Beitrag von Bundesumweltminister Peter Altmaier: Die

March 17, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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politische bildung Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung und zur Unterrichtspraxis

Energiewende Mit Beiträgen von

Peter Altmaier

Christoph Gnau

Nils aus dem Moore

Dörte Ohlhorst

Christoph M. Schmidt

Sibyl D. Steuwer

Kerstin Tews

Frank Umbach

Forum:

Karola Braun-Wanke

Federführend herausgegeben von Johannes Varwick

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Impressum

politische bildung Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung und zur Unterrichtspraxis Erscheint im 46. Jahrgang Begründet von Walter Gagel Herausgeber

Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling Melanchthonstr. 36 72074 Tübingen

Prof. Dr. Peter Massing Katteweg 25 a 14129 Berlin

Prof. Dr. Stefan Schieren Steghäuser 3 85072 Eichstätt

Prof. Dr. Johannes Varwick Fechnerstr. 18 10717 Berlin

Federführende Herausgeber für dieses Heft

Prof. Dr. Kerstin Pohl Richardplatz 8 12055 Berlin

Johannes Varwick

Die fachwissenschaftlichen Beiträge durchlaufen ein board-review-Verfahren. Sie werden von den Herausgebern angefragt und begutachtet. Für die Beiträge zur „Unterrichtspraxis“ und das „Forum“ besteht ein fortdauernder „call for papers“. Die Beiträge werden in einem double blind peer review-Verfahren von einem review-board begutachtet. Mitglieder dieses review­ boards sind Praktiker und Wissenschaftler: Antje Breit, Prof. Dr. Joachim Detjen, Philipp Elsen, Hans-Jürgen Friedrichs, Prof. Dr. Thilo Harth, Prof. Dr. Ingo Juchler, Michael Kittler, Angela Kirsch, Prof. Dr. Hans-Werner Kuhn, Dr. Michael May, Prof. Dr. Dagmar Richter, Jessica Schattschneider, Christoph Wagner, Prof. Dr. Georg Weißeno, Prof. Dr. Bettina Zurstrassen. Nähere Informationen unter www.zeitschriftpolitischebildung.de. Reviewverfahren

Redaktionsanschrift

WOCHENSCHAU VERLAG, Adolf-Damaschke-Str. 10, 65824 Schwalbach/Ts.

Verlag und Vertrieb WOCHENSCHAU VERLAG, Dr. Kurt Debus GmbH, Adolf-Damaschke-Straße 10, 65824 Schwalbach/Ts., Verleger: Bernward Debus, Tessa Debus Tel.: 06196/86065, Fax: 06196/86060, E-Mail: [email protected], Internet: www.wochenschau-verlag.de Bezugsbedingungen Es erscheinen 4 Hefte jährlich. Preise: Einzelheft € 22,80; Abonnementpreis je Heft € 16,20; Jahresabopreis € 64,80; Jahresabonnementpreis für Studierende und Referendare € 32,40; alle Preise zuzüglich Versandkosten. Kündigung: 8 Wochen (bis 31.10.) vor Jahresschluss. Bankverbindung für Überweisungen: Postbank Frankfurt, Konto-Nr. 0003770608, BLZ 500 100 60, IBAN DE68 5001 0060 0003 7706 08, BIC PBNKDEFFXXX. Zahlungsweise: Lieferung gegen Rechnung oder Lastschrift. Anzeigenleitung

Brigitte Bell, Tel.: 06201/340279, Fax: 06201/182599, E-Mail: [email protected]

© WOCHENSCHAU VERLAG, Schwalbach/Ts. Alle Beiträge sind gesetzlich geschützt. Kein Teil dieser Zeitschrift darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages – außer in den vom Gesetzgeber vorgesehenen Ausnahmen – reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt. Die hier veröffentli­ chten Fachaufsätze werden in der Reihe „Einführung Politik“ des Wochenschau Verlages z.T. auch in Buchform publiziert. Dies gilt nicht für die didaktischen Teile der Zeitschrift. ISSN 0554-5455

ISBN 978-3-89974857-4 WOCHENSCHAU VERLAG • Adolf-Damaschke-Straße 10 • 65824 Schwalbach am Ts. • Tel: 06196/84010 • Fax: 06196/86060 E-Mail: [email protected] www.zeitschriftpolitischebildung.de

Inhalt | pb 2/2013

INHALT

Energiewende Johannes Varwick: Einleitung ............................................................................. 5

Peter Altmaier: Die Energiewende ist die größte umwelt- und wirtschafts­ politische Herausforderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ............................ 7 1. Die große Transformation 2. Die Dimension(en) der Energiewende 3. Wie wir das Generationenprojekt Energiewende zum Erfolg führen 4. Die Vision für die nächsten Jahrzehnte Dörte Ohlhorst/Kerstin Tews: Deutschland als Laboratorium:

Das Experiment Energiewende ........................................................................ 26

1. Einleitung 2. Herausforderungen der Umstellung des Energieversorgungssystems auf erneuerbare Energien 3. Koordinationsbedarf im Mehrebenensystem 4. Gesellschaftliche Akzeptanz 5. Schlussfolgerungen Sibyl D. Steuwer: Instrumente der Energiewende ............................................ 46

1. Einleitung 2. Instrumente zur Förderung erneuerbarer Energien 3. Das Europäische Emissionshandelssystem: CO2-Preis mit Signalwirkung? 4. Steuerung der Nachfrageseite: Instrumente für Energieeffizienz 5. Diskussion und Ausblick Nils aus dem Moore/Christoph M. Schmidt: Die Energiewende finanzierbar gestalten. Konsistente Ziele formulieren, Entdeckungsprozesse ermöglichen, besonnene Umsetzung verfolgen ......... 72 1. Energiewende: Die Herausforderung 2. Politische Ziele und technische Herausforderungen 3. Elemente einer nationalen „Energiewendepolitik“ 4. Einbettung der Energiewende in die EU-Energiepolitik 5. Fazit und wichtigste Handlungsempfehlungen 3

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Frank Umbach: Die deutsche Energiewende in internationaler Perspektive ... 98 1. Einführung 2. Energiepolitik und Energiesicherheit als Querschnittsthema – Ist Deutschland institutionell ausreichend für das Querschnittsthema Energiesicherheit aufgestellt und vorbereitet? 3. Die globalen Dimensionen – Strategische Implikationen für die deutsche Energiewende 4. Architekturfehler der Energiewende: Die fehlende europäische Dimension und die Auswirkungen auf Deutschlands Nachbarn und die gemeinsame Energiepolitik der EU 5. Zusammenfassung und Perspektiven

Unterrichtspraxis Christoph Gnau: „Vorsicht Hochspannung!“ Die Energiewende als Unterrichtsgegenstand in der Sekundarstufe II ............................................. 128

Buchbesprechungen Sammelrezension zum Thema Energiewende Peter Hennicke/ Manfred Fischedick: Erneuerbare Energien • Peter Hennicke/ Paul J.J. Welfens:

Energiewende nach Fukushima. Deutscher Sonderweg oder weltweites Vorbild? •

Thomas Kästner/ Andreas Kießling: Energie in 60 Minuten. Ein Reiseführer durch die

Stromwirtschaft • Wolfgang Ströbele/Wolfgang Pfaffenberger/ Michael Heuterkes:

Energiewirtschaft. Einführung in Theorie und Politik • Johannes Winterhagen: Abgeschaltet.

Was mit der Energiewende auf uns zukommt (von Jana Windwehr) ................................................ 154

Fachwissenschaft Kai Vogelsang: Geschichte Chinas (von Katharina Massing) ...........................................................

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Fachdidaktik Joachim Detjen/Peter Massing/Dagmar Richter/ Johannes Georg Weißeno:

Politikkompetenz – ein Modell (von Andreas Brunold) ......................................................................

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Forum Karola Braun-Wanke: Lernen, die Welt neu zu denken.

Nachhaltigkeit + Klimaschutz lernen an der Freien Universität Berlin ........... 170

Das aktuelle Thema Gotthard Breit: Arm und Reich im Ungleichgewicht?!

Zur Vorbereitung auf ein Thema im Bundestagswahlkampf 2013 ................. 186

Abstracts

..................................................................................................... 206

Autorinnen und Autoren ................................................................................. 209

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Energiewende | Altmaier

Peter Altmaier, Jurist, ist seit 22. Mai 2012 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

Peter Altmaier

Die Energiewende ist die größte umwelt- und wirtschaftspolitische Herausforderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts Seit der Jahrtausendwende erleben wir den dramatisch beschleunigten Übergang von der immer noch stark national geprägten Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts in die globalisierte Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Unser Leben ver­ ändert sich immer schneller immer tiefgreifender – nicht zuletzt durch eine historisch beispiellose Revolution unserer Kommunikationsformen im „digitalen Zeitalter“. Paradoxerweise müssen wir zugleich erkennen: Gerade heute kommt es auf eine Politik an, die nicht nur die nächsten Jahre, sondern die nächsten Jahrzehnte in den Blick nimmt. Der Klimawandel, der demografische Wandel, die Umstellung unserer Energiesysteme, die Eindämmung der dramatischen Verschuldung der öffentlichen Haushalte, die politische Union des immer noch sehr heterogenen Kontinents Euro­ pa – das sind die großen Herausforderungen, die wir heute angehen müssen in dem Bewusstsein, damit häufig irreversible Konsequenzen nicht für die nächsten Jahre, sondern für die nächsten Jahrzehnte zu schaffen. Es kommt also gerade in unserer extrem beschleunigten Zeit darauf an, das Prinzip der Nachhaltigkeit als politisches Gestaltungsprinzip erstmals in seiner ganzen Tragweite zu erkennen und schrittweise umzusetzen. Dazu gehören eine nachhaltige Staatsfinanzierung und nachhaltige Organisation der Sozialversicherung ebenso wie eine nachhaltige Ressourcennutzung und vor allem eine nachhaltige Energieversorgung.

1. Die große Transformation Insbesondere an der Frage der Energieversorgung entscheidet sich, wie nachhaltig wir insgesamt leben wollen, leben werden. Denn die Energiefrage war immer die 7

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Kernfrage wirtschaftlicher Entwicklung. Das gilt heute ebenso wie zu der Zeit, als vor gut zweihundert Jahren die Dampfmaschine erfunden und entwickelt wurde. Wir müssen uns eingestehen: Die Weise, wie wir gegenwärtig Energie erzeugen und nutzen, ist immer noch alles andere als nachhaltig. Immer noch folgen wir zu sehr dem Wachstumsprinzip des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieses Wachstum der Vergan­ genheit beruhte seit dem Beginn der Industrialisierung auf dem massiven Verbrauch von Energie, von natürlichen und endlichen Ressourcen. Die einfache Logik lautete: Je mehr verbraucht wurde, umso mehr Wohlstand gab es. Sie hat am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal eine dramatische Dynamik erfahren. Die Weltwirtschaft ist zügig gewachsen, der Welthandel hat sich seit der deutschen Wiedervereinigung vervielfacht. Die letzten Jahrzehnte sind reich an faszinierenden Erfolgsgeschichten. Doch die Kosten sind unübersehbar: Seit 1990 ist der weltweite Energieverbrauch um fast die Hälfte gestiegen. Jahr für Jahr werden mehr Öl, Gas und Kohle verbrannt, beschleunigt sich das Artensterben, versauern die Ozeane schneller. Der Klimawandel ist schon heute spürbare Realität geworden, und wir müssen davon ausgehen, dass er bald zu einem konkreten Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Regionen dieser Welt werden wird. Die ökologische Belastbarkeit unseres Planeten ist erreicht. Wir wissen längst, dass wir mehr verbrauchen, als der Planet regenerieren kann. Das liegt vor allem am weltweiten Bevölkerungswachstum. Heute haben wir schon eine Weltbevölkerung von sieben Milliarden Menschen, bis 2050 werden es neun Milliarden sein – Menschen, die alle den Anspruch auf Wohlstand, Bildung und Gesundheit wie in den hochentwickelten Gesellschaften haben. Mit einem „Weiter so“ des alten, auf kurzfristige Profite hin orientierten Wachstumspfads steuern wir angesichts dieser Dynamik auf die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen zu. Allerdings: Verzicht auf Wachstum ist nicht die Lösung der Probleme des (post-) industriellen Zeitalters. Auf allen Kontinenten ist eine Mittelschicht entstanden, die den Wohlstand der hochindustrialisierten Länder auch für sich erreichen will. Wer will es den jungen Menschen in China, in Brasilien, in Indien oder anderswo auf der Welt versagen, ebenso ein Auto fahren, zu Hause eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler, einen Computer, einen Fernseher haben und Urlaub in anderen Ländern machen zu wollen? Wir können uns dieser Wachstumslogik der globalisierten Märkte nicht einfach entziehen. Das würde erhebliche Verluste sowohl an Wohlstand als auch an politischer Gestaltungsfähigkeit nach sich ziehen. Die entscheidende Aufgabe ist: Die Wirtschaft der Zukunft muss – und sie wird – weitaus intelligenter und effizienter mit Rohstoffen und Ressourcen umgehen, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Die Energiewende im Zusammenspiel mit 8

Energiewende | Altmaier

der digitalen Revolution steht für den Aufbruch in das Zeitalter einer „intelligenten“ Wirtschaft, die in der Lage sein wird, Wachstum zu schaffen, ohne die eigenen öko­ logischen Grundlagen zu zerstören. Es geht um eine Wirtschaft, die Wachstum vom Verbrauch fossiler Rohstoffe und natürlicher Ressourcen entkoppelt. Wir werden dafür „grüne“ Technologien entwickeln, die wir uns heute noch kaum vorstellen können – so wie es vor 20 Jahren mit den Handys war. Ich erinnere mich noch gut: Groß wie ein Brikett war das erste Mobiltelefon, das ich als junger Kommissionsbeamter vor rund zwanzig Jahren in den Händen hielt und welches eine einzige Funktion hatte: telefonieren – 20 Minuten lang, dann war der Akku erschöpft! Computer, globale Vernetzung durch Internet und Mobiltelefonie – all das steckte Anfang der 90er Jahre noch in den Kinderschuhen. Kaum jemand konnte sich damals vorstellen, dass Mobiltelefone in so kurzer Zeit zu Hochleistungscomputern im Westentaschenfor­ mat werden würden, mit denen man sich in Sekundenschnelle das Wissen der Welt erschließen kann, ganz gleich von wo! Ohne Zweifel stehen wir bei dieser Entwicklung erst am Anfang. Noch immer werden viel zu viele für das Klima schädliche Treibhausgase emittiert, noch sind die Schäden an der Umwelt gravierend, ja verheerend. Noch gibt es zu viele Entschei­ der, die in Nachhaltigkeit und Umweltschutz einen Gegensatz zu Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung sehen. Aber die geradezu exponentielle Dynamik der technologischen Entwicklung gerade bei den Umwelt- und Energietechnologien ist überaus verheißungsvoll. Sie ist vor allem deshalb verheißungsvoll, weil ein Mentali­ tätswandel erkennbar ist, der sie antreibt. Ich bin überzeugt, dass gerade die Erfahrung der schärfsten Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weltweit immer mehr Menschen die Augen dafür öffnet, dass eine nicht nachhaltige Wirtschaftsweise keine Zukunft mehr hat. Immer mehr Menschen wollen diese Transformation unserer Wirtschaft und erkennen, dass sie kein Verlust, sondern ein Gewinn ist für mehr Wohlstand und Lebensqualität, für ein besseres Leben – mit sauberer Energie, weniger Lärm, besserer Luft, gesünderer Ernährung, mit weniger Flächenverbrauch, mit mehr Natur und Wasserflächen in unseren Städten, kurzum: in einer intakten Umwelt. Gerade in einer Gesellschaft im demografischen Wandel besinnen sich die Menschen immer mehr auf einen Wandel des Lebensstils: Weg vom Prinzip des „Immer mehr“, „Immer schneller“, „Immer weiter“, „Immer individueller“ hin zu einem Leitbild der Balance und des Ausgleichs: Zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Produktion und Konsum, zwischen individueller Selbstverwirklichung und gemeinwohlorientiertem Engagement. Das zeigt sich auch politisch: Es ist ein Indiz für diesen Wandel und auch ein großer Fortschritt, dass Umweltpolitik heute im 9

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Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit hierzulande ein politisches Kernthema ist, das Wahlen mitentscheiden kann. Die Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts war geprägt durch den Gegensatz von Technik und Umwelt. Die industrielle Moderne bedeutete in den meisten Fällen die Zerstörung der gewachsenen Umwelt und Natur, die Vernichtung traditioneller Lebensräume. Unter den Folgen haben wir lange gelitten und tun es teilweise noch heute. Aber wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in Deutschland schon viel für den Umweltschutz erreicht. Unsere Luft und unsere Gewässer sind viel sauberer als noch in den 70er oder 80er Jahren. Umweltgifte wie Fluorkohlenwasserstoffe oder verbleites Benzin sind verboten worden. Der Naturschutz hat große Fortschritte gemacht. Heute haben wir die Chance, noch einen Schritt weiter zu gehen und nicht nur die Folgen der technischen Eingriffe in unsere Umwelt zu „reparieren“, sondern einen echten Paradigmenwechsel einzuleiten. Es geht darum, Technik und Umwelt zu versöhnen und damit ein neues Kapitel der „Moderne“ aufzuschlagen – nicht mit postmoderner Beliebigkeit, sondern mit dem klaren Ziel, das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, von Technologie und Umweltschutz, von technologischem Fortschritt und der Bewahrung der Schöpfung zu machen. Die Energiewende ist das Leitprojekt dieser großen Transformation.

2. Die Dimension(en) der Energiewende Deutschland hat sich 2010 entschlossen, seine Energieversorgung grundlegend umzu­ bauen. Denn sie ist der Kern einer Politik der Nachhaltigkeit. Mit der Energiewende soll unser Land zum weltweiten Vorreiter einer Energienutzung ohne Öl und Kohle werden. 2022 wird das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen. Damit geht das Zeitalter der Kernenergie in Deutschland definitiv zu Ende. 2020 soll die Stromerzeugung zu mindestens 35 Prozent, 2050 sogar zu 80-95 Prozent aus erneuerbaren Energien stammen, also aus Wind, Sonne, Biomasse, Wasser und Erdwärme. Ferner wollen wir den Primärenergieverbrauch bis zum Jahr 2050 um 50 Prozent gegenüber 2008 senken und den Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch bis 2050 auf 60 Prozent steigern. Hinter diesen Zielmarken verbirgt sich nichts weniger als die größte wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederaufbau und die größte umweltpolitische Herausforderung überhaupt. Wenn die Energiewende gelingt, wird Deutschland seine starke wirtschaftliche Stellung in der Welt für die nächsten Jahrzehnte festigen und ausbauen und zugleich einen herausragenden Beitrag im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel leisten. 10

Energiewende | Altmaier

DIE ÖKOLOGISCHE DIMENSION Die wichtigste ökologische Dimension der Energiewende besteht im Kampf gegen den Klimawandel. Der Klimaschutz ist nicht nur für das ökologische Gleichgewicht auf unserem Planeten von elementarer Bedeutung, sondern ebenso für eine stabile Weltordnung. Wir dürfen deshalb das Ziel, die Zwei-Grad-Obergrenze für einen wirksamen Klimaschutz einzuhalten, nicht aufgeben. Wenn die Erderwärmung unge­ bremst fortschreitet und auf vier, fünf oder sechs Grad steigt, dann wird das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, nicht mehr möglich sein. Die Zerstörung unserer Lebensräume wäre die Folge – und damit eine Welt großer Konflikte und Kriege um immer knappere Ressourcen, d.h. eine Welt voller Instabilität, Unordnung und Leid. Deutschland muss sich daher auch weiterhin mit allen diplomatischen Mitteln einsetzen, zusammen mit seinen europäischen Partnern. Auf der Agenda steht noch immer ein verbindliches Rechtsabkommen zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen im Rahmen des UN-Klimaschutzprozesses. Entscheidend ist: Es muss für alle Staaten verbindlich sein und spätestens beim UN-Klimagipfel in Paris 2015 beschlossen werden, denn wir brauchen ein stabiles System des fairen Interessenausgleichs für globalen Klimaschutz. So wichtig ein Rechtsabkommen ist: Erfolgreich wird Klimaschutz nur sein, wenn wir bei den neuen Umwelt- und Energietechnologien vorankommen. Die Chancen sind da: 2050 könnten die erneuerbaren Energien nach Berechnungen des Weltkli­ marats fast 80 Prozent des globalen Energiebedarfs abdecken, technisch gesehen sogar ein Vielfaches. Das wäre ein immenser Fortschritt auf dem Weg für eine nachhaltige Energieversorgung weltweit und damit auch für den Klimaschutz. Und die Signale sind ermutigend. Immerhin ist der Ausbau der erneuerbaren Energien längst ein globaler Megatrend. Etwa 120 Staaten haben sich bis heute nationale Ausbauziele für erneuerbare Energien gegeben – mit Folgen: Erstmals wurden 2011 weltweit mehr Wind- und Solarparks, Wasserkraftwerke und Biogasanlagen errichtet als Kohlekraftwerke. Wer hätte das noch vor fünf oder zehn Jahren für möglich gehalten? Wer hätte gedacht, dass heute, nimmt man alle Länder zusammen, über 3,5 Millionen Menschen in der Branche der erneuerbaren Energien Arbeit finden würden? Aber diese Entwicklung ist kein Selbstläufer. Es muss Vorreiter geben, an denen sich andere orientieren. Deutschland muss hier seine Rolle als industrielles Hightechland erfüllen. Um Deutschlands Vorreiterrolle gerecht zu werden, hat sich die Bundesre­ gierung in ihrem Energiekonzept das Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen um bis zu 95 Prozent bis 2050 zu senken. Das ist keine Utopie. Wir haben jetzt schon einiges erreicht: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt steigt seit Jahren – bei sinken­ 11

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den Treibhausgasemissionen und weniger Energieverbrauch: So ist es gelungen, die Energieproduktivität der deutschen Wirtschaft seit der Wiedervereinigung um fast 40 Prozent zu steigern; bei der Rohstoffproduktivität waren es sogar rund 47 Pro­ zent – und gleichzeitig haben wir unsere Treibhausgasemissionen um 26,5 Prozent senken können, mehr als das Kyoto-Protokoll vorgegeben hat! Zur Vorreiterrolle Deutschlands gehört auch, gerade die Schwellen- und Entwick­ lungsländer beim Ausbau der erneuerbaren Energien noch stärker zu unterstützen, denn immer noch sind 1,4 Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern an keinerlei Energieversorgung angeschlossen. Ihnen fehlt damit der elementare Zugang zu wirtschaftlicher Entwicklung und mehr Lebensqualität. Hier können die erneuerbaren Energien einen ganz zentralen Beitrag für mehr Gerechtigkeit in der Einen Welt leisten – zumal gerade der globale Ausbau der erneuerbaren Energien zu einer bedeutsamen Reduktion der Kosten für die technischen Anlagen führt. Wenn es Deutschland gelingt, in den nächsten 30 Jahren sein System der Energie- und Stromversorgung im Wesentlichen auf erneuerbare Energien umzustellen und dabei wettbewerbsfähig zu bleiben und seine Position noch auszubauen, dann wird dieses Modell von vielen Ländern weltweit übernommen und kopiert werden. Und es gibt viele Gegenden in der Welt, wo der Wind noch heftiger weht und die Sonne noch intensiver scheint als in Deutschland. Wir haben eine Verantwortung dafür, dass wir dazu beitragen, dass diese umweltverträglichen Technologien weltweit eine Chance haben. Ich bin überzeugt: Ein solcher technologischer Fortschritt wird auch nicht ohne Folgen für die zukünftigen Verhandlungen um ein neues Weltklimaabkommen bleiben. DIE ÖKONOMISCHE DIMENSION Wenn wir uns die globale Dimension vor Augen halten, dann wird zugleich die ökonomische Dimension der Energiewende greifbar. Der engen Verbindung von Ökonomie und Ökologie gehört die Zukunft. Die Energiewende als Kern dieser Transformation bietet die Chance, den alten und falschen Gegensatz von Umwelt und Wirtschaft zu überwinden. Eine große und moderne Volkswirtschaft wie die deutsche kann auf Dauer nur florieren, wenn sie umwelt- und ressourcenschonend arbeitet. Umgekehrt kann ambitionierter Umweltschutz nur gelingen, wenn auch Wirtschaft und Unternehmen dafür gewonnen werden und wenn der Standort Deutschland dadurch im Ergebnis gestärkt und nicht geschwächt wird. Gerade weil unsere umwelt- und energiepolitischen Ziele zu Recht ehrgeizig und anspruchsvoll sind, bedürfen sie einer besonders sorgfältigen Prüfung im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze. Der künftige Erfolg des Industriestandorts 12

Energiewende | Altmaier

Deutschland wird am Erfolg der Energiewende gemessen werden. Würde sie miss­ lingen, hätte dies erhebliche Folgen für Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung. Die Herausforderungen sind groß, aber ebenso die Chancen: Wir machen uns damit erstens unabhängiger von Energieimporten. Das ist besonders wichtig, weil die deutsche Wirtschaft gerade im internationalen Vergleich in ihrer Produktion über­ durchschnittlich abhängig von Energieimporten und damit besonders verwundbar bei steigenden Öl- und Gaspreisen ist. Allein durch den Ausbau der erneuerbaren Energien können wir schon heute unsere Abhängigkeit von fossilen Energieimporten deutlich mindern. Allein 2011 haben wir dadurch rund sechs Mrd. Euro gespart und hatten stattdessen Wertschöpfung im eigenen Land. Gleichzeitig erreichen wir mit der Energiewende zweitens einen viel höheren Grad an Energie- und Ressourceneffizienz. Und die wird für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen immer wichtiger. Im produzierenden Gewerbe machen die Energie- und Rohstoffkosten fast die Hälfte der gesamten Produktionskosten aus, die Arbeitskos­ ten belaufen sich dagegen nur auf knapp 20 Prozent. Die Nachfrage danach wird angesichts der wachsenden Weltwirtschaft weiter dramatisch zunehmen. Der Anstieg der Preise ist unverkennbar: 2010 sind bei uns die Rohstoffpreise in Deutschland um 40 Prozent gestiegen. 2011 war das teuerste Öljahr in der Geschichte. Aber es geht nicht nur um Preise, es geht vor allem um Verfügbarkeit. Wir wollen Industrieland bleiben. Wir brauchen dringend Mengenmetalle wie Eisen, Stahl, Aluminium oder Kupfer. High-Tech-Produkte erfordern Technologie- und Edelmetalle wie seltene Erden, Indium, Lithium, Tantal oder Gold. Aber wir erleben Versorgungsengpässe, auch durch Exportbeschränkungen, etwa bei seltenen Erden. Deutschland ist als rohstoffarmes Land durch seine Importabhängigkeit verwundbar. Ein intelligenter Umgang mit dem Rohstoffbedarf in der Produktion und ein intelligenter Einsatz von Rohstoffen aus dem Recycling werden damit zu einer Kernfrage für wirtschaftliche Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit. Die Rohstoffquelle unseres Landes ist unser Technologievorsprung Die Energiewende bietet damit drittens die Chance, unseren Wohlstand durch Innovationsfähigkeit nachhaltig zu behaupten bzw. zu steigern. Das ist von großer Bedeutung, denn wir stehen vor einer neuen Welle der industriellen Innovation. Wir müssen uns eingestehen, dass wir Europäer die vergangenen beiden großen Innova­ tionswellen – die Unterhaltungselektronik in den sechziger und siebziger Jahren und die digitale Revolution seit den neunziger Jahren – nicht so erfolgreich genutzt haben wie Japan bzw. die USA. Umso mehr kommt es darauf an, dass Europa jetzt die neue Innovationswelle der Energie- und Umwelttechnologien anführt. Und wenn man die 13

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Medien aufmerksam verfolgt, wird schnell klar, dass hier die Zukunftsvisionen des 21. Jahrhunderts liegen: „Fliegende Kraftwerke sollen Windenergie ernten“, „Fenster verwandeln sich in Kraftwerke“, „Dehnbare Solarzellen schaffen eine neue Super­ haut“, „Erster Solar-Wäschetrockner der Welt“, „Bakterien produzieren Kunststoff“, „Enzyme verwandeln Abfall in Rohstoffe“, „Strom auf dem Balkon selbst erzeugen“, „Hochhäuser werden zu Gewächshäusern“ – das sind nur einige Überschriften von Nachrichten aus der Zukunft, die ich mir bei meiner täglichen Zeitungslektüre notiert habe. Sie wirken wie Science Fiction, doch sie werden heute schon erforscht oder sogar in neue Verfahren und Produkte umgesetzt. Wer sich mit solchen Innovationen näher befasst, bekommt eine Ahnung von den großen und zugleich faszinierenden Innovati­ onsmöglichkeiten, etwa durch die Entwicklung energieeffizienter Antriebstechniken, durch Technologien für energieeffiziente Gebäude, durch die Weiterentwicklung der Entsorgungswirtschaft hin zu einer echten Kreislaufwirtschaft. Gebündelt findet sich das in neuen Stadtkonzepten wie der visionären Öko-Stadt Masdar City im Emirat Abu Dhabi, konzipiert von Sir Norman Foster. Diese Stadt der Zukunft soll ohne Autos auskommen, keine Treibhausgase emittieren, keine Müllhalden benötigen, ihren eigenen Strom produzieren und ganz auf fossile Brennstoffe verzichten können. Das ist eine kühne Vision. Wann und wie sie umgesetzt werden kann, wird sich zeigen. Aber wir brauchen solche Visionen. Sie weisen den Weg in ein neues Zeitalter. Das 21. Jahrhundert wird im Zeichen dieser Green Economy stehen – einer Wirtschaft, die aus ökonomischen wie ökologischen Gründen Emissionen reduziert, Stoffkreisläufe schließt und konsequent auf Effizienz und erneuerbare Energien setzt. Kein Wunder, dass sich das Weltmarktvolumen auf diesen Zukunftsmärkten allein in den nächsten zehn Jahren verdoppeln wird, mit Wachstumsraten zwischen fünf und sechs Prozent pro Jahr! Und deutsche Unternehmen sind auf diesem Gebiet führend. Sie haben heute schon mit rund 16 Prozent den relativ größten Weltmarktanteil. Hier entstehen die Arbeitsplätze von morgen – derzeit sind in Deutschland schon fast zwei Millionen Erwerbstätige in „Green Jobs“ beschäftigt. Allein im Bereich der erneuerbaren Energien sind bis 2011 rund 380 000 Arbeitsplätze entstanden. Ich wünsche mir, dass gerade die jungen Menschen in unserem Land die Chancen erkennen, die hier für ihre berufliche Zukunft liegen. Die Politik unterstützt das mit Nachdruck, indem sie verstärkt in Wissenschaft, Forschung und neue Studiengänge investiert. Deshalb hat die Bundesregierung u.a. gerade das 6. Energieforschungspro­ gramm mit 3,4 Milliarden Euro für die Zeit bis 2014 um rund 75 Prozent gegenüber der vergangenen Förderperiode aufgestockt. Aber auch die Wirtschaft ist gefordert, noch mehr in die Forschung zu investieren und noch enger mit Hochschulen und 14

Energiewende | Altmaier

Forschungsinstituten zusammenzuarbeiten. Von dieser Kooperation wird der Erfolg der Energiewende ganz wesentlich abhängen. DIE TECHNOLOGISCHE DIMENSION Die Energiewende ist eine strategische Entscheidung für Technologieführerschaft und für Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes im globalen Wettbewerb. Sie hat damit eine zentrale technologische Dimension. Man kann sich das ein bisschen wie eine Bergwanderung vorstellen. Ohne gute Ausrüstung und Vorbereitung wird der Gipfelsturm nicht gelingen. Und die Aufgabe ist durchaus mit einem Gipfelsturm zu vergleichen. Denn es geht darum, dass sich der Charakter der Erneuerbaren grund­ legend ändert – von einem Nischenprodukt zum Hauptträger der Energie in einem Hochindustrieland. Das geht nicht mit Schnellschüssen. Das braucht auch Zeit, Geduld, gute Vorbereitung und vor allem viel Kreativität. Und man muss offen sein für alles Neue und Unvorhergesehene. Die gute Nachricht ist: Wir sind schon weiter als das Basislager. Schon heute stammt rund ein Viertel unseres Stroms aus Wind, Sonne, Biomasse oder Wasser. Das ist ein Anstieg von 17 auf fast 25 Prozent allein seit 2010. Heute schon kann Deutschland an sonnigen und windreichen Tagen seinen Strombedarf zu großen Teilen aus erneu­ erbaren Energien decken, selbst zu Zeiten der Spitzenlast um die Mittagszeit. Und nur durch den Zubau bei Photovoltaik- und Windkraftanlagen war Deutschland selbst im letzten Winter Nettostromexporteur – trotz Abschaltung der Hälfte der Kernkraftwerke. Damit sind die Erneuerbaren zur zweitwichtigsten Stromquelle nach der Braunkohle geworden. Bleibt es bei diesem Tempo, könnten wir bereits in drei Jahren unseren Strombedarf zu einem guten Drittel aus erneuerbaren Energien decken. Das zeigt, welche Dynamik in der Entwicklung der erneuerbaren Energien steckt. Auch wenn wir schon einiges geschafft haben: Es liegen noch große technologische Herausforderungen vor uns, zum Beispiel bei den Technologien. Ein gutes Beispiel ist die Offshore-Windkraft. Hier müssen größte technologische Herausforderungen gemeistert werden, denn die neuesten Windräder sind nicht nur teilweise so hoch wie der Kölner Dom, sondern müssen bei einem Gewicht von 1000 Tonnen pro Anlage auch noch auf den Zentimeter genau in den Meeresboden gerammt werden – was für eine technische Leistung! Außerdem wird der Übergang zu den erneuerbaren Energien nur gelingen, wenn die Infrastruktur der Energieversorgung massiv ausgebaut wird. Wir brauchen neue Hochspannungsleitungen von Nord nach Süd, „intelligente Netze“ und neue Spei­ chertechnologien. Nur dann schaffen wir die notwendige Versorgungssicherheit. Eine 15

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verlässliche Stromversorgung ist das A und O in einem hochindustrialisierten Land wie Deutschland. Man muss sich vor Augen halten: Würde der Strom in Deutschland nur für eine Stunde ausfallen, würde das nach wissenschaftlichen Berechnungen Kosten in Höhe bis zu 750 Millionen Euro verursachen. Gerade unsere besonders wichtigen Branchen wie der Fahrzeug- und Maschinenbau oder die Chemieindustrie wären davon überdurchschnittlich stark betroffen. Versorgungssicherheit zu bezahlbaren Kosten muss deshalb oberste Priorität haben. Die Entscheidung der Bundesregie­ rung, 2011 nach dem Reaktorunfall von Fukushima acht von 17 Kernkraftwerken vorzeitig abzuschalten, stellt ohne Zweifel das Stromversorgungssystem auf die Probe, insbesondere im Süden unseres Landes, weil hier die Abhängigkeit von der Kernkraft höher war und ist als im Norden. Wir müssen daher unseren Spitzenplatz in punkto Versorgungssicherheit mit höherem technologischem Aufwand sichern als bisher. Darum müssen wir jetzt mit höchster Priorität dafür für die Übertragung des Stroms aus fluktuierenden Quellen in die Verbrauchszentren sorgen, d.h. wir brauchen ei­ nen beschleunigten Bau von Leitungen, die mit einer neuen Netztechnologie große Mengen Windstrom verlustarm vom Norden Deutschlands in die Wirtschaftszentren im Westen und Süden transportieren. Das erfordert auch, innovative Technologien (wie z.B. Hochspannungsgleichstromübertragung oder Erdkabel) zu nutzen. Mit dem Bundesnetzentwicklungsplan 2012 hat die Bundesregierung jetzt Prioritäten für den Ausbau des 35 000 Kilometer langen Übertragungsnetzes gesetzt. Dabei geht es nicht um Quantität, sondern vor allem um Qualität. Nicht nur die Stromerzeugung war früher zentral und linear, auch die Netze waren es: Von großen Blöcken ging es über die verschiedenen Spannungsebenen hin zum Verbraucher. Dabei kann und soll es nicht bleiben: Flexibilität ist die große Anforderung an das Netz der Zukunft sowohl bei der Einspeisung als auch beim Verbrauch. Dazu müssen wir Intelligenz ins Netz bringen! Was früher bei der Unterhaltungselektronik geschehen ist, muss jetzt bei den Netzen geschehen: IT wird unsere Stromnetze in eine andere „Bewusstseinsebene“ katapultieren. „Schlaue Netze“ werden die Nervenstränge des Energiesystems 2.0 sein. Der schwarze Stromzähler im Keller wird der Vergangenheit angehören. An seine Stelle müssen computergesteuerte Endgeräte treten, die die Last dann abrufen, wenn die Preise am günstigsten sind. Dazu brauchen wir dezentrale Stromspeicher und hochflexible Kraftwerke, die es ermöglichen, den Strom zu ver­ brauchen, wenn er produziert wird – und die Schwankungen durch die erneuerbaren Energien schnell und intelligent ausgleichen können. Große technologische Herausforderungen, aber auch Chancen für weltweite Technologieführerschaft liegen aber nicht nur auf dem Gebiet der Energieerzeugung, 16

Energiewende | Altmaier

sondern besonders auch der Energienutzung. Mehr Energieeffizienz ist das zweite Standbein der Energiewende. Das Ziel muss sein, Deutschland zu einer der effizientesten Volkswirtschaften der Welt zu machen. Das bedeutet, den Stromverbrauch deutlich zu reduzieren und den Wärmebedarf in Gebäuden erheblich zu senken. Ein ganz entscheidender Schlüssel für die Energiewende ist deshalb die Gebäudesanierung und der Einsatz effizienter Haustechnik. Denn der Gebäudebereich repräsentiert rund 40 Prozent des Endenergieverbrauchs und erzeugt mehr als ein Drittel der CO2-Emissionen in Deutschland. Gerade hier wird noch immer viel zu viel Energie verschwendet. Deshalb fördert die Bundesregierung die Gebäudesanierung mit Nachdruck, zumal sie auch ein echtes Konjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft und insbesondere das mittelständische Handwerk ist. Oder nehmen wir die Industrie: In Deutschland könnten mehr als 100 Mrd. Kilowattstunden pro Jahr eingespart werden – 70 Mrd. davon allein durch energieeffiziente Produkte bei Antrieben, Beleuchtung, bei Kühlund Gefriergeräten. Auch hier müssen wir besser werden. Mehr Energieeffizienz heißt aber auch, den Endenergieverbrauch des Verkehrs erheblich zu senken. Dafür muss die Effizienz der konventionellen Fahrzeuge deutlich erhöht, aber vor allem der Schritt hin zu alternativen Antriebstechnologien getan werden. Die Elektromobilität bietet dabei gleich drei Chancen: Erstens macht der Betrieb von Fahrzeugen mit erneuerbaren Energien diese zu Nullemissionsfahrzeugen. Zweitens reduzieren Elektrofahrzeuge unsere Abhängigkeit von Ölimporten. Und drittens können die Fahrzeuge langfristig als Stromspeicher und zur Systemstabilität und damit zur Integration der erneuerbaren Energien genutzt werden. DIE POLITISCHE DIMENSION Wenn die Energiewende in ihrer ganzen Komplexität ein Erfolg werden soll, liegt es auf der Hand, dass ihre Organisation und Durchführung eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe erster Ordnung ist, die auf der politischen Agenda nach der Staatsschuldenkrise zu Recht den nächstwichtigen Platz beansprucht. Sie eröffnet damit aber auch die Chance, den Primat des Politischen gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise zurückzugewinnen – in Zeiten, in denen Politik vielfach nur noch als von globalen Märkten „getrieben“ erscheint und damit zunehmend unter Legitimationsdruck steht. Mit der Energiewende kann so politische Gestaltungsmacht zurückgewonnen werden. Dabei muss der Grundsatz zur Geltung kommen, dass das Gemeinwohl wichtiger ist als Partikularinteressen. Und dass die Politik in der Lage ist, ihre Entscheidungen langfristig auszurichten. Das gilt insbesondere für die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. Wir 17

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dürfen die damit zusammenhängenden Probleme nicht den kommenden Generati­ onen aufbürden, sondern die Generation, die diese Probleme verursacht hat, muss jetzt auch ihrer Verantwortung gerecht werden. Es ist ein großer Fortschritt, dass sich jetzt Bund und Länder über Parteigrenzen hinweg darauf verständigt haben, die Suche nach einem Endlager im gesamtgesellschaftlichen Konsens zu lösen. Damit bietet sich die historische Chance, den seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt um ein atomares Endlager zu beenden. Mit dem Standortauswahlgesetz wird es erstmals ein gesetzlich geregeltes, von einer pluralistisch besetzten Kommission vorbereitetes Verfahren geben, um den nach wissenschaftlichen Kriterien sichersten Ort für ein atomares Endlager in Deutschland zu erkunden. Die politische Dimension der Energiewende wird in Zukunft aber nicht nur auf nationaler, sondern in einem immer stärker integrierten Europa vor allem auf europäischer Ebene liegen. Hier müssen wir unsere Gestaltungsmacht weiter stärken und entfalten. Gerade auf dem Gebiet der Energiepolitik brauchen wir mehr Euro­ pa, nicht weniger. Eine engere europäische Kooperation in ganz Europa bietet die Chance, neben einem wirksamen Klimaschutz auch mehr Versorgungssicherheit bei zugleich geringeren Kosten zu erreichen. Dafür muss Strom frei in Europa gehandelt werden können, um Angebot und Nachfrage optimal aufeinander abstimmen zu können. Voraussetzung dafür ist, den Energiebinnenmarkt weiter zu entwickeln und vor allem den Netzausbau europaweit voranzubringen. Denn wir haben noch nicht die Infrastruktur, um größere Mengen Strom aus erneuerbaren Energiequellen innerhalb Europas reibungslos transportieren zu können. Diese Infrastruktur müssen wir Europäer gemeinsam so zügig wie möglich ausbauen. Darüber hinaus müssen wir den europäischen Emissionshandel wieder stärken, denn er ist das wichtigste Instrument für Fortschritte beim Klimaschutz: es gibt Treibhaus­ gasemissionen einen Preis, indem die Unternehmen Zertifikate für die Emission von Treibhausgasen erwerben müssen. Wer weniger ausstößt, kann an andere verkaufen und macht Gewinn. Das EU-Emissionshandelssystem war lange sehr erfolgreich und hat mit dazu beigetragen, dass wir unsere Treibhausgasemissionen nicht nur seit 1990 um über ein Viertel reduziert haben, sondern zugleich Technologieführerschaft gesi­ chert haben, indem wir Innovationen für mehr Energieeffizienz in den Unternehmen vorangebracht haben. Dieser Erfolg war auch der Grund, warum das System weltweit mit großem Interesse verfolgt und vielerorts bereits kopiert worden ist. Gegenwär­ tig ist das System aber weitgehend wirkungslos geworden, weil die Preise drastisch gesunken sind. Wir brauchen aber wieder höhere Preise, damit das System wieder funktioniert. Hier muss die Politik mutig eingreifen und die Menge der Zertifikate 18

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nachhaltig reduzieren, damit die Preise wieder steigen und sich Klimaschutz wieder für die Unternehmen lohnt. DIE GESELLSCHAFTLICHE DIMENSION Mit der politischen Dimension der Energiewende ist eine wichtige gesellschaftliche Dimension verbunden. Jahrzehntelang hat gerade die Energiepolitik die Gesellschaft wie kaum ein anderes Thema politisch gespalten. Sie wurde wie kein anderes Politikfeld zum Symbol eines Fortschrittsverständnisses, das in den 70er Jahren immer mehr in die Krise geriet. Ein quantitativer Fortschrittsbegriff war an sein Ende gekommen. Immer mehr Menschen spürten, dass dessen Kosten und Risiken immer sichtbarer wurden: verpestete Luft, verseuchte Gewässer, chemisch belastete Nahrungsmittel, immer hektischere und lautere Städte, zerstörte Wälder und dramatische Umweltkata­ strophen, für die die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 zum Symbol geworden ist. Aus der Wohlstandsgesellschaft war die „Risikogesellschaft“ geworden, aus dem Versprechen von Sicherheit das Gefühl, die Zukunft des Planeten zu verspielen. Es entwickelte sich eine Sehnsucht nach neuen Lebensweisen im Einklang mit der Natur, nach „post-materialistischen“ Lebensformen statt Verschwendung, nach dem Ende einer Wachstumslogik, die Lebensqualität nicht mehr steigerte, sondern eher in Frage stellte. Die Kontroverse um die Nutzung der Kernenergie wurde in ihrer Heftigkeit zum Symbol für diese Spaltung, die die deutsche Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt hat. Der Riss ging tief. Aber wir haben heute die Chance, diese Spaltung der Gesellschaft dauerhaft zu überwinden. Dass Bundestag und Bundesrat die Energiewende 2011 fast einstimmig beschlossen haben, ist dafür ein ganz wichtiges Signal ebenso wie die Tatsache, dass die ganz große Mehrheit der Bevölkerung hinter der Energiewende steht und ihre Ziele fast uneingeschränkt befürwortet. Mit diesem neuen nationalen Konsens verbindet sich auch eine echte Chance für mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung. Wenn die Energiewende ein Erfolg werden soll, muss deshalb auch insbesondere die Planung großer Infrastrukturprojekte in Zukunft stärker zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern erfolgen, nicht gegen sie. Es muss um echte Mitwirkungsrechte und ein Klima gegenseitiger Gleichberech­ tigung gehen. Und Bürgerbeteiligung muss so früh einsetzen wie möglich, damit gar nicht erst verhärtete Fronten entstehen, damit gleich alle Alternativen auf den Tisch kommen. Dass das neue Netzausbaubeschleunigungsgesetz die Bürgerinnen und Bürger schon bei der Planung im Vorfeld einbindet, ist ein wichtiges Signal in diese Richtung. Bürgerbeteiligung muss auch – gleich, ob formalisiert oder informell – immer transparent sein. Hier verspreche ich mir viel von den neuen Social Media. 19

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Weil das Generationenprojekt Energiewende alle betrifft, ist es aber auch so wichtig, dass alle die Chance bekommen, sich daran zu beteiligen – und das nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch. Die Kosten der Energiewende sind über die Strompreise sehr gleichmäßig auf die Stromverbraucher verteilt. Die Möglichkeiten zur Wertschöpfung sind aber bislang nur wenigen vorbehalten. Das müssen wir än­ dern, zum Beispiel, indem wir das genossenschaftliche Prinzip stärken. Dieses Prinzip der solidarischen Selbsthilfe und demokratischen Mitbestimmung aller Mitglieder hat seit seiner Erfindung in der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz neue Chancen der Teilhabe geschaffen. Es hat damit viel zum Zusammenhalt der Gesellschaft beigetra­ gen – und entsprang übrigens schon damals dem Leitprinzip der Nachhaltigkeit: Die steigenden Anforderungen an eine Landwirtschaft für immer mehr Menschen waren nur dadurch zu lösen, dass Landwirte durch „Volksbanken“ und genossenschaftliche Zusammenschlüsse günstige Kredite für Investitionen in eine ertragreichere und zu­ gleich nachhaltigere Bewirtschaftung erhielten. Auch im 21. Jahrhundert hat dieses Prinzip nichts von seiner Aktualität und Attraktivität verloren. Bürgerwindparks und Energiegenossenschaften machen vor, wie erfolgreich das bei der Energiewende funk­ tioniert, zumal die Nachfrage danach groß ist: Die Zahl der Energiegenossenschaften hat sich allein im letzten Jahr auf 600 verdoppelt! Und warum soll das Prinzip der Bürgerbeteiligung nur bei der Erzeugung von Energie funktionieren? Warum nicht auch bei der Speicherung und vor allem beim Transport von Energie? Der Netzaus­ bau ist gegenwärtig die größte Herausforderung der Energiewende, aber auch eine erhebliche Chance zur Wertschöpfung, gerade auf lokaler und regionaler Ebene. Wir können den Erfolg der Bürgerwindparks und Energiegenossenschaften auf die Netze ausweiten, zum Beispiel durch eine „Bürgerdividende“, mit der die Bürgerinnen und Bürger durch eine Kapitalbeteiligung an den Investitionen in neue Netze direkt profitieren können – mit einem attraktiven festen Zinssatz über eine lange Laufzeit. Mehr Beteiligung heißt aber auch: Die Energiewende braucht das Engagement jeder einzelnen Bürgerin, jedes einzelnen Bürgers. Es kommt auf jeden Einzelnen an, wenn die Energiewende ein Erfolg werden soll. Das gilt insbesondere in Fragen der Energieeffizienz, etwa beim Stromsparen jeden Tag im eigenen Haushalt oder bei der energetischen Sanierung der eigenen Wohnung oder im Verkehr: Lieber einmal mehr das Fahrrad oder die S-Bahn als das Auto zu nehmen, macht schon sehr viel aus, wenn 80 Millionen Menschen das Gleiche tun. Ich muss dabei immer daran denken, wie das früher mit dem Abfall war. Lange wurde alles gedankenlos in eine Tonne geworfen. Dann kam die Mülltrennung. Am Anfang brauchte das noch einige Zeit. Aber dann wurden wir im Ausland geradezu berühmt für unsere Mülltrennung. Heute haben 20

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wir es geschafft, dass schon rund 65 Prozent aller Siedlungsabfälle recycelt werden. Deshalb bin ich auch in punkto Energiewende sehr optimistisch. Wo ich auch hin­ komme, sehe ich: Es sind gerade die Bürgerinnen und Bürger, es sind die Kommunen, es sind Genossenschaften und kleine und mittelständische Unternehmen, die in die Energiewende investieren und sich hier engagieren. Die Energiewende ist eine „Bewegung von unten“, eine Art „Graswurzelbewe­ gung“. Sie führt dazu, dass unsere Energieversorgung der Zukunft viel dezentraler wird als bisher. Schon heute gibt es über 1,3 Millionen Stromerzeuger, d.h. allein 1,3 Mio. PV- und 23 000 Windkraftanlagen. Die Energieversorgung wird zugleich mittelständischer strukturiert sein. Wir werden als großes Industrieland weiterhin das Engagement großer Energieversorgungsunternehmen brauchen, aber es werden sich auch viel mehr Mittelständler dort engagieren – vom Stadtwerk bis zum lokalen Handwerker, der die erneuerbaren Energien vor Ort installiert und wartet. Und vor allem: Die Energieversorgung der Zukunft wird sehr viel stärker durch die Verbraucher gesteuert, weil sie nicht mehr nur passive Abnehmer sein werden. Der Verbraucher wird in Zukunft mit intelligenten Zählern und intelligenten Leitungen selber bestim­ men, wann er welchen Strom zu welchem Preis beziehen will. Die Autonomie des Verbrauchers wird so erheblich gestärkt. Auch dies bedeutet mehr gesellschaftlichen Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Gestaltung von Politik und Wirtschaft in unserem Land.

3. Wie wir das Generationenprojekt Energiewende zum Erfolg führen Wie bei jeder großen Herausforderung müssen wir die Energiewende mit großer Um­ sicht angehen. Das heißt: Die Umsetzung der Energiewende muss in jedem Augenblick volkswirtschaftlich verantwortbar und damit bezahlbar sein, da sie sonst ihre eigene Basis untergraben und zerstören würde. Dazu gehört auch, dass die Energiepreise in Deutschland sich nicht von denen unserer hauptsächlichen Wettbewerber in anderen Ländern gravierend und dauerhaft entkoppeln dürfen. Ich habe zu Beginn das Bild der Bergwanderung benutzt. Um im Bild zu bleiben: Ganz besonders wichtig ist mir, dass dabei keiner zurückbleibt. Das heißt: Energie darf nicht zum Luxusgut für wenige werden, sondern muss für alle bezahlbar bleiben. Ich will den Erfolg der Energiewende, aber nicht um jeden Preis. Und hier müssen wir handeln, denn es lässt sich eine problematische Tendenz beobachten: Während die Börsenstrompreise, die gerade für große Unternehmen so wichtig sind, in den letzten 21

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Jahren konstant geblieben, zuletzt sogar gesunken sind, sind die Verbraucherstrom­ preise stark gestiegen. Grund für den Preisanstieg waren steigende Rohstoffpreise, aber auch der Anstieg der Umlage aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Nach diesem Gesetz hat, wer erneuerbare Energien anbietet, Vorrang bei der Einspeisung und bekommt einen festen Preis. Die Kosten dafür werden über eine Umlage auf alle Verbraucher umgelegt, wobei es für die energieintensive Industrie Begünstigungen gibt, um ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. Die Frage, wie die Kosten sinnvoll verteilt werden sollen und welche Entlastungen für bestimmte Gruppen auch in Zukunft notwendig sind, muss deshalb dringend angegangen werden. Denn allein im letzten Jahr hat sich die EEG-Umlage wegen dramatisch fallender Börsenstrom­ preise um etwa 50 Prozent erhöht. Hier darf man nicht länger tatenlos zusehen. Die Verbraucher, aber auch die vielen kleineren und mittleren Unternehmen müssen vor unerwarteten Preissteigerungen geschützt werden. Und es kann auch nicht sein, dass nur die Verbraucher und die kleineren und mittleren Unternehmen die steigenden Stromkosten tragen. Unbestritten ist, dass das EEG den Ausbau der erneuerbaren Energien höchst er­ folgreich vorangetrieben hat! Kein Wunder, dass dieses Gesetz in über 50 Ländern als Blaupause für vergleichbare Regelungen dient. Aber wie das mit dem Erfolg manchmal so ist: Ohne Anpassungen an den Wandel droht er in sein Gegenteil umzuschlagen. In einer Situation, in der erneuerbare Energien keine zarten Pflänzchen mehr sind, sondern einen Beitrag zum Strommix leisten, der weit größer ist als der der Kernkraft, ist die Ausgangslage eine andere. Es geht einfach nicht mehr nur darum, den Ausbau von erneuerbaren Energien anzutreiben, es geht um ungleich komplexere Aufgaben. Ihnen wird das geltende EEG nicht gerecht, denn es ist allein auf den quantitativen Ausbau der erneuerbaren Energien ausgerichtet und hat keinen Einfluss auf deren qualitative Zusammensetzung, zeitliche Erzeugung, räumliche Verteilung oder ihr Zusammenspiel mit den konventionellen Energien und dem Ausbau der Netze. Wenn wir aus den Geburtsfehlern des EEG lernen, haben wir die große Chance, eine wirklich zukunftsweisende Förderung der erneuerbaren Energien auf den Weg zu bringen. Wenn wir auf Kostensenkung, Marktintegration und Innovationen setzen, wird dies der Energiewende und der deutschen Industrie einen enormen Schub ge­ ben. Vor allem brauchen Bund und Länder eine gemeinsame Ausbaustrategie. Dabei müssen die besten Standorte erschlossen werden, weil hier die Stromproduktion am günstigsten ist. Außerdem kann es nicht länger sein, dass die Betreiber der ErneuerbareEnergien-Anlagen den größten Teil der Einspeisevergütung unabhängig davon erhalten, ob das System ihren Strom aufnehmen kann oder nicht – zumal eine Unter- oder 22

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Übereinspeisung des naturgemäß fluktuierenden Stroms aus erneuerbaren Energien die Stabilität des Stromnetzes und damit die notwendige Energieversorgungssicherheit belastet. Schon heute müssen die Netzbetreiber weitaus häufiger steuernd eingreifen als noch vor zwei oder drei Jahren. Die Stromversorgung in Deutschland ist stabil und sicher wie in kaum einem anderen Land, aber wir müssen jetzt etwas dafür tun, damit es auch in Zukunft so bleibt! Ein „EEG 2.0“ muss aber vor allem darauf ausgerichtet sein, möglichst rasch die Markt- und Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien herzustellen. Die Förde­ rung der erneuerbaren Energien darf nicht zur Dauersubvention werden. Der Erfolg des EEG ist deshalb nicht daran zu messen, dass die Subventionen möglichst hoch und möglichst lange bezahlt werden, sondern der Erfolg des EEG ist gegeben, wenn es sich in Zukunft selbst abschafft – durch eine volle Integration der erneuerbaren Energien in den Markt. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, nicht mehr nur Prämien und Vergütungssätze für die Produktion zu bezahlen, sondern auch einen Anreiz zu geben, sich nach der Nachfrage zu richten. Wenn zum Beispiel Aluminiumhütten oder Kühlhäuser dann intensiv produzieren, wenn der Strom von den Anbietern preiswerter bereitgestellt wird, wird es möglich sein, die Energiepreise zu senken, weil Angebot und Nachfrage flexibler aufeinander abgestimmt werden können. Mit dem neuen EEG müssen zeitlich gestaffelte und quantifizierte Ausbauziele definiert und gesetzlich festgeschrieben werden. Das schafft Verbindlichkeit, das führt zu In­ vestitions- und Planungssicherheit. Und wir sollten uns Zeit nehmen. Der Weg um Umbau bis 2050 sollte in möglichst gleichmäßigen Schritten erfolgen, weil wir nur so die Kosten des Umbaus unseres Energiesystems gleichmäßig über die Jahrzehnte verteilen und nur so offen bleiben für Technologien, die es heute noch nicht gibt und von deren Leistungsfähigkeit wir heute noch keine Vorstellung haben.

4. Die Vision für die nächsten Jahrzehnte Mit der Energiewende wird sich unser Land auf faszinierende Weise verändern. Die Häuser, in den wir leben und arbeiten, werden nicht nur sehr viel weniger Energie benötigen. Sie werden von Energieverbrauchern zu Energieerzeugern werden – und das miteinander verbunden in einem dezentralen und zugleich länderübergreifenden „Energie-Internet“, gespeist aus vielen dezentralen Betreibern vom Einfamilienhaus bis zum Stadtwerk. Wir werden mit Energie viel intelligenter umgehen können und sie nur dann abrufen, wenn wir sie wirklich benötigen. Hohe Energiekosten werden dann kein gesellschaftliches und wirtschaftliches Problem mehr sein. Und die Le­ 23

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bensqualität wird deutlich zugenommen haben. Auf unseren Straßen rollen dann z.B. Elektrofahrzeuge, die keine Abgase mehr ausstoßen und vor allem leise sind. Man wird wieder an Hauptstraßen wohnen können, ohne vom Massenverkehr gequält zu werden. Das ist nur ein Ausschnitt aus einer Lebenswirklichkeit, für die das Zusam­ menspiel von Ökologie und Ökonomie längst selbstverständlich geworden sein wird. Deutschland wird mit der Energiewende 2050 im Zeitalter der „Green Economy“ angekommen und zu einer der effizientesten Volkswirtschaften der Welt geworden sein. Es hat sich zum international beachteten Vorbild für die Entwicklung erneu­ erbarer Energien, hoch effizienter Kraftwerke, intelligenter Netze, einer modernen Gebäudetechnik und energieeffizienter Produkte entwickelt und gezeigt, wie man auch klassische industrielle Wirtschaftszweige durch Umweltinnovationen im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltig transformieren kann. Das Prinzip der Nachhaltigkeit zum Leitprinzip politischen und wirtschaftlichen Handelns zu machen, wird das 21. Jahrhundert entscheidend prägen. Mit der Energiewende kann Deutschland diese historische Transformation beispielhaft gestalten. Ich bin überzeugt: Nie war die Zukunft spannender!

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