst adressiertem Kuvert von Feri an „Monsieur G. Dubary – Vienne – Favoritenstraße 42“ versteigert – diese beiden Briefe wurden ebenfalls 1997 in München erneut versteigert, siehe MV03.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
MV06: ein eigenhändiger Brief an Frau Maureen Alleen mit eigenhändiger Unterschrift „Mary Vetsera“, Salesianergasse Vienna, ohne Datum; Mary schreibt auf Englisch1936; 2 Seiten mit Trauerrand und bekröntem Namenszug „Mary“1937. Der Brief ist im Faksimile bekannt. MV07: eine eigenhändige Postkarte an ihre Cousine Pauline Gräfin Esterhazy (geboren 1858), Tochter von Friedrich Graf Stockau und Mathilde Gräfin Chorinsky. Ohne Ort, ohne Datum. Die unveröffentlichte Karte aus dem Archiv Vetsera/Swistun liegt als Faksimile vor1938. MV08: Fragment eines eigenhändigen Briefes, wahrscheinlich an Gabriele Tobis, mit eigenhändiger Unterschrift „Mary“ und zweier Grußfloskel1939. Das Fragment ist im Original bekannt. MV09: Eigenhändige Unterschrift „Mary Vetsera 1888“ auf einem unbedruckten Karton mit der Größe 5,5 cm x 14 cm. Der Autograph ist im Original bekannt und befindet sich in Privatbesitz1940. MV10: ein eigenhändiger Faltbrief1941 an Herrn Dubary mit eigenhändiger Unterschrift „Mary Vetsera“, ohne Ort, ohne Datum, (“Mary, überhöht von Freiherrenkrone), Trauerrand, etwas fleckig, Rand mit Kleberspuren; Mary berichtet in französischer Sprache über eine Reise nach Bad Homburg und erwähnt namentlich Madame Tobis in Frankfurt; 2 Seiten mit Trauerrand und bekröntem Namenszug „Mary“, geknickt, zwei braune Flecken von Klebestreifen auf der Vorderseite1942, Text in Faksimile bekannt. Aus verschiedenen Briefen der Baroness an die Geschwister Tobis sind Textteile bekannt, da diese in den handschriftlichen, ungekürzten Aufzeichnungen von Hanna Vetsera und von Helene Vetsera in ihrer Rechtfertigungsschrift zum Teil wörtlich zitiert werden1943. Die an Dubary gerichteten Briefe, die 1972 im Dorotheum erstmals versteigert wurden, waren Hermann Swistun bekannt, da er sie 1980 bei der Mitarbeit zu „Die Familien BaltazziVetsera im kaiserlichern Wien“ erwähnt und 1983 die Übersetzung der drei Briefe sowie von zwei Briefen das Faksimile veröffentlicht. Auch den Brief an Maureen Alleen kannte Swistun, da er ihn ebenfalls im Faksimile ver-
Der Inhalt des Briefes vom 19.02.1889 wird in deutscher Übersetzung zitiert bei Baltzazzi-Scharmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau Verlag, Wien 1980; er ist ein interessantes Zeitdokument da er erwähnt, Mary habe aus Mayerling jedem Familienmitglied einen Abschiedsbrief geschrieben. 1936 Wir bringen den Text hier im Original als Abschrift: „Salesianergasse Vienna. Dear Miss Alleen – Only just a few lines to send you my photo. I hope that you will like it, and not forget me alltogether. I am quite delighted to be here again and to see all my friends – In [unleserlich] yours truly. Mary Vetsera.” 1937 MV06 als Faksimile abgebildet bei Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983. Mary Vetsera lernte die junge Amerikanerin Maureen Alleen 1888 in Bad Homburg kennen und schrieb ihr gelegentlich Briefe. 1938 MV07 als fotografisches Faksimile im Mayerling-Archiv erhalten; das Original aus dem Archiv Vetsera/Swistun ist nicht greifbar. Text: „Liebe Pauline! Bete manchmal für Feri! Deine alte Cousine Mary“. Der Text befindet sich auf der Rückseite einer Postkarte des „Erzherzogl. Kammerphotographen Friedrich Kranzfelder – Gloggnitz und Payerbach“. 1939 MV08 verkauft via Internet im September 2003 von der Bassenge/Berlin für 220 Euro; im Besitz des Mayerling-Archivs 1940 MV09 wurde im Mai 2007 als Los Nr. 5574 bei Hermann Historica/München aufgerufen. Limit: 1.500 Euro. 1941 Textausriss (Autographen-Katalog Dorotheum 2009): “Aujourd’hui je ne puis vous écrire que quelques lignes. Je vais tâcher de faire moins de fautes aujourd’hui. Nous partons probablement de I bout d’ici pour l’Allemagne, peut être pourHomburg et Hanna nous réjoindrons avec Dada; Je serais bien contente quand j’aurai traversé la mer. - Le petit frere ne fait que lire des romans allemands.Vous me rendriez bien grand service si vous m’envoyez des noms de livres francais, (pas trop eau sucree et pas trop enfantins) c’est la seule lecture qui m’intéresse. - J’espère que mon griffonage est mieux aujourd’hui. Mlle Tobis a eu un grand succès a Frankfurt, cela me fait grand plaisir ...”. 1942 MV10 befand sich im Jahre 2006 in Wiener Privatbesitz und wurde im Juni 2009 im Palais Dorotheum für 1.200 Euro aufgerufen und für 2.000 Euro zugeschlagen. 1943 Veröffentlicht in einer Serie der „Neuen Illustrierten Wochenschau“, September bis Dezember 1955: „Wenn wir in einer Hütte miteinander leben könnten, wie glücklich wäre ich! Wir sprechen immer davon und sind dabei glücklich; aber leider kann es nicht sein. Wenn ich ihm mein Leben geben könnte, um ihn glücklich zu sehen, so würde ich es mit Freuden tun, denn was liegt mir am Leben! Nicht wahr, Hermine, wenn ich einmal von der Welt fliehen muß und mich die Menschen verachten, dann nehmen Sie mich auf. Nicht wahr, Sie verurteilen mich nicht.“ Sowie: „Ich kann nicht leben, ohne ihn gesehen oder gesprochen zu haben. Geben Sie sich, liebe Hermine, keine Mühe mit mir, ich weiß, daß alles, was Sie sagen, recht ist, allein, ich kann nichts ändern. Ich habe zwei Freundinnen: Sie und Marie Larisch. Sie arbeiten für mein seelisches Glück und Marie für mein moralisches Unglück.“ Zudem: „Marie Larisch ist abgereist, und so kann ich ihn nicht sehen. Ich vergehe vor Sehnsucht und kann den Tag nicht erwarten, wo sie wiederkommt. Doch sie versprach mir, sehr bald wiederzukommen, und ich zähle schon die Stunden, denn seit ich ihn kenne und mit ihm gesprochen habe, ist meine Liebe nur noch größer. Ich studiere Tag und Nacht, wie ich ihn sehen könne, aber es ist unmöglich ohne Marie.“ Und im letzten Brief, Mitte Januar 1889: „Liebe Hermine! Ich muß Ihnen heute ein Geständnis machen, über das Sie sehr böse sein werden. Ich war gestern von 7 bis 9 Uhr bei ihm. Wir haben beide den Kopf verloren. Jetzt gehören wir uns mit Leib und Seele an. Ich hoffe, mich am Samstag von einem Ball loszumachen, und dann eile ich zu ihm.“ Weitere Zitate aus Briefen an Hermine Tobis finden sich in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 356
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öffentlichte1944. In den einschlägigen Archiven fanden sich bei unserer Recherche indes keine weiteren Briefe der Mary von Vetsera1945. Die Fotografien Mary von Vetseras, die einen handschriftlichen Namenszug tragen, wurden in der Regel nicht von ihr selbst unterschrieben. Das bekannteste Bild mit gelöstem Haar trägt den handschriftlichen Namenszug „Mary Vetsera 1886“. Nach Mitteilung des Familienarchivars Hermann Swistun handelt es sich hierbei um die einzige Originalsignatur auf einem Foto1946. Ein 2002 bei einem amerikanischen Autographenhändler angebotenes Bild der Baroness mit dem silbernen Halbmond im Haar trägt den handschriftlichen Text „Marie Vetsera Wien Januar 1889“. Hierbei handelt es sich nicht um Marys Handschrift. Ein Bild, mit der Widmung „Mary Mady 1888“, angeblich aus dem Nachlass des Kronprinzen stammend1947, könnte indes nach vorsichtiger Wertung tatsächlich von der Baroness unterzeichnet worden sein1948. Die handschriftlichen Abscheidbriefe der Baroness aus Mayerling werden in einem anderen Kapitel ausführlich behandelt. Darüber hinaus sind aus dem Nachlass der Baroness noch bekannt: -
Schirmknauf im Besitz von Christiane Hörbiger
-
1944
In der Neuauflage des Buches von Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Ueberreuter Verlag, Wien 1999 wurden die drei Briefe nicht mehr im Faksimile wiedergegeben. 1945 Schweizerische Landesbibliothek/Informationszentrum Helvetica, Bern 26.08.2002; Österreichische Nationalbibliothek/Handschriftensammlung, Wien 26.08.2002; Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 26.08.2002; Institutsbibliothek Germanistik/Universität Salzburg 23.08.2002; Karl-Franzens-Universität Graz/Nachlass-Sammlung, Graz 11.09.2002; Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung/Zentralkartei der Autographen, Berlin 11.09.2002 1946 Hermann Swistun an den Verfasser, Wien 30.06.1990 1947 Die Aufnahme, welche die Baroness im Halbprofil nach rechts schauend zeigt, wurde von dem ägyptischen Fotografen „Abdullah Fères“ in Kairo gemacht; Größe 16,5 x 11 cm. Das Bild soll nach Schilderung des Oberst Dr. Karl Sartorius/Innsbruck aus dem Jahre 1955 aus dem Nachlass des Kronprinzen (angeblich aus einer in Mayerling gefundenen Brieftasche des Kronprinzen) über die Gräfin Larisch zu ihren Lebzeiten an Fürstin Nora Fugger und von dort an Dr. Sartorius gekommen sein; es kann sich um ein aus Ägypten an den Kronprinzen gesandtes oder später in Wien überreichtes Widmungsbild handeln (vergleiche HermannHistorica München, Auktion Herbst 1999, Los 2246). Dr. Sartorius hatte in den 50er Jahren versucht, das Bild mehreren Illustrierten und Magazinen anzubieten, fand jedoch für 20.000 Dollar (!) keinen Abnehmer. 1948 Das Bild befindet sich heute im Besitz eines Sammlers aus Baden-Württemberg / Deutschland, der es bei „Stargardt“ in Berlin ersteigerte. 357
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Kapitel 12 Das Sühnekloster
1. Die Vorgeschichte
„... wie gut wie habsburgisch wäre es wenn jetzt dort ein Kloster strengster Observanz errichtet würde...“
Rektor P. Mayr Maria Schein
„Schon wenige Tage nach der Katastrophe wurde von verschiedenen Seiten erwogen, an Stelle des Jagdschlosses Mayerling eine Sühnestätte zu errichten.1949“ Ein anderer Vorschlag sah vor, alle Gebäude des Anwesens abzureißen und an jener Stelle einen Wald zu pflanzen. Ähnlich wollte man 60 Jahre später die Erinnerung an Hitlers Berghof auf dem bayerischen Obersalzberg auslöschen: man gab Sprengstoff rein und pflanzte Bäume drauf. Am 19. April 1889 bat gar Franziska Lechner, Generaloberin der „Gesellschaft der Töchter der göttlichen Liebe“, um Überlassung des Schlosses. Ihre Wiener Marienanstalt an der Fasanengasse wollte darin nämlich ein Kloster errichten mit dem Ziel, arme Waisenkinder zu erziehen1950. Bereits Anfang Februar hatte sich eine Fürstin Windisch-Graetz ihrem Beichtvater in Maria Schein anvertraut und nachgefragt, was in Mayerling bezüglich einer Sühnestiftung unternommen werden können. Am 13. Februar 1889 antwortete ihr Rektor P. Mayr mit souveräner Verachtung aller Interpunktionsregeln: „Wie gut wie echt katholisch wie habsburgisch wäre es wenn jetzt dort ein Kloster strengster Observanz errichtet würde mit der Aufgabe Tag und Nacht für den Kaiser den Kronprinzen für das Reich zu beten!1951“ Die Fürstin leitete den Brief weiter an den kaiserlichen Kabinettsdirektor, Staatsrat Adolf Freiherr von Braun. Umständlich bat sie dazu in einem elfseitigen Schreiben, man Möge dem Kaiser zuflüstern, in Mayerling ein „Klösterchen“ zu gründen1952, in dem ein Mönchsorden für Rudolf täglich eine heilige Messe im Sterbezimmer lesen möge.
1949
Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 HHStaA Wien, GDPFF 9/1 f25 1951 Der gesamte Text des Schreiben, zitiert nach Fritz Judtmann: „Durchlaucht Danke ich sehr für Ihre freundlichen Zeilen auch mich beschäftigt im Geiste das schreckliche Ereignis der furchtbare Schlag den unser Kaiser erlitten und das Schicksal des armen Kronprinzen – Wenn ich so an Mayerling denke meine ich wie gut wie echt katholisch wie habsburgisch wäre es wenn jetzt dort ein Kloster strengster Observanz errichtet würde mit der Aufgabe Tag und Nacht für den Kaiser für den Kronprinzen für das Reich zu beten. Wäre es nicht möglich die Aufmerksamkeit Seiner Majestät auf solch eine Stiftung zu lenken? Ich meine immer im Herzen unseres Kaisers müßte ein solcher Vorschlag einen Widerhall finden. Mit den ehrfurchtsvollsten Empfehlungen an den Fürsten E. Durchlaucht ergebenster J. R. Mayr“ (Wien, HHStaA; Kabinettskanzlei, Separat-Akten) 1952 Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1950
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Unabhängig von diesem Brief hatte man bei Hofe bereits ähnliche Pläne entwickelt, für die sich sogar die Kaiserin einsetzte. Am 15. Februar legte Militärbischof Dr. Anton Joseph Kardinal Gruscha1953 Staatsrat Braun ein Memorandum vor, das die Entsendung der gerade nach Wien-Baumgarten umgesiedelten Unbeschuhten Karmelitinnen nach Mayerling vorsah. „Insbesondere wäre die Umgestaltung des dem frommen Stiftungszwecke zu widmenden Gemaches in eine Privatkapelle zu betonen, in welcher Tag und Nacht vor dem Allerheiligsten die immerwährende Anbetung von den Chorfrauen persolvirt würde1954“. Der Bischof legte dem Ersuchen zwei Pläne des neuen Klosters im Westen Wiens vor, das Kirchenbaumeister Josef Schmalzhofer1955 errichtet hatte. Gruscha schlug ferner vor, die Priorin Mutter M. Euphrasia Kaufmann mit der Leitung des Klosters in Mayerling zu betrauen und sie in die Planung eines Adaptierungsbaues mit einzubinden. Hatte Gruscha zunächst vorgeschlagen, die historische Wallfahrtskirche St. Laurentius zu erhalten, machten die strengen Bauvorschriften für ein Karmelitinnenkloster diese Idee hinfällig. Da die Kirche mit einem anschließenden Betchor in der Mitte der Klosteranlage liegen und die Klosterzellen sich mit weiteren Räumen um zwei lange schmale Höfe gruppieren mussten, war die Laurentiuskirche nicht in das Konzept einzubinden. Der Hof erwarb das Gebäude im Mai 1889 für eine symbolische Summe von 1.000 Gulden vom Stift Heiligenkreuz und ließ es abreißen. „Die ganze Gegend empfand bittere Wehmut darüber“, berichtet der Pfarrer von Alland, Pater Rudolf Rath O.Cist, in seiner Chronik. Am 17. Februar legte der Kabinettsdirektor dem Kaiser den Vorschlag des Bischofs vor, der gewohnheitsmäßig mit Bleistift seine Randbemerkungen schrieb. Der Kaiser verfügte, dass „das Zimmer in welchem die Katastrophe stattfand in eine Kapelle umzuwandeln“ sei und dass Schmalzhofer den Plan zu entwerfen und den Bau durchzuführen habe. „Dabei sind aus der Beilage a ersichtlichen Bedürfnisse der Nonnen als Grundlage zu benützen.“ Weiter notierte Franz Josef, man möge die Priorin Kaufmann mit der Leitung des Klosters zu betrauen und diese auch in die Planung mit einzubeziehen. Auf der letzten Seite setzte der Kaiser sein Zeichen mit dem Zusatz „Mit meinen Randbemerkungen“. Einen zuvor diskutierten Vorschlag des Kaisers, den Wiener Dombaumeister Friedrich von Schmidt1956 heranzuziehen, lehnte Franz Josef jedoch letztlich mit der Randbemerkung „Wird kaum nothwendig sein“ ab, nachdem ihm Schmalzhofer empfohlen worden war. Im so genannten Stiftbrief von Mayerling legte der Kaiser den Zweck seiner Stiftung fest: Es ist „dem Orden der Karmelitinnen in dem in Mayerling gegründeten Kloster eine bleibende Heimstätte zu schaffen; sohin Karmelitinnen-Ordensschwestern in diesem Kloster Unterkunft und Unterhalt zu bieten. Dieselben haben in dem ihnen gewidmeten Kloster nach den Regeln ihres Ordens zu leben und die ihnen nach diesen Regeln obliegenden frommen Werke zu üben. Insbesondere haben sie alltäglich für das Seelenheil Weiland des Kronprinzen Erzherzogs Rudolf zu beten.“
1953
Gruscha, Anton Joseph; Doktor der Theologie, seit 28.04.1878 Apostolischer Feldbischof der k.u.k. Armee, ab 06.08.1890 Fürsterzbischof von Wien, ab 1891 Kardinal; geb. 03.11.1820 in Wien, gest. 05.08.1911 aus Schloss Kranichberg. 1954 Gruscha, zitiert bei Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1955 Schamlzofer, Josef, geb. am 22.01.1835 in Altheim/Oberöstrerreich, gest. am 11.08.1920 in Wien; Architekt und (seit 1889) k.u.k. Hofbaumeister, verheiratet mit Maria Staniek (1841-1895), vier Kinder. 1956 Dombaumeister Oberbaurat Freiherr Friedrich von Schmidt, geboren 23.10.1825 in Frickendorf/Württemberg, gestorben 23.01.1891 in Wien, Schottenring 7 (Sühnhaus), Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof. Professor an der Akademie der bildenden Künste/Wien; ab 1863 Dombaumeister; Mitglied des Wiener Gemeinderates. Bauten u.a. Wiener Rathaus, Sühnhaus, Brigittakirche, akademisches Gymnasium, Lazaristenkirche, Weinhaus Pfarrkirche und außerhalb Österreichs u.a. Dom in HattingenNiederwenigern/NRW. 359
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Kapitel 12 Das Sühnekloster
2. Der Orden der Karmelitinnen in Wien
„Als ich noch von der Welt herkam und mich dem Karmel näherte, sah ich nur den äußeren Glanz der den Käfig vergoldete.“
Marcellus Feldmeier Karmelitermönch
Anfang Februar 1889 erschien Bischof Dr. Anton Gruscha im Karmel St. Josef in Wien Baumgarten mit dem Wunsch, die Priorin Mutter Euphrasia1957 zu sprechen. Er teilte ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, „welch edlen, schönen Wunsch“ der Kaiser hege1958: an der Schreckensstätte ein Kloster zu errichten. Franz Josef habe dabei Schwestern aus einem Karmel-Kloster im Sinn: Seine Cousine, Erzherzogin Maria Beatrix von Österreich-Este, lebte als Schwester Maria Ignatia vom hlgst. Herzen Jesu im Karmelitinnenkloster Graz. Dort hatte sie der Kaiser in den 80er Jahren besucht und sich über den strengen Orden informiert. Der Orden der Unbeschuhten Karmeliten1959 – nach dem Berg Karmel, was im hebräischen Baumgarten bedeutet, bei Jerusalem benannt – gilt auch heute noch als einer der strengsten katholischen Schwesternorden. Betritt eine Novizin das Kloster, so wird sie es bis zu ihrem Tode nicht mehr verlassen und in einer Gruft des Klosters zur letzten Ruhe gebettet. Karmelitinnen leben in strenger Klausur und gingen zur Zeit der Mayerlingtragödie und bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein bei den wenigen Besuchen außerhalb des Klosters stets verschleiert. Fritz Judtmann berichtet, dass im Speisesaal der Schwestern ein Totenkopf auf dem Platz der Priorin das „Memento mori“ ins Gedächtnis riefe. Geschirr sei im Karmel aus Holz, Fleisch tabu und die Schwestern trügen rohe Strohschuhe an den Füßen1960. Uns liegen Fotografien aus Mayerling vor, die diese Ausführung bestätigen. Der Wiener Karmel, unter Kaiser Ferdinand II. und Kaiserin Eleonora 1629 in Salzgries gestiftet, gilt als erstes deutschsprachiges Karmelitinnenkloster und das erste in Österreich. Die vier Gründerschwestern, aus Genua und Terni in Umbrien stammend, bezogen unter kaiserlichem Schutz die an der Stelle von zehn Häusern in der Wiener
1957
Mutter Maria Euphrasia Kaufmann, geb. 18.08.1838, eingekleidet am 12.03.1860, Profes am 18.08.1862 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 1959 Odo Carmelitarum Discalceatorum, OCD (Ordern der Unbeschuhten Karmeliten oder Teresianischer Karmel 1960 Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 1958
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Sterngasse1961 errichtete, 1642 geweihte Kirche und das neue Kloster „St. Joseph“. Da eines der Häuser nach seinem Hauszeichen „Zu den sieben Büchern1962“ hieß, wurde das Kloster im Volksmund schnell das der Siebenbüchnerinnen genannt. Dort lebten und wirkten sie 153 Jahre lang bis zur Aufhebung der Klöster durch Kaiser Joseph, Gemahl der Kaiserin Maria Theresia, im Januar 1782. Die 15 Chorfrauen und 3 Laienschwestern fanden in anderen Wiener Klöstern Aufnahme, einige gingen auch in den Karmel nach München1963. Nach Aufhebung des Klosters blieben Kirche und Gebäude zunächst unverändert und wurden als Schuldnergefängnis, Untersuchungsgefängnis für politische Vergehen und Gefängniskirche genutzt. 1885 wurde die Kirche, in der von 1657 bis zur Aufhebung der Sarg der im Kloster gestorbenen Kaiserin Eleonora stand, abgerissen. Das Wiener Polizeigefangenenhaus übersiedelte in ein anderes ehemaliges Karmeliterkloster im 6. Bezirk. Im Oktober 1879 wurde erneut ein Karmelkloster in Wien gestiftet: Aus Graz reisten die vier Stifterinnen Mutter M. Euphrasia von den hl. Fünf Wunden, Sr. M. Archangela vom hlst. Herzen Jesu, Sr. M. Johanna vom Kreuz und Sr. M. Aloysia von der göttlichen Vorsehung nach Baumgarten, um dort in einem Privathaus künftig zu beten und zu leben. Der neue Karmel St. Josef sollte schnell zu einem ganz besonderen geistigen Zentrum werden, aus dem etliche weitere Stiftungen hervorgingen: Selo1964, Wandorf1965, Aufkirchen1966, Rankweil1967, Mariazell1968, Menges1969 und natürlich Mayerling. Für die Schwestern in Baumgarten1970 sollte die Stiftung und der Bau des neuen Klosters in Mayerling jedoch zu einer ganz besonderen Herausforderung werden. „Es sollte ja ein mit Blut befleckter Ort, auf welchem schon jahrlang der Fluch der Sünde lastete, zu einer heiligen Stätte des Segens und der Gnade werden. Man fühlte, daß man in heißem Kampf der Hölle und ihrem Bewohner den Sieg abgewinnen müsse.1971“ Sowohl die Priorin des Wiener Karmels, Mutter Maria Euphrasia von den hl. 5 Wunden, als auch ihre leibliche Schwester, die Priorin Mutter Maria Alberta vom hl. Vater Josef aus dem Grazer Karmel, hatten ihre Klöster zu verlassen. „Alle Herzen mußten opfern.1972“ Während Mutter M. Euphrasia zunächst die Neugründung des Klosters in Selo bei Laibach betreuen und dann den Karmel in Mayerling leiten sollte, war Mutter Alberta als Priorin für Baumgarten von den dortigen Schwestern gewählt worden1973. Besonders Sr. M. Euphrasia wurde durch die Stiftungsangelegenheiten sehr bin Anspruch genommen. Während in Selo die Neugründung durch ein Fräulein Christine Bernard aus Laibach voranzubringen war1974, musste sich
1961
heute: Mark Aurel-Straße bedeutet: „7 freie Künste“ 1963 Prof. Dr. Leopold Mazakarini, „Verschwundene Klöster der Innenstadt“, Gesellschaft für Natur- und Heimatkunde, Wien 1990 1964 Der Karmel Selo wurde 1889 gestiftet 1965 Der Karmel Wandorf (Bánfalva/Ungarn) existierte als Stiftung von 1892 bis 1950 1966 Der Karmel Aufkirchen/Bayern wurde 1896 in einem ehemaligen Augustinerchorherrenkloster gestiftet 1967 Der Karmel Rankweil/Vorarlberg wurde 1960 gestiftet 1968 Der Karmel Mariazell wurde 1956 gestiftet 1969 Der Karmel Menges (nahe Laibach) wurde 1960 neu gestiftet 1970 Im Jahre 1892 wurde Baumgarten an Wien angeschlossen und zu einem Vorort 1971 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 1972 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 1973 Da in Baumgarten keine der Schwestern geeignet schien, die Nachfolge von Mutter M. Euphrasia anzutreten, wurde bei der Wahl am 8. April 1889 von den elf stimmberechtigten Schwestern einstimmig die Priorin des Grazer Karmels nach Wien abgewählt; Subpriorin wurde Schwester Maria Leopoldina von der Heiligen Maria Theresia. 1974 Christine Bernhard war am 13. Februar 1889 als Kandidatin im Karmel St. Josef in Wien eingetreten. Dort konnte sie jedoch wegen ihres schlechten Augenlichtes nicht bleiben, so dass man ihr rat, selbst ein Kloster zu stiften. Dies geschah nach dem plötz1962
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gleichzeitig über die Pläne, den Stiftungsbrief und sonstige Bestimmungen für Mayerling verhandeln. Über Mayerling notierte der Wiener Kardinal Ganglbauer: „Diese Stiftung ist in meinen Augen der erhabenste Lichtpunkt in dem namenlosen Unglück, das Österreich und sein Kaiserhaus getroffen hat. Möge der versöhnte Gott unser armes Österreich und sein schmerzlichst geprüftes Kaiserhaus schützen, erhalten, segnen!1975“ Am 3. April 1889 reiste Mutter M. Euphrasia erstmals nach Mayerling, um „angeben zu können, was und wie gebaut werden sollte“. Sie besichtigten die Laurentius-Kirche und die Gebäude des Jagdschlosses. In ihrer Begleitung waren Stadtbaumeister Joseph Schmalzhofer, die Subpriorin Mutter M. Johanna vom Kreuz (Baronin Morsay), Beichtvater Spiritual Kaspar Foraschek sowie Klostervater Schuch. Während in vielen Zeitungen bereits über den Bau des Klosters berichtet wurde, war das Thema im Wiener Karmel für die meisten Schwestern noch tabu, so dass die Delegation heimlich am Morgen abreisen und ebenso heimlich ab Abend aus Mayerling zurückkehren musste1976. Mutter M. Euphrasia hatte zur Bedingung für die Stiftung gemacht, den Neubau möglichst karg und einfach auszustatten, „damit alles karmelitanisch und nicht kaiserlich würde“. Allein die Kirche durfte prächtiger werden. Zu Ostern des Jahres 1889 begannen die Bauarbeiten1977. Aber auch sonst verlangte die Neugründungen in Selo und Mayerling dem Orden viel ab: die bisherige Subpriorin von Baumgarten, Mutter M. Johanna vom Kreuze, musste ebenfalls nach Selo gehen, um dort nach der Abreise von Schwester Euphrasia das Priorat übernehmen. Zwei weitere Schwestern aus Baumgarten1978 und drei aus Graz wurden ebenso für Selo bestimmt. Nach Mayerling mussten aus dem Karmel Baumgarten dessen Stifterin Sr. M. Aloysia (Hartl) von der göttlichen Vorsehung, Sr. M. Magdalena (Zimmermann) vom allerheiligsten Sakrament, Sr. M. Ignatia von den heiligsten 5 Wunden1979 und die Laienschwester Sr. Maria Martha von der hl. Maria Magdalena (Cäcilia Wallner) gehen. Aus Graz wurden die Novizin Sr. Maria Beatrix (Zehner) vom hl. Rafael und Mutter Maria Gregoria von der hl. Theresia (Josepha Herken) wurde als Subpriorin für Mayerling bestimmt. Am 29. April trafen aus Graz in Begleitung des dortigen Fürstbischofes Johann VII. Baptist Zwerger1980 die für Selo und Mayerling bestimmten Schwestern in Wien ein, und Mutter M. Albertas Priorat begann in Baumgarten1981. Auch für sie war es in neuer Umgebung und mit neuem Konvent keine leichte Zeit: Da für beiden Stiftungen Paramente, Kirchen- und Hauswäsche zu besorgen waren und Selo möglichst umgehend, Mayerling jedoch bis zum 16. Juli für einen Umzug genügend umgebaut sein sollte, wurden weitere Kandidatinnen für den Karmel Baumgarten aufgenommen. Weil ein Karmel üblicher Weise nur für 21 Schwestern Platz bot, zwischenzeitlich jedoch 31 dort lebten und ständig Bittende nach Aufnahme fragten, herrschte drangvolle Enge: Schwestern schliefen auf einfachen Strohsäcken im Gang oder teilten sich zu dritt eine Zelle.
lichen Tode ihres Vaters: sie erwarb ein Haus mit Garten in Selo und Mutter M. Euphrasia nahm die Stiftung an und bewarb sich beim Kaiser um die nötigen Genehmigung, die dieser auch „ohne Anstand“ bewilligte. 1975 Kardinal Ganglbauer an Fürstbischof Zwerger, Wien 06.03.1889, zitiert nach Oer, Franz Freiherr von: „Fürstbischof Johannes Bapt. Zwerger von Seckau – In seinem Leben und Wirken dargestellt“, Verlag von Ulr. Moser´s Buchhandlung, Graz 1897 1976 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 1977 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 1978 Dies waren Sr. Maria Theresia von Jesu (Maria Welly), die Leibliche Schwester von Mutter Johanna, und Sr. Jospeha Theresia von der Muttergottes oder, nach Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 Schwester Johanna vom Kreuz (Anna Braun) 1979 Gräfin Esterhazy, geb. Prinzessin Polexina von Lobkowitz 1980 Zwerger, Johann VII. Baptist, geb. 23.06.1824 in Cucal/Tirol, gest. am 14.08.1893. Fürstbischof von 1867 bis 1893. 1981 Mutter M. Alberta vom hl. Vater Josef wurde als Katharina Kaufmann am 24.10.1840 in Peuerbach/OÖ geboren und folgte 1864 ihrer Schwester Mutter M. Euphrasia in den Grazer Karmel. Sie starb am 12.11.1911 als Expriorin des Karmels in Baumgarten. 362
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Die für Selo bestimmten Schwestern reisten am 7. Juni gemeinsam mit Mutter M. Euphrasia ab, die nach vier bis sechs Wochen zurückkehren und dann nach Mayerling gehen sollte. In Graz verbrachten die Schwestern die Pfingstfeiertage und am 12. Juni 1889 wurde Selo offiziell errichtet. Für Mayerling indes verschob sich der Einzugstermin mehr und mehr. Nachdem der 16. Juli – das Hochfest Unserer Lieben Frau vom Berg Kamel – nicht gehalten werden konnte, sollte am 18. August, Franz Josefs Geburtstag, die Stiftung beginnen. Da die Bauarbeiten jedoch nicht wie geplant fortschritten, wurde der 4. Oktober, des Kaisers Namenstag, anvisiert. Mutter M. Euphrasia kehrte am 23. September aus Selo in den noch immer drangvollen Karmel nach Baumgarten zurück: Und wieder verschob sich der Umzug, da Subpriorin M. Gregoria erkrankte. „Von Anfang an schien es, als ob der böse Geist sich eifrig bemühe, diesen Ort der Sünde für sich zu behaupten oder wenigstens möglichst lange dem Dienste Gottes zu entziehen.1982“ Zudem hatte Mutter Euphrasia feststellen müssen, als sie am 30. September nach Mayerling fuhr, dass viele ihr zugewiesene Einrichtungsgegenstände aus dem kronprinzlichen Schloss verschwunden waren und erst einmal neu angeschafft werden mussten1983. Am 8. Oktober 1889 siedelten Schwester Christina mit drei Kandidatinnen und vier Gespannen aus Baumgarten in den hergerichteten alten Schlossbereich nach Mayerling um, nachdem am Vortag Hofburgpfarrer Prälat Dr. Laurenz Mayer die Einweihung des Klosters und der Seitenkapelle zelebriert hatte1984. Im Gefolge kamen Beichtvater Foraschek, der neue Spiritual Josef Baron Grimmenstein sowie Nocolas Moritz Graf Esterházy und seine Gemahlin nebst seiner Schwester, Prinzessin Emil Ötttingen Spielberg hinaus. Nach einem ersten Gebet und dem Mittagsmahl wurde mit Auspacken begonnen. „Da, wo früher kaiserlicher Luxus und Überfluss herrschte, da wohnte nun die heilige Armut, ein strenges Bußleben, Entsagung alles dessen, was die Natur entbehren kann, ein beständiges Absterben, ein Leben für Gott allein. Jene Räume, in denen oft ganze Nächste in Lustbarkeit und Zügellosigkeit zugebracht worden waren, hallten nun wider vom Lobe des Herrn aus reinen, ihm geweihten Herzen.1985“ Der erste Schicksalsschlag holte die Schwestern jedoch schnell ein, als Subpriorin Mutter M. Gregoria früh verstarb1986 und zwei weitere Schwestern nach Selo abgetreten werden mussten. Von Mayerling aus hatten die Karmelitinnen 1892 noch eine weitere junge Stiftung zu leisten: der Bischof von Raab wollte im ungarischen Wandorf1987 bei Ödenburg1988 ein Karmelitinnenkloster gründen. Priorin wurde Sr. M. Aloysia, die Subpriorin aus Mayerling, die von weiteren Schwestern begleitet wurde1989. Die erste Stiftung, die aus Mayerling hervorging, wurde am 2. Oktober in einem ehemaligen, halb verfallenen aber nun restaurierten Paulaner Eremiten-Kloster begonnen. 1896 erfolgte eine zweite Stiftung aus Mayerling: Aufkirchen in Bayern. Auch hier ebnete Mutter M. Euphrasia durch ihren hohen persönlichen Einsatz vor Ort den Weg. Neben diesen immensen personellen Anstrengungen hatten die Schwestern im Karmel St. Josef Mayerling auch mit ihren neuen Nachbarn zu schaffen, welche die Ordensfrauen nicht gerade mit offenen Armen empfingen.
1982
Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 1983 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 1984 Der so genannte „Bewohnungs-Consens“ für das Kloster war bereits einige Tage zuvor von der Badener Bezirkshauptmannschaft erteilt worden. 1985 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 1986 an ihre Stelle trat Sr. M. Alberta aus Baumgarten 1987 Bánfalva 1988 Sopron 1989 Subpriorin Mutter M. Johanna, Sr. M. Johanna, Sr. M. Ignatia, Sr. Maria Magdalena, Sr. M. Alberta sowie die beiden Kandidatinnen Karoline Sochatius und Juliana Lindinger 363
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Diese Feindschaft dem Orden gegenüber wird sich gut dreißig Jahre später nach Beendigung des Ersten Weltkrieges erstmals in vollem Ausmaß zeigen. Der Karmel in Wien-Baumgarten existierte bis zum Jahr 1977. Dann zogen die Karmelitinnen nach Ober-St. Veit, wo dem Orden 1974 ein denkmalgeschütztes Gebäude samt Kapelle angeboten worden war. Nach umfangreichen Umbauarbeiten konnte der dritte Wiener Karmel am 1. Oktober 1977 durch Dr. Franz Kardinal König eingeweiht werden.
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Kapitel 12 Das Sühnekloster
3. Der Bau des Klosters
„Nach dem namenlosen Unglück, welches Mich durch das Hinscheiden Meines innigstgeliebten Sohnes (...) getroffen hat, habe ich den Entschluss gefasst, an dessen Sterbestelle ein Kloster erbauen zu lassen.“
Kaiser Franz Josef Ischl, 07. August 1890
„Dr. Slatin berichtet in seiner Denkschrift, daß er bei der Inventur in Mayerling durch den Besuch des Baumeisters Schmalzhofer überrascht wurde, der von den Majestäten beauftragt war, das Jagdschloß genau zu vermessen, da an Stelle desselben ein Kloster erbaut werden solle. Über dem Sterbezimmer werde eine kleine Kirche errichtet, damit dieser Raum und der darüber liegende Luftraum nie mehr zu profanen Zwecken benützt werden könne. Das Letztere sei insbesondere ein Gedanken und ein Befehl der Kaiserin Elisabeth.1990“ Judtmann vermutete, dass es von den Gebäuden rund um die Laurentiuskirche keine Pläne mehr gebe, da Originalzeichnungen aus dem Jahre 1861 beim Türkenangriff im Stift Heiligenkreuz verbrannt waren. So musste Schmalzhofer die gesamte Anlage neu vermessen, um sie in das weitaus größere Kloster einfügen zu können1991.
Über die technische Durchführung des Baues konnte Judtmann keine Unterlagen finden, so dass seine Rekonstruktionen auf Basis vorliegender Unterlagen lange Zeit als einiges Material herangezogen werden konnte. Im Jahre 1995 konnten wir jedoch erstmals im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv einen Grundriss von 1888 sichten, der das Jagdschloss Mayerling darstellte1992. Im Jahr 1997 entdeckten wir dann ebenfalls im Staatsarchiv Pläne, die erstmals
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Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Unsere Recherche ergab, dass es weder im Österreichischen Staatsarchiv/Allgemeines Verwaltungsarchiv, Bestandsgruppe „Kultur“ bzw. im dortigen Planarchiv (freundliche Mitteilung von Mag. Dr. Gerhard Theimer, Wien 10.12.2003) noch im Niederösterreichischen Landesarchiv (freundliche Mitteilung von Dr. Christina Michty-Weltin, St. Pölten 03.12.2003) bzw. im Archiv des Bauamtes der Erzdiözese Wien (freundliche Mitteilung von Dr. Johannes Weißensteiner, Wien 03.11.2003) Pläne von 1889 bzw. dem weiteren Umbau 1956 gibt. 1992 gefunden in „Burghauptmannschaft I/20“ 1991
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das gesamte Jagdschloss samt Kirche und Gartenanlagen im Maßstab zeigten. Darüber hinaus entdeckten wir Architekturschnitte durch das fertige Gebäude sowie verschiedene, nicht zur Ausführung belangte Außenansichten der neuen Kapelle. Judtmann vermutet, dass im Laufe der Bauarbeiten der künstlerische Entwurf dem Baumeister Schmalzhofer entzogen und Hofsekretär Heinrich Schemfil vom Hofbauamt übertragen worden sei. Zumindest ist auf einer Gedenktafel, die in der Kirche angebracht wurde, vermerkt:
Erbaut im Jahre 1889 Aus allerhöchsten Privatmitteln Seiner K. und K. Apostolischen Majestät Franz Joseph I. K.u.K. Hofsekretär H. Schemfil Architekt J. Schmalzhofer Baumeister
Andere Quellen berichten von einer Gemeinschaftsarbeit, die innerhalb von sieben Monaten realisiert wurde. Schmalzhofer galt als maßgebliche Persönlichkeit auf dem Gebiet des Kirchenbaus und die große Anzahl seiner Bauten deutet darauf hin, dass er sehr verlässlich und routiniert gearbeitet hatte. Die neugotische Kapelle aus Margarethener Stein für ihr glattes Quadermauerwerk mit seitlichen Strebpfeilern besitzt farbige Glasfenster, die 40 Freunde des Kronprinzen stifteten und welche im Januar 1890 eingesetzt wurden1993. Gegen ein Honorar von 6.000 Gulden schuf der Historienmaler Josef Kastner das Altarbild. Der Besucher tritt zunächst durch das Säulenportal in einen kleinen, durch ein Gitter abgeteilten Vorraum in die von sechs schlanken Säulen unterteilte dreischiffige Kirche ein. Vorne links führt eine Wendetreppe auf die Empore aus Heidsheimer Stein, hinten rechts befindet sich der Zugang zur Sakristei. Aus dem Obergeschoss des rechtseitig angebauten neuen Klosters ermöglichen aus den „Kaiseroratorien“ zwei Fenster den Blick in die Kapelle. Von hier konnte der Kaiser der Messe folgen, während im Elisabethtrakt Gästezimmer für die hohen Herrschaften eingerichtet wurden. Nach Beginn der Bauarbeiten zu Ostern 1889 hatte man zunächst das Sterbezimmer, das Osttor und einen Teil des Dienertraktes abreißen lassen, um das Kloster mit dem bestehenden Teil des Schlosses zu einem Quadratbau zu verbinden. Nach den strengen Bauvorschriften mussten zunächst aus allen Räumen Parkettböden, Holzlamberie und
1993
nach Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel Verlag, Zürich 1928, waren die Stifter: Alfred Ritter von Arneth, Franz Josef Fürst Auersperg, Dr. Theodor Billroth, B. Bornemisza Tivadar, Graf Breunner-Enkevoerth, Adolf Baron Branicki, Rudolf Graf Chotek, Admiral Max Daublebsky Freiherr von Sterneck, Nikolaus Dumba, Oberst Alois Prinz Esterházy, Tassilo Graf Festetics, Vilmos Graf Festitics, Emil Prinz Fürstenberg, Rudolf Grimburg, Johann Graf Harrach zu Rohrau, Josef Graf Hoyos, Pista Graf Károlyi, B. Kalmán Kemény, Carl Graf Kinsky, Heinrich Graf Larisch-Moenich, Feltmarschalleutnant von Latour, Leitenberger, Heinrich Prinz von Liechtenstein, Franz Graf Meran, Eugen von Müller-Aichholz, Anton Graf Mittrowsky, Karl Fürst zu Oettingen-Wallerstein, Feltmarschalleutnant Andor Graf Pálffy, Franz von Pausinger, Arthur Graf Potocki, Franz Freiherr von Ringhoffer, Erwin Graf Schönborn-Buchheim, Adolph Joseph Fürst Schwarzenberg, Graf Bela Széchényi, Ladislaus von Szögyényi junior, Graf Samuel Teleki, Franz Graf Thun, Alexander Prinz Thurn und Taxis, Ernst Graf WaldsteinWartenberg, Feltmarschalleutnant Joseph Graf Waldstein, Hans Graf Wilczek, Ferdinand Graf Wurmbrandt, Philipp Prinz von Sachsen-Coburg 366
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Kamine herausgerissen werden. Auf dem Boden wurden einfache Dielenbretter verlegt. Doch: „Der Bau des Klosters stand unter keinem guten Stern: Schlechtwetter und interne Schwierigkeiten waren zu überwinden.1994“ Als Mittelpunkt des neuen Klosters teilte der Betchor den Gebäudekomplex in zwei Innenhöfe. Das Speisezimmer im Trakt des alten Jagdschlosses wurde in zwei Räume geteilt. Da der „Elisabethtrakt“ künftig dem Kaiserpaar bei seinen Besuchen als Absteigequartier dienen sollte, wurde das schadhafte Dach erneuert und die Zimmer mit nötigem Inventar ausgestattet. Im Dienertrakt entstanden die Klosterküche und das Refektorium, die Kegelbahn wurde zum Platz für die Rekreationsstunden der Schwestern umgestaltet1995. Der wesentlich vergrößerte Garten wurde mit einer Klausurmauer umgeben und der französische Garten aufgelöst bzw. für Gemüse- und Obstanbau genutzt. Erst am 7. Oktober 1889, gut 11 Monate nach den dramatischen Ereignissen, konnte Hofburgpfarrer Mayer das neue Kloster und die Seitenkapelle der Kirche einweihen und in den Schlussstein zwei 1889 geprägte Münzen legen: eine Dukate für 2 Gulden sowie ein Silberstück für 1 Gulden1996. Zwei Tage später, am 9. Oktober, reiste Mutter M. Euphrasia mit sechs Schwestern – begleitet von Graf Nikolaus Esterházy, seiner Gattin und seiner Schwester und dem neuen Spiritual für Mayerling, dem Baumgartner Beichtvater Josef Baron Grimmenstein –, nach Mayerling und schloss die provisorische Klausur. Am 10. Oktober wurde dann nach der Heiligen Messe das Allerheiligste im Tabernakel der Seitenkapelle eingesetzt, da die Kirche noch im Bau war1997. Die neuen Glocken der Kirche wurden so aufgezogen, dass sie am 31. Oktober erstmals zum abendlichen Angelus geläutet werden konnten. Die größte der Glocken, die sogenannte „historische“, wurde vom Kaiser gestiftet und trägt auf einer Seite das Bild der Heiligen Theresia (Inschrift: „St. Theresia, ora pro nobis) und auf der anderen das Bild des Heiligen Josef mit dem Jesuskind (Inschrift: „ST: Josef, ora pro nobis“). Gegossen wurde sie 1889 von den Gebrüdern Gößner in Wien. Auf der kleineren Glocke von 1851 aus der alten Laurentiuskirche ist eine Kreuzigungsgruppe und die Mutter Gottes mit dem Jesuskind abgebildet. Sie stammt aus der Glockengießerei des Ingenieur Ignaz Hilzer aus Wiener Neustadt1998. Am 1. November wurde schließlich – auf Anweisung des Kaisers – die neue Kirche „ad honorem Josephi1999“ „et Mariae de monte Carmel“ von Hofburgpfarrer Prälat Dr. Laurenz Mayer geweiht. Am Allerseelentag, dem 2. November, weilte der Kaiser vormittags in Begleitung seines Generaladjutanten Eduard Graf Paar einer Totenmesse für seinen Sohn bei, die Prälat Mayer und Hofkaplan Dr. Koloman Belopotoczky zelebrierten. Der Kaiser, der um 9 Uhr „Ganz geheim“ in Mayerling angekommen war, wurde vom Generaldirektor der Familienfonde, Regierungsrat Geiter, Hofsekretär Schemfil, Baumeister Schmalzhofer, Bauleiter Schmidt, dem Kloster-Spiritual Baron Grimmenstein und den beim Bau tätigen Meistern der verschiedenen Handwerke vor der Kirche empfangen. Die Kirche selbst war schwarz drapiert. Nachfolgend ließ sich der Kaiser von Schmalzhofer, Schemfil, Geiter und Mayer über den Baustand informieren, besichtigte jede Zelle und traf im Betchor anschließend auf die dort versammelten Schwestern. Über den anschließenden Rundgang durchs Kloster schrieb er am 3. November 1889 an seine „Seelenfreundin“, Katharina Schratt: „Das Kloster ist gut ausgefallen und die Kapelle ist wirklich sehr hübsch (...) Ich hörte zunächst die Messe in der Kapelle und besichtigte dann das Kloster und alle Nebengebäude. Die Nonnen sind zufrieden und ihre Zellen mit der unendlich einfachen ärmlichen Einrichtung haben eine freundliche Aussicht in die Gegend und gute Luft. (...) In jeder Zelle und auf dem Speisetisch der Nonnen steht ein Totenkopf. Dabei sehen die Klosterfrauen sehr zufrieden aus und beten werden sie viel, so daß die Absicht meiner Stiftung erfüllt werden wird.2000“ Von den Ordensfrauen hatte sich
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Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 1996 HHStaA Wien, GDPFF 9/1 f170 1997 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 1998 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 1999 Inschrift im inneren der Kirche, Text aus dem rechten sowie linken Feld 2000 Den gesamten Text bei Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968: „...Gestern war ich in Maierling und kam befriedigt, wenn auch traurig zurück. Das Kloster ist gut ausgefallen und die Kapelle ist wirklich sehr hübsch. Über dem Ganzen ruht in der freundlichen, beim gestrigen schönen Wetter besonders hübschen Gegend, ein wohltuender beruhigender Frieden. Ich hörte zunächst die Messe in der Kapelle und besichtigte dann das Kloster und alle Nebengebäude. Die Nonnen sind zufrieden und ihre Zellen mit der unendlich einfachen ärmlichen Einrichtung haben eine freundliche Aussicht in die Gegend und gute Luft. Es sind auch einige junge, hübsche Novizinnen da. Welcher Entschluß, sich für das ganze Leben in diese strengen Klostermauern zu begraben. In jeder Zelle und auf dem Speisetisch der Nonnen steht ein Totenkopf. Dabei sehen die Klosterfrauen sehr zufrieden aus und beten werden sie viel, so daß die Absicht meiner Stiftung erfüllt werden wird...“ 1995
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der Monarch zuvor mit von Tränen erstickter Stimme verabschiedet: „Ich kann Ihnen Allen nicht genug empfehlen für meinen armen Rudolf zu beten.2001“ Der Kaiser verließ nun das Kloster und ging zu Fuß in die Villa Leiningen, besichtigte dort alle Räume und schritt dann zum Asyl hinüber, dass sich Franz Josef ebenfalls ausführlich zeigen ließ. Der Kaiser verabschiedete sich schließlich von den Versammelten mit den Worten „Meine Herren, ich bin sehr befriedigt, der Bau ist sehr schön geworden.2002“ Noch war Mayerling jedoch eine große Baustelle – die Schwestern waren damit beschäftigt, die Zellen so gut es ging einzurichten und in der Kirche verdeckten Vorhänge die leeren Wände, die erst im Frühjahr bemalt werden konnten. Der Schlussstein wurde am 31. Oktober nachmittags im Rahmen einer kleinen Feierstunde in Anwesenheit der Herren Geiter, Grimmenstein, Schemfil, Schmalzhofer und Schmidt gesetzt. An diesem Tag wurde auch erstmals die Glocke im Turm der neuen Kirche geläutet. Trotz Baustelle: am 21. November wurden die ersten beiden Kandidatinen in Mayerling eingekleidet. Die definitive Übergabe des Hauses an die Priorin konnte am 15. Dezember 1889 durch Regierungsrat Dr. Geiter und Hofsekretär Schemfil vollzogen werden2003. Im August 1890 erhält das Kloster im Bereich des neuen Kuhstalles2004, dessen Lage jedoch nicht zu eruieren war, eine neue Eisgrube, für die der Badener Stadtbaumeister Anton Breyer verantwortlich zeichnete. Im Herbst 1890 war dann der Klosterneubau so weit vollendet, dass am 4. Oktober – dem Namenstag des Kaisers – die feierliche Schließung der „großen päpstlichen Klausur vorgenommen werden konnte2005. Der Wiener Historienmaler Josef Kastner begann am 29. Mai 1891 mit der Gestaltung des Altargemäldes, das im Herbst vollendet war. Am 20. Oktober 1891 fand von sieben bis zehn Uhr die feierliche Konsekration der Kirche durch Kardinal Dr. Gruscha, mehrerer Prälaten, Domherren, dem Spiritual von Baumgarten sowie des Dechanten von Baden, aller Pfarrer der Umgebung, dem Abt und dem Prior sowie vieler Patres aus Heiligenkreuz in Anwesenheit des Kaisers statt2006. Am Vorabend nahm die Priorin an der Sakristeipforte die Reliquien für den Altar entgegen2007. Damit war der äußerliche Schlußstein zur Vollendung des Karmels von Mayerling gelegt. „Nachdem die physische Übergabe des Gebäudes mit Kapelle sowie der Grundstücke im Ausmasse von 9 ½ Joch bereits stattgefunden hat“, stellte der Kaiser am 7. August 1890 „zur Sicherstellung der Klosterbedürfnisse nun auch ein Kapital von hundertvierzigtausend Gulden in einheitlicher Notenrente aus Meiner Privatkassa“ als Stiftungskapital zur Verfügung, das „in den Depositen aufzubewahren und die davon halbjährlich fällig werdenden Interessen der jeweiligen Priorin des Klosters in Vorhineinraten“ auszufolgen sei2008. Das Stiftungsgeld sollte verwendet werden für den Unterhalt der Ordensschwestern, als Gehalt für den amtierenden Priester und des erforderlichen KlosterDienstpersonals, für die Instandhaltung der Gebäude, die Entrichtung der Feuerversicherung sowie aller Steuern, die Neuanschaffung von liturgischen Geräten sowie Wagen und Pferden2009. Neben der Kaiserstiftung wurde am 2. November 1897 ein zweiter Stiftungsbrief für Mayerling gezeichnet – jener des Justizbeamten Dr. Franz Mießriegler und seiner „Fräulein Maria Freiin von Vetsera-Armenstiftung“. Sie sah vor, jeweils am Todestag der Baroness vier arme, unbescholtene Frauen mit sechs Golddukaten „auf die Hand“ zu unterstützen. Wie oft die Zinsen des Stiftungskapitals von 4.000 Goldgulden ausgezahlt wurde, ist nicht bekannt. Eine dritte Stiftung wurde in Wien festgelegt: An jedem Tag des Jahres und für ewige Zeiten sei eine heilige Seelenmesse für den Kronprinzen in St. Stefan zu lesen2010. Die „Kaiser Franz Joseph-Stiftung des Klosters der Karmelitinnen zu Mayerling“ für den Unterhalt von zehn Schwestern mit jährlich 5.000 Gulden als Zinsertrag plus 700 Gulden Heizungsgeld, das ab 1890 gewährt wurde, scheint schon bald nicht mehr ausreichend gewesen zu sein. Bereits im April 1891 wurde der Stiftungsbetrag um 40.000 Gulden auf 180.000 Gulden erhöht. Und dennoch reichte es meist an allen Ecken und Enden nicht aus. „Man hielt uns der Stiftungen wegen für sehr reich, wenn es nicht so wäre, könnten wie nicht zwei Stiftungen auf einmal
2001
Klosterkronik I, 31, zitiert bei Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 zitiert nach „Vaterland“, Wien, 03.11.1889 2003 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 2004 In dem Stall standen drei Kühe und ein Pferd. Als sich die Ökonomie nicht mehr lohnte, wurden im März 1932 die landwirtschaftlich genutzten Flächen an die Hartmannschwestern verpachtet, so Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 2005 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 2006 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 2007 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 2008 HHStaA Wien, GDPFF 9/2, Abschrift des „Stiftbriefes“ zu 3435 ex 1912 2009 HHStaA Wien, GDPFF 9/2, Abschrift des „Stiftbriefes“ zu 3435 ex 1912 2010 HHStaA Wien, OMaA 421 III/B 62 III/108 ad 523/1889; Stiftungsbrief vom 11.03.1889 2002
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machen. So wurden die Almosen immer weniger2011.“ Die Erfahrung der ersten beiden Jahre bewies den Schwestern, dass „die Ahnung vieler Leiden in Mayerling vollständig begründet war. Mayerling wird wohl immer eine Kreuzstation bleiben.“ Mit Kaufvertrag vom 16. Juni 1891 verkaufte der Hof an das Stift Heiligenkreuz weitere Grundstücke östlich des Preisfelder Weges für 2.360 Gulden. Bis auf das Grundstück Nr. 9, die Brunnstube für die Wasserversorgung des Karmels – im Volksmund „Wasserschlössel“ genannt – , hatte der Wiener Hof damit alle Grundstücke in Mayerling abgestoßen. Zum Vermögen der Kaiserstiftung gehörten diverse Bau- und Grundparzellen, das Klostergebäude und die Kapelle, „in welche den Gläubigen für immerwährende Zeiten der freie Eintritt gewahrt bleiben muss“, das „Rechte zum Bezug des Wasser aus dem auf der Wiesenparzelle 109 befindlichen Reservoir“ und der Klosterstiftungsfond von 180.000 Gulden. Zweck der Stiftung sollte es sein, „dem Orden der Karmelitinnen in dem in Mayerling gegründeten Kloster eine bleibende Heimstätte zu schaffen“, so dass diese „nach den Regeln ihres Ordens zu leben“ und „insbesondere (...) alltäglich für das Seelenheil Weiland des Kronprinzen Erzherzog Rudolph zu beten“ haben. Am 29. Februar 1904 sieht sich der Kaiser nach einer Zinssenkung (die Verzinsung des Stiftungskapitals war nach einem Gesetz vom 16. Februar 1903 von 4,2 auf 4 Prozent herabgesetzt worden) gezwungen, das Kapital der Stiftung um 18.000 Kronen, zahlbar in Wertpapieren, zu erhöhen. Kaiser Franz Joseph besuchte acht Mal die Schwestern in Mayerling2012, Kaiserin Elisabeth begleitete ihn dabei vier Mal2013. Nach dem Tode der Kaiserin kam Franz Josef nicht mehr nach Mayerling. Ebenfalls acht Mal besuchte Stephanie den Ort, um des tragischen Todes ihres Gatten zu gedenken2014. Darüber hinaus besuchten zahlreiche Bischöfe, Ordensleute, Adelige und andere Besucher das Kloster, von denen einige auch ohne Sondergenehmigung des Erzbischofs von Wien die Klausur betreten durften2015.
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Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 2012 alleinige Besuche: 02.11.1889, 02.11.1890, 02.11.1892, 02.04.1898 2013 Besuche des Kaiserpaares: 30.01.1890, 29.05.1891, 01.06.1892, 17.06.1894 2014 Stephanie: 26.06.1890, 21.08.1890, 02.11.1891, 04.11.1892, 02.11.1893, 30.01.184, 02.11.1896, 02.11.1897 2015 Die Priorin durfte dem Klosterarzt, dem Beichtvater, dem Dienstpersonal, dem Klostervater, Handwerkern, den für Leichfeiern benötigten Personen wie Ministranten oder Leichenträgern, den Postulantinnen, dem Kaiserpaar und seinen Kindern, sowie allen österreichischen Erzherzögen und Erzherzoginnen mit Kindern und Ehepartnern die Klausur öffnen. 369
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Kapitel 12 Das Sühnekloster
4. Das Asyl und andere Gebäude
„Das Vaterherz sehnte sich, die Schuld des geliebten Kindes zu sühnen und der liebe Gott hat das Opfer nicht verschmäht.“
Chronik des Karmel St. Josef Wien 1889
Nicht nur die Gebäude des ehemaligen Jagdschlosses wurden nach den dramatischen Ereignissen umgestaltet, auch außerhalb des Areals fanden zahlreiche Baumaßnahmen statt. Die ehemals Leinig´sche Villa an der Bezirksstraße, im Volksmund „Coburg-Schlössel“ genannt, wurde 1891 abgetragen, wie Judtmann aus der Kündigung der Feuerversicherung schloss2016. Im Mayerlinghof entstand ein Pfründnerheim als „Asyl für erwerbsunfähige Jäger und Forstarbeiter, vornehmlich aus dem Wienerwald“, das am 1. Juni 1890 eröffnet wurde. Für die 12 Stiftungsplätze – analog den 12 Aposteln2017 - standen 27 Bewerber zur Diskussion, 20 von ihnen aus dem Wienerwald. Am 16. Mai 1890 trug Baron Friedrich Freiherr von Mayr2018 als Generaldirektor der Privat- und Familienfonde erstmals dem Kaiser vor, welche Jäger – zunächst waren es nur zehn – in das Greisenasyl aufgenommen werden sollte: Josef Prohaska (66), Johann Burggasser (71), Leopold Muck (65), Josef Zwickel (56), Anton Haller (60), Josef Nagl (74), Johann Reiter (73), Sebastian Hofstetter (75), Matthias Dies (75) und Ferdinand Mayerhofer (59)2019.
2016 Villa, Kloster, Asyl und das sogenannte Stiftungshaus waren für jährlich 2047,40 Gulden bei der k.k. privil. Versicherungsanstalt österreichischer Phönix in Wien versichert. 2017 Priorin M. Manfreda gegenüber dem Verfasser, 01. Juni 1990 2018 Hofconcipist Baron Friedrich Freiherr von Mayr, geboren 13.07.1860, gestorben 07.06.1892 in Pirano; verheiratet mit Josefine Hackenberg; beigesetzt auf dem Ortsfriedhof von Purkersdorf/NÖ; 1892 Verleihung des Ritterkreuzes des päpstlichen Pinsordens 2019 HHStaA, Separatakten aus 1890
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1890 erhielt das Asyl auch eine direkte Telefonverbindung zum Postamt Alland. Den Telegraphendienst versieht seit Oktober die Post- und Telegraphen-Expeditorin Wilhelmine Kaiser. Da die Telefonleitung des Wirtschaftshofes jedoch bis August 1891 nur zwölf- bis fünfzehnmal verwendet wurde und dies ausschließlich tagsüber und nie nach 18 Uhr2020, erfolgte schon bald die Auflassung. 1891 wird durch die Bezirkshauptmannschaft Baden bei Hofe angefragt, ob für den Bau einer Lokalbahn über Traiskirchen und Rauhenstein nach Klausen-Leopoldsdorf für eine 180 Meter lange Station samt Hofwartehalle nahe dem Mayerlinghof kostenfrei Bauland zur Verfügung stünde. Die Generaldirektion der Privat- und Familienfonde erklärte sich grundsätzlich bereit, Grundstücke zur Verfügung zu stellen, doch kam das Projekt nie zur Ausführung. 1893 wurde dann der alte Preisfelder Weg2021 durch das Niederösterreichische Landesbauamt auf einer Länge von knapp 2 Kilometern als neue Bezirksstraße von Mayerling in Richtung Heiligenkreuz ausgebaut und ab der Marke von 760 Metern mit Serpentinen auf einer neuen, 400 Meter langen Trasse unterhalb des Marienhofes entschärft. Die Einmündung auf die bestehende Straße Alland – Heiligenkreuz wurde zudem in Richtung Stift verlegt2022. Judtmann zitiert hierzu aus einem Protokoll, „daß die Straße lediglich im Interesse des sicheren und bequemen Verkehrs Seiner Majestät des Kaisers und der Allerhöchsten Herrschaften aus Landesmitteln erbaut wurde“. Ebenfalls 1893 stellte sich heraus, dass das Forstarbeiter-Asyl im Meiereihof aus wirtschaftlichen Gründen nicht unter der Obhut der kaiserlichen Privat- und Familienfonde zu halten sei. Am 26. Juni 1893 legte der Generaldirektor der Privat- und Familienfonde, Emil Freiherr von Chertek, dem Kaiser dar, dass die jährlichen Kosten von bislang 12.000 Gulden bereits auf 15.000 Gulden angewachsen seien. Der Kaiser pflichtete dem Vorschlag bei, die Führung des Greisenasyls an die Kongregation der Schwestern vom 3. Orden des Heiligen Franz von Assisi „Von der christlichen Liebe“, die sogenannten „Hartmannschwestern2023“, abzutreten. Am 1. Juli 1893 wurde das Grundstück sowie der gesamte Besitz, darunter alle Haus- und Gartengeräte, 3 Kühe, 2 Kälber, 2 Frischlinge und ein Kapital von 115.000 Gulden in 4,2-prozentiger österreichischer Notenrente und ein Barbetrag von 28.000 Gulden für aktuelle Auslagen, dem Wiener Orden übergeben2024. Weihbischof Angerer nahm am 30. Mai 1895 die Segnung des Hauses und die Weihe der Kapelle vor. Doch bald nach dieser Übergabe kam es unter den Juden Wiens zu Unstimmigkeiten über die Vergabe der Stiftungsplätze. Die Kultusgemeinde monierte 1898, dass die Zeitungsausschreibungen antisemitisch seien, da sie Ar-
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Lt. Zwerger, HHStaA Wien, GDPFF 9/1 No 3798 vom 14.08.1891 Die alte Trassenführung des Preinsfelder Weges ist östlich des Marienhofes als Hohlweg im Wald heute noch sichtbar. 2022 HHStaA Wien, GDPFF 9/2; Plan von 02.1893 2023 Kongegation der Schwestern vom III. Orden des heiligen Franziskus, genannt „Von der Christlichen Liebe“, seit 1865 nach dem Standort des Mutterhauses mit Sitz der Ordenleitung und des Noviziates an der Hartmanngasse 7-11- in 1050 Wien auch „Hartmannschwestern“ genannt. Der Wiener Erzbischof Kardinal Dr. Joseph Othmar von Rauscher konstituierte am 10, Mai 1857 in Wien die Gemeinschaft mit einer Gruppe von 95 Krankenschwestern mit christlichem Lebensideal. Heute hat der Orden fünf Niederlassungen in Wien, je eine in Mayerling, Wiener Neustadt und Kirchberg sowie in Polen, Argentinien und Paraguay. 2024 HHStaA Wien, GDPFF 9/2 ad No 2751/1893 2021
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beitern des mosaischen Glaubens die Aufnahme verwehrten2025. So wurden die Voraussetzung für die Aufnahme in das Asyl abgeändert: Kandidaten mussten die österreichische oder ungarische Staatsbürgerschaft haben, eine frühere Verwendung als Jäger oder Forstarbeiter insbesondere im Wienerwald nachweisen können, erwerbsunfähig, mittellos sowie ledig, verwitwet und kinderlos sein; ein tadelloses Vorleben war ebenfalls Pflicht2026. Jüdische Mitbürger konnten sich jedoch noch immer nicht bewerben und weiterhin musste der Taufschein vorgelegt werden, weil „Israeliten wegen des katholischen Charakters des Asyls nicht aufgenommen werden können“. Die zunächst drei Ordenschwestern, darunter Oberin Mutter M. Gonzaga Zimpel, betreuten das Asyl gewissenhaft und fleißig, so dass es sich wirtschaftlich schnell trug und zeitweise mehr als 30 Nonnen das Altenheim und die Landwirtschaft betreuen mussten. Seit 1993 vermieten die Hartmannschwestern Zimmer in dem 1928 umgebauten, ehemaligen Stallgebäude des kronprinzlichen Jagdschlosses. Im Jahre 1990 lebten im unteren Kloster 16 Schwestern, die älteste mit 91 Jahren. Die Kapelle im Kloster Mayerling 5 wurde in den Jahren 1894/95 von Baumeister Professor Ludwig Zatzka2027 erbaut und vom Wiener Hofmaler Josef Kott sowie dem Secessionisten Hans Zatzka2028 mit Fresken und Bildern ausgestattet. Das Alterbild in der Kapelle des Klosters zeigt die Patronen des Kaiserpaares, den Heiligen Franz und die Heilige Elisabeth, ein Kirchenmodell in Händen haltend. Die Kapelle wurde 1895 benediziert2029. Heute befindet sich in der Kapelle noch ein Bild der selig gesprochenen Franziskanerin von der christlichen Liebe, Schwester Maria Restituta Kafka2030. Zum 100-Jahr-Jubiläum der Kapelle stifteten die Gemeinde Alland und der Ortsverschönerungsverein ein elektrisches Geläut – das händische Läuten war für die alten Schwestern zu beschwerlich geworden2031. Die alte Poststation von Josef Gottwald wurde im Laufe der Jahre durch ihre Besitzer Vasak, Grund, und Knotzer mehrfach umgestaltet2032. Im Jahr 2001 stockte Familie Dujmovic, die am 3. Mai 1964 das leerstehende, heruntergekommene Haus von den Hartmannschwestern kaufte, das Restaurant „Zum alten Jagdschloss“ um eine Etage auf und baute es zu einem Hotel um. Seit Herbst 1993 gab es hier eine kleine Ausstellung mit Bildern zur Geliebten des Kronprinzen im sogenannten „Vetsera-Stüberl“, die jedoch im Rahmen der Hoteleröffnung 2004 wieder zurückgebaut wurde.
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HHStaA Wien, GDPFF 9/2, Beschwerde vom 31.10.1898 HHStaA Wien, GDPFF 9/2; Ausschreibung vom 04.05.1900 2027 Stadtrat Ludwig Zatzka, Referenten für Kirchenbauangelegenheiten im Wiener Stadtrat, Architekt u.a. der 1896 bis 1898 errichteten Breitenseer Pfarrkirche in Wien 2028 Maler und Bildhauer Professor Zatzka, Hans (08.03.1859/Wien – 1945 oder 1949, Penzinger Friedhof); Bruder des Ludwig Zatzka; Student der Wiener Kunstakademie von 1877 bis 1882; weitere Werke: Wandgemälde hinter dem Hochaltar in der Baumgartner Pfarrkirche, Stirnwand-Fresken der Dr. Karl Lueger Kirche auf dem Wiener Zentralfriedhof, Hochaltarbild der Breitenseer Pfarrkirche St. Laurentius, Entwerfer zahlreicher populärer Wandbilddrucke (sogenannter „Schlafzimmerbilder“), so des „Elfenreigens“, der in großer Massenauflage von der Kunstanstalt May AG in Dresden produziert wurde. 2029 Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 2030 Schwester Maria Restituta (Helene Kafka), geboren 01.05.1894 in Hussovitz bei Brünn, Schswester des Dritten Ordens des heiligen Franziskus in Wien, ab 1919 OP-Schwester im Krankenhaus Mödling, am 18.02.1942 verhaftet und am 30.03.1943 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ hingerichtet. Der Seligsprechungsprozess wurde am 11.02.1988 durch Erzbischof Dr. Hans Hermann Groer in Wien gestartet. 2031 Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002 2032 Am 29.03.1890 kauft er die Bauparzelle Nr. ¼ für 200 Gulden vom Hof. 2026
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Kapitel 15 Das Sühnekloster
5. Der Karmel St. Josef bis zur Jahrtausendwende
„Mayerling wird wohl immer eine Kreuzstation bleiben.“
Chronik des Karmel St. Josef Wien 1889
Der Kaiser besuchte am Jahrestag der Tragödie, am 30. Januar 1890, ein weites Mal den Karmel – diesmal in Begleitung seiner Gattin, der Kaiserin, und der jüngsten Tochter, Erzherzogin Marie Valerie. „Die unglücklichen Eltern sowohl als die Erzherzogin waren tief ergriffen, aber dennoch gereichte es ihnen zu sanftem Troste, daß sie an dem schmerzlichen Jahrestag dem hl. Meßopfer an der selben Stelle beiwohnen konnten, wo Gott so schwer beleidigt worden war, und sie nun hoffen dürfen, dass durch die vielen Gebete, die fortan hier zum Herrn emporsteigen, ihrem beklagenwerthem Sohne Gottes Barmherzigkeit zugewendet wird.2033“ Die Stiftung des Kaisers finanzierte nicht nur das Dasein der Schwestern, sondern auch die Beschäftigung eines Priesters. Gerade in den ersten Jahren der Klostergründung befasst sich der Kaiser sogar mit dessen Einstellung bzw. Entlassung. So bittet der Spiritual Josef Freiherr von Grinnenstein am 10. Mai 1890 bei Hofe seines Amtes enthoben zu werden, da er nach Meinung des Kaisers zu jung für diese Berufung sei2034. Der Spiritual des Klosters erhielt ein Jahresgehalt von 600 Gulden, ein zusätzliches Verpflegungsgeld von 300 Gulden sowie eine freie Wohnung im Kloster. Mit diesem Einkommen lag er um 200 Gulden höher als ein einfacher Landpfarrer in Niederösterreich. Die Bitte der Priorin M. Euphrasia, 1901 dem Spiritual Giulio Cecconi2035 den Titel „Abt von St. Aegidius” zu verleihen und sein Gehalt dem eines Hofkaplans gleichzusetzen, lehnt der Kaiser ab. Cecconi bezog aus der vorherigen Stellung bei Erzherzog Carl Salvator aus der Erzherzog Rainer´schen Kasse bereits 1.200 Gulden Rente jährlich und verdiente so bereits 600 Gulden mehr als ein Pfarrer in Wien und 400 Kronen mehr als ein Hofkaplan der höchsten Gehaltsstufe.
2033
Klosterchronik I, 41, zitiert nach Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 HHStaA Wien, GDPFF 9/1 ex 1890, f.86 2035 Monsignore Giulio Cecconi, geb. 1848 in Pontremoli/Italien 2034
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Als Priester im Karmel sind darüber hinaus Johann Chudraschko, Michael Litterscheid2036 und Gerhard Litterscheid2037 namentlich verbürgt2038. Im Jahre 1898, nach der Attacke auf Kaiserin Elisabeth, ließ Kaiser Franz Josef das von seiner Gattin bei dem Schweizer Bildhauer Antonio Chiattone2039 aus Carrara-Marmor in Auftrag gegebene Rudolf-Denkmal, das am 22. April 1895 im Park ihrer Villa „Archilleion“ auf Korfu aufgestellt worden war, in den Garten des Greisenasyls nach Mayerling versetzen. Das aus einem zweistufigen Sockel, einem würfelförmigen Corpus mit halbplastischer Medaillonbüste, einem darüber sitzenden nacktem, beflügelten Genius und einer gebrochenen kannelierten Säule bestehende Mahl vereinte die Anklänge barocker Draperie mit dem Vergänglichkeitssymbol der zerstörten Säule2040. Unter dem Relief des Kronprinzen stand: „RUDOLFUS – Coronae – Princeps – Archidux – Austriae-Hungariae – Natus die 21 Augusti 1858 – Obiit 30 Januarii 18892041“. 1935 wurde das Denkmal von aus Mayerling wahrscheinlich in den Garten der Wiener Rudolfstiftung gebracht, wo sich seine Spur zunächst verliert. In den Jahren nach seiner Gründung finanzierte sich der Karmel in Mayerling mehr schlecht als recht aus den Zinsen der Kaiserstiftung. Doch immer öfter gingen Bettelbriefe an den Monarchen nach Wien, der immer seltener den angeforderten Summen zustimmte. 1911 wurden die Kaiserappartements und das Hoforatorium für 4.000 Kronen instandgesetzt und im März 1912 wurden die zum 10. September 1911 von der Priorin bei Hofe angemahnten defekten Stoffbespannungen an den Wänden des Kaiseroratoriums endlich ausgebessert. Kosten: 2045,28 Kronen. 1914 lehnte Franz Josef jedoch die dringend notwenige Neueindeckung der Kegelbahn ab. Sein Nachfolger, Kaiser Karl, versichert 1917 jedoch den Schwestern „stets Fürsorge und aufrichtige Gewogenheit“. Am 13. Dezember 1912 starb im Mayerlinger Karmel nach langer Krankheit Mutter M. Euphrasia von den hl. Fünf Wunden, die Stifterin der Klöster Baumgarten, Mayerling, Selo, und von Mayerling aus Wandorf in Ungarn und Aufkirchen in Bayern. So musste sie die harten Jahre des ersten Weltkrieges nicht mehr erleben. Schon drei Tage nach Beginn des Krieges mussten die Schwestern ihr Pferd abliefern. Hungersnot, Mangel an Brennmaterial im Winter sowie fehlende medizinische Versorgung machten es den Schwestern in Wien schon schwer genug – wie viel schlimmer muss die Lage in Mayerling gewesen sein? Dort gingen in der schweren Zeit des Weltkrieges zwischenzeitlich mindestens vier Dienstboten den Schwestern zur Hand. Kaiserin Zita zeigte sich ebenfalls gnädig, als sie am Karsamstag des Jahres 1918 ein der Klosterpforte zwei Säcke Mehl, einen Sack Grieß und einen Korb mit Feigen abgeben ließ2042. In den ersten 15 Jahren der Neugründung legten in Mayerling 21 Schwestern die ewige Profess – zwei davon wurden zu Errichtung neuer Klöster ausgesandt, eine trat aus dem Orden aus. Zwischen den Weltkriegen wurden acht weitere Schwestern zur ewigen Profess zugelassen. Die härtesten Jahre kamen auf den Karmel St. Josef in Mayerling nach Ende des ersten Weltkrieges zu. Das Haus Habsburg war als regierendes Kaiserhaus abgesetzt, der letzte Kaiser hatte das Land verlassen und die Stiftung zu Gunsten des Klosters gab es faktisch nicht mehr. Abgeschieden von Wien und dem Mutterkloster in Baumgarten 2036
Meldeakten Alland: Michael Litterscheid, angemeldet am 13.10.1936, geboren am 10.12.1880 in Köln, Priester aus Krefeld, abgemeldet am 18.11.1939 2037 Meldeakten Alland: Gerhard Litterscheid, angemeldet am 23.07.1937, geboren am 30.03.1910 in Düsseldorf, Priester, abgemeldet am 01.12.1937 2038 Meldeakten Alland: Johann Chudraschko, angemeldet am 24.05.1910, geboren 1877, Weltpriester aus Böhmen, gestorben 24.10.1910 2039 Antonio Chiattone (1856-1904) 2040 Berger, Günther in „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Katalog der 119. Sonderausstellung des Hist. Museums der Stadt Wien, 1989/90 2041 „Rudolf – Kronprinz, Österreich-Ungarischer Erzherzog, Geburtstag 21. August 1858, gestorben am 30.Januar 1889“ 2042 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 374
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mussten die Schwestern vor Ort um ihr Überleben kämpfen. „Sie haben noch viel mehr Entbehrung zu tragen, da es bei der so sehr isolierten Lage und den ihnen meist wenig geneigten Umwohnern ganz unglaubliche Kosten und Schwierigkeiten verursacht, das Unentbehrlichste herbeizuschaffen.2043“ Gerade in dieser Zeit schien es, als müssten die Karmelitinnen das Kloster aufgeben: „Die armen, ganz schutzlosen Schwestern leiden auch furchtbar unter der Angst vor der nächsten Zukunft, denn gerade Mayerling scheint am meisten gefährdet. Dazu die bittere Not an Lebensmitteln.2044“ Hinzu kam die Angst, als ehemals Kaiserliche Stiftung nun von antimonarchistischen Horden geplündert zu werden. Die Schwestern begannen also, ihre letzten Habseligkeiten zu verstecken, mauerten Wein, Petroleum und Fett im Keller ein und versteckten fortan Geschirr, Wäsche und Reliquien vor möglichen Übergriffen – darunter in einer Nische der Gruft verschiedene Statuen und die Weihnachtskrippe2045. Zum Glück verlief die Zwischenkriegszeit jedoch ohne Raub und Plünderung und unterbrochen von Besuchen des Erzbischofs Piffl 1921, des Bundeskanzlers Seipel 1924 und des Kardinals Innitzer 1933. Nach der Resignation der ersten Oberin Sr. M. Euphrasia Kaufmann 1905 waren ihr Sr. M. Franziska Aichinger, 1908 Sr. M. Theresia Welly, 1920 Sr. M. Theresia Seraphina Kaffer, 1936 Sr. M. Magdalena2046 gefolgt. Unter ihrem Priorat leben im April 1939 13 Chorschwestern, drei Laienschwestern sowie drei Novizinnen im Mayerlinger Kloster, von elf sind die weltliche Namen im Allander Meldebuch2047 festgehalten: Anna Schwal, Friedrika Ulbricht, Felicitas Plank, Maria Zöckling, Josefa Stöckler, Helena Suida, Maria Frederika Brach, Karolina Zwicker, Maria Linninger, Maria Buchenmeister und Franziska Imstädler2048. Zwei Jahre nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich drohte jedoch auch den Schwestern in Mayerling neuerliches Ungemacht. Der Karmel in Graz war bereits am 2. Mai 1940 aufgelöst worden, elf Schwestern kamen nach Mayerling und sechs fanden in Baumgarten Unterkunft2049. Nachdem man zunächst geglaubt hatte, dass in Mayerling alles ruhig bliebt, erschien am 14. September 1940 eine nationalsozialistische Kommission2050 im Kloster und verlangte Einsicht in die Baupläne. Am 15. wurde den Nonnen mitgeteilt, sie hätten auf Anordnung der Kreisleitung Baden das Haus innerhalb von 24 Stunden zu verlassen2051. Die Frist wurde jedoch bis zum 19. September verlängert – die Schwestern jedoch im Allander Melderegister „abgemeldet“. Nach harten Verhandlungen mit der Organisationsleitung der Umsiedlung in Wien war es der Mutter Oberin gelungen, die Kirche und die dazu gehörigen Räume, den Elisabethtrakt und das Gartengebäude weiter zu nutzen und auch die Bienenstöcke und den Gemüsegarten zu behalten2052. Die Freude der noch verbliebenen sieben Schwestern währte nicht lange, denn Anfang Januar 1945 wurde das Kloster bis auf die Kirche und die Sakristei komplett enteignet und die Schwestern mussten Mayerling verlassen und in anderen Klöstern um Aufnahme bitten. Allein Schwester
2043 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 2044 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 2045 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 2046 Mutter M. Magdalena Szczensny, geb. 1893 in Berlschnitz, Profess 1916 2047 Meldeunterlagen, in denen auch Mayerling erfasst ist, gibt es in Alland in Form eines Meldebuches erst seit 1898. 2048 Gemeinde Alland, städtisches Meldebuch 2049 Chronik des Karmel St. Josef, Wien 1889: Abschrift freundlichst zur Verfügung gestellt von Schwester Maria Veronika OCD, Wien 1993 2050 zur Kommission gehörten Kreisamtsleiter Vogel, Allands Bürgermeister und Zahnarzt Heinrich Dostal (im Amt 1938-1945 – gleichzeitig auch Bürgermeister der Gemeinde Raisenmarkt) , Gendarm Böck und Lagerführer Gerd Ochs 2051 Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2052 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
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Maria Magdalena und Schwester Maria Stanisla blieben in der Sakristei zurück, um das Kloster und die Kirche zumindest von außen zu bewachen. Die Kriegstage im April 1945 verbrachten sie im Keller des Klosters2053. In das weitgehend leere Klostergebäude zog Anfang Oktober 1940 der 33-jährige Gerd Ochs aus St. Veit an der Triesting ein. Als Führer eines Arbeitslagers war er für den Bau der ab 1938 projektierten „Außenring“Reichsautobahn zuständig2054. Das Arbeitslager des Reichsbautrupps der Organisation Todt befand sich im Garten des unteren Klosters in Mayerling 5, ein weiteres unter dem Namen „Leo Lipardi“ im Bereich der heutigen Tankstelle in Alland. Zur gleichen Zeit zogen die Rote-Kreuz-Schwestern Carolina Pigler (bis Dezember 1940) aus Stockerau, Lisbeth Schindler aus Baden und Maria Watschinger (bis April 1941) aus Bad Vöslau2055 in Mayerling Nr. 3, dem Karmelitinnenkloster, ein. Nach Judtmann sollen sie die während des Krieges dort einquartierten „Volksdeutschen“ aus Bessarabien betreuen2056; dies können wir jedoch wegen der kurzen Wohndauer nicht bestätigen. Wesentlich am 4. April 1945 wird das Areal der beiden Klöster bei den Kämpfen zur Westumfassung Wiens durch deutsche und russische Artillerie stark beschädigt. Die deutschen Truppen, vornehmlich Soldaten der 12. SSPanzer-Division „Hitlerjugend“ der 6. Panzer-Armee unter Sepp Dietrich, verschanzten sich im Wald um Alland, wo es wenige Tage nach der Besetzung Badens durch russische Truppen am 3. April zu erbitterten Kämpfen mit Truppenteilen der 6. russischen Garde-Panzerarmee kam2057. Die Straße durch das Helenental spielte beim Plan der Russen, Wien im Westen zu umfassen, eine wichtige Rolle: sie war sowohl für den Nachschub, als auch als Rückzugsweg der Deutschen von äußerster Wichtigkeit. Allerdings: Warum die zur Elite des Deuteschen Heeres zählende 12. SS Panzer Division „Hitlerjugend“ nicht das erbittert umkämpfte Gebiet um Berlin sicherte, sondern im Wienerwald festsaß und was es hier zu verteidigen gab, ist Historikern bis heute ein Rätsel … In 18 Kampftagen wurde Alland fast vollständig zerstört2058. Auch in Mayerling wurden Kriegsschäden beklagt2059. Schwerer schweren Artilleriebeschuss beschädigte die Karmelkirche und durch die zerschossenen Glasfenster regnet es herein. Auch das Dach wurde in Mitleidenschaft gezogen und jene Männer, die später neue Ziegel auflegen, sprachen wegen der Größe des Flickenteppichs gar vom „kleinen Dorf“. Die zerstörte Brücke über die Schwechat in Richtung Raisenmarkt wurde zunächst nur als hölzerne Ersatzbrücke wieder errichtet. Ein steinerner Neubau kann erst am 7. November 1953 geweiht werden und auch die Stifterfenster der St. Josefs-Kirche wurden erst Anfang der 50-er Jahre vom Bauamt der Erzdiözese restauriert. Im Kloster der Hartmannschwestern hatten sich nach dem russischen Einmarsch kurzfristig ukrainische Soldaten einquartiert, so daß die Hartmannschwestern für drei Wochen ins Gutenthal übersiedeln mussten.
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Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 Der insgesamt 38,243 km lange Autobahnbau wurde jedoch tatsächlich erst in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen und konnte 1982 abgeschlossen werden. Fertigstellung der Bauabschnitte von West nach Ost: 24.09.1971 Knoten Steinhäusel (A1) – Klausenleopoldsdorf (13,2 km), 07.10.1977 Klausenleopoldsdorf – Mayerling (4,01 km), 29.09.1982 Mayerling – Heiligenkreuz (linke Fahrspur; 5,43 km), 29.10.1982 Mayerling – Heiligenkreuz (rechte Fahrspur), 29.09.1982 Heiligenkreuz – Hinterbrühl (3.03 km), 24.10.1980 Hinterbrühl – Brunn/Gebirge (10,44 km), 19.12.1962 Brunn/Gebirge – Knoten Bösendorf (A2) (rechte Fahrspur, 2,11 km), 11.04.1968 Brunn/Gebirge – Knoten Vösendorf (linker Fahrstreifen). 2055 Gemeinde Alland, städtisches Meldebuch 2056 Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2057 Nach Rauchensteiner, Manfried: „Der Krieg in Österreich 1945“, Österreichischer Bundesverlag, 3. Auflage, Wien 1985, steht in Alland der linke Flügel des I. SS-Panzerkorps, der von der 12. SS-Panzerdivision und von Alarmeinheiten, darunter der I. Abteilung des Flak-Regiments 9, gebildet worden war. 2058 Nach Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002 war Alland mit 32 zerstörten Häusern die am schwersten durch Kampfhandlungen betroffene Gemeinde des Wienerwaldes. 2059 Aus den Tagesmeldungen der Heeresgruppe Süd vom 06.04.1945, zitiert bei Rauchensteiner, Manfred: „Der Krieg in Österreich 1945“, Österreichischer Bundesverlag, 3. Auflage, Wien 1985: „Die W Heiligenkreuz und bei Mayerling stehenden Sicherungstruppen wurden durch überlegenen Feind auf Ostrand Alland sowie Höhe N und S davon zurückgedrückt.“ 2054
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Aus der Nachkriegszeit mit ihren Entbehrungen, Mühen und Plagen ist sind nur wenig Informationen überliefert. Wir wissen jedoch, dass zu dieser Zeit einige der rund 160 Einrichtungsgegenstände, die vom ehemaligen Jagdschloss im Karmel verblieben, gegen Überlassung von Lebensmitteln neue Besitzer fanden. Am 28. August 1945 kommen die ersten acht Karmelitinnen aus Wien-Baumgarten, darunter sechs aus dem Prager Karmel geflohene Schwestern, nach Mayerling zurück. Im Frühjahr 1946 folgen acht weitere Schwestern aus Graz. Unter Priorin Mutter M. Regina Forsters wird am 3. Mai 1946 in dem aufgelassenen, verwüsteten Kloster wieder eine Klausur eingerichtet2060. In der wechselvollen Geschichte der zweiten Republik wird versucht, durch Bienen-, Rind- und Hühnerzucht, Kerzenproduktion oder das Ausbessern von Messgewändern aus Heiligenkreuz und Raisenmarkt, wirtschaftlich zu arbeiten und das Kloster auch ohne große Spenden zu erhalten2061. Im Jahre 1951 verlässt der letzte Pächter das Forsthaus oberhalb des Klosters und am 13. Oktober kann das stiftliche Gebäude wieder der Forstverwaltung übergeben werden2062. Schon in den ersten Jahren nach dem Krieg wurden in einem nicht genutzten Gebäudeteil schlichte Fremdenzimmer offeriert. „Dies reichte bald für die lebhafte Nachfrage bei weitem nicht aus.2063“ 1956 wird unter dem Allander Bürgermeister Rudolf Halm (Volksschuldirektor/SPÖ) nach den Plänen von Diplom-Architekt Hans (Karl?) Högler, dem Bruders der 1985 verstorbenen Priorin M. Johanna, am Nordtor des alten Schlosses die einstige Gärtnerwohnung im Elisabethtrakt zu einer Fremdenpension umgebaut2064, die bis in die 80-er Jahre Gäste aus nah und fern beherbergt. Die Kosten wurden größtenteils von Wohltätern und durch ein Darlehen gedeckt. Auf dieser Basis sollte es den Schwestern möglich werden, ein finanzielles Einkommen zu erwirtschaften2065. Um die Baukosten aufbringen zu können, gestattete der Wiener Erzbischof, Kardinal Theodor Innitzer, einem Wiener Fotografen für einen Spendenaufruf im „Wiener Kirchenblatt“ am 12. April 1956 Aufnahmen im Karmel anzufertigen2066. Der Journalist sah die Schwestern bei seinem Besuch nie von Angesicht zu Angesicht. Bei seinem Klausurrundgang begleitete ihn eine Schwester, die ein Glöckchen läutete – als Zeichen, den Schleier herunterzulassen und vom Gang wegzutreten. Noch heute ist der Besuch im Kloster für den Journalisten seine ungewöhnlichste Arbeit. Der Karmel, so sagt er, sei für ihn eine Welt voller Frieden und Ausgeglichenheit. Die Spendenaktion rund um die Reportage war so erfolgreich, dass umgehend mit dem Bau der Pension begonnen werden konnte – auch Rudolfs Tochter Elisabeth spendete auf Grund der Berichterstattung 10.000 Schilling2067. Am 23. April 1958 besichtigte Kardinal Tisserant anlässlich seiner Ehrenpromotion in Wien das Stift Heiligenkreuz und stattet auch den Schwestern in Mayerling einen kurzen Besuch ab2068. So friedlich und ausgeglichen war das Leben der Schwestern jedoch selten. Noch in den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es mit der Gemeinde Alland Probleme wegen des geplanten Museumsbaues und schließlich wegen der im Stil der k.u.k. Zeit errichteten Autobahnraststation, betrieben von der EUREST2069, in der ein kleines Monar2060
Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948 Die Gebäude Mayerling 3, 4 und 5 stehen als Eigentum der Kirche seit 10923 es lege unter Denkmalschutz. 2062 „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 2063 Schneider, Oda: „Gnade über Mayerling“, Mayerling 1957 2064 Die vorgelegten Pläne werden am 19.06.1956 vom damaligen SPÖ-Bürgermeister, dem Volksschullehrer Rudolf Halm (amtiert 1952-1989) in Alland genehmigt 2065 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 2066 Neben dem Besuch von Dr. Martin Riedlinger/Wien sind auch Besuche von Dr. Fritz Judtmann/Wien und Ingenieur Harand/Pottendorf in der Klausur verbürgt – die Letztgenannten jedoch ohne Dispens der Diözese. Darüber hinaus haben nur Priester, Ärzte und Handwerker sowie die Bediensteten des Karmel (Gärtner, Zugehfrau etc.) Zutritt in diesen Bereich. 2067 Freundliche Mitteilung von Dr. Martin Riedlinger an den Verfasser, Wien, 05.09.2004 2068 „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965 2069 „Restop Landgut Alland“, 1992 an der neu geschaffenen Ausfahrt Alland eröffnet 2061
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chie-Museum mit „Kaiserturm“, „Sissyturm“ und „Jägerstube“ ausgebaut wurde. Folglich mussten die Schwestern Besucherrückgänge verzeichnen. Und auch mit den Nachbarn, insbesondere den Betreibern des Hotels im einstigen „Marienhofes“, gab es wegen der Wasserentnahmerechte immer wieder Probleme – seit 1971 erhält das Hotel und Restaurant oberhalb des Karmels Wasser aus der Quelle des Klosters, dem sogenannten „Wasserschlössel“ am Preinsfelder Weg. Das Erdbeben der Stärke sieben, das am 16. April 1972 die Region des Wienerwaldes erschüttert und Risse am Triumphbogen der Kirche in Raisenmarkt hinterlässt, beschert dem Karmel keine bekannten größeren Schäden. Am 8. April 1972 brennt der Dachstuhl des barocke Teepavillons ab, nachdem Kinder dort mit Feuer gespielt hatten2070. Um weitere Schäden für die Ausmalung des Innenraumes zu verhindern, wird noch im gleichen Jahr ein neues Holzschindeldach aufgesetzt2071. 1989 wurde das nicht mehr den Übernachtungsgäste angebotene Gästehaus des Karmels Priesterstudenten zur Verfügung gestellt. Seit 1988 bestand in Mayerling das „Collegium Sanctissimae Trinitatis“, ein Studienhaus des Oratoriums des hl. Philipp Neri. Untergebracht war das Studienhaus zunächst im Erholungsheim der Franziskanerinnen. Als jedoch die Zahl der Studenten die 20 überschritt – zeitweise waren es bis zu 35 junge Männer – wurde auf die Unterbringung im einstigen Gästehaus des Karmels zurückgegriffen. 1992 wurde das Studienhaus infolge einer Neuorientierung aufgelöst: ein Teil der Studenten übersiedelte nach Maria Lanzendorf in das dortige Oratorium, andere Studenten suchten individuelle Wege und der Großteil ging gemeinsam mit dem betreuenden Pater Mag. Werner Schmid CPPS2072 und Dr. Heribert Bastel nach Kleinhain bei St. Pölten, wo die am 19. März 1995 von Diözesanbischof Professor Dr. Kurt Krenn kanonisch errichtete „Gemeinschaft vom heiligen Josef“ als öffentlicher Verein zur „Förderung und Formung geistlicher Berufe“ entstand2073. Im Jahre 1990 lebten im Karmel Mayerling 14 Nonnen, fünf von ihnen waren über 80 Jahre; die jüngste Schwester, die am 1. Juli des Jahres eingekleidet wurde, war 23 Jahre alt. Im Kloster der Franziskanerinnen lebten 16 Schwestern2074, die Älteste mit 91 Jahren2075. Die Karmelitinnen finanzieren heute das Kloster in Mayerling durch Eintritt in die Kapelle, Souvenirverkauf und andere Arbeiten, die in der Klausur möglich sind. Dass eine Unterstützung aus der Privatschatulle des Kaisers irgendwann nicht mehr wahrscheinlich war, konnte zur Zeit der Abfassung des Stiftungsbriefes niemand ahnen. Viel wahrscheinlich schien die Auflösung des „CONVENTUS S. JOS. MAYERLINGENS. M. M. CARMEL. DISC.“, so dass der Stifterbrief verfügte: „Für den Fall der Auflösung (...) wird (...) Franz Joseph der Erste oder Allerhöchst dessen Nachfolger auf dem Throne (...) einen anderen weiblichen Orden bezeichnen, welcher in dem Kloster in Mayerling (...) Unterkunft und Unterhalt zu finden haben wird.2076“
2070 Fluck, Franz von: „Der ausgebrannte Frühstückspavillon in Mayerling“, Aquarell 1972; Niederösterreichische Landesbibliothek, Signatur 9.907 2071 Information von Gloria Dujmovic, Mayerling 14.08.1991 2072 Schmid, ein enger Vertrauter des St. Pöltener Bischofs, wurde im Juni 2004 nach einem Skandal um homosexuelle Übergriffe im St. Pöltener Priesterseminar zu dessen neuem Regens ernannt, jedoch im März 2005 vom neuen Bischof von St. Pölten, DDr. Klaus Küng, wieder abgesetzt. Der Vatikan schloss am 12. August 2004 das St. Pöltener Seminar, um nach dem Sexskandsal einen Neuanfang in der Diözese zu schaffen. Nach Medienberichten gilt der im Jahre 2004 62-jährige Schmid als „erzkonservativ“ (Gerhard Hofer, „Priesterseminar: Leiter gilt als erzkonservativ“ in „Die Presse“, Wien 07.07.2004). Schmid ist Moderator der "Gemeinschaft vom heiligen Josef" in Kleinhain. 2073 Kaplan Dr. Josef Spindelböck an den Verfasser, St. Pölten 26.09.2002. 2074 Im Jahre 1997 mussten anlässlich des Hochwassers vom 4. bis 7. Juli die 15 noch lebenden Schwestern des unteren Klosters von den Behörden evakuiert werden. 2075 Die Seelsorge im Kloster der Franziskanerinnen hat Pater Franz Gulyás SVD inne (2002) 2076 HHStaA Wien, GDPFF 9/2, Abschrift des „Stiftbriefes“ zu 3435 ex 1912
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Kapitel 12 Das Sühnekloster
6. Die Kirchen in Mayerling und ihre Kunstwerke
„ad honorem Josephi et Mariae de monte Carmel“
Inschrift des Altargemäldes der Kirche zum Heiligen Joseph Mayerling, 1891
Die Kirche des Karmel Mayerling wurde von Heinrich Schemfil und Josef Schmalzhofer im neugotischen Stil erbaut und bildet im Grundriss ein Rechteck von 7,30 x 14 Meter, an das sich gradlinig das eine Stufe höher liegende Presbyterium2077 anschließt. Es verbindet durch vier vergitterte Fenster in der Altarwand den anschließenden Betchor der Schwestern mit der Kirche bzw. rechts und links die Kirche mit dem Klausurbereich. Zwei Säulenreihen teilen das Längsschiff in einen breiten freistehenden Mittelteil und zwei schmälere Seitenteile, in denen je vier Kirchenbänke stehen. Der Besucher betritt durch das Säulenportal zunächst einen kleinen, durch ein Gitter abgeteilten Vorraum. Dort führt auf der linken, der Evangelienseite, eine eiserne Wendeltreppe auf die Empore aus Heidsheimer Stein. Rechts des Presbyteriums befindet sich im vorderen Teil der Zugang zur Sakristei. Die sechs Säulen aus hellgrauem griechischem Marmor ruhen auf viereckigen, 80 Zentimeter hohen Sockeln. Aus den Pfeilerschäften schwingen sich je vier Dreiviertelsäulen empor, die sich in den Rippen des Gewölbes verlieren. Von Säule zu Säule ranken Blumenornamente. Das Rippenwerk schließt in der Mitte des Gewölbes mit Schlusssteinen ab; der Schlussstein im Presbyterium zeigt das Lamm mit den sieben Siegeln. Die Wände sind zwei Meter hoch mit verzierter Holztäfelung verkleidet. An der Giebelseite der Kirche ist auf der rechten, der Epistelseite eine Marmortafel zur Erinnerung an den Bau im Jahre 1889 angebracht. Der Hochaltar wurde auf Wunsch des Kaisers unmittelbar an der Unglücksstelle errichtet. Aus Marmor gearbeitet ist er in Tischform im neugotischen Stil der Kirche gehalten und über zwei Steinstufen zu erreichen. Die Mensa ruht rückseitig auf einem Marmoruntersatz und wird an der Front von vier Säulen getragen. In den ausgemeißelten, von zierlichen Filialen gekrönten Nischen des Altaraufsatzes stehen die vier Evangelisten, jeder ihr Symbol und eine Evangelienrolle in Händen haltend. Auf Marmorpfeilern halten Engel an den Seiten Spruchbänder mit den Worten „Altare privilegiatum“. Der Tabernakel ist in Form und Ausführung dem Hochaltar angepasst: Die Gold überzogenen Türen tragen symbolische Figuren in Emailarbeit – der sich selbst im Feuer erneuernde Vogel Phönix und der Pelikan, der mit sei-
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nem Blut die eigenen Jungen nährt. Auf dem Tabernakel ruht der Aussetzungsthron des Allerheiligsten, dessen dachförmiger Marmorbaldachin von vier Säulen getragen wird. Die Rückwand des Tabernakels bildet ein Glasfenster, so dass ihn die Schwestern aus ihrem Betchor sehen können. Der Tabernakel ist durchgehend gebaut und durch eine Glaswand abgetrennt, so dass an christlichen Festen die Tabernakeltüren des Betchores geöffnet werden können. Über dem Aussetzungsthron erhebt sich an der Altarwand das Kreuz Christi; zu seinen Füßen stehen die Figuren Marias und Johannes. Das Hochaltarbild wurde ab dem 29. Mai 1891 von dem Wiener Historienmaler Josef Kastner2078 für 6000 Gulden Lohn als Fresco gemalt und im Herbst fertig gestellt. Als Patron des Kaiserhauses, dem auch Kirche und Kloster geweiht wurden, dominiert der Heilige Josef die Mittelfläche des Bildes. Währen sein Blick zu der von anbetenden Engeln umgebenden Heiligsten Dreifaltigkeit empor geht, weisen seine Hände auf die beiden Wappen Österreichs und Ungarns hin, die ihm zwei Engel entgegen halten. Linksseitig, auf der Evangelienseite, ist als erster christlicher König Ungarns der Heilige Stephan zu sehen, neben ihm der Märtyrerknabe St. Rudolf, der Heilige Franz von Assisi2079, die Heiligen Elisabeth2080 und Sophie2081 sowie der Heilige Johannes vom Kreuz2082. Auf der rechten Seite, der Epistelseite, dominiert der Heilige Leopold als Patron Österreichs, neben ihm die Heiligen Gisela2083 und Valeria2084, sowie der Heilige Severin2085 und Karl der Große. Neben dem Heiligen Josef sind die Heiligen Theresia von Jesus2086 und Euphrasia2087 angebildet. Die beiden gemalten Engel neben dem aufragenden Altarkreuz weisen auf das „heilige Versöhnungsopfer, das alle Schuld und Sünde tilgt“, hin – anderen Texten nach jedoch auf jene Stelle, an der das Todesbett gestanden sein soll. Die 4 x 4 Meter große Seitenkapelle der Evangelienseite ist auf Wunsch des Kaisers der Schmerzhaften Muttergottes geweiht und von der Kirche durch eine hohe Glasflügeltür mit einem bis zur halben Höhe reichenden Schutzgitter aus Schmiedeeisen getrennt. Der Barockaltar mit reichem Goldschmuck und Alabastersäulen trägt über dem Aussetzungsthron die Inschrift „Salve Regina!“ Auf der Frontseite des Altars, unterhalb der Mensa, ist ein Relief in Altsilber angebracht, die Geburt Christi darstellend. Tabernakel und Aussetzungsthron sind wie in der Kirche rückwärts mit einer Glaswand abgeschlossen und stehen so mit dem unteren Oratorium, in das die beiden Fenster in der Altarwand münden, in Verbindung. Der Altar ist eine Jubiläumsgabe des Künstlers Járog an Kaiser Franz Josef, der ihn seiner Tochter Marie Valerie zum Geschenk machte. Als die Kirche in Mayerling fertig gestellt wurde. Widmete
2077 Das Presbyterium beschreibt den Raum vor dem Hochaltar; er ist in Mayerling von der Kirche durch geschmiedetes Kommuniongitter abgetrennt. 2078 Kastner schuf ebenso für die Kongregation der „Töchter der göttlichen Liebe“ in Wien 3/Fasanengasse eine Kopie des Gnadenbildes der dreimal wunderbaren Muttergottes, 86 Gemälde – zum Teil als Fresko – im Stil der Nazarener im Karmel WienDöbling, darunter das Hochaltarbild „Verehrung der Heiligen Familie“, sowie die Kreuzwegbilder und das Ölgemälde „Christus am Ölberg“ in der Pfarrkirche zu Laxenburg 2079 Franz von Assisi war neben dem Heiligen Josef der zweite Kaiserpatron 2080 Die Heilige Elisabeth von Thüringen war Patronin der Kaiserin 2081 Die Heilige Sophie war die Patronin der Großmutter des Kronprinzen 2082 Johannes vom Kreuz, Lehrer des reformierten Karmels 2083 Die Heilige Gisela war Patronin von Rudolf Schwester 2084 Die Heilige Valeria war Patronin von Rudolfs zweiter Schwester 2085 Severin, der Apostel Norikums 2086 Theresia, Reformatorin und Mutter des Karmeliterordens 2087 Euphrasia, Heile aus der Entwicklungszeit des Ordens
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die Kaisertochter den Altar der kleinen Kapelle2088. Vis-á-vis der Glastür steht die nahezu lebensgroße Statue der Mater Dolorosa des Bildhauers Viktor Tilgner2089. Die von Freunden des Kronprinzen gestifteten Kirchenfenster schuf die Innsbrucker Glasmalereifirma Rudolf Geyling2090 und baute diese auch in der zweiten Januarhälfte 1890 ein. Das Duplikat der Schenkungsurkunde, das im Archiv des Klosters aufbewahrt wird, trägt die Unterschrift von 43 Herren, das Original wurde am 5. April 1891 im Beisein der Unterzeichnenden in die Stirnseite der Kirche eingemauert2091. Die zwanzig Wappen auf den Glasfenstern stehen für die österreichischen Kronprovinzen. Die Bilder der rechten Fensterseite zeigen den Heiligen Elias, den Heiligen Joachim und die der linken Seite die Heilige Euphrasia und die Heilige Anna .An der Giebelseite sind der Heilige Hubertus und er Heilige Rudolf zu sehen, die beiden Fenster rechts und links davon zeigen den Heiligen Johannes Nepomuk und den Heiligen Josef. Der in Lindenholz geschnitzte Kreuzweg der Kirche, dessen Rahmen aus Eichenholz gefertigt ist, war ein Geschenk des Wohltäters Kanonikus Julius Philipp Prinz Arenberg, der den Auftrag dazu an den Münchner Architekten Müller gab. Der Kreuzweg wurde 1905 in Auftrag gegeben, wozu sich der Künstler selbst in Mayerling ein Bild des Kirchenraumes machte und die 14 Stationen am 4. September 1906 eigenhändig befestigte.2092 Ein zweiter Kreuzweg des Klosters befindet sich innerhalb der Klausur zwischen dem Teepavillon und dem rückwärtigen Ausgang aus dem Stiegenhaus in den Hof. Die beiden Fenster der Epistelseite im ersten Stockwerk münden in die sogenannten Kaiseroratorien, in denen die kaiserliche Familie den Gottesdiensten beiwohnen konnte. Eine hohe Flügeltür verbindet die beiden Räume, deren Decke dunkel getäfelt und deren Wände mit einem Stoff in mattem Taubenblau bespannt sind. In den nicht zum Klausurbereich zählenden Oratorien befanden sich je eine Büste des Kaisers und der Kaiserin; heute werden sie als Stauräume genutzt. Die mächtigen Flügel des Kirchentores sind aus Eichenholz geschnitzt und zeigen zur Außenseite die Gestalten der zwölf Apostel. Ebenso wie die neugotische, mit Maßwerk versehene hölzerne Täfelung der Kirche stammen sie von Olbich2093 aus Baden. Zu beiden Seiten des Portals stehen auf Konsolen die Statuen der Heiligen Ordensgründern Theresia und Johannes vom Kreuz, beide von turmartigen Baldachinen überdacht. Heute wird in der Kirche auch der Stiftungskelch Kaiser Franz Josephs I. sowie eine Muschelplatte aus dem heiligen Land aufbewahrt, die Rudolfs Schwester, Erzherzogin Marie Valerie, dem Konvent der Karmelitinnen schenkte.
2088
Schneider, Oda: „Gnade über Mayerling“, Mayerling 1957 Tilgner, Viktor (25.10.1844 Preßburg/Bratislava-16.04.1896 Wien), Bildhauer, studierte an der Wiener Akademie, bereiste 1874 mit Hans Makart Italien, Hauptvertreter des Neubarock innerhalb der Plastiken der Wiener Ringstraße. Schuf Bauplastiken für die Hofmuseen, die Neue Hofburg, das Burgtheater und die Hermesvilla, mehrere Brunnenanlagen, Denkmäler und Grabmonumente. Hauptwerk: das ursprünglich für den Platz vor der Albertina geschaffene Mozart-Denkmal (1896) im Wiener Burggraben. 2090 Rudolf Geyling fertigte die farbige Bleiverglasung der Spitzbogenfenster im Wiener Rathaus an, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Noch heute existiert in Wien eine Werkstätte für Glasmalerei, die von Carl Geyling (23.02.1814 Wien – 02.01.1880 Wien) gegründet wurde. 2091 Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002 2092 Schneider, Oda: „Gnade über Mayerling“, Mayerling 1957 2093 Ob es sich hierbei um den österreichischen Architekten und Kunstgewerbler Joseph Maria Olbrich (22.12.1867 Troppau/Opava in Tschechien – 08.08.1908 Düsseldorf) handelt, konnte nicht geklärt werden. 2089
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
1. Die Kronprinz-Rudolf-Dokumente
„Schon um die so genannten authentischen Papiere ist jetzt ein Legendenkranz geschlungen.“
Oskar Freiherr von Mitis 1928
„Es gilt als erwiesen, daß Kaiser Franz Joseph die Dokumente über die Tragödie von Mayerling seinem Jugendfreund Eduard Graf Taaffe übergeben hat, da er befürchtete, daß sie in einem Archiv nicht sicher genug aufbewahrt sein würden.2094“ Konkrete Beweise für diese These von Fritz Judtmann gibt es bislang nicht. Jedoch wies bereits Mitis darauf hin, dass trotz altem Brauch, Dokumente dieser Art im Haus-, Hof- und Staatsarchiv oder beim Minister des kaiserlichen Hauses zu hinterlegen, die Mayerling-Papiere niemals dorthin gelangten: „Schon um die sogenannten authentischen Papiere ist jetzt ein Legendenkranz geschlungen. Man meint damit ohne Zweifel jene Protokolle, die von der zur Feststellung des Tatbestandes eingesetzten kaiserlichen Kommission herrühren. Altem Herkommen gemäß hätten diese Dokumente beim Minister des kaiserlichen Hauses oder im Haus-, Hof- und Staatsidee hinterlegt werden sollten, doch sind sie augenscheinlich niemals dahin gelangt – (...) – wir hörten vielmehr, daß die auf den Tod des Kronprinzen bezüglichen Akten vom Kaiser Franz Joseph dem österreichischen Ministerpräsidenten Grafen Taaffe persönlich übergeben wurden, der sie, während ihrer Hinterlegung im Präsidilabureau des österreichischen Ministeriums des Inneren formell vorgetäuscht wurde, in Wirklichkeit, dem Wunsch des Monarchen entsprechend, in eigene Verwahrung nahm. So verblieb der berühmte Dossier schließlich im Privatarchiv der Grafen Taaffe, wo er später bei einem Brand im Schloß Elischau zugrunde gegangen sein soll.2095“ Leider gibt Oskar von Mitis den Inhalt des „vorgetäuschten“ Dokuments nicht wieder – auch wenn er es gekannt haben dürfte. Er erwähnt, dass das Dossier 665/M ex 1889 des Ministeriums des Inneren beim Brand des Wiener Justizpalastes am Schmerlingplatz im Jahre 1927 vernichtet wurde2096. Auch wenn es Mitis nicht ausdrücklich erwähnt, könnte der verbrannte Akt mit diesem „vorgetäuschten“ Protokoll identisch sein. 2094
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien, 1968 Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel Verlag, Leipzig 1928 2096 Nach Protesten gegen das so genannte Schattendorfer Urteil (Freispruch von drei Mitgliedern der Frontkämpfervereinigung in einem Mord an einem Sozialdemokraten und einem Jugendlichen) drangen am 15.07.1927 Demonstranten in den Justizpalast ein, verwüsteten die Räume und legten Feuer. Beim anschließenden Brand wurden Akten der Polizeihofstelle, der Hofkanzlei, des Ministeriums des Inneren (bis 1900), des Justizministeriums (bis 1900), der Gendarmerie, des Ministerratspräsidiums (bis 1900) sowie andere Kleinbestände als Teil des Staatsarchivs des Inneren und der Justiz zu etwa 75 Prozent vernichtet, ein erheblicher Teil konnte nur schwer beschädigt gerettet werden („Brandakten“). Allein der Kernbestand „Hofkanzlei“ verringerte sich von etwa 2095
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Ein Zeugnis über die Existenz von Mayerling-Papieren im Besitz des Grafen Taaffe, findet sich in einer Publikation des Prager Universitätsprofessoren Skedl. Dr. Arthur Skedl2097 veröffentlichte 1922 auf Wunsch und im Auftrag von Heinrich Taaffe, dem Sohn des 1895 verstorbenen Ministerpräsidenten, im Wiener Rikola Verlag das Buch „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“. Skedl publizierte hier erstmals drei behördliche Schriftstücke zur Mayerling-Tragödie: als Abschrift den Bericht des Polizeikommissärs Habrda zur „Überführung der Leiche der Baronin Vetsera von Mayerling nach Heiligenkreuz“ vom 1. Februar 18892098, die Abschrift eines „Polizeiberichtes über den Baronin Vetsera sen.“ vom 22. April 1889, sowie den kurzen „Polizeibericht über die Exhumierung der Baronin Vetsera“ vom 16. Mai 1889, beides aus der Feder des Wiener Polizeipräsidenten Freiherrn von Krauß2099. Weitere Dokumente veröffentlicht Skedl nicht, „entsprechend dem Wunsch des Grafen Taaffe, daß sie nicht der Öffentlichkeit übergeben werden sollten. Die den Tod des Kronprinzen betreffenden Akten hätten eigentlich im Ministerium des kaiserlichen Hauses hinterlegt werden sollen. Auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers wurden jedoch diese Akten dem Grafen Taaffe als dessen Vertrauensmann übergeben, damit sie nicht in Folge eines unvorhergesehenen Ereignisses zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen.“ Skedl dürfte die gesamten Unterlagen Taaffes zur Mayerling-Tragödie in den 20-er Jahren eingesehen haben und bemerkte: „Die übrigen auf den so sehr beklagenswerten Tod des Kronprinzen in dem Nachlaß des Grafen Taaffe befindlichen Akten kann ich nicht veröffentlichen, da Graf Taaffe ausdrücklich bat, sie niemals der Öffentlichkeit zu übergeben.2100“ Si ist bestätigt, dass Kaiser Franz Joseph tatsächlich Akten an Taaffe zur Aufbewahrung übergab. Fritz Judtmann folgert, dass folgende Akten und Dokumente zum Inhalt des fraglichen Dossiers gehört haben dürften: 1.
Protokoll der Testamentsaufsuchungskommission (30. Jänner 1889, von Dr. Slatin im Sterbezimmer Mayerling aufgenommen2101).
2.
Protokoll der Untersuchungskommission (04. Jänner 1889, Mayerling2102).
3.
Protokolle von Zeugenaussagen (u.a. Bratfisch, Loschek, Caspar2103).
4.
Original des Obduktionsbefundes (Wien2104).
5.
Akten über die Reise des Grafen Károlyi zum Kronprinzen2105.
6.
Unterlagen über die Geldgeschäfte des Kronprinzen2106.
18.000 archivalischen Einheiten auf 2.200 Kartons. Der ausgebrannte Justizpalast wurde in den Jahren 1928 bis 1931 in veränderter Form wiederaufgebaut. An die Opfer des 15. Juli erinnert das Mahnmal für die Opfer des 15./16. Juli 1927 am Wiener Zentralfriedhof. 2097 Dr. Skedl, Arthur, Professor für Jus an der Universität Czernowitz 2098 Das Original des Berichts wurde 1955 im sogenannten Krauss-Akt aufgefunden. 2099 Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 2100 Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 2101 nach Judtmann scheint das Protokoll im Aktenverzeichnis der Verlassenschaftsabhandlung auf, fehlt dort jedoch. Judtmann vermutet in diesem Protokoll Beschreibungen des Tatorts und besonders der weiblichen Leiche. Das Protokoll der im Zeremonien-Protokoll erwähnten Kommission zur Erhebung des Tatbestandes sollte eigentlich versiegelt im Obersthofmeisteramt niedergelegt werden. 2102 Da die Leichen zu diesem Zeitpunkt bereits beseitigt waren, dürfte das Protokoll nicht so wichtig sein wie jenes der Testamentsaufsuchungskommission. 2103 Hoyos erwähnt jedoch lt. Judtmann in seiner Denkschrift, dass eine für den 31. Jänner 1889, 17:00 Uhr einberufene Zeugenvereinnahme abgesagt wurde. 2104 Ein Auszug des Protokolls wurde als „Gutachten“ am 02. Februar 1889 veröffentlicht. 2105 Die Reise des Grafen fand bezüglich der Wehrgesetzvorlage statt. Im Ministerium des Äußeren gab es hierzu einen Akt „Geheim XXV“, der nach Mitis jedoch 1899 bei der Neuordnung des Archivs verschwunden ist. Es ist Möglich, dass Taaffe eine Kopie besaß. 383
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7.
Akten zur Beseitigung des weiblichen Leichnams aus Mayerling2107.
8.
Diverse Konfidentenberichte und Zeitungsausschnitte.
2106
Die Akten über die Geldgeschäfte des Kronprinzen mit Baron Hirsch verschwanden aus dem Archiv der Allerhöchsten Privatund Familienfonde. Judtmann vermutet, dass auch der Brief Rudolfs an Baron Hirsch im Original oder in einer Abschrift im Taaffe-Akt auflag. 2107 U.a. Originale oder Abschriften der Protokolle von Krauss und Oser 384
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
2. Graf Taaffe
„IN HOC SICNO SPES MEA“
Wappenspruch der Grafen Taaffe, Schloß Ellischau
„Die Grafen Taaffe sind ein irisches Adelsgeschlecht, das seine Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen konnte.2108“ Während der Religionskämpfe verließ Anfang des 18. Jahrhunderts ein Taaffe Irland und kam nach Österreich, wo er in der Armee diente und in den Reichsgrafenstand erhoben wurde. Theobald Taaffe verteidigte Wien gegen die Türken und Nicholas Taaffe brachte die Kartoffel aus Brandenburg nach Böhmen. Im Jahre 1769 erwarben die Taaffes Güter in Ellischau nahe Silberberg im böhmischen Bezirk Klattau2109. Hier errichtete Franz Taaffe eine Kapelle zu Ehren der Heiligen Barbara, der Patronin der Bergleute, und unter der dem Ort benachbarten Kirche St. Anton eine Grablege für seine Familie. Ludwig Taaffe, 11. Lord Viscount Taaffe of Corren und Baron of Ballymote2110, bekleidete hohe Staatsämter und war der Vater des nachmaligen Ministerpräsidenten, Eduard Franz Josef Graf Taaffe, Pair von Irland2111. In Ellischau legte er einen großen englischen Landschaftsgarten an, in dessen Zentrum auf dem Berg Prasivec eine Burgruine steht – eine Kopie der Ruine von Schloss Ballymote, dem Taaffe´schen Familiensitz in Irland2112. Als Kind war Eduard Taaffe „Spielgefährte und Studienkamerad des späteren Kaisers Franz Joseph, der ihn duzte und später seine Karriere sehr förderte.“ Trotz der freundschaftlichen Bindung zum Kaiser war Taaffes politi2108
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 heute: Nalzocske Hory. 2110 Ludwig Graf Taaffe, Herr auf Ellischau, Kolinetz, Tedraschitz, Zamlekau und Neprachow in Böhmen. 2111 Eduard Franz Josef Graf Taaffe, geboren am 24.02.1833 in Wien, verstorben am 29.11.1895 in Ellischau. Rechts- und staatswissenschaftliches Studium an der Universität Wien; ab 11.1852 Konzeptspraktikant der Statthalterei Niederösterreich bei der Bezirkshauptmannschaft Wiener-Neustadt und Krems, später Statthaltereikonzipist und Komitatskommissär in Ungarn, Ministerialkonzipist im Ministerium des Inneren, Statthaltereisekretär bei der Statthaltereiabteilung Ödenburg (Sopron), dem k.k. Militärund Zivilgouvernement für Ungarn, der Statthalterei in Ofen und der Statthalterei in Böhmen, nach kaiserlicher Entschließung vom 06.12.1861 als Statthaltereirat Leiter der Kreisbehörde in Prag. Ab 28.04.1863 für fast vier Jahre Landeschef im Herzogtum Salzburg, während dieser Zeit viele politische Auszeichnungen und für das Königreich Böhmen Mitglied des Landtages. Ab 08.01.1867 Statthalter im Erzherzogtum Österreich ob der Enns, ab 01.03.1867 wirklicher geheimer Rat, vom 07.03.1867 bis 30.12.1867 als Minister im Kronrat mit der Leitung des Ministeriums des Inneren betraut. Vom böhmischen Landtag als Abgeordneter in den Reichsrat gewählt; ab 27.06.1867 stellvertretender Reichskanzler; ab 30.12.1867 stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Landesverteidigung und öffentliche Sicherheit. Ab 17.04.1869 Ministerpräsident in der Nachfolge des Zurückgetretenen Fürsten Karl Auersperg bis zur Enthebung am 17.01.1870. 12.04.1870 Ernennung zum Minister des Inneren und Leiter des Ministeriums für Landesverteidigung bis zum Sturz des Kabinetts am 04.02.1871. Seit 13.09.1870 Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit, ab 08.05.1871 Statthalter in Tirol, an 15.02.1879 Minister des Inneren, ab 12.08.1879 Ministerpräsident bis zur Enthebung am 11.11.1893. Lebte seither in Wien, Meran und Ellischau (Tschechien). Er starb am 29.11.1895 in Ellischau. Vita nach Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922. 2109
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sche Tätigkeit äußerst umstritten. Als „Kaiserminister“ gehörte er keiner Partei an2113 und wollte stets dem Gesamtwohl Österreichs dienen: „Er bemühte sich, den immer mehr aufflackernden Nationalitätenhader in der österreichischen Reichshälfte einzudämmen und im Interesse des gemeinsamen Vaterlandes eine Politik der Versöhnung anzubahnen.2114“ 1882 setze er die Zensusgrenze für die Wahlberechtigung von 10 auf 5 Gulden herab und schuf die Grundlage für eine wirksame Sozialgesetzgebung2115. Augenscheinlich rieb sich Taaffe in seinem zermürbenden politischen Kampf auf und nahm gesundheitliche Blessuren hin, denn: er erkrankte an einem hartnäckigen Magenleiden, das ihn jahrelang begleitete. Im Oktober 1893 brachte er im Reichstag einen Gesetzesentwurf zur Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes ein, der so einen Sturm der Entrüstung hervorrief, dass seine Regierung zurücktreten musste. Franz Joseph schrieb Taaffe: „Lieber Graf Taaffe! Mit Bedauern enthebe ich Sie auf Ihr Ansuchen von dem Posten Meines Ministerpräsidenten und von der Leitung meines Ministeriums des Inneren. Ich vollziehe einen Akt der Herzenspflicht, indem ich Ihnen meine wärmsten und aufrichtigsten Dank für die lange Reihe treuer und hervorragender Dienste ausspreche, welche Sie, in allen Lagen von den besten patriotischen Absichten geleitet, mit selbstlosem, hingebungsvollem Pflichteifer und mit wahrer Selbstaufopferung, Mir und dem Staat geleistet haben. Seien Sie überzeugt, daß Alles, was Sie und ein jedes Mitglied des enthobenen Ministeriums für den Staat ersprießliches geschaffen, in meiner dankbaren Erinnerung bleiben wird. Wien, am 11. November 1893 Franz Joseph2116“ Nach seinem Rücktritt lebte Taaffe als Privatmann und „Landwirt“ auf seinem südböhmischen Gut, das er selbst bewirtschafteten ließ. Im Oktober 1895 erkrankte er an einem schmerzhaften Herzleiden und starb im 63. Lebensjahr auf Ellischau am Freitag, 29. November 1895, um 10.15 Uhr – versehen mit dem Apostolischen Segen von Papst Leo XIII2117. Der Leichnam wurde zunächst in der Schlosskapelle aufgebahrt, dort am 2. Dezember eingesegnet und in der Familiengruft zu St. Anton bei Ellischau beigesetzt2118. Die Seelenmessen wurden am 3. Dezember in der Wiener Pfarrkirche zu den 9 Chören der Engel, Am Hof sowie in allen Patronatkirchen gelesen. Der letzte Besitzer des Schlosses, Heinrich Graf Taaffe, verkaufte das Anwesen 1937 an Karl Müller und verließ das Land. Die Müllers fuhren fort, den bekannten „Ellischauer Käse“ nach einem irischen Rezept der Familie Taaffe zu produzieren. Das Schloss und die Güter wurden jedoch 1948 verstaatlicht, Karl Müller und seine Familie emigrierten in die USA. In den Folgejahren diente ein Teil des Schlosses als Schule, ein anderer ab Mitte der 50-er Jahre dem Militär. 1991 wurde die gesamte Anlage an die Familie Müller zurückerstattet2119. 2112
“Nalzovské Hory – A Mini guide to the village“, Safranek elementary school, Nalzovské Hory, Juli 2001 Die Regierungspartei des Grafen Taaffe nannte sich „Eiserner Ring“ und bestand aus Deutsch-Konservativen, den Tschechen, Polen und Slowenen. Oft hatte Taaffe Probleme, die Forderungen seiner Partei zu erfüllen, da deren Interessen oft die seinen kreuzten. 2114 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2115 hierzu zählen u.a. die Höchstarbeitszeit, Sonntagsruhe, Unfall- und Krankenversicherung 2116 zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2117 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2118 Die Familiengruft in Ellischau wurde in der Zeit des Prager Frühlings geplündert; alle Särge stehen heute offen und der Gesamtanlage droht der Verfall. 2119 freundliche Mitteilung Jan Knez, Bürgermeister von Nalzovské Hory, an den Verfasser, Nalzovské Hory, 02.12.2002 2113
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
3. Das Taaffe-Protokoll
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Wo sich die Dokumente tatsächlich befinden, konnten weder Judtmann noch nachfolgende Journalisten oder Schriftsteller klären. In Ellischau jedenfalls befinden sich keine Familienpapiere mehr, ein Schlossarchiv existiert auch nicht mehr2120.
2120
freundliche Mitteilung Jan Knez, Bürgermeister von Nalzovské Hory, an den Verfasser, Nalzovské Hory, 02.12.2002 387
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
4. Die Familie Taaffe heute
„I have no more information about the Mayerling papers.“
Peta Taaffe Balbriggan, 29.11.2002
Rudolph Taaffe2121 verstarb im Februar 1985. Seine Tochter, Peta Taaffe, teilte uns wiederholt mit, dass ihr Vater den Grafen Eduard Taaffe mehrfach befragt habe, wo die Mayerling-Papers seien. „Er sagte, sie seien sicher. (...) Wenn wir wüssten, wo sie sind, würden wir sie umgehend veröffentlichen.2122“ Heute vermutet die Familie, dass die Dokumente im Vatikan deponiert wurden – „jedoch hat sie dort niemand jemals gesehen.2123“ Die restlichen, überlieferten Familienpapiere wurden von Peta Taaffe 1990 in die Obhut des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien übergeben. Michael Taaffe O’Connor – Nachkomme von Elisabeth Taaffe, der Tante von Baron Nicholas Taaffe, dem 6. Viscount of Taaffe (1677-1769) – versicherte uns, dass er nichts über den Verbleib der Mayerling-Papiere wisse2124.
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Taaffe, Rudolph (1901-02.1985), verheiratet mit Dorothy Hogg; die gemeinsame Tochter Peta Taaffe wurde 1938 geboren. Peta Taaffe an den Verfasser, Balbriggan, 02.01.1990 2123 Peta Taaffe an den Verfasser, Balbriggan, 29.11.2002 2124 Michael Taaffe O’Connor an den Verfasser, Ufford, 25.09.2003 2122
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
5. Das Wassilko-Protokoll
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Eduard Graf Taaffe2125
2125
Eduard Graf Taaffe, geboren am 24.02.1833 in Wien. Rechts- und staatswissenschaftliches Studium an der Universität Wien; ab 11.1852 Konzeptspraktikant der Statthalterei Niederösterreich bei der Bezirkshauptmannschaft Wiener-Neustadt und Krems, später Statthaltereikonzipist und Komitatskommissär in Ungarn, Ministerialkonzipist im Ministerium des Inneren, Statthaltereisekretär bei der Statthaltereiabteilung Ödenburg (Sopron), dem k.k. Militär- und Zivilgouvernement für Ungarn, der Statthalterei in Ofen und der Statthalterei in Böhmen, nach kaiserlicher Entschließung vom 06.12.1861 als Statthaltereirat Leiter der Kreisbehörde in Prag. Ab 28.04.1863 für fast vier Jahre Landeschef im Herzogtum Salzburg, während dieser Zeit viele politische Auszeichnungen und für das Königreich Böhmen Mitglied des Landtages. Ab 08.01.1867 Statthalter im Erzherzogtum Österreich ob der Enns, ab 01.03.1867 wirklicher geheimer Rat, vom 07.03.1867 bis 30.12.1867 als Minister im Kronrat mit der Leitung des Ministeriums des Inneren betraut. Vom böhmischen Landtag als Abgeordneter in den Reichsrat gewählt; ab 27.06.1867 stellvertretender Reichskanzler; ab 30.12.1867 stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Landesverteidigung und öffentliche Sicherheit. Ab 17.04.1869 Ministerpräsident in der Nachfolge des Zurückgetretenen Fürsten Karl Auersperg bis zur Enthebung am 17.01.1870. 12.04.1870 Ernennung zum Minister des Inneren und Leiter des Ministeriums für Landesverteidigung bis zum Sturz des Kabinetts am 04.02.1871. Seit 13.09.1870 Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit, ab 08.05.1871 Statthalter in Tirol, an 15.02.1879 Minister des Inneren, ab 12.08.1879 Ministerpräsident bis zur Enthebung am 11.11.1893. Lebte seither in Wien, Meran und Ellischau (Tschechien), wo er am 28.11.1895 verstarb. Vita nach Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922 389
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
6. Der Krauß-Akt
„Aus den Beilagen ist zu entnehmen, wie die Wahrheit immer mehr zu Tage tritt.“
Franz Freiherr von Krauß 11. Februar 1889
Als im August 1955 die österreichische „Wochenpresse“ Auszüge aus den Mayerling-Aufzeichnungen des Wiener Polizeipräsidenten Franz Freiherr von Krauß2126 veröffentlichte, schien sich eine geschichtliche Sensation anzubahnen: mit dem Auftauchen des zwar bekannten, jedoch seit mehr als 60 Jahren verschollen geglaubten persönlichen Protokollbuch des Polizeichefs aus den Tagen zwischen dem 28. Januar und 11. Februar schien die Lösung des Rätsels von Mayerling zum greifen nah. Mit den Aufzeichnungen des 1919 verstorbenen Krauß lag eine zeitgenössische, und darüber hinaus erstmals noch halbamtliche Darstellung der Ereignisse vor, die als äußerst glaubwürdig anzusehen war. Der Akt enthält eine Dokumentation aller damaligen Amtshandlungen, die die Polizei im Kontext des Mayerling-Dramas durchführte sowie alle Meldungen, die dazu eingingen. Eindringlich zeigt das Material, dass sowohl Polizeidirektion als auch der Ministerpräsident seit den Mittagsstunden des 28. Jänner informiert waren, dass sich in Mayerling Unheilbares anbahnte und dennoch nicht einschritten2127. Polizeipräsident Freiherr von Krauß hatte seine Aufzeichnungen ganz unmittelbar und im Bewusstsein verfasst, dass sein Material unter Verschluss bleiben würde. In der spröden Sachlichkeit eines kaisertreuen Beamten notierte Krauß alles, was durch polizeiliche Maßnahmen, eigenes Erleben und kolportierten Klatsch über die Ereignisse des 30. Januar 1889 bekannt wurde. Allerdings: Was tatsächlich in Mayerling geschah, wussten auch Krauß und sein Mitarbeiter nicht – sie waren nicht vor Ort, so dass der „A 1. Res. 18892128“-Akt nur zur Erhellung des unmittelbaren Vorgeschichte und der nach und nach zu Tage kommenden Gerüchte herangezogen werden. Der Hauptteil des Polizeipräsidenten-Aktes ist eigenhändig von Krauß „pro memoria“ (aus der Erinnerung) angelegt – und es ist zu vermuten, dass er seine Aufzeichnungen am 29. Jänner begann. Am Vortag, dem 28. Januar, er-
2126
Baron Franz Freiherr von Krauß, geboren 1840, gestorben 1919. Hollaender, Albert E. J.: „Streiflichter auf die Kronprinzen-Tragödie von Mayerling“, Festschrift für Heinrich Benedict, Wien 1957 2128 Aktenzeichen 2127
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schien um 12:00 Uhr Gräfin Marie Larisch in der Wiener Polizeidirektion am Schottenring 11, dem früheren Hotel „Austria“. Dort war seit 1874 das Polizeipräsidium untergebracht. Die Larisch kam zu Krauß um Mitteilung vom Verschwinden der Baroness Mary Vetsera zu machen2129. Am 11. Februar enden Krauß eigenhändig verfasste Mitschrift. Dem Akt beigefügt finden sich Konfidentenberichte, zwei Briefe der Gräfin Larisch, ein dicker Sammelband mit Ausschnitten aus teilweise zensierten Zeitungen, ein Bild von Mary Vetsera und eines des Sühneklosters – am 11. November 1889 vom Hof-Fotografen Löwy dem Polizeipräsidenten überreicht –, das Protokoll zur Einvernahme des Fiakers Weber am 28. Januar sowie verschiedene Originalbelege und Abrechnungen. Insgesamt zählt der Akt des Polizeipräsidenten 500 Seiten2130. Dieser Akt wurde von Krauß 1889 versiegelt und in den Räumen der Polizeidirektion belassen, als er nach seinem Ausscheiden 1892 in die Bukowina übersiedelte und dort die Aufgaben des Statthalters übernahm2131. Das Paket wurde fortan von jedem Leiter der Polizeidirektion an seinen Nachfolger weitergegeben2132. Ob es sich bei den Notizen des Polizeipräsidenten Krauß auch um den sogenannten „Mayerling Geheimakt“ handelte, ist ungewiss. Dieser Geheimakt, ein dickes mit fünf Siegeln verschlossenes Paket, soll ab 1899 im Schreibtisch des Polizeipräsidenten aufbewahrt worden sein2133. Polizeipräsident Eugen Seydel ließ 1933/34 in seinen Amtsräumen diesen Akt mit der Aufschrift „Der Tod Seiner k. u. k. Hoheit des durchlauchtigsten Thronfolgers Rudolf“ vor einer Kommission hoher Polizeioffiziere öffnen. Zu diesem Zeitpunkt enthielt das Dokumentenbündel jedoch nur wenig interessante Aktenstücke und Notizen2134. Der interessantere Teil des Aktes – wenn er wirklich je existierte – muss zu diesem Zeitpunkt bereits dem Depot entnommen oder aber ganz woanders aufbewahrt worden sein und könnte mehr enthalten haben als heute: u.U. ein Protokoll mit Rudolfs Freundin Maria „Mitzi“ Caspar und jenes mit dem Fiakerlenker Josef Bratfisch. Der „Mayerling Geheimakt“ wurde nach der Öffnung der Bundeskanzlei übergeben. 1938, im Jahr des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, soll das heute als „Krauß-Akt“ betitelte Material aus den Diensträumen des Wiener Polizeipräsidenten verschwunden sein. Erst Nach Ende des Weltkrieges tauchte das Material in Berlin wieder auf2135: Der ehemals politisch verfolgte, heute kaum noch bekannte deutsche Schauspieler Alfred Baierle2136 war nach Kriegsende vom ersten Berliner Magistrat beauftragt worden, leerstehende Wohnungen zu beschlagnahmen2137. In einer dieser Wohnungen2138, nach anderen Quellen auf dem Dachboden eines Hauses in Berlin-Dahlem2139, fand er dann neben alten Dokumenten auch einen Aktenstoß mit Aufzeichnungen zum Tode des Kronprinzen Rudolf. Nach Intervention von Fritz Molden und Friedrich Torberg gelangte das Material über
2129
A 1. Res. 1889./1889. Tod des Kronprinzen Erzherzogs Rudolf. Verwaltungsarchiv Wien. „Der Polizeibericht: Mayerling. Authentische Darstellung des soeben aufgefundenen Originalaktes des k.k. Polizeipräsidiums Wien N. 1 Reservat 1889“, Wilhelm Frick-Verlag, Wien/München 1955 2131 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 2132 Die Wiener Polizeipräsidenten: 1885-1892 Franz Freiherr von Krauß; 1892-1897 Franz Ritter von Stejskal; 1897-1907 Johann Freiherr von Habrda; 1907-1914 Karl Freiherr von Brzesowsky; 1914-1917 Ferdinand Freiherr von Gorup Besanez; 1917-1918 Edmund Ritter von Gayer; 1918-1932 Johann Schober; 1932-1933 Dr. jur. Franz Brandl; 1933-1934 Dr. jur. Eugen Seydel; 19341938 Dr. jur. Michael Skubl; 1938-1940 Otto Steinhäusl; 1940- April 1945 Leo Gotzmann; April 1945- Mai 1945 Rudolf Hauptmann; Mai 1945-1946 Dr. jur. Ignaz Pamer 2133 Bibl, Viktor: „Kronprinz Rudolf“, Gladius-Verlag, Leipzig/Budapest 1938 2134 Loehr, Clemens: „Mayerling – Eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Auflage 01.1989 2135 Loehr, Clemens: „Mayerling – Eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Auflage 01.1989 2136 Alfred Baierle, Filme u.a. „Stürme über dem Montblanc“ 1930 mit Leni Riefenstahl, „Der Draufgänger“ 1931 mit Hans Albers und 1932 „Der weiße Dämon“ , ebenfalls mit Hans Albers; Baierle besaß 1929/30 die Plattenfirma „Die Neue Truppe“ und galt als ausgezeichneter Rezitator der Werke von Erich Kästner 2137 Loehr, Clemens: „Mayerling – Eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Auflage 01.1989 2138 Loehr, Clemens: „Mayerling – Eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Auflage 01.1989 2139 Holler, Gerd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988 2130
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den Schriftsteller Robert Adolf Stemmle2140 nach Wien. Der Akt wurde zunächst von Generaldirektor Hofrat Dr. Gebhard Rath und Dozent Dr. Goldinger vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv wissenschaftlich geprüft – und seine Echtheit festgestellt. Nach 66 Jahren war also das Geheimprotokoll des Wiener Polizeipräsidenten Franz Freiherr von Krauß wieder entdeckt worden2141. Heute befindet sich das Protokollbuch, dem Mitte 1889 noch eine von drei Polizeibeamten händisch angefertigte Kopie der Vetsera-Denkschrift beigefügt wurde, als Eigentum der Republik Österreich im Verwaltungsarchiv Wien. In einer Artikelserie publizierte die „Wochenpresse“ ab dem 27. August 1955 Texte des Aktes, jedoch „stümperhaft falsch interpretiert2142“. Darauf hin veröffentliche der Frick-Verlag zunächst eine kurze Zusammenfassung des Berichtes2143, der kurze Zeit später ein Buch mit vielen Faksimile folgte2144. Diesem „Mayerling-Original“ hätte man jedoch editionstechnische eine besonnenere Hand gewünscht2145. So war es erst kurze Zeit auf dem Markt, als es durch Einspruch der Familie Auersperg beschlagnahmt wurde. Ausschlaggebend für diese Maßnahme war die Zitierung eines historischen Konfidentenberichtes, nachdem der Kronprinz bei einem amerikanischen Duell um die Ehre der Prinzessin Aglaja Auersperg ums Leben gekommen sei2146. Clemens Loehr veröffentlichte 1968 im Schatten von Professor Dr. Fritz Judtmanns „Mayerling ohne Mythos“ seine wenig beachtete Quellensammlung „Mayerling: Eine wahre Legende“. Loehr, durch Judtmanns Arbeit von Anfang an überholt und in vielen Details auch präzisiert, nennt als erster Buchautor den stellvertretenden Wiener Polizeipräsidenten, SS-Divisionsführer Josef Fitzthum, als Verantwortlichen für das Verschwinden des Krauß-Aktes aus Wien. Gestützt auf die „Wochenpresse“ formuliert Loehr, Fitzthum haben den Akt „im Polizeipräsidium gefunden und mitgenommen“2147. Dass der hochdekorierte SS-Mann in seiner Zeit am Wiener Schottenring zu den geheimen Protokollen seines Amtes Zugang hatte, ist wahrscheinlich. Aus der Biographie Fitzthums ist jedoch ersichtlich, dass er sicher niemals eigenmächtig handelnd den historischen Akt an sich genommen hätte. Wahrscheinlich erscheint uns, dass der letzte Direktor des Reicharchivs Wien, Julius Bittner, den Akt aus dem Polizeipräsidium angefordert und nach Berlin geschafft hat. Bittner, ab 1900 im Haus-, Hof- und Staatsarchiv tätig, war seit 1918 stellvertretender und ab 1926 wirklicher Direktor des Archivs. Er unterhielt als Leiter des 1941 in Reichsarchiv unbenannten Hauses intensive Kontakte zu vielen nationalsozialistischen Politikern. So auch zu Reichsminister Dr. Hans Frick, der 1941 das Gesamtinventar des Archivs nach Berlin anforderte2148. Bittner übermittelte neben den fünf Inventarbänden jedoch auch andere Unterlagen nach Berlin und es scheint nicht ausgeschlossen, dass auch der Krauß-Akt angefordert oder mitgesandt wurde. Konkrete Hinweise gibt es hierfür jedoch nicht.2149
2140
Stemmle, Robert A(dolf), geb. 10.06.1903 in Magdeburg, gest. 22.02.1974 in Baden-Baden; Filmregisseur und –Produzent, Erzähler und Drehbuchautor u.a. von „Quax der Bruchpilot“ und „Emil und die Detektive“ (Quelle: Literatur-Lexikon, Bertelsmann München 1991) 2141 Loehr, Clemens: „Mayerling – Eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Auflage 01.1989 2142 Franzl, Emil: „Kronprinzen-Mythos und Mayerling-Legenden“, Herold-Verlag Wien, 3. Auflage 1978 2143 „Der Polizeibericht: Mayerling. Authentische Darstellung des soeben aufgefundenen Originalaktes des k.k. Polizeipräsidiums Wien N. 1 Reservat 1889“, Wilhelm Frick-Verlag, Wien/München 195 2144 „Das Mayerling-Original. Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums. Facsimile der Dokumente. Der authentische Bericht“, Wilhelm Frick-Verlag, Wien/München 1955 2145 Hollaender, Albert E.J.: „Streiflichter auf die Kronprinzen-Tragödie von Mayerling“, Festschrift für Heinrich Benedict, Wien 1957 2146 Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2147 Loehr, Clemens: „Mayerling – Eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Auflage 01.1989 2148
Haus, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Bittner, Karton 3 In der Nacht vom 2. zum 3. April 1945 begann Bittner gemeinsam mit seiner Frau in ihrem Gartenhaus an der Hartäckerstraße in Wien 19 mit Hilfe einer Gasflasche Selbstmord; Lexikon Wien A-Z, 1995 2149
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Der Polizeiakt „1889. Tod des Kronprinzen Erzherzogs Rudolf2150“ hat für die Forschung wegen seiner Aussagen um das Klima nach Rudolfs Tod große Bedeutung und erhellt die Vorgänge in Wien am 30. Jänner 1889. Zudem korrigiert er zuvor publizierte Texte wie jene des Ferdinand Baron Gorup von September 1927 und 19542151 und stellt durch das Festhalten bislang unbekannter Einzelheiten ein amtliches Gegenstück zu privaten Erinnerungen wie jener der Gräfin Larisch und der Helene Vetsera dar. Der Akt gibt zudem Auskunft über die Politik des österreichischen Ministerpräsidenten und die politische Stimmung in Wien nach dem 30. Jänner. Aus diesem Grunde hat ihn Krauß wahrscheinlich auch als „geheim“ eingestuft, da der Kaiser nach der sogenannten Natalie-Affäre von 1888 ein Auge auf Krauß und seine Amtsführung geworfen hatte2152. Da jedoch weder Krauß selbst noch seine Konfidenten in der Schicksalsnacht von Mayerling im Jagdschloss waren, beinhaltet der 1955 wiederentdeckte Akt sicher nicht die Lösung des Rätsels um den Tod der beiden Liebenden. Eine Nichte von Krauß2153, Zoë Wassilko-Serecki (geb. 11.07.1897 in Czernowitz), gab anlässlich der Rückübertragung des Krauß-Aktes 1955 zu Protokoll, sie habe 1919 auf dem böhmischen Gut Elischau einen ebenfalls geheimen Akt zum Tode des Kronprinzen Rudolf eingesehen. Dabei handelt es sich jedoch um die Papiere des Grafen Taaffe, die hauptsächlich aus dem Briefwechsel zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten und Polizeipräsidenten Krauß bestanden und die nicht mit dem sogenannten „Krauß-Akt“ oder dem „Geheimakt“ identisch sind.
2150
Aufschrift des Deckblattes Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 2152 1888: Krauß hatte trotz kaiserlichen Befehls zugelassen, dass der serbischen Königin Natalie durch Südslaven in Wien Ovationen dargebracht wurden (Quelle: Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968) 2153 Krauß jüngere Tochter Rosa heiratete in Czernowitz/Bukowina Dr. Stefan Baron Wassilko-Serecki, der einem alten ukrainischen Adelsgeschlecht entstammte. Sie sind die Eltern von Zoë. 2151
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
7. Josef Fitzthum
„Mein Vater hat niemals in der Causa Mayerling etwas unternommen.“
Germund Fitzthum 29. September 1992
Brigitte Sokop2154, Clemens M. Gruber2155, Gerd Holler2156 und Clemens Loehr2157 – fast alle MayerlingAutoren der letzten Jahre nennen seinen Namen. Doch genau hat niemand sein Leben bislang recherchiert: Josef Fitzthum, stellvertretender Polizeipräsident von Wien und als hoher SS-Mann augenscheinlich in so manche Schmierenkomödie rund um Mayerling passend. In Zusammenarbeit mit deutschen und amerikanischen Archiven ist es nun erstmals gelungen, eine nahezu lückenlose Biographie Fitzthums zu erstellen. Die Fäden, die Josef Fitzthum in das Drama von Mayerling einzuspinnen scheinen, laufen bei Clemens Loehr zusammen. Er schrieb: „Im Jahre 1938 soll der SS-Führer (...) den (Krauss-) Akt im Polizeipräsidium gefunden und mitgenommen haben.“2158 Loehr bezieht sich auf einen Artikel der „Wochen-Post“ vom 27. August 1955 und deren Berichterstattung über das Auffinden des „A 1 Reservat 1889“-Aktes des Wiener Polizeipräsidenten zum Tode Rudolfs auf dem Dachboden eines Hauses in Berlin-Dahlem. Zudem, so der Autor, habe Fitzthum 1939 das vollständige Obduktionsprotokoll des Kronprinzen nach Berlin geschickt. Auf diese Behauptung gestützt brachten Gruber und Holler Josef Fitzthum mit den Mayerling-Papieren in Verbindung – und stellten manche unsinnige Behauptung auf. Gruber sprach, entgegen seinen schriftlichen Ausführungen, jedoch nie persönlich mit Fitzthums Witwe Elisabeth2159. Gerd Holler ging sogar so weit, in seinem ersten Mayerling-Buch dem SS-Mann auch die Vernichtung des Larisch-Manuskriptes über den Kronprinzen 1940 in Augsburg anzulasten2160. Ein Umstand, dem Brigitte Sokop eifrig widerspricht2161. Tatsächlich aber wurde der Nachlass „jener
2154
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau-Verlag, 2. Auflage, Wien 1988 Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989 2156 Holler, Gerd: „Mayerling – Die Lösung des Rätsels aus medizinischer Sicht“, Molden-Verlag, Wien 1980 2157 Loehr, Clemens: „Mayerling – eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Wien 1989 2158 Loehr, Clemens: „Mayerling – eine wahre Legende“, Ullstein-Verlag, Wien 1989 2159 Fitzthum, Germund an den Verfasser, Wien 31.10.1992 2160 Holler, Gerd: „Mayerling – Die Lösung des Rätsels aus medizinischer Sicht“, Molden-Verlag, Wien 1980 2161 Brigitte Sokop an den Verfasser, Wien 28.08.1991 2155
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Gräfin Larisch“ von drei Beamten der geheimen Staatspolizei (Gestapo) beschlagnahmt2162 und nach Berlin gebracht2163. Der Nachname eines dieser Beamten soll mit dem Buchstaben „F“ oder „Fl“ angefangen haben. Sokops Forschungen ergaben jedoch, dass es sich bei „Fl“ um einen lokalen Gestapo-Beamten aus Augsburg oder München gehandelt haben dürfte2164. Dass Fitzthum in seiner Zeit als stellvertretender Polizeipräsident von Wien zu geheimsten Protokollen seines Amtes Zugang hatte, ist natürlich denkbar. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass er es war, der den Krauss-Akt Ende der 30er Jahre aus Wien verbrachte. Hollers Behauptung, der Krauss-Akt sei nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Speicher des Fitzthum-Hauses in der einstigen Reichshauptstadt Berlin aufgefunden worden2165, kann zwischenzeitlich vom Autor entkräftet werden. Fitzthum selbst war nur im Jahr 1937 in Berlin-Wilmersdorf gemeldet, und ein „Haus Fitzthum“ gab es weder in Berlin noch in Wien2166. Zurück ins Jahr 1896, dem Sterbejahr Anton Bruckners. Im niederösterreichischen Loimersdorf erblickte am 14. September, einem Montag, ein Knabe das Licht der Welt: Josef Fitzthum. Seine Mutter Elisabeth entstammte dem alteingesessenen Bauerngeschlecht Bäuml und wuchs mit 13 Geschwistern auf. Vater Josef, ein Gutsbesitzer, führte das Erbe seines Vaters Christoph weiter, der nach 15 Jahren in der Einöde des Marchfeldes von Kaiser Franz Joseph in Audienz ausgezeichnet wurde. Dieser Großvater starb mit 63 Jahren an der Wassersucht, Großmutter Anna mit 91 Jahren an Grippe. Vater Josef wurde indes nur 43 Jahre alt; als er an einer Lungenentzündung stirbt, hinterlässt er eine junge Witwe und fünf Söhne. Nach sechs Klassen Volksschule im Heimatort besuchte Josef Fitzthum die Militär-Unterrealschule in Enns, wechselte auf die Oberrealschule nach Mährisch Weißenkirchen und besuchte zuletzt die Technische Militärakademie in Mödling. Der Erste Weltkrieg rief ihn am 18. August 1916 zum Eisenbahnerregiment ein. Doch ein persönliches Gesuch an den obersten Kriegsherrn in Wien ermöglichte ihm den Wechsel in das 3. Regiment der Tiroler Kaiserjäger. 1917 wurde er Oberleutnant und erhielt nach Fronteinsätzen die Versetzung zur Fliegerkompanie Nr. 17 des Edelweiß-Korps nach Italien. Dekoriert mit dem Eisernen Kronen-Orden, dem Signum, dem Karl-Truppenkreuz und der Verwundeten-Medaille wurde Fitzthum am 31.März 1919 als Hauptmann der Reserve verabschiedet. Fitzthum –sprachgewandt in Französisch, Englisch, Tschechisch und Polnisch – versuchte in der Ersten Republik zunächst, sein Glück in Wien zu machen. Nach zwei Semestern an der Donau-Universität begann am 1. Mai 1920 sein ziviler Staatsdienst als Kanzleihelfer. Unter der wohlwollenden Hand des Hofrates Alfred Roller wurde er am 1. März 1923 zum Sekretär der Wiener Kunstgewerbeschule ernannt, der er bis ins Jahr 1933 angehörte. In jene Zeit fiel die erste Begegnung des damals 29jährigen mit den Ideologien des Nationalsozialismus. Bruder Max, schon frühzeitig Mitglied der SA und Sturmbannführer, stellte die Kontakte zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, NSDAP, her. Am 2. September 1930 trat Josef Fitzthum der Partei bei und erhielt die Mitgliedsnummer 363169. Noch im gleichen Jahr wurde er der Ortsgruppe Wien zugeteilt.
2162 In den Abhandlungen des Stadtarchivs Augsburg „Verlassenschaftsabhandlung der Frau Marie Louise Meyers, geb. Baronin Wallersee, ehemals Gräfin Larisch, Witwe des Otto Brucks vom 25. Juli 1940“ wird auch ein Manuskript über Kronprinz Rudolf aufgeführt, dass heute jedoch nicht mehr existiert. 2163 Das einstige Gestapo-Archiv in Berlin ist im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt. 2164 Brigitte Sokop an den Verfasser, Wien 28.08.1991 2165 Holler, Gerd: „Mayerling – Die Lösung des Rätsels aus medizinischer Sicht“, Molden-Verlag, Wien 1980 2166 G. Fitzthum an den Verfasser, Wien 29.09.1992
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Fitzthum trat am 1. April 1932 der 11. allgemeinen SS-Standarte bei und erhielt die Mitgliedsnummer 4.19.36. Geworben von SS-Sturmbannführer Ziegler wurde er sogleich mit der kommissarischen Führung des SchutzstaffelSturmbanns I/11 betraut. Doch politische Querelen waren in dieser Zeit vorprogrammiert – auch für Josef Fitzthum. Zu eineinhalb Jahren politischer Haft wegen Unterschlagung in Österreich verurteilt, konnte er am 13. Januar 1933 dem österreichischen Kerker entkommen und floh nach Deutschland. Bereits neun Monate später wurde er jedoch erneut verhaftet, zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und am 22. Dezember 1934 nach Wöllersdorf überführt. Doch auch hier konnte er bald flüchten. In jener Zeit krönte Fitzthum sein literarisches Schaffen mit dem Trauerspiel „Giordano Bruno, der Nola2167
ner“
. Der Weg des zwischenzeitlich Ausgebürgerten führte nach jetzt erneut nach Deutschland, genauer nach Mün-
chen, der Keimzelle des noch jungen NS-Staates. Nach Ausbildung bei der 14. SS-Standarte „Germania“ 1936 nahm er seine hauptamtliche Tätigkeit als Führer einer Schutzstaffel im „Altreich“ auf. 1937 wurde Fitzthum der NSDAP-Ortsgruppe Aachen überstellt, wenig später nach Köln. Mit einem dritten Wechsel der Adresse wurde er im Oktober 1937 der Ortsgruppe Brabanz des Berliner Vorortes Wilmersdorf überstellt. Dort war Fitzthum in der Stenzelstraße 21 gemeldet. In jene Bewegte Umzugszeit fällt für Fitzthum die Bekanntschaft mit einer jungen Frau aus Graz – der 24jährigen Elisabeth Philippe, die er am 13. November 1937 heiratet. Als Oberführer der Schutzstaffel kehrt er zurück nach Wien und wird am 13. März 1938, dem Tag des sogenannten „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich, zum stellvertretenden Polizeipräsidenten Wien ernannt. In seinem neuen Familiendomizil an der Sieveringer Straße erblickt am 19. August gleichen Jahres das erste Kinder der Familie das Licht der Welt: ein Sohn. Wenig später wird ihm ein zweiter Sohn geboren und Fitzthum – Reichstagsabgeordneter, Ratsherr in Wien und Mitglied im „Lebensborn“-Verein - erhält den Blutorden Nummer 2510. In einer Atmosphäre parteiinterner Rivalitäten und Intrigen wurde 1940 gegen Fitzthum ein Disziplinarverfahren wegen negativer Äußerungen über den Wiener Gauleiter Bürckel eingeleitet. Da die Untersuchungsergebnisse aber keine Anklage rechtfertigten, wurde Fitzthum auf Drängen Bürckel am 1. April zum Dienst in der 9. SSTotenkopfstandarte nach Danzig versetzt. Am 6. Januar 1941 erhielt er die Beförderung zum Bataillons-Kommandeur der 4. SS-Totenkopf-Standarte und im Juni meldete er sich beim Reichsführer-SS freiwillig zum Fronteinsatz2168. Am 15. Juli gleichen Jahres wurde Josef Fitzthum mit der Führung des SS-Infanterieregiments 4 betraut, das er am 1. September – nach einem Abstecher zum 5. Regiment – als Kommandeur übernahm. Im April des Jahres 1942 wurde Fitzthum die Führung der SSFreiwilligenlegion „Flandern“ übertragen, im September bestimmt ihn Heinrich Himmler, dem er in blindem Gehorsam ergeben war, zum Führer der SS-Legion „Niederlande“. Am 30. Oktober wurde Fitzthum SS-Brigadegeneral, General der Polizei und Waffen-SS und im Juli 1944 erfolgte die Beförderung zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant von Waffen-SS und Polizei. Zuvor jedoch erhielt Fitzthum die Gelegenheit, seine Fähigkeiten als Himmlers Beauftragter beim Bevollmächtigten des Deutschen Reiches in Albanien zu beweisen. In Tirana, wohin er im Dezember 1943 beordert wurde und eine Miliz samt Gendarmerie aufzustellen hatte, scheiterte er jedoch. Der Krieg der Partisanen forderte Fitzthum zu hartem Durchgreifen heraus, zu eigenmächtigem Handeln und zuletzt zum Exekutieren 2167
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von Geiseln. Die schwierigen Verhältnisse in Albanien ließen in schnell zur zentralen Figur der Besatzungspolitik werden2169. Seine Aufgabe, die SS-Division „Skanderberg“ aus dem Boden zu stampfen und im Sonderauftrag das KosovoGebiet zu sichern, scheiterte an Meuterei und Desertation. Im November 1944 stellte Fitzthum aus den Freiwilligen von „Skanderbeg“ eine Kampftruppe zusammen, die das Recht auf ein eigenes Kriegsgericht besaß; Gerichtsherr war Fitzthum selbst. Seine Kampftruppe sollte in Nordalbanien Bergstämme zu antikommunistischen Partisaneneinheiten formieren. Nach der geplanten, jedoch augenscheinlich nicht vollzogenen Eingliederung restlicher „Skanderbeg“Soldaten in die SS-Division „Prinz Eugen“ sollte Fitzthum nach Himmlers Willen im Dezember 1944 SSDivisionsführer werden2170. Noch vor Ende des II. Weltkrieges, am 10. Januar 1945, starb Josef Fitzthum. Auf dem Weg von Pressburg nach Graz rammte sein Kübelwagen nahe Laxenburg bei Schneetreiben und Eisglätte einen Alleebaum; ein Herzriß brachte ihm auf der Stelle den Tod2171. Josef Fitzthums Traum, nach Ende des Krieges in den Polizeidienst zurückzukehren, fand so ein jähes Ende2172. Mit in den Tod nahm Josef Fitzthum sein mögliches Wissen über den Krauss-Akt, das er sich in seiner Zeit als Vize-Präsident hätte aneignen können, über das er jedoch zu seiner Familie nie sprach. Aus der Biographie Fitzthums scheint es ersichtlich zu sein, dass er niemals eigenmächtig einen historisch-brisanten Akt hätte an sich genommen oder gar „verschwinden“ lassen.
2168
G. Fitzthum an den Verfasser, Wien 03.04.1994 Birn, Ruth Bettina: „Die höheren SS- und Polizeiführer“, Droste-Verlag 1981 2170 Birn, Ruth Bettina: „Die höheren SS- und Polizeiführer“, Droste-Verlag 1981 2171 G. Fitzthum an den Verfasser, Wien 03.04.1994 2172 Berlin Document Center, US-Mission, Berlin 1989 2169
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Kapitel 13 Die verschollenen Dokumente
8. Das Tagebuch der Gräfin Hoyos
„Diese Eintragung darf ... nicht in dieser krassen Form veröffentlicht werden.“
Fritz Judtmann 08. September 1967
Im Zentralarchiv der Familie Hoyos-Spritzenstein in Horn werden die Tagebücher der Gräfin Eleonore „Lori“ Hoyos aufbewahrt, einer Schwägerin von Rudolfs Jagdgefährten Josef Hoyos. Eleonore2173, Schwester des kaiserlichen Generaladjutanten Eduard Graf Paar2174, heiratete am 08. Januar 1856 den Grafen Ernst Karl „Erni“ Hoyos2175. Eleonore Hoyos, Palastdame ihrer Majestät der Kaiserin, verfasste bis zum Jahre 1890 ein persönliches Tagebuch. Der Historiker Egbert Graf Silva-Tarouca2176, in den 60er Jahren Archivar in Horn, wertete die Tagebücher für die Familienforschung aus und verfasste eine, inhaltlich in drei Kapitel und ein Schlusswort unterteilte, maschinengeschriebene Abschrift. Seine redaktionelle Bearbeitung gibt jedoch nur noch wenige Reaktionen der Gräfin auf den Tod des Kronprinzen wieder, so dass die Authentizität darunter leiden musste. Silva-Tarouca kürzte so zum Beispiel die Eintragungen betreffend Mayerling auf 20 Zeilen und die Formel: „In diesem Zusammenhang bliebt es immer das Beste, darüber möglichst Schweigen zu bewahren, denn was war es anders als die Selbst-Liquidation eines Gestörten?2177“
2173
Eleonore Gräfin Hoyos, Palastdame (01.08.1835-1913) Eduard Graf Paar, ab 1887 bis 1916 Generaladjutant des Kaisers (verstorben 01.02.1919) 2175 Ernst Karl d. Ältere Graf Hoyos (1830-1903). Geschwister: Max Graf Hoyos, Ladislaus „Lato“ Graf Hoyos (zur Zeit der Mayerling-Tragödie österreichischer Botschafter in Paris) und Josef „Josl“ Theodor Graf Hoyos (1839-1899), k.k. Kämmerer, Herr auf Gut und Schloss Kreuzstetten. 2176 U.a. Verfasser von „Der Mentor der Kaiserin“ 2177 Silva-Tarouca, Egbert Graf: „Das Tagebuch der Gräfin Eleonore Hoyos“, maschinengeschriebenes Manuskript im HoyosSpritzenstein´schen Zentralarchiv zu Horn. Text nach Silva-Tarouca (Seite 482/483): „ Den furchtbaren Tod des Kronprinzen Rudolf kommentiert Lori mehr vom Standpunkt ihres österreichischen Herzens, ihrer ganz persönlichen Gefühle. In diesem Zusammenhang bleibt es immer das Beste, darüber möglichst Schweigen zu bewahren, denn was war es anders als die SelbstLiquidierung eines Gestörten! Wenige Wochen schon nach dem entsetzlichen Vorfall muss sie feststellen, dass die Mutter der Mary Vetsera wieder in Wien sei, deren Haltung nach dem Tode ihrer Tochter zu unliebsamen Kontroversen geführt hatte. In ihrem Schmerz über das, was geschehen war, läßt Lori ihre höfisch-patriotischen Gefühle in einer Art abreagieren, die den heftigen Widerhall erkennen lässt, den in den Herzen der Kaisertreuen das düstere Drama von Meyerling ausgelöst hat: man sollte eine Liga gegen die Schuldigen bilden, ereifert sich Lori, dabei gibt es Herren, die ihr – der Mutter Vetsera – das Wort reden und eine Legende aus der grässlichen Geschichte machen! Es frägt sich nur, wo die wahren Schuldigen „an der gräßlichen Geschichte“ zu suchen waren? Es waren das jene Kreise, die den Kaisersohn in einem heillosen Materialismus verstrickt hielten, eine Entwicklung, die fast schon in der Kinderstube begonnen hatte.“ 2174
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Der unmittelbar zeitnah verfasste sehr persönliche Tagebuchtext stellt im Original einen besonderen Wert für die Mayerling-Forschung dar, denn bislang sind nur wenige Quellen aus so gut unterrichteten Adelskreisen wie diesem verfügbar. Dennoch – oder gerade deswegen – wurde der Text bislang nicht im Wortlaut der Verfasserin veröffentlicht. Professor Dr. Fritz Judtmann hatte jedoch Gelegenheit, bei der Recherche zu seinem Buch zwischen dem 29. August 1966 und dem 08. September 1967 in Horn das Original einzusehen und eine weitere Abschrift anzufertigen. Diese durfte er jedoch nach Rücksprache mit Silva-Tarouca und seiner Gattin, einer geborenen Gräfin Hoyos, nicht in „Mayerling ohne Mythos“ verwenden. Hier erstmals der Wortlaut der Aufzeichnungen aus dem Jahre 18892178: „...2179 Aber welche Schreckenstage!! – Welcher Schlag für den armen Kaiser, den armen, armen Kaiser, ganz Oesterreich jeden Einzelnen – Es ist nicht zu fassen so schmachvoll, so schrecklich – ich kann nicht davon reden hören, ich kann nicht darüber schreiben – es ist so entsetzlich. Kronprinz am 30t. todt gesagt. Er war mit Coburg und J o s l in Maierling wurde in der Früh todt gefunden. Josl brachte die Nachricht – welche Aufgabe und immer Aergeres noch – erschossen – und erschossen so wie Mary Vetcera – das Mädl das ja immer ein Greuel – von uns allen gemieden – und noch so viel ärger als wir alle glauben durften. Aber aus Liebe hat er sich nicht erschossen, er war verrückt – überreizt – ob aber noch ein anderer Grund ihn in den Tod gejagt – er sprach in letzter Zeit sehr viel vom Tod – oder nur i h r e Exaltation ihn dazu getrieben? Ach! Warum so schreckliches, so Schmachvolles den armen Kaiser, ganz Oesterreich treffen musste! Wie schämt man sich – möchte sich verstecken – ich gehe jedem aus dem Wege – kann nicht darüber reden oder reden hören und sehne mich nur zu der Meinen engen Kreis. Armer Eduard – in solcher Zeit beim Kaiser zu sein! – Armer Josel auch schrecklich zu bedauern – er war mit in Maierling, musste die Nachricht nach Wien, dem Kaiser bringen und wird erst nach und nach empfinden – wie so Manches auf ihn zurückfallen wird, wie hart auch er getroffen ... ... Das sind grauenvolle Tage – ... Am 5. das Begräbnis – wir sehen es uns nicht an – man möchte und sollte nur beten, beten für die arme Seele, für den so schwer geprüften Kaiser – Gott erhalten ihn!!! Kronprinz ist vielleicht rechtzeitig genommen worden – aber wenn – nur nicht in dieser Art! – ... Der Ball Paget2180 am 30t. natürlich abgesagt – Wien still, düster, überall Trauer, Ernst – man schämt sich, möchte sich verkriechen, nicht reden, nicht reden hören – ich meide Alle und Jeden – bin viel bei Marie, der es gottlob gut geht2181, bei der anderes gesprochen, momentan das Schreckliche vergessen werden kann, das freilich um so härter dann wieder aufs Herz fällt. ... Bin gern wieder mit Geschwistern – mit und bei Eduard – Louis auch hier und Oswald, Meran. Von allen Seiten ist man herbeigeströmt – auf den Gassen wogt die Menge und doch todtenstille! – Grauenhaft und die Jugend hört solche Schandthat und wird der Eindruck ein Verbessernder, Reinigender, Stärkender, Rührender sein – ... Manifest und Armeebefehl vom Kaiser sind wunderschön – der arme arme Kaiser der so schwer geprüft, als Vater und Monarch vom Herbsten getroffen, erfüllt nach wie vor seine Pflicht – Hunderte von Menschen stehen am Burgplatz und schauen auf sein Fenster, wie ja das ganze Land, auf ihn hinaufschaut! – Gott erhalte ihn! – Kaiserin sehr lieb und voll Aufmerksamkeit – soll ihm wahrhaft eine Stütze sein – wenn es nur mit Ausdauer wäre ...
2178
Tagebuch der Gräfin Eleonore Hoyos, geborene Paar, Zentralarchiv Hoyos-Spritzenstein, Horn. Abschrift von Professor Fritz Judtmann, unveröffentlichter Nachlass in Privatbesitz 2179 ohne Datum, vermutlich in den ersten Februartagen verfasst. 2180 Gemeint ist der Ball beim britischen Botschafter Sir Augustus Paget 2181 Marie ist die Tochter der Gräfin Lori und hatte gerade eine Entbindung 399
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... Arme Kronprinzessin! – Ich schreibe so schwer darüber und möchte doch jedem Sohn ins Gemüt reden, möchte dass die ganze Sippe, die leider durch den Sport in die Gesellschaft gedrungen auf Nimmerwiedersehen auseinander gesprengt sei! – ... Am 11. Februar sind die Majestäten nach Pesth – wo es aber sehr unerquicklich gärt, das Wehrgesetz zu Unruhen genutzt wird. Kaiser sprach sich sehr bitter darüber aus – und mit Lob und Anerkennung über die Haltung und Theilnahme hier. Eduard wird uns recht abgehen, wir waren nun doch viel mit ihm .... Ich halte mich noch fern von aller Welt – meide die Menschen – wir leben still und doch nie ruhig - ... 2182
Metternich abends und welcher Schreck, das grause Haus2183 beleuchtet, die Schlange, die Viper, die entsetz-
liche Vetzera wieder da. – Es gibt Herren, die ihr das Wort reden, eine Legende aus der graesslichen Geschichte machen – aber umso mehr gilt es, eine Liga gegen das Ungeziefer zu bilden, das schon viel angenagt und doch mit allen Mitteln und dem ärgsten Arsenik vertilgt werden muss. Ich bin zu jeder Demonstration bereit !...“ Wie sich zeigt, war Lori Hoyos über die Vorgänge am Hofe durch ihren Bruder gut informiert. Ob ihre Bemerkung, dass auf ihren Schwager Josef „noch so manches ... zurückfallen wird“, in Zusammenhang mit der Notiz des Kronprinzen an Loschek zu sehen ist, kann jedoch vermutet werden.
2182
13. März 1889 400
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Kapitel 14 Verwehte Spuren
2. Die Mayerling-Autoren I A: Professor Dr. Ernst Edler von der Planitz / Berlin
„besser pest im nest denn knecht im reht.“
Planitz´ Wappenspruch
Einer der ersten namentlich bekannten Schriftsteller, die nach der Blutnacht von Mayerling vor Ort recherchierte, war der Journalist Ernst Alphons Edler von der Planitz2184. Bereits im Mai 1889 veröffentlichte er die erste Ausgabe seines Buches, der in 11 Jahren 52 Auflagen folgen sollte2185. Ernst Edler von der Planitz wurde am 03.März 1857 im nordamerikanischen Norwich geboren2186 - seine Eltern, u.U. schwäbische Gutsbesitzer, statteten dort Verwandten einen Besuch ab2187. Nach dem Tode seines Vaters in den USA kam Planitz nach Europa und erhielt eine umfassende Ausbildung. Er betrieb Studien in München, Paris und Berlin, arbeitete zunächst als Auslandskorrespondent, später als Chefredakteur des Münchner General-Anzeigers. Der promovierte Philosoph Professor von der Planitz wirkte zuletzt als freier Schriftsteller, Erzähler und Dramatiker2188. Ernst Alphons von der Planitz entstammte einem der ältesten evangelischen Adelshäusern des Vogtlandes, einer Region rund um die sächsische Stadt Plauen. Erstmals erwähnt wurde das Stammhaus der Familie am Planitzbach am 08. Dezember 1192 mit einem Ludwig von der Planitz2189. Lange Zeit war die Familie in Auerbach, später in Göltsch und Brambach ansässig. Ruhm erlangte das Edler-Geschlecht2190 durch einen Ahnherrn2191, der als „rechte Hand“ des Kurfürsten und Luther-Gönners Friedrich dem Weisen in die Annalen einging2192. Der Journalist und Schriftsteller hingegen entstammt der württembergischen Linie der Familie2193. Bis zu seinem Tode am 24. Januar 1935 lebte von der Planitz gemeinsam mit Gattin Adolphine in einem Haus an der später nach ihm benannten Planitzsstraße in Berlin-Hellersdorf und fand auf dem landeseigenen Friedhof Hel2183
gemeint ist das Palais Vetsera an der Salesianergasse Holler, Gerd: „Das Geheimnis von Mayerling“, Molden-Verlag, Wien 1980 2185 Sokop, Brigitte an den Verfasser, Wien 24.02.1994 2186 Kosch, Wilhelm: „Literatur-Lexikon“, Kopie des Schiller-Nationalmuseums Marbach 2187 Ausschnitt einer vogtländischen Zeitung (o.D.) 2188 Kosch, Wilhelm: „Literatur-Lexikon“, Kopie des Schiller-Nationalmuseums Marbach 2189 Gothaer Adelskalender, 1905 2190 Die Familie führt lt. „Vogtländische Zeitung“ o. D. seit dem 19.11.1522 das Prädikat „Edle von“ 2191 gemeint ist wohl Hans von der Planitz, der von Kaiser Karl V. das erbliche Adelsprädikat Nobilier (d.h. der Edlere) zu seinem Ritternamen erhielt, da er als Kanzler des Kurfürsten von Sachsen bei der Kaiserwahl 1519 es durchsetzte, dass der Habsburger auf den Kaiserthron gewählt wurde; zitiert nach Ernst Edler von der Planitz, „Landeszeitung Neustrelitz“, 07.10.1919 2192 Ernst Edler von der Planitz, „Landeszeitung Neustrelitz“, 07.10.1919 2193 Gothaer Adelskalender, 1905 2184
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lersdorf seine letzte Ruhestädte. Anna Maria Edle von der Planitz, anwesend bei der Testamentseröffnung am 12. März 19352194, konnte nicht als direkte Erbin ermittelt werden2195. 1886 erschien Planitz erstes Buch, „Neu Deutschlands Heldenbuch, 1. Stück“, dem 1889 „Ein Königsmärchen“ und in erster Auflage „Die volle Wahrheit über den Tod des Kronprinzen Rudolf von Österreich“ folgte. Zwei weitere Auflagen erschienen bereits im Juni gleichen Jahres im Nißler-Verlag München. Ab 1897 erschienen die Werke von der Planitz´s im Berliner Verlag A. Piehler & Co., den seine Frau und deren Freundin mit Sitz in Berlin-Kaulsdorf und Wittenberg gegründet hatten. Zehn Jahre lang wurde dieser Verlag sowie die angeschlossene Druckerei und eine Binderei von einem Wiener Buchhändler geführt, bis 1907 Planitz Sohn Baldur2196 – ein gelernter Buchhändler – in den Betrieb einstieg2197. 1930 wurde dieser Verlag aufgelöst, da die Planitz-Gesellschaft sich angeboten hatte, die Herausgabe des literarischen Werkes von der Planizt´ zu übernehmen2198. Zuvor jedoch war der Verkauf des Familienunternehmens an die J. G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger an mangelndem Interesse gescheitert2199. Zu den bekannteren Werken des Schriftstellers2200 zählt die epische Dichtung „Die Weiber von Weinsberg – Ein Sang von Weiberlist und Weibertreue“2201 und „Das Geheimnis der Frauenkirche in München“, ein Kriminalroman in drei Bänden aus dem Jahre 18932202. Im Jahre 1900 gibt von der Planitz dann die „Denkschrift der Baronin Helene von Vetsera über die Katastrophe von Mayerling“ heraus, die er auf Umwegen als Abschrift aus Wien erhalten hatte. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte er in erster Auflage „Die Lüge von Mayerling – Antworten an die Prinzessin Odescalchi auf ihre Enthüllungen über Kronprinz Rudolf und das Verbrechen der Vetsera“2203. 1903 schließlich folgte „Der Roman der Prinzessin Louise von Coburg. Ein Fürstenschicksal ohne Schleier – Aktenmäßige Darstellung der Affaire einer wahnsinnig erklärten Königstochter“. Zu den sogenannten „Hofgeschichten“ zählen die in einem Werkverzeichnis des Piehler-Verlages um 1920 genannten Stücke „Thronflüchtig“ und „Gräfin Odescalchi“2204. Planitz Arbeit über die Mayerling-Affäre ist eines der ersten Bücher, die jenseits österreichischer Zensurbestrebungen auf populärer, dennoch aber journalistischer Basis die Tragödie von Mayerling nachzeichnet. Ein Manko: Zwar überarbeitete und ergänzte Planitz sein Werk von Auflage zu Auflage, reichte stets neue Fakten an und ließ in
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Das Ehepaar Planitz hinterlegte am 04.08.1896 ein gemeinschaftliches notarielles Testament, in dem sie sich zu wechselseitigen Erben einsetzten. Das Sterbedatum von Adolphine von der Planitz war nicht zu ermitteln. Freundliche Mitteilung des Amtsgerichtes Berlin-Schöneberg, 08.08.1994 2195 Am 03.08.1980 verstarb in Riesa/Elbe eine Frau Annemarie von der Heydt, geborene Edle von der Planitz (* 22.04.1908). Ihr Sohn, Dieter von der Heydt (Lübben) berichtet, seine Mutter habe weder in Berlin zur angegebenen Zeit gelebt, noch sei sie Erbin nach Ernst von der Planitz gewesen (Lübben, 06.10.1993). 2196 Baldur Moritz Ernst Theodor Georg von der Planitz, zuletzt wohnhaft in der Hagenbergstraße 7/Ilsenburg, gestorben am 12.03.1927 in Ilsenburg/Harz. Freundliche Mitteilung des Landkreises Wernigerode, 14.02.1994 2197 Brief Ernst Edlere von der Planitz, 20.05.1930 2198 Brief Ernst Edlere von der Planitz, 20.05.1930 2199 Brief „Cotta´sche Buchhandlung Nachf.“ Vom 22.05.1930 2200 lt. Werkverzeichnis des Piehler-Verlages komponierte der herzogliche Musikdirektor Oskar Möricke 86 Stücke zu Planitz´ Werken 2201 Eine Information, dass anläßlich seines 50. Geburtstages sein Name im Sogenannten Dichterturm der Ruine Weibertreu in Weinsberg eingraviert worden sei, ist falsch (Stadt Weinsberg, 22.10.1993) 2202 Kosch, Wilhelm: „Literatur-Lexikon“, Kopie des Schiller-Nationalmuseums Marbach 2203 Odescalchi, Prinzessin: „Kronprinz Rudolf und das Verbrechen der Vetsera“, Verlag Bracklauer, Leipzig 1900 und Odescalchi, Prinzessin: „Kronprinz Rudolf und das Verbrechen seiner Geliebten der Baronesse Vetsera - Dargestellt nach den Veröffentlichungen der ...“ Leipziger Verlags-Comptoir, 101.-105- Tausend, Leipzig (um 1905) 2204 Werkverzeichnis im „Marienleben“ (um 1920) aus dem Piehler-Verlag, darin weitere Titel (Auswahl des Autoren): „Der Dragoner von Gravelotte“ (1886), das „Buch der Balladen“, die Rhapsodie „Das Sarazenenschloß“, die „Minnelieder“ und „Stimmen der Einsamkeit“ als Beispiele lyrischer Dichtung, „Der Dank des Vaterlandes“ (dramatische Dichtung), „Heldentod“ (Bühnenstück), „Die ersten Christen“ (antiker Roman), „Jesus und sein Werk“ (kulturhistorische Studien), „Weihnachten im Walde“ (Novelle), „Berliner Bilderbuch“ (Erzählung), „Das Melophantasma“ (Kampfschrift), „Totenfeier“ (Vortragsausgabe), „Als Spion in Frankreich“ (1925/Biographie), „Sedan“ (vaterländische Dichtung), „Die Entdeckung des Denkprozesses“ (Satire) u.v.m. 402
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seinen Augen Uninteressantes weg. So tradierte er viele Fehler2205, die im laufe der Jahre zu historischen Quellen „geadelt“ wurden. Auch wenn Planitz Mayerling-„Wahrheit“ zunächst nur außerhalb Österreichs publiziert wurde, scheint er bei der Wiedergabe von Informationen oftmals auf hochgestellte Persönlichkeiten Rücksicht genommen zu haben: er verschwieg die Quellenangabe. Heute ist es so kaum noch möglich, seinen Hinweisen wissenschaftlichen Halt zu geben. So beruhen seine Beschreibungen nur auf den „ergänzenden Berichten unseres mit den österreichischen Hofkreisen in engster Fühlung stehenden Wiener Correspondenten“2206. Den Wahrheitsgehalt seiner Recherche in Sachen Mayerling schmälert jedoch der Schatten der sogenannten Benanbrief-Affäre. 1910 hatte Planitz im Verlag A. Piehler & Co. in einer fünf Bände umfassenden Serie den „Benanbrief“ publiziert: die Übersetzung einer Papyrusrolle in koptischer Sprache aus dem 5. Jahrhundert, deren Urtext auf einen griechischen Originalbrief des ägyptischen Arztes Benan um 83 nach Christus zurückgeht. Der Brief nannte einen „Jesus von Anu“, brachte Licht in das Dunkel der messianischen Jugendzeit und sollte den Beweis führen, Jesus habe im altägyptischen Anu gelebt und sei erst drei Jahre vor seinem Tode ins Heilige Land gekommen, wo er als Mediziner wirkte und heilte. Um 1919 konnte der Berliner Theologieprofessor Dr. Carl Schmidt beweisen, dass der „Benanbrief“ von Planitz frei erfunden war2207 – ebenso wie ein weiterer Papyrus, der die Echtheit des erstgenannten Briefes belegen sollte2208. Erst im Laufe seiner Recherche zu Mayerling, so offenbart sich der Autor, sei er selbst zu der „unwiderlegbaren Überzeugung gelangt, dass Rudolf von Österreich sich nicht freiwillig getötet“ habe. Vielmehr will Planitz die Formulierung „Selbstmord in Folge momentaner Geistesstörung“ aus dem Obduktionsprotokoll übernehmen, denn der Kronprinz sei „dem fürchterlichen Zwang einer physischen und moralischen Notlage zum Opfer gefallen“2209. Planitz selbst sucht zwischen den „Trümmern eines moralischen und physischen Zusammenbruchs“ des Erzherzogs die Gründe für die Tat und spricht auch Mary Vetsera zunächst frei von Schuld. Auch ihr könne man „Mitleid, ja selbst Achtung“ nicht versagen. „Sie hat viel gesehen, sie hat auch viel Gefühl. Wer wagt es den ersten Stein auf sie zu werfen?2210“ Eine Frage, deren Bedeutung sich auch u.a. Brigitte Hamann Jahrzehnte später nicht entziehen kann2211. Der Nachlaß Ernst Alphons von der Planitz mit möglichen Recherchen zum Mayerling-Werk und seine beachtliche Sammlung von zusammengebettelten Briefen der Katharina Schratt2212, ging im 2. Weltkrieg durch Bombenterror verloren2213. Seine Publikationen sowie einige Brief der Jahre 1909 und 1930 sind erhalten2214.
2205
Sokop, Brigitte an den Verfasser, Wien 24.02.1994; Planitz irrt z.B. beim Aufenthalt der Vetseras in England und legt das Reisejahr falsch fest 2206 Planitz, zitiert nach seinem Werk 2207 Der Brief zählt zu jenen Fälschungen, welche die Heilungen die Jesus voillbracht hat, rational und naturwissenschaftlich erklären wollen. 2208 Schmidt, Carl und Grapow, Hermann: „Der Benanbrief – Eine moderne Leben-Jesu-Fälschung des Herrn Ernst Edler von der Planitz“, Hinrichs´sche Buchhandlung, Leipzig 1921 2209 Schmidt, Carl und Grapow, Hermann: „Der Benanbrief – Eine moderne Leben-Jesu-Fälschung des Herrn Ernst Edler von der Planitz“, Hinrichs´sche Buchhandlung, Leipzig 1921 2210 Planitz, Ernst Edler von der: „Die volle Wahrheit über die Katastrophe von Meierling nach amtlichen und publicierten Quellen sowie den hinterlassenen Papieren“, Band 1 und Band 2, Verlag H. Piehler und Co., Berlin 40. Auflage ohne Datum 2211 Hamann, Brigitte: „Rudolf –Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 6. Auflage 1987 2212 Sokop, Brigitte an den Verfasser, Wien 24.02.1994 2213 Sokop, Brigitte an den Verfasser, Wien 24.02.1994 2214 Brief vom 26.04.1909 in der Handschriften-Sammlung der Stadtbibliothek München; Brief vom 20.05.1930 im Cotta-Archiv des Schiller Nationalmuseums / Deutsches Literaturmuseum der dt. Schillergesellschaft, Marbach/Neckar 403
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Kapitel 14 Verwehte Spuren
2. Die Mayerling-Autoren I B: Dr. Oskar Freiherr von Mitis / Wien
„Du scheinst ihm nicht geschrieben zu haben, dass sehr wichtige, bisher ungenützte Quellen im Staatsarchiv vorhanden sind.“
Egon Caesar Conte Corti 09. Januar 1947
Zu den wenigen seriösen Darstellungen des Lebens von Kronprinz Rudolf zählt seit Ende der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts „Das Leben des Kronprinzen Rudolf – mit Briefen und Schriften aus dessen Nachlaß“2215 von Oskar von Mitis. Der langjährige Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs zu Wien hatte Zugang zu sämtlichen erhaltengebliebenen Dokumenten seiner Zeit. Doch bereits er war sich der Tatsache bewußt, dass eine Reihe von wichtigen Papieren zum Verschwinden gebracht worden waren2216. Mitis wurde am 01. Juni 1874 als Sohn des Senatspräsidenten Peter Freiherr von Mitis und dessen Ehefrau Maria in Wien geboren. Er besuchte das „Theresianum“ und das Schottengymnasium, studierte an der Wiener Universität Geschichte und promovierte am 20. Juli 1897 zum Doktor der Philosophie2217. Von 1895 bis 1897 war Mitis ordentliches Mitglied des Institutes für österreichische Geschichtsforschung und 1898/99 Mitglied des österreichischen Historischen Institutes in Rom. Nach Archivreisen im Dienste der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, deren Sekretär er war, trat er 1899 in den staatlichen Archivdienst ein und wechselt 1900 in das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv2218, dessen Direktor er 1919 wird2219. Am 31. Dezember 1925 trat Oskar Freiherr von Mitis freiwillig als Sektionschef in den Ruhestand, der jedoch durch die Wiederaufnahme des Archivdienstes im zweiten Weltkrieg unterbrochen wurde. Zudem übernahm er die Leitung des Zentralarchivs des deutschen Ritterordens sowie Sonderaufträge der deutschen Archivkommission in Prag und Brünn2220.
2215 Sektionschef a. D. Dr. Oskar Freiherr von Mitis sen., „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag Leipzig, 1. Auflage 1928 2216 Andics, Helmut: „Die Frauen der Habsburger“, 2. Auflage Wien 1986 2217 „Adler – Zeitschrift für Genealogie und Heraldik“, Wien, Dezember 1955 2218 „Wiener Rathaus Korrespondenz – rk termine“, Wien 14.08.1980, Blatt 271 2219 „Adler – Zeitschrift für Genealogie und Heraldik“, Wien, Dezember 1955 2220 „Wiener Rathaus Korrespondenz – rk termine“, Wien 14.08.1980, Blatt 271
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Nach dem zweiten Weltkrieg zog sich Baron Mitis in sein Haus nach Kitzbühel zurück2221, wo er am 22. August 1955 im Alter von 82 Jahren starb. Er wurde am 26. August auf dem Kirchenfriedhof von St. Johann in Tirol beigesetzt. Nachdem der Friedhof zwischenzeitlich aufgelassen wurde, erinnert nun ein Gedenkstein an der Friedhofsmauer an den Schriftsteller2222. Freiherr Dr. Oskar von Mitis, Ritter des kaiserlich-königlichen Ordens der Eisernen Krone und des Franz JosefOrdens, Offizier des österreichischen Ehrenzeichens vom Roten Kreuz mit der Kriegsdekoration und Offizier der französischen Ehrenlegion2223 war verheiratet und hinterließ zwei Kinder. Sein Sohn Oskar jun. Verstarb kinderlos; Bruder Rudolf (sic!) ehelichte eine Wirtstochter. Dieser Verbindung entstammen zahlreiche Nachkommen2224. Oskar von Mitis sen. hatte am 22. Januar 1937 die von ihm 1902 im Haus-, Hof- und Staatsarchiv hinterlegten Papiere der Familie Mitis dem Archiv offiziell übergeben2225. Nach dem frühen Tod von Oskar jun. wurde das Familienarchiv aus dem Staatsarchiv ausgegliedert und Frau Maria Gräfin Ludwigstorff übergeben. Sie leitete die Unterlagen weiter an Dr. Knut Mitis, der die Papiere am 14. Dezember 1985 in Bad Deutsch-Altenburg übernahmen. Dieser nun deponierte die Unterlagen in der Wiener Wohnung von Frau Therese Swaty. Bei einer dort durchgeführten Sichtung des Materials wurde festgestellt, dass gegenüber dem Bestandsverzeichnis von 1937 insgesamt 14 Positionen fehlten2226. Derzeit ist das Mitis-Familienarchiv wieder im Haus-, Hof- und Staatsarchiv deponiert, ein Schenkungsvertrag jedoch noch nicht endgültig formuliert2227. Mitis Rechercheunterlagen zum Kronprinz werden, ebenso wie die Familienpapiere mit der Ahnenreihe bis 1532 und zahlreiche Seperatabdrucke seiner Arbeit, im Staatsarchiv Wien verwahrt2228. In seiner wissenschaftlichen Arbeit zeigte Oskar von Mitis große Vielseitigkeit: Urkundenforschung, Genealogie und Verfassungsgeschichte waren die Schwerpunkte seines Werkes. Er verfaßte ein Urkundenbuch zur Zeitgeschichte der Babenberger2229 und schenkte der fachgerechten Konservierung historischer Siegelabdrücke viel Aufmerksamkeit. Die Siegelabgußsammlung des Österreichischen Archivrates entstand maßgeblich auf seine Initiative2230. Seit 1921 war Mitis damit befasst, den Nachlass des Kronprinzen in einem Selekt zusammen zu fassen und dieses wissenschaftlich aufzubereiten. Auslösender Moment für das Abfassen eines Buches könnte für Mitis 1922 die Einsicht in die Hinterlegten Papiere des Grafen Hoyos sein. Zu diesem Zeitpunkt beginnt zumindest der Briefwechsel des Sektionschefs mir mehr als 20 Personen aus dem näheren und weiteren Umfeld des Thronfolgers. Ursprünglich wollte Mitis jedoch nie die Lebensgeschichte des Kronprinzen publizieren, doch sah er es im Laufe seiner Nachforschungen als Ehrenpflicht an, „Schmutz aus dem Weg zu räumen“2231, der das Ansehen des Kaisersohnes befleckte. Mitis korrespondierte während seiner Arbeit mit der Familie Hoyos, Otto Windisch-Graetz, der Tochter des Journalisten Julius Futtaki, dem Münchener Hausarchiv bezüglich Ludwig II., den Nachfahren von Laszlo von Szögyeny-Marchich, Graf Ulrich Kinsky, dem Kriegsarchiv bezüglich Carl Bombelles, Heinrich von Slatin und König Fer-
2221
„Salzburger Nachrichten“, 26.08.1955, Kulturnachrichten Dr. Knut Mitis, Tullnerbach, 04.03.1996, an der Verfasser 2223 Totenbrief von Dr. von Mitis, 23.08.1955 2224 Dr. Knut Mitis, Tullnerbach, 04.03.1996, an der Verfasser 2225 Verfügung Mitis, 22.01.1937 2226 Durchsicht der Familienpapiere, Wien 11.01.1986 2227 Dr. Knut Mitis, Tullnerbach, 04.03.1996, an der Verfasser 2228 Verfügung 1937; Durchsicht 1986; Gesamtinventar nach J. Bittner 2229 „Wiener Rathaus Korrespondenz – rk termine“, Wien 14.08.1980, Blatt 271 2230 „Adler – Zeitschrift für Genealogie und Heraldik“, Wien, Dezember 1955 2231 „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Mitis, 1928 2222
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dinand von Bulgarien als Mitglied der Familie Coburg in bayerischem Exil2232. Diesen Briefwechsel sowie weitere Forschungsunterlagen überlässt Mitis 1929 dem Staatsarchiv und gliedert sie in den von ihm ab 1921 geschaffenen Selekt Kronprinz Rudolf ein – allerdings unter Verwischung der Provenienzen. Nach mehrjähriger Recherchearbeit erscheint am 20. September 1928 im Leipziger Insel-Verlag in der Erstauflage von 2.000 Exemplaren seine Rudolf-Biographie. Die Historikerin Brigitte Hamann irrt jedoch, wenn sie das Erscheinen des Buches in einen direkten Zusammenhang mit Mitis Tätigkeit als Archivdirektor bringt – dort war er bereits drei Jahre zuvor offiziell ausgeschieden und befasste sich seither als Privatier, zurückgezogen auf sein böhmisches Gut Klobonky bei Brünn, mit dem Thema. Als Ausgleich zur Schreibtischarbeit widmete sich Mitis der Landwirtschaft2233. Mitis hatte es sich bei seiner Arbeit zur Aufgabe gemacht, „endlich die Wahrheit zu hören“ und „das Wesen des Thronerben schärfer zu erfassen“2234. Dem Erscheinen des Buches war ein monatelanges Ringen um die Druckform vorausgegangen. Der Historiker Mitis hatte geplant, Textanmerkungen jeweils auf der entsprechenden Buchseite zu plazieren. Doch das lehnte der Verlag ab2235. Stattdessen forderte der Leipziger Verleger Mitis auf, die Zahl von 750 Anmerkungen drastisch zu reduzieren und an den Schluß des Buches zu stellen. So entbrannte in Folge ein Kleinkrieg um jede Fußnote, die für Mitis wichtiger war als die Lesbarkeit seines Buches. Und da die von ihm ausgesuchten Abbildungen nicht von Österreich nach Deutschland gebracht werden konnten, entstanden zudem Probleme durch die schlechte Reproduktion der Illustrationen durch Wiener Fotostudios2236. Als das Buch im September 1928 endlich in den Buchhandel kommt, erntet Mitis allerorten viel Lob, darunter auch von Rudolfs Tochter Elisabeth, verehelichte Petznek, dem König von Bulgarien und dem Schriftsteller Berthold Frischauer2237. Für die leinengebundene Erstausgabe2238 erhielt Mitis 1.000 Mark Honorar auf sein Wiener Konto eingezahlt. Weitere 1.000 Mark sowie eine dritte Zahlung in Höhe von 800 Mark sind auf ein am 5. September 1928 in Zürich eröffnetes Konto verbürgt. Dieses Geld stellt der Sektionschef a. D. dem Erziehungsinstitut „Rhenania“ in Neuhausen bei Schaffhausen zur Verfügung2239. Besondere Bedeutung erhält diese von Mitis verfaßte, erste wissenschaftlich fundierte Biographie durch die Verwendung von Archivmaterial und Informationen, die Mitis direkt aus dem Umfeld des Kronprinzen – zum Teil von Augenzeugen – erhalten konnte. Als erster konnte er mit Genehmigung der Familie des sogenannte HoyosDenkschrift publizieren, sah im Briefwechsel zwischen Rudolf und Szögyeny-Marich einen Abschrift vom Kondizil und dem Abschiedsbrief des Thronfolgers und sammelte erstmals Informationen über die Schüsse im Höllgraben, die Rudolf auf seinen Vater abgegeben haben soll. Die Bedeutung dieser Arbeit unterstreicht die Neuauflage durch Professor Adam Wandruszka 1971, der das Buch kritisch einleitet und um Briefe Rudolfs an Professor Theodor Billroth erweitert2240.
2232
Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 2234 „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Mitis, 1928 2235 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 2236 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 2237 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 2238 Ladenverkaufspreis: 14 Mark. Insgesamt gab es wohl vier Ausgaben, davon die 4. in einer Auflage von 4.000 Exemplaren. Die englische Ausgabe hatte eine Auflage von 2.000 Exemplaren, von denen jedoch nur 225 Stück verkauft wurden. 2239 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21 2240 „Das Leben ...“, Mitis, neu herausgegeben und eingeleitet von Professor Adam Wandruszka, Wien 1971, Vorwort: „Das nur halb gelöste Rätsel“. Mitis Sohn hatte der Neuauflage durch den Verleger Willy Lorenz nur zugestimmt, wenn Wandruszka die zwischenzeitlich neu erschienene Literatur kritisch prüfend in einem Vorwort zusammenfassen würde. 2233
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Getrübt wird die Freude am frühen Werk über Kronprinz Rudolf jedoch durch die Rücksichtnahme, die sein Verfasser auf lebende Personen aus dem Umfeld des Thronerben nahm. Genannt seinen an erster Stelle Erzherzogin Elisabeth als Tochter und Maria Caspar als Geliebte. Allzu private Details aus Rudolfs Leben verschwieg Mitis ebenso. Aus Rücksicht auf die noch lebende Witwe des Kronprinzen, Stephanie Fürstin Lonyay, ließ er auch bei der Wiedergabe der Hoyos-Denkschrift zwei intime Passagen aus. Auch Wandruszka bemerkte dies zunächst nicht und konnte die fehlenden Sätze nur durch einen Beileger der Neuauflage zufügen: Wo Hoyos von seinem Bericht an den Kaiser und die durchl. Frau Kronprinzessin-Witwe erzählt, heißt es: Im Verlaufe der Audienz bemerkte Höchstdieselbe, daß sie das Unglück habe kommen sehen… Nach dem Original im Staatsarchiv ist zu ergänzen: … und daß sie sich auch nicht von aller Schuld freisprechen könne, eine Katastrophe nicht zu verhindern war; und wo Hoyos schrieb, daß Rudolfs Ehe durch eine Reihe von Jahren eine sehr glückliche war, ist die Stelle weggelassen: Seine Gemahlin soll ihm, aus begründeter oder nicht begründeter Eifersucht, wie mir Obersthofmeister Graf Bombelles sagte, gewisse Rechte verweigert haben, was ihn erbitterte und auf schlimme Abwege brachte, von denen ich niemals Mitteilung durch ihn erhielt …2241“ Den Inhalt des Abschiedsbriefes an Sektionschef Szögyeny-Marich publiziert er auf Bitten der Angehörigen nicht und Graf Heinrich, dem Sohn des Ministerpräsidenten Taaffe, sicherte er absolute Verschwiegenheit bezüglich seines Besuches im Taaffe-Archiv zu Ellischau zu2242. Doch gerade diese Verschwiegenheit brachte Oskar von Mitis große Anerkennung in monarchistischen Kreisen ein. Leider versäumte es Mitis, mit Johann Loschek als Kammerdiener und Tatortzeugen sowie Maria Caspar als Intimfreundin des Kronprinzen in Kontakt zu treten. Seine Zielsetzung, das „heute Erreichbare“ festzuhalten, konnte und wollte er also nicht vollständig erfüllen2243. Bis ins Jahr 1946/1947 unterhielt Mitis engen Kontakt zum HabsburgBiographen Egon Caesar Conte Corti und dem Kronprinz-Forscher Professor Hermann Zerzawy2244 sowie Heinrich von Slatin, der Mitis über seine postmortem zu veröffentlichten Mayerling-Notizen informierte2245. Augenscheinlich sammelte er weiterhin Material zum Leben Rudolfs, dass er in einer Neuauflage seines Buches verwerten wollte. Ein lockerer Briefkontakt verband ihn mit dem amerikanischen Forscher Wildon Lloyd aus Washington, der als Gegenleistung für Informationen aus dem Staatsarchiv Mitis und Conte Corti nach Kriegsende mit Care-Paketen versorgte. Der Briefwechsel der drei Forscher ist erhalten2246. Dass Mitis über den Tod des Kronprinzen in Mayerling ebenso mehr wußte wie Conte Corti, mag das Zitat belegen, das diesem Kapitelabschnitt vorangestellt ist.
2241
zitiert nach Wandruszka, Adam: Mayerling und kein Ende, Die Zeit, Hamburg, 09.01.1993 „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus Sicht der Chronik >>Die Familie Vetsera im kaiserlichen Wien
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