Das grosse Tor von Kiew - Der Atlan-Club
March 9, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Das grosse Tor von Kiew Ernestine Gohr
N
icki fiel die Hand ab. Im Sandkasten vor ihm lag sie, die kleine Schippe umklammernd. Mit der Ernstha igkeit eines Zweijährigen dachte er nach. Dann schaufelte er mit der ihm verbliebenen Hand den feinkörnigen Sand zu vier majestätischen Ecktürmen auf. Für die Ausformung der kleinen Mauerzinnen war der zierliche Armstumpf genau richtig. Die Burg des Schwarzen Ri ers war die Schönste, die er bisher gebaut ha e. Nicki war stolz auf sein Werk. Lernvater Tom Niemczyk kam mit zwei Päckchen Fruchtgetränk in den Garten. Er bestaunte die Bastion aus Sand und sah sich das Malheur mit der Hand an. »Aua?«, fragte er seinen Bewährungssohn. »Aua!«, bestätigte Nicki und lächelte glücklich. »Viel zu früh«, kommentierte Dr. Bakala beim Hausbesuch Nickis Ausfallerscheinungen. »Wenn überhaupt, dann passiert so was frühestens im vierten Herbst. Haben Sie ihn anständig gewässert, Tom, bekommt der Kleine genug Licht und frische Lu ? Sie haben doch in der Akademie gelernt, wie wichtig das ist.« Als behördlich bestellter Heger des el en Kiewer Bezirks legte Dr. Bakala hohe Maßstäbe an das Verhalten von Lerneltern an. Tom beeilte sich zu versichern, streng nach der Raunifibel zu erziehen. Gründlich untersuchte Dr. Bakala erst Nickis Stumpf, dann die Hand. Der Kleine machte keinen Mucks, ließ das Abtasten gleichmütig über sich ergehen. »Da haben wir’s schon«, verkündete der Doktor, winkte Tom näher zu kommen, um sich das aus der Nähe anzusehen. »Sandkörner! Sand entzieht Feuchtigkeit. Quercus brauchen feuchten, reichhaltigen Humus. Oder haben Sie schon mal Eichen im Sand stehen sehen?« »Aber er baut doch so gerne Burgen«, wandte Tom ein, »Sie müssen seine tollen Konstruktionen sehen, Doktor. Nicki macht das großartig.« Dr. Bakala schü elte den Kopf. Dem Irrglauben, Raunis könnten eigenständig gestalten und Ideen haben, erlagen viele Lernväter und –mü er. Das Amt ha e diesbezüglich einen Ukas herausgegeben. Darin machte der Minister, der angesehene Professor Abraham Rauni, unmissverständlich klar, dass Phantasie und Kreativität bei Floradoniden nur rudimentär vorhanden sein können. Zudem diene die individuelle Aufzucht unter der Obhut zukün iger Väter und Mü er dem Zweck, diese mit den Anforderungen an die Erziehung von Kindern heranzuführen, ihr parentales Bewusstsein zu bilden. Vateroder Mu erstolz seien der Entwicklung humanoider Kinder eher hinderlich. Zu gerne reflektiere man eigene Wünsche und Erwartungen in seine Kinder, deren eigene Anlagen damit unterdrückt würden. »Ab sofort kein Sandkasten mehr, Tom«, entschied Dr. Bakala. »Nicki braucht 49
Waldumgebung. Entweder Sie erziehen ihn artgerecht oder Sie verzichten auf das Elterndiplom.« Tom Niemczyk beteuerte, nur das Beste für den Bewährungssohn zu wollen. Ob der Doktor etwas wegen der fehlenden Hand machen könne? Pflichtgemäß wurde Tom belehrt, dass derartige Äußerlichkeiten keinerlei Auswirkung auf die Funktion von Raunis hä en. Dennoch versorgte Dr. Bakala den Stumpf nach bester Hegerkunst. Im Frühjahr würde Nicki eine neue Hand wachsen. »Nicki ist bald wieder in Ordnung«, versprach Dr. Bakala und räumte sein Hegerbesteck zurück in die Arz asche. »Haben Sie ihn schon schätzen lassen, Tom?« »Nein, nur der Vormerk ist gekommen. Sobald Nicki einen Meter dreißig misst, soll ich ihn zur Prüfstelle am Großen Tor bringen.« Allmonatlich baute die staatliche Versorgungsbehörde am Großen Tor eine ihrer mobilen Kontrollstellen auf. Länge, Gewicht und Verständnisfähigkeit der in privater Aufzucht befindlichen Floradoniden mussten artbedingte Mindestnormen erfüllen. »Durchhalten«, munterte Dr. Bakala ihn auf, »das schaffen Sie.« Er drückte Tom das Rezept für einen löslichen Spezialdünger in die Hand und tätschelte Nickis Kopf. »Reden Sie mehr mit Nicki. Lesen Sie etwas vor. Das ist gut für die Entwicklung des Kognitiven.« Tom wusste nicht, was kognitiv bedeutete, nickte trotzdem und hielt höflich dem Doktor die Wohnungstür auf. Nur noch wenige Jahre, dachte Tom, dann würde er Nicki zum letzten Mal zum Großen Tor bringen. Wenn Tom seine Sache gut machte, wenn Nicki die Kriterien als genügsamer Arbeiter in den Eiweißfarmen erfüllte, dann würde im die Prüfstelle am Großen Tor bestätigen, dass er als Lernvater seine Pflicht für die Gesellscha abgeleistet und Anspruch auf das begehrte Elterndiplom ha e. Seine Chancen bei der Partnervermi lung würden steigen. Vielleicht wäre sogar ein echtes Kind möglich – sofern seine kün ige Lebensgefährtin dies ebenfalls wünschte. »Schlafenszeit, Nicki«, rief Tom, »ab in die Heia.« Wie jeden Abend schmierte er Nicki mit einer angenehm du enden, rückharzenden Lotion ein. Dabei versuchte Tom sich vorzustellen, wie Nicki die Tiere auf den staatlichen Eiweißfarmen versorgte. Vielleicht würde er ihnen Fu er geben oder sie schlachten. So lange bis Nicki alt und unbeweglich würde und man ihn zum Wurzeln aussetzte. Mehr mit Nicki reden, ha e Dr. Bakula gefordert. Tom kramte eines seiner alten Kinderbücher hervor. Die Abenteuer des Ri ers Ivanhoe ha e er damals verschlungen. Genau das Richtige für eine Gute-Nacht-Geschichte. »Morgen kaufen wir Dir Bauklötze, Nicki, damit kannst Du auch im Wald Burgen bauen.« Tom wusste nicht, ob Nicki ihn tatsächlich verstand, sich auf die Geschichte oder das Burgenbauen freute, oder ob er ihn nur anlächelte, weil er das fast immer tat. Würde Nicki genauso glücklich aussehen, wenn er ein Schwein in handliche Kotele s zerlegte? Anstrengend, so ein Kind, gestand sich Tom ein. Vielleicht würde er sich später doch lieber eine Katze kaufen.
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