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BALLETT
INTERN
Herausgeber: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V. – Heft 98/34. Jg. – Nr. 4/September 2011 – ISSN 1864–1172
»Karneval der Tiere«, Choreographie: Demis Volpi, aus der Matinee der John Cranko Schule im Stuttgarter Opernhaus (Foto: Verena Fischer)
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Inhalt
Impressionen von der Akademie des Tanzes Mannheim von Sibylle Dornseiff . . . . . . . . . 20
Bezaubernde Geschichten für Groß und Klein Die Matinee der John Cranko Schule im Stuttgarter Opernhaus von Claudia Gass . . . . . . . . . . . 22
Grußwort von Bernd Neumann . . . . . . . . . . . 3
Inspiriert von Vorbildern, doch auf eigenen Wegen „Junge Choreographen“ stellen sich bei der Noverre-Gesellschaft vor von Claudia Gass . . . . . . . . . . . 23
„Zusammen seid Ihr stark“ Interview mit Hortensia Völckers und Madeline Ritter von Dorion Weickmann . . . . . . . . . 3
Ballett braucht einen langen Atem In Hamburg kam der Startschuss zum Bundesjugendballett von Dagmar Ellen Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Tanzplan Deutschland – (K)ein Fazit vom Tanzplan Deutschland Team . . 2
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es Tanzplan Deutschland – eine Bestandsaufnahme von Günther Rebel . . . . . . . . . . . . . 5
Tänzersprünge und Statik Das Staatsballett Berlin auf soliden Standbeinen von Dagmar Ellen Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Vielfalt der Stile Eindrücke von der Gala der Staatlichen Ballettschule Berlin von Volkmar Draeger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 „Die Zukunft beginnt jetzt“ Die Staatliche Ballettschule Berlin wird 60 Jahre von Jenny J. Veldhuis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Zugewinn an künstlerischem Niveau Impressionen vom 8. Tanzolymp in Berlin von Volkmar Draeger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Edle Tänzerkörper in plastischer Inszenierung Yan Revazovs Fotos zeigen »Dance Nude« in der Berliner Galerie »Himmelblau« von Volkmar Draeger . . . . . . . . . 16
Tanz als Abiturfach Das Gymnasium Essen-Werden von Jenny J. Veldhuis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Im Andenken an Elvire und Philippe Braunschweig Der 39. Prix de Lausanne von Jenny J. Veldhuis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Peter Breuer Seit 20 Jahren erfolgreicher Ballettchef am Salzburger Landestheater von Ira Werbowsky . . . . . . . . . . 27 Klassischer Tanz auf Dauerfrostboden Jakutsk: Zu Gast in der nördlichsten Ballettschule Russlands von Volkmar Draeger . . . . . . . . 30 Ein perfektes (Pädagogen-)Paar In Wien ergänzen sich Evelyn Téri und Karl Musil seit Jahrzehnten aufs Beste von Dagmar Ellen Fischer . . . . . 32 Ein vitales Lebenszeichen Die ersten Ballett-Tage des Österreichischen Tanzrats in Wien von Ira Werbowsky . . . . . . . . . . 33
Buchempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Franz Bauer-Pantoulier Ein Nachruf von Hans Herdlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
5 aus 125 Die 6. Norddeutschen Tanztage Worpswede vom 2. bis 5. Juni 2011 von Dagmar Ellen Fischer . . . . . 17
„Ballet Helps Japan“ Eine Charity-Gala in Berlin von Volkmar Draeger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Kurz und Bündig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Liebe Leser, liebe Mitglieder des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik, ja, wie heißt das Sprichwort: Berlin ist eine Reise wert, und dies nun seit Jahren wieder in steigendem Maße, wie eine Statistik zeigt: Von 1996 mit ca. 600.000 Besuchern stieg die Zahl im Jahr 2010 auf 5 1/2 Millionen und liegt somit nun nach Paris und London an dritter Stelle in Europa! Ob sich das auch für den Tanz bemerkbar macht? Auf jeden Fall werden die tänzerischen Aktivitäten unserer Hauptstadt in dieser Ausgabe von BALLETT INTERN aus unterschiedlichen Perspektiven ausführlich gewürdigt. Nach Beendigung der für die deutsche Tanzszene so positiven Initiative der Kulturstiftung des Bundes (KSB) mit dem Tanzplan Deutschland finden Sie ausführliche Stellungnahmen der Verantwortlichen Hortensia Völckers und Madeline Ritter, umrahmt von einem Grußwort unseres Kultur-Staatsministers Bernd Neumann und dem Hinweis auf die interessante AbschlussPublikation des Tanzplans von Günther Rebel. Der abschließende, dritte Artikel unserer kleinen Serie über Christiane Theobalds Wirken für den Tanz in Berlin widmet sich den neuen Räumen für das Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper an der Bismarckstraße, dies ohne die Vergangenheit des „Berlin Balletts“ zu ignorieren mit den für Berlin historisch bedeutsamen Persönlichkeiten Tatjana Gsovsky, Gert Reinholm und Tom Schilling – so auch die Namen der drei neuen, wunderbaren Ballett-Studios. Auch der initiale Deutsche Tanzpreis galt 1983 (neben Gret Palucca) der unvergessenen Tatjana Gsovsky, nach der Wende im Jahre 1996 dem Begründer des „Tanztheaters der Komischen Oper Berlin“ Tom Schilling. Eine weitere Verbundenheit des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik mit dem Staatsballett Berlin sehen wir in der Auszeichnung seiner drei herausragenden tänzerischen Begabungen Polina Semionova (2005), Marian Walter (2007) und Iana Salenko (2009) mit dem Deutschen Tanzpreis »ZUKUNFT«! Ein eindrucksvolles Jubiläum kann die Staatliche Ballettschule Berlin in diesem Jahr feiern: 60 Jahre! Hierzu finden Sie Berichte von Jenny Veldhuis, die die Schule aus diesem Anlass besuchte, sowie von Volkmar Draeger über die traditionell brillante Aufführung zum Jahresabschluss.
Wirklich den Kinderschuhen entwachsen ist der Tanz olymp Berlin, wie Sie nicht nur aus dem Text, sondern ebenfalls aus den begleitenden Fotografien ersehen können. Erstmalig vergab der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik im Rahmen dieses 8. Tanzolymps einen Preis für die beste tänzerische Leistung eines Schülers eines Deutschen Tanzausbildungsinstituts – der von unseren Juroren erkorene Constantine Allen wurde von der großen internationalen Jury zu unserer Freude mit dem Grand Prix ausgezeichnet und entpuppte sich im Finale als Student der John Cranko Schule Stuttgart. Diesen Berlin-Schwerpunkt rundet Volkmar Draegers Bericht ab über die ungewöhnliche, ja man kann sogar sagen, mutige Ausstellung faszinierender Tänzerkörper seiner ehemaligen Kollegen von Yan Revazovs »Dance Nudes« – bevor wir uns weiteren tänzerischen Aktivitäten in unseren Landen widmen: den 6. Norddeutschen Tanztagen Worpswede, den Impressionen zweier verschiedener Aufführungen im März und Juli dieses Jahres der Studierenden der Akademie des Tanzes Mannheim, der faszinierenden Aufführung zum Jahresabschluss der John Cranko Schule Stuttgart sowie den »Jungen Choreographen« der Noverre Gesellschaft Stuttgart. Und Sie erfahren Aktuelles über John Neumeiers Triumph anlässlich der Gründung eines Bundesjugendballetts. Wie sieht Tanz als Abiturfach am Musischen Gymnasium Essen-Werden aus? Wie entwickelt sich der Prix de Lausanne unter der neuen Direktion von Wim Broeckx? Und was macht eine Persönlichkeit der deutschen Tanz-Szene, einst Deutschlands brillantester Tänzer, Peter Breuer in Salzburg? Und was der ehemalige Erste Solist des Balletts der Wiener Staatsoper Karl Musil und seine langjährige ungarisch-deutsch-österreichische Partnerin Evelyn Téri? Und für die gar nicht mehr so ferne Weihnachtszeit finden Sie Geschenkanregungen: Bücher – Bücher – Bücher! Wie heißt es im Vorspiel zu Goethes Faust: »Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.« Wir schließen uns der dichterischen Aussage an und hoffen, dass Ihnen sogar Alles etwas bringen wird! Ihre Redaktion Ulrich Roehm und Dagmar Ellen Fischer
Tanzplan Deutschland
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Tanzplan Deutschland – (K)ein Fazit Was war das eigentlich – ein Politikum, eine auf Zeit sprudelnde Geldquelle, ein vorweg genommenes nationales Tanzbüro, ein Ideenlieferant, ein Lobbyist, ein Katalysator für die Tanzszene? Zuallererst war der Tanzplan eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes, ohne die es ihn nicht gegeben hätte. Einen großen Dank wollen wir darum an erster Stelle Hortensia Völckers für ihre rückhaltlose Unterstützung aussprechen und allen, die sich mit ihr in der Stiftung für das Projekt eingesetzt haben – insbesondere Alexander Farenholtz, Dr. Ferdinand von Saint Andre, Dr. Fokke C. Peters und Florian Bolenius, Friederike Tappe-Hornbostel, Tinatin Eppmann, Julia Mai und Diana Keppler, Lavinia Francke, Kirsten Haß und Dr. Lutz Nitzsche, Antonia Lahme, Steffen Schule, Andreas Heimann, Beatrix Kluge und Beate Ollesch. Tanzplan war die Summe aus hunderten von Einzelpersonen, ohne deren Engagement, Enthusiasmus, Unermüdlichkeit und Kreativität der Tanzplan nicht zu einem der erfolgreichsten Projekte der Kulturstiftung des Bundes geworden wäre. Ihnen allen gilt an dieser Stelle der allergrößte Dank. Dazu gehören die Verantwortlichen der Tanzpläne vor Ort (in alphabetischer Reihenfolge): Judith Brückmann, Prof. Dr. Franz Anton Gramer, Prof. Boris Charmatz, Prof. Nik Haffner, Eva-Maria Hoerster, Prof. Rhys Martin, Prof. Gisela Müller, Prof. Ingo Reulecke und Sabine Trautwein (Berlin), HeideMarie Härtel, Waltraut Körver, Helge Letonja, Arnim Meier und Dr. Patricia Stöckemann (Bremen), Prof. Jason Beechey, Dieter Jaenicke, Doris Oser, Rebecca Rieger, Sabine Stenzel, Aaron S. Watkin und Udo Zimmermann (Dresden), Simone John, Martina Kessel, Bertram Müller und Angela Vucko (Düsseldorf), Ingo Dellmann, Dirk Hesse, Stefan Hilterhaus und lsabel Niederhagen (Essen), Dieter Buroch, Melanie Franzen, Prof. Heiner Goebbels, Prof. Dieter Heitkamp, Prof. Kurt Koegel, Prof. Dr. Gerald Siegmund und Bernd Steuernagel (Frankfurt), Dr. Kerstin Evert, Anna Münzer, Matthias Quabbe und Ulrike Steffel (Hamburg), Anja Brixle, Walter Heun, Nina Hümpel, Andrea Marton, Dr. Katja Schneider, Simone Schulte und Bettina Wagner-Bergelt (München), Petra Bieder, Sabine Chwalisz, Laurent Dubost und Ulrike Melzwig (Potsdam). Sowie alle bisherigen Sprecher der Ausbildungskonferenz Tanz: Prof. Jason Beechey, Prof. Lutz Förster, Prof. Dieter Heitkamp, Prof. Christine Neumeyer, Prof. Vera Sander und Prof. Dr. Ralf Stabel. Der Tanzplan war zudem ein außergewöhnliches Match-Funding-Unternehmen: Städte, Landesministerien und Stiftungen haben sich trotz Haushaltsvorbehalten und Finanzkrise fünf Jahre in die Pflicht nehmen lassen. Dafür und dass sie auch in Zukunft engagiert weiter fördern, können wir ihnen im Namen aller Beteiligten gar nicht genug danken. Ein besonders herzlicher Dank geht auch an alle Kuratoriumsmitglieder von Tanzplan – Prof. Dieter Heitkamp, Nele Hertling, Reinhild Hoffmann, Dr. Antje Klinge, Dr. Johannes Odenthal und Prof. Dr. Gerald Siegmund – für ihre kenntnisreiche und kritische Beratung. Und natürlich an die Vereinsmitglieder, die uns von Beginn an begleitet haben: Angelika von der Beek, Prof. Nik Haffner, Prof. Dr. Claudia Jeschke, Anna Thier und Prof. Maria Vedder. Und nicht zu vergessen die Autorin Edith Boxberger, die Rechercheurin Heike Lehmke, das Steuerbüro Stranghöhner, IT-Supporter Martin Rossmann, unser Grafikbüro scrollan, die Übersetzer Christina McKenna und Nickolas Woods sowie die Stiftung kulturserver.de. Der Tanzplan war ein aufregender Entwicklungsprozess, der zur Entscheidung für neun Tanzpläne vor Ort, für eine Reihe von exzellenten Einzelprojekten wie etwa die NPN-Koproduktionsförderung und für den Schwerpunkt »Ausbildungsprojekte« führte. 2
Mit dieser umfangreichen Broschüre fasst der »Tanzplan Deutschland« seine fünfjährige Arbeit zusammen. Siehe dazu auch die Rezension von Günther Rebel auf Seite 5 dieser Ausgabe von BALLETT INTERN.
Hier formulierten wir neue Fragestellungen an die Tanzausbildung, gründeten die »Ausbildungskonferenz Tanz«, unter deren Label die »Biennale Tanzausbildung« entwickelt wurde; und wir hinterlassen mit »Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland« ein gewichtiges Buch über zeitgenössische Ausbildungspraxis. Damit jedoch nicht genug. Tanzplan war auch Initiator: Eine Vielzahl an Projekten generierte das Tanzplan-Team flankierend zu den Vorhaben in den Tanzplanstädten. Wir griffen so unterschiedliche Themen auf wie Archive und Kulturerbe, Urheberrecht, Kuratieren, Residenzprogramme, Transition, Nationales Tanzbüro und Tanzförderung, organisierten Tagungen, Treffen, Arbeitskreise und schufen in zwei Fällen auch digitale Fakten: www.digitaler-atlas-tanz.de und www.tanzfoerderung.de. Zahlreiche Publikationen entstanden im Rahmen eines eigenen Förderprogramms. Bei alldem musste angesichts der Begrenzung der Projektlaufzeit auf fünf Jahre immer aufs Neue überlegt und abgewogen werden, was tatsächlich zu verwirklichen war. Allmählich kam dann auch das Thema »Staffelübergabe« ins Spiel. Denn gerade die Befristung dieses Masterplans fordert die Weitergabe von Wissen, Erfahrungen und Förderstrategien an eine gestärkte Tanzszene. Tanzplan Deutschland gipfelte in einem Abschlussfest, das im Februar 2011 mit über 600 Projektpartnern, Künstlern und Gästen in den Berliner Uferstudios gefeiert wurde. Wir sind glücklich, dass über 80 Prozent der von uns geförderten und initiierten Projekte weiter bestehen – und stolz, dass wir Teil dieses großen Plans für den Tanz sein durften. ■ Das Tanzplan-Deutschland-Team Ballett Intern 4/2011
Tanzplan Deutschland
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Grußwort Der »Tanzplan Deutschland«, eine der ambitioniertesten Initiativen der Kulturstiftung des Bundes, hat viel in Bewegung gebracht. 12,5 Millionen Euro hat der Bund in den Jahren 2005 bis 2010 investiert, um dem Tanz in Deutschland mehr Anerkennung zu verschaffen und ihn als gleichwertige Kunstform neben Oper und Theater sowohl in der öffentBernd Neumann, MdB, Staatsminister lichen als auch in der bei der Bundeskanzlerin, Beauftragter kulturpolitischen Wahr für Kultur und Medien (Foto: REGIERUNGonline/Kugler) nehmung zu etablieren. Dieser »Masterplan für den Tanz« zielte darauf, die strukturellen Bedingungen für den Tanz als eigenständige Kunstsparte nachhaltig zu stärken. Zum Abschluss des Tanzplans lässt sich ein beachtliches Fazit ziehen. Innerhalb von fünf Jahren ist ein bundesweites Netzwerk von Projekten für den zeitgenössischen Tanz entstanden, und, was besonders wichtig ist, die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung für den Tanz ist spürbar gewachsen. Die Tanzszene ist professioneller und selbstbewusster geworden, hat sich innovativen Einflüssen geöffnet und viele internationale Talente nach Deutschland gezogen. Dies gilt für die Bühne wie für die Ausbildung. Im Interesse einer Konsolidierung und Kontinuität des Erreichten gilt es nun, die auf kommunaler und Länderebene entstandenen Strukturen zu erhalten, auszubauen und weiterzuentwickeln. Die nach Auslaufen des Tanzplans angekündigte Verstetigung des Engagements – insbesondere der Städte – in den meisten Tanzplan-Projekten ist ein Erfolg und ein Beweis dafür, dass die vom Bund ausgegangene Initiative auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die Kulturstiftung des Bundes wird der Bedeutung des Tanzes auch zukünftig in ihrem Förderprofil Rechnung tragen. Ab 2013 wird die Sparte Tanz mit dem alle drei Jahre an wechselnden Orten in Deutschland stattfindenden »Tanzkongress« erstmals unter den »kulturellen Leuchttürmen« vertreten sein, die dauerhafte Spitzenförderung des Bundes erhalten. Flankierend zum Tanzkongress werden in den Jahren 2011 bis 2014 zwei mit je 2,5 Millionen Euro ausgestattete Förderfonds eingerichtet, die zum einen Tanzpartnerschaften zwischen Schulen und Tanzeinrichtungen und zum anderen der Pflege des Tanzerbes dienen sollen. Der »Dachverband Tanz Deutschland – Ständige Konferenz Tanz« hat darauf verwiesen, dass sich der Tanz in Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit hoher Dynamik entwickelt hat und die internationale Wahrnehmung unserer Kulturnation mit prägt. Wir brauchen weiterhin eine starke Lobby für den Tanz! Dabei finden Sie mich an Ihrer Seite. ■ Bernd Neumann, MdB, Staatsminister bei der Bundeskanzlerin Ballett Intern 4/2011
Hortensia Völckers, Künstlerische Direktorin und Vorstand der Kulturstiftung des Bundes (Foto: Kulturstiftung des Bundes, Maria Ziegelböck)
Madeline Ritter, die Projektleiterin von Tanzplan Deutschland (Foto: Bettina Stöss)
»Zusammen seid Ihr stark!« von Dorion Weickmann Was vom Tanzplan übrig bleibt: Hortensia Völckers und Madeline Ritter über Erfolge und Versäumnisse eines einzigartigen Förderprojekts. Wann kam der Tanz auf die Agenda der Bundeskulturstiftung? Völckers: Später als alle anderen Kunstsparten, und das allein sagt etwas aus über die Kampfbereitschaft der Szene auf dem politischen Parkett. Die Bildende Kunst hat die »documenta«, das Schauspiel sein »Theatertreffen«, die Musik die »Donaueschinger Musiktage« – alles kulturelle Leuchttürme, die zu uns gehören. Aber im Tanz gab es nichts Vergleichbares. Dieses Manko galt es auszugleichen, und zwar in einer konzertierten Aktion von Kommunen, Ländern und der Kulturstiftung des Bundes. Ritter: Wobei ursprünglich eher an ein Festival gedacht war, um die Strahlkraft des Tanzes zu bündeln. Zugleich schien es notwendig, alle Bereiche – Ausbildung, Produktion, Präsentation und Wissenschaft – in Bewegung zu bringen, und das lief eben auf einen Strukturentwicklungsplan hinaus. Welche Zielvorstellung hatten Sie? Ritter: Eine Kunstsparte anzuschauen und dort eine Veränderung in Gang zu setzen. Das funktioniert aber nur, wenn man die Beteiligten zuerst danach fragt, was sie brauchen, und dann nach dem besten Ansatz sucht. Wie war die Ausgangslage? Völckers: Das mussten wir auch erst einmal klären. Wir sind durchs Land gefahren und haben überall runde Tische mit Ministern, Kulturreferenten, Choreographen und Tänzern einberufen. Was ebenso neuartig wie politisch hochinteressant war, weil es zunächst nach dem üblichen Muster lief: lauter Einzelinteressen statt einer gemeinsamen Sache. Aber für die Kulturstiftung muss es eine übergreifende Idee sein! Hier auf einen Nenner zu kommen, war die entscheidende Weichenstellung noch vor der eigentlichen Bewerbung. Die Akteure haben ihre Ziele selbst definiert und die Zuschüsse von Stadt und Land sichergestellt, an die wiederum unsere Förderzusagen gekoppelt waren. Am Ende haben wir die neun Standorte ausgewählt, die das überzeugendste Konzept hatten und 3
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den stimmigsten Eindruck hinterließen. Wobei wir vielleicht nicht immer richtig entschieden haben. Inwiefern? Völckers: Mancherorts ließ die Kooperationsbereitschaft zu wünschen übrig, mitunter war auch das Standortteam nicht stark
»Am Ende haben wir die neun Standorte ausgewählt, die das überzeugendste Konzept hatten und den stimmigsten Eindruck hinterließen.« genug, um alle mitzunehmen. Trotzdem können fast alle weiterma chen, also lagen wir mit unserer Einschätzung in der Regel richtig. Ritter: Im Grunde lautete die Frage: Was bringen Menschen zustande, die vorher nie zusam men gearbeitet haben? Der Intendant des Staatsballetts und der freie Choreograph? In Berlin beispielsweise sahen sich zwei Kunsthochschulen plötzlich in eine Zusammenarbeit mit der freien Szene gezwungen, um etwas Neues, Zeitgenössisches und vor allem Freies im Ausbildungsbereich zu schaffen. Was für solche Institutionen allein schon eine Provokation ist! Entsprechend war das »Hochschulübergreifende Zentrum Tanz« mit einem großen Fragezeichen versehen und wurde nur in Etappen gefördert, um immer wieder zu prüfen: Gelingt ihnen das, was sie sich vorgenommen haben? Es ist gelungen! Ist die Zielmarke überall so glatt erreicht worden? Völckers: Man muss leider feststellen, dass die Tanzszene es nicht geschafft hat, sich national schlagkräftig zu organisieren und eine entsprechende Repräsentanz auf Bundesebene einzufordern. An der Stelle frage ich mich: Warum haben wir das nicht geschafft? Haben wir nicht alle ausreichend mitgenommen? Unterscheiden sich die Vorgehensweisen und Interessen der Fraktionen – hier das Ballett, da die zeitgenössische Richtung, dort die verschiedenen Ansätze innerhalb der Pädagogik – noch immer derart eklatant? Die Ballettwelt jedenfalls hat häufig gefehlt oder war, etwa beim Tanzkongress, kaum vertreten. Offensichtlich ist sie noch nicht Teil dieser Bewegung geworden. Wie lässt sich das ändern? Völckers: Dafür braucht es Zeit und eine klarere Einbindung. Darauf lag nicht der Fokus, und diese selektive Wahrnehmung ist selbst schon Ausdruck der Tanzkrankheit. Die Hochschulen wurden in einer großen und erfolgreichen Kraftanstrengung mitge nommen. Dagegen blieben die Stadt- und Staatstheater außen vor. Das ist problematisch. 4
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Ritter: Tatsächlich hatten wir am Anfang alle eingeladen, aber die Ideen sprudelten eher aus dem freien Bereich. Das Ziel der Verankerung und Vernetzung vor Ort war wiederum nur mit Partnern zu verwirklichen, die engagiert für eine gemeinsame Idee eintraten, nach dem Motto: Egal ob fest oder frei, genau dieses Vorhaben möchten wir umsetzen! In München beispielsweise haben das Staatsballett und freie Träger hochmotiviert zusammengearbeitet, was auch im Hinblick auf die Anschlussfinanzierung wichtig war. Der Tanzplan war von Anfang an auf fünf Jahre befristet, sollte aber zugleich nachhaltig wirken. Ist das nicht ein Widerspruch? Völckers: Es war ein Vitalisierungsprogramm, damit Menschen miteinander kooperieren – ein Anreiz, um zu signalisieren: Tut Euch zusammen, dann seid Ihr stärker! Ein solches Zusammengehen sorgt für Offenheit und Flexibilität, und beides haben wir nicht nur im Tanz dringend nötig. Ritter: Zeitliche Begrenzung erzeugt Druck und Dynamik und bewirkt, dass das eigene Ziel und der Weg dorthin ständig überprüft werden müssen. Wir haben versucht, eine gute »Staffelübergabe« für die Weiterarbeit zu organisieren. Gleichwohl sind nun mehr alle aufgerufen, die Dinge emanzipiert in die eigene Hand zu nehmen. Aus meiner Sicht halten solche Befristungen das Fördersystem offen und lebendig. Völckers: Aber die Offenheit hat Vor- und Nachteile. Einerseits wären die Riesentanker der Stadt- und Staatstheater in einem offenen System längst untergegangen. Andererseits war die freie Szene vor dem Tanzplan nicht ausreichend finanziert und ist es jetzt ge-
»Es war ein Vitalisierungsprogramm, damit Menschen mitein ander kooperieren – ein Anreiz, um zu signalisieren: Tut Euch zusammen, dann seid Ihr stärker!« nauso wenig. Das ist ein strukturelles Defizit, auch wenn die Fördermittel leicht gestiegen sind. Ritter: Das Problem ist, dass die meisten Förderer kaum wagen, etwas auszuprobieren, weil sie fürchten, nie mehr aussteigen zu können. Deswegen entstehen überall kleine Fördertöpfe anstelle von Synergien. Genau hier hat der Tanzplan angesetzt und im Verbund mit Städten und Ländern keine Einzelprojekte, sondern Strukturen gefördert. Das ließe sich auf lokaler Ebene durchaus fortsetzen. Ballett Intern 4/2011
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Hat sich die kulturpolitische Wahrnehmung des Tanzes insgesamt durch den Tanzplan verändert? Völckers: Zumindest spricht eine Institution wie die Kultusministerkonferenz jetzt von sich aus den Staatsminister für Kultur und Medien an und fragt nach der Zukunft des Tanzes. So etwas wäre vor dem Tanzplan undenkbar gewesen. Aber die Politik reagiert auf Bedürfnisse, die bei ihr angemeldet werden, deshalb muss sich die Szene jetzt selbstbewusst positionieren. Sonst läuft das ins Leere. Was war die spannendste Erfahrung? Ritter: Ich bin aus der Kunstproduktion in die -förderung gegangen und habe dabei gemerkt, dass man dort gleichermaßen gestalten kann und nicht alles eine Frage des Geldes ist. Nicht nur die Künstler müssen innovativ und risikofreudig sein, sondern auch die Förderer. Völckers: Für mich hat sich eher etwas Problematisches heraus kristallisiert, nämlich dass alle Projekte zu schnell starten. Eigentlich müsste man länger am präzisen Design der Aufgabe arbeiten, denn was am Anfang nicht richtig definiert ist, bleibt eine Schwachstelle und macht sich zuletzt als Systemfehler bemerkbar. Da müssen wir nachbessern. Ansonsten ist es genial aufgegangen, darüber freue ich mich.
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und seine Geschichte, weil das 20. Jahrhundert praktisch komplett verschwunden ist. Deshalb ist der »Tanzerbe«-Fonds für Rekonstruktion und Reinterpretation auch und gerade ein Angebot an die festen Kompanien, ihr Repertoire entsprechend zu erweitern. Ritter: Eine Kunstform, deren Erbe nicht sichtbar ist, bleibt unter belichtet, auch was die kulturpolitische Wertschätzung angeht, deshalb lautet die Frage: Wie kann man die Erfahrung der Geschichte lebendig machen? Und für den Fonds »Tanzpartner« lässt sich mit Jonathan Burrows sagen: »Es ist wesentlich vergnüglicher, selbst zu tanzen, als anderen dabei zuzuschauen.« Völckers: Tatsächlich ist Tanz in Schulen überaus begehrt. Sobald Kinder und Eltern diese Erfahrung gemacht haben, wollen sie nicht mehr aufhören. Trotzdem gibt es eine Art Schwellenangst und zugleich fehlt die nötige Infrastruktur, weil Tanzen nicht zum Kanon gehört. Hier schaffen wir eine Grundlage, indem wir Schulen und Theater zur Zusammenarbeit einladen und auf die Qualität der entstehenden Produkte setzen – und darauf, dass man versteht: Es geht um Kunst! Der »Tanzkongress« schließlich ist schon jetzt eine Marke mit viel Potenzial: ein Diskussions- und Präsentationsforum, das sehr gut angenommen wird.
Mit dem Leuchtturm des »Tanzkongresses« und dem Fonds »Tanzpartner«, der Schulen und Theater zusammenbringt, werden zwei Seitenstränge des Tanzplans fortgesetzt. Dazu kommt der Fonds »Tanzerbe«. Wie entstand dieses neue Förderprofil? Völckers: Als klar war, dass der Tanz mit erkennbaren Mitteln weiter gefördert werden soll, haben wir uns mit dem Stiftungsrat auf zwei Schwerpunkte verständigt: die kulturelle Bildung und das kulturelle Erbe. Wir wollen Bewusstsein schaffen für den Tanz
Was kann die Tanzszene von der Kulturstiftung des Bundes künftig erwarten? Völckers: Wir sind die Osteopathen des Systems. Das ist eine tolle Aufgabe. ■
»Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.«
ken und beeindruckenden Fotos optisch sehr ästhetisch präsentierten Einzelbroschüren verführen den Leser zum Querlesen und damit auch zur Kenntnisnahme von Beiträgen, die auf den ersten Blick zunächst nur für Tanzwissenschaftler interessant erscheinen wie z. B. Tanz/Kuratieren zwischen Theorie und Praxis. Da ein einziges Bild mehr sagen kann als tausend Worte, haben die Gestalter der Dokumentation wohl sehr bewusst ein doppelseitiges Foto in die Mitte des Bilanz-Heftes »2005–2010 Tanzplan Deutschland« gestellt. Dieses Foto ist einerseits flüchtige Realität von 2010, andererseits aber auch Zukunftsvision und Ansporn für ähnliche kreative Aktionen, um den Tanz im gesellschaftlichen Bewusstsein stärker zu verankern. Es zeigt die »größte Ballettklasse der Welt«, die anlässlich des Norddeutschen Tanztreffens in Hannover vom Tanzplan Bremen zur Eröffnung des 8. NDTT initiiert und inszeniert wurde. Über tausend Passanten stehen auf Hannovers Straßen an der Ballettstange und erhalten von Profis des Staatstheaters Hannover ein kurzes Training im klassischen Tanz. Junge und alte Menschen unterschiedlichster Couleur und sozialer Herkunft folgen den Trainingsanleitungen mit Konzentration und Freude. Der »Tanzplan Deutschland« verabschiedet sich zwar mit dieser Dokumentation aus der kulturpolitischen Landschaft, hat aber genügend Impulse für zahlreiche kleine und große zukünftige Tanzpläne gesetzt, die natürlich nur dann Bedeutung erhalten, wenn sie von den Tanzschaffenden umgesetzt werden. Schließlich sagte schon Erich Kästner ganz lapidar: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« ■
Tanzplan Deutschland – eine Bestandsaufnahme von Günther Rebel In einem edlen Schuber servieren die Projektleiterin Madeleine Ritter und der Geschäftsführer Frank Ottersbach die Abschlussdokumentation »Tanzplan Deutschland 2005–2010, eine Bilanz«. Übersichtlich gebündelt, findet der interessierte Leser eine Fülle von gesammelten Publikationen inklusive der Abschlussdokumentation. Neben Dokumentationen z. B. über Vor-Ort-Projekte, Tanzausbildung oder »Kulturerbe Tanz« gibt es eine Fülle von Presseartikeln, Zahlen, Fakten und ein von Dorion Weickmann moderiertes Gespräch mit Hortensia Völckers und Madeleine Ritter, in dem diese sich über die kulturpolitische Tragweite dieses Großprojektes unterhalten. Neben dem Einblick, den Frank Ottersbach in das Getriebe dieser großen Fördermaschine gewährt, dürften überdies die Beschreibungen von Esther Boldt wichtig sein. In ihrem Beitrag geht es darum, welche Bedeutung nationale Förderstrukturen für den Tanz und ein nationales Tanzbüro haben. Dr. Gisela Steffens und Ingo Diehl halten ein Plädoyer für die Biennale Tanzausbildung und Edith Boxberger präsentiert die Ergebnisse aus fünf Jahren Ausbildungsprojekte. Interessant ist die Datenerhebung des »Zentrum für Kulturforschung« zur öffentlichen Tanzförderung in den Jahren 2004 bis 2009, die Förderstrukturen transparenter macht und zugleich aufzeigt, wie viel noch getan werden müsste. Für Nachfolgeorganisationen von »Tanzplan Deutschland« ergeben sich somit noch genügend neue Aufgabenfelder. Die mit zahlreichen übersichtlichen Tabellen, reizvollen GraphiBallett Intern 4/2011
Dorion Weickmann hat über Tanz als kulturgeschichtliches Phänomen promoviert und arbeitet als Tanzkritikerin u.a. für die Süddeutsche Zeitung. – Die Texte zum »Tanzplan Deutschland« wurden der »Abschlussdokumentation Tanzplan 2005– 2010« entnommen. Die Redaktion bedankt sich für die Abdruck-Genehmigung.
Die »Abschlussdokumentation Tanzplan Deutschland 2005– 2010, eine Bilanz« ist für 7 € erhältlich bei: Henninger Verlag,
[email protected], oder im Buchhandel mit der ISBN 978–3-89487–716-3, oder zum Download unter www.tanzplandeutschland.de/publikation 5
Staatsballett Berlin
Staatsballett Berlin
Der größte Saal heißt ›Tatjana Gsovsky Studio‹, hier trainiert seit April 2011 das Staatsballett Berlin (Fotos: Marc Volk)
Tänzersprünge und Statik Das Staatsballett Berlin auf soliden Standbeinen von Dagmar Ellen Fischer Ein idealer Arbeitsraum braucht Helligkeit. Was auch immer darin gearbeitet wird – Licht ist unabdingbar. Das Staatsballett Berlin hat nach dem Umzug im Frühjahr dieses Jahres ideale Arbeitsbedingungen: Drei große Säle stehen der Compagnie im neuen Gebäude zur Verfügung, das direkt neben der Deutschen Oper an der Bismarckstraße liegt. Das Tageslicht fällt von oben durch riesige Fenster: Die neuen Tanzstudios befinden sich im ehemaligen Malsaal der Deutschen Oper – Nordlicht aus Atelierfenstern, besser geht es nicht. Und das Besondere: Jeder der drei Säle hat eine Galerie, einen schmalen Gang hoch oben unter der Decke; auf diese Weise kann man den Raum betreten, ohne die Probe oder das Training zu stören. So können nicht nur interessierte Besucher durch die großzügigen Räume geschleust werden, auch Mitarbeiter können auf diese Weise einen Kollegen ausfindig machen, ohne durch Türöffnen die Konzentration im Saal zu unterbrechen – eine großartige Idee. Außerdem können an einer Produktion Beteiligte vom Galerie-Gang aus unauffällig die Proben verfolgen, sich informieren und inspirieren lassen. Einer der Säle hat präzise die Bühnenausmaße der Deutschen Oper; beste Bedingungen also, denn dort – und nicht mehr in der Staatsoper Unter den Linden – wird die größte Compagnie Deutschlands künftig zu Hause sein. Kurze Wege zwischen Proberaum und Bühne und für alle Mitarbeiter, zwischen Verwaltung und Tänzern, von Technikern zu Choreograph. Früher waren dort die Werkstätten der Oper untergebracht, das Gebäude ist gründlich umgebaut und für die Bedürfnisse des Staatsballetts Berlin hergerichtet worden. »Wenn 88 Tänzer springen, und zwar gleichzeitig – dann ist nicht nur ein anderer Untergrund und ein Schwingboden notwendig, dann braucht man eine komplett neue Statik für die Räume!« So Dr. Christiane Theobald, Betriebsdirektorin und stellvertretende Intendantin des Staatsballett Berlin, die das Projekt seit den ersten Anfängen über sämtliche Planungsphasen hinweg bis zum heutigen Zustand begleitet. Auch eine adäquate Belüftung der Säle war ein fundamentales Thema: »In einem Saal schwitzen und atmen durchschnittlich 60 Menschen, mitunter bis zu vier Stunden hintereinander, da sind die Anforderungen an die Zu- und Abluft eine andere als an Büroräume beispielsweise«, erläutert Theobald weiter. Und so schlängeln sich extrem dicke, silberne Metallrohre im oberen Drittel auffällig durch jeden Saal – 6
Staatsballett Berlin
Staatsballett Berlin
Benannt nach drei für die Berliner Tanzgeschichte bedeutenden Persönlichkeiten: Das ›Tom Schilling Studio‹
frei nach dem Motto: Was du nicht verstecken kannst, betone! Ebenfalls schlecht zu verbergen sind die noch verbliebenen RestBaustellen, die allerdings nicht weiter betont werden müssen. Ein Ruheraum beispielsweise ist noch im Entstehungsprozess, »Tänzer haben eine schlechte ›Schlafhygiene‹ – sie schlafen einfach zu wenig«, berichtet Theobald. Längst ist bekannt, dass kurze Schlafphasen von zehn bis zwanzig Minuten während des Tages extrem erholsam sein können. »Und genau dafür haben wir einen Ruheraum eingerichtet, gemäß neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit einer ganz eigenen Akustik, die Lärm verschluckt«, ergänzt die engagierte Direktorin. Maximal fünf Tänzer können hier bald gezielt kurze Erholungsphasen einlegen, schlafend oder ruhend, im Sessel oder in der Waagerechten. Fertig und schon gut frequentiert ist der sogenannte KinesisRaum, ein Zimmer von durchschnittlicher Größe, das an allen Wänden Griffe, Schlaufen und Zugvorrichtungen bereit hält: Mit diesem System und seinen individuell einstellbaren Widerständen in Form von Gewichten können sehr gezielt bestimmte Muskelgruppen trainiert und – dies ist ebenfalls durch wissenschaftliche Studien belegt – Verletzungen vermieden werden. Auch diese Trainingsanlage regte Christiane Theobald an; es ist die folgerichtige, praktische Weiterführung ihrer Initiative »preVance«, die für »prevention in dance« steht, also für Prävention im Tanz. Vielleicht nicht so existenziell, aber ganz sicher eine Bereicherung, ist die Bibliothek: Im alten Haus gab es einen winzigen Raum, der mit Büchern vollgestopft war – nun stehen die Bücher zu Tanzgeschichte, BallettTechnik und angrenzenden Gebieten in luftigen Regalen, zwischen denen man sich bewegen kann. Die Herzstücke für Bewegung indes bleiben die drei Säle. Sie haben übrigens Namen: Sie heißen Tatjana Gsovsky-, Gert Reinholm- und Tom Schilling-Studio. Dr. Christiane Theobald fungierte als Namenspatin – besser hätte sie ein Gleichgewicht zwischen Ost und West sowie unter den verschiedenen Generationen kaum herstellen können. Alle drei Persönlichkeiten stehen für bedeutende Abschnitte in der Berliner und deutschen Tanzgeschichte.
Tatjana Gsovsky kam als Tatjana Issatschenko 1901 in Moskau zur Welt, sie nahm im damaligen Petrograd Tanzunterricht bei Nowikow und Kirsanowa sowie im Isadora Duncan Studio und später auch in Hellerau. Nach der russischen Oktober-Revolution wurde sie Ballettchefin in Krasnador, dort lernte sie Viktor Gsovsky kennen. Die beiden heirateten 1924 und gingen ein Jahr später gemeinsam nach Berlin, Viktor Gsovsky trat als Tänzer und Mime in der Berliner Staatsoper auf, arbeitete als Ballettmeister und choreographierte Tanzeinlagen für Ballett Intern 4/2011
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zu diesen gehörte »Der Idiot« nach Dostejewski mit Klaus Kinski in der Titelrolle zu Musik von Hans-Werner Henze – ging 1955 eine selbständige Compagnie hervor, das »Berliner Ballett«: Die Truppe wurde zeitweise vom Berliner Senat subventioniert, unternahm u. a. Tourneen nach Japan und Südamerika und zeigte Werke ihrer Gründerin, darunter »Die Kameliendame« 1957 und eine Neufassung »Der Idiot« 1959, ihr Protagonist Gert Reinholm übernahm die Ko-Direktion. Als Pädagogin an der Berliner Ballett-Akademie übte sie einen großen Einfluss auf die nächste Tänzergeneration in Deutschland aus. Sie starb 1993 in Berlin. Tatjana Gsovsky wurde 1983 durch den Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik mit dem ersten Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet.
Gert Reinholm Blick in das neue »Foyer de la Danse«, in dem auch Tanzaufführungen Platz haben und geplant sind.
Ballett-Opern. 1928 eröffneten die Gsovskys eine Ballettschule in Berlin. Tatjana Gsovsky arbeitete als Choreographin zunächst fürs Varieté, bevor sie in den 1930er und 1940er Jahren an verschiedenen Theatern in Deutschland engagiert wurde. 1944 brachte sie Gottfried von Einems »Prinzessin Turandot« in Dresden zur Uraufführung. Von 1945 bis 1952 war sie Ballettchefin der Staatsoper in Ost- Tatjana Gsovsky (Foto: Archiv DBfT) Berlin, diese Truppe wurde unter ihrer Leitung schnell zu einem der profiliertesten Ensembles. Als Ballettdirektorin und Chefchoreographin arbeitete sie von 1954 bis 1966 an der Städtischen Oper Berlin (die ab 1961 Deutsche Oper Berlin hieß). Aus ihren Produktionen für die Berliner Festwochen –
wurde 1923 in Chemnitz geboren und absolvierte seine Tanzausbildung an der Berliner Ballettschule sowie bei Tatjana Gsovsky. 1942 begann er als Eleve im Ballett der Staatsoper, von 1946 bis 1950 war er Solotänzer der Compagnie. In den folgenden beiden Spielzeiten war er Danseur Étoile am Teatro Colón in Buenos Aires, 1953 kehrte er an die Städtische Oper Berlin zurück; 1961, als das Haus unter dem Namen »Deutsche Oper« in die Bismarckstraße übersiedelte, übernahm er auch Gert Reinholm (Foto: Archiv DBfT) die Aufgabe des Ballettdirektors, zweitweise gemeinsam mit Kenneth MacMillan und John Tarras. 1955 gründete Reinholm gemeinsam mit seiner Mentorin Tatjana Gsovsky das »Berliner Ballett«, in den folgenden Jahren übernahm er zahlreiche Solistenrollen in ihren Choreographien. Ab 1967 leitete er die Berliner Ballett-Akademie. Gert Reinholm starb 2005 in Berlin.
Iana Salenko (Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2009) und Marian Walter (Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2007) sind inzwischen Erste Solisten beim Staatsballett Berlin. Sie sind seit drei Jahren miteinander verheiratet und Eltern eines kleinen Sohnes. (Fotos: Enrico Nawrath)
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Tom Schilling kam 1928 im thüringischen Esperstedt zur Welt. Tanzunterricht nahm er an der Opernballettschule in Dessau sowie bei Dore Hoyer und Mary Wigman. Sein erstes Engagement trat er nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Dresden an, von 1946 bis 1952 war er als Solotänzer in Leipzig. Zwischen 1953 und 1956 war er sowohl als Solist als auch als Choreo(Foto: Archiv DBfT) graph am Nationaltheater Tom Schilling Weimar engagiert, ab 1956 bis 1964 war er Ballettdirektor an der Staatsoper in Dresden. 1965 berief Intendant Walter Felsenstein Tom Schilling an die Komische Oper nach Berlin, dort arbeitete er als Künstlerischer Leiter und Chefchoreograph bis 1993. In dieser Zeit baute Schilling ein Ensemble auf, das als Tanztheater äußerst erfolgreich auftrat. Zu seinen herausragenden Werken zählen »Undine« aus dem Jahr 1970 zu Musik von Hans-Werner Henze und die »Wahlverwandtschaften« nach Goethes Roman, 1983 zu Schubert-Musik uraufgeführt. Tom Schilling wurde 1996 durch den Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet. ■ rechts: Polina Semionova (Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2005), von Vladimir Malakhov entdeckt und 17-jährig als Solistin engagiert unten: Marian Walter (Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2007) (Fotos: Enrico Nawrath)
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Staatliche Ballettschule Berlin
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Vielfalt der Stile Eindrücke von der Gala der Staatlichen Ballettschule Berlin von Volkmar Draeger Beinah 100 kleine und große Tänzer scharen sich zum Finale auf der Bühne des Schiller-Theaters hinter ihren Pädagogen, denen sie zu danken haben für ein Jahr mühevoller und, wie man sah, erfolgreicher Arbeit hin zum Beruf. Fast alles, was in der Staatlichen Ballettschule Berlin Beine hat und nicht krank war, durfte sich in der Gala zum Abschluss des Schuljahres zeigen. Tendierten diese Präsentationsveranstaltungen in den letzten Jahren mit gewaltigem Aufwand immer mehr zum abendfüllenden Handlungsballett, gedacht als veritable Vorbereitung auf den späteren Theateralltag, so stellte die Schule diesmal vier Werke vor und bot damit einen Querschnitt durch das Leistungsniveau in den einzelnen Ausbildungsstufen. Statt »Romeo und Julia« in brillant geraffter Version und, im vergangenen Jahr und wieder nach Shakespeare, »Ein Sommernachtstraum«, beides von Torsten Händler, nun ein Abend ganz aus schuleigenen Kräften. Denn zwei der kürzeren Stücke haben in jenem Berliner Institut eine lange Geschichte, gehören gewissermaßen zum Dauerrepertoire. Was einst Marius Petipa Kindern der Kaiserlichen Ballettschule auf den Leib choreographiert hatte, kehrte wieder zu Schülern zurück: seine kaum siebenminütige »Kindermazurka« zu Musik Michail Glinkas. Jene, die dieses schmissige Entree erstmals an der Berliner Ballettschule getanzt haben, sind längst dem Beruf entwachsen. Ihnen folgen jetzt acht hoffnungsvolle Paare der Unterstufe nach, die Jungen in kadettenhaftem Oberteil und, wie die Mädchen, mit rotem Halbumhang. Christel Wirsching, Kathrin Baum-Höfer, Stojan Kissiov als einstudierende Pädagogen haben sie zu Exaktheit in Form, Übergang und Pose geführt, bis zum energischen Nicken des Kopfes, den Hackenabschlägen der Jungen und ihren Führungen der Partnerinnen im Kniestand. Dass alle unter den kecken Federn auf dem Hut fröhlich lächeln und selbst den Kreis
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einhalten, weist auf künstlerischen Zugewinn bei den Proben hin. Den verzeichnen auch ihre älteren Mitstudenten, die das an der Berliner Schule wohl meistgezeigte Ballett gestalten durften: Auch wenn Michail Fokins »Chopiniana« zu orchestrierten Walzern und Mazurken von Frédéric Chopin bereits 1909 seine Uraufführung erlebte und weltweit in zahllosen Redaktionen existiert, bleibt das 20-minütige Divertissement ein Markstein klassischer Schulung bis heute. Gerahmt von Studentinnen des 4. bis 6. Ausbildungsjahres, hatten sich vornehmlich Mädchen der 8. Stufe in Soli sowie ein Junge aus der Absolventenklasse in dieser jugendstilhaft bewegten Reminiszenz an Gestus und Allüre des romantischen Balletts zu bewähren. Das von Edna Azevedo, Marta Diminich, Harry Müller, Henry Will sowie der Senior-Ballerina Ursula Kirsten-Collein verantwortete Ergebnis überzeugte in Atem, watteweichen Armposen, beseelter Gestaltung und filigraner Fußarbeit auf ganzer Linie. Fallen der Gruppe eher geometrische Muster und lebende Bilder zu, obliegt es den Solistinnen, vor blauem Hintergrund die Illusion vom Fliegen zu »verkaufen«. Julia Schalitz und Chie Kato gelingt das so virtuos wie stilsicher. Nicht nur mit Charme nimmt Anna Lisa Breuker für sich ein, kostet im Solo den Traum von der Sylphide fühlend aus, bewegt sich mit bemerkenswertem Gespür in jener Welt des Scheins: Von weißen Tüllwölkchen umlagert, erhebt sie den cis-Moll-Walzer rechtens zum Zentrum der Rêverie. Wie Timoteo Mock sie dabei schweben lässt, sanft absetzt, sich zurücknimmt und dennoch souverän führt, wird seine künftigen Partnerinnen an der Wiener Staatsoper freuen – ebenso wie sein perfektes Drehen und das Landen in exakter fünfter Position seine Trainingsmeister. Die Berliner Schule beweist sich damit als Hort der Tradition und wagt mit der Uraufführung des Abends Neues, ganz im Sinn des Mottos »Tradition bewahren, Neues wagen« ihres künstlerischen Leiters Gregor Seyffert. Nicht so sehr vom Schrittmaterial her tritt jenes Neue in »Die Zukunft beginnt jetzt« zutage, sondern in der Kombination von Idee und Musik. Kennt man Maurice Ravels »Bolero« aus ungezählten Versionen als Aufziehen einer Gefahr, die sich am Ende explosiv bis tragisch entlädt, so führt Larissa Dobrozhan in ihrer Choreographie vor, wie sich von den ersten Grundschritten Kinder und Jugendliche
»Troy Game«, Choreographie Robert North, getanzt von Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin im neuen Schulgebäude
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(Fotos: Konrad Hirsch)
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zu Tänzern entwickeln. Seyffert hat das so überraschend inszeniert, dass der Saal schon am Beginn aufjubelt. Da sitzt scheinbar einsam im Lichtkegel ein Mädchen, die Arme um die Knie geschlungen, übt dann Strecken der Füße. Als sie um sich blickt, tauchen aus dem Dunkel urplötzlich liegende Kameradinnen auf. Das setzt sich äußerst effektvoll wie in einzelnen Schichten so fort. Dann halten fast unsichtbare Jungen in schwarzem Outfit Stangen, die zu schweben scheinen und an denen das Exercice beginnt, zunächst auf halber Spitze für die Jüngeren. Der bühnentechnische Trick des »Fortwischens« zeigt im Zeitraffer, wie aus dem Kleinsten über eine Mittelstufe der Absolvent mit gediegenem Können wird. Das macht Entwicklung sichtbar. Um sie geht es in einer mit der Musik und an ihr sich steigernden Choreographie, die tempogeladen und überaus kurzweilig Ausbildungsstadien zeigt, die Jahrgänge immer wieder verflicht, ohne irgendwo didaktisch zu wirken. Sie, die Ausbildungsstufen, sind auch an den Trikotfarben kenntlich: weiß das 1. Ausbildungsjahr, rosa die Unterstufe, pink die Mittelstufe, weinrot die Oberstufe bei den Mädchen; die Jungen »arbeiten« sich von hell- zu dunkelblau. Die Nüchternheit eines getanzten, freilich kalkuliert verschachtelten Exercice zehrt so von der Atmosphäre der Musik, deren Spannung sich in steigende Virtuosität umsetzt und fast simpel endet: Die Menge teilt sich als Zitat für den bereits am Anfang eingeführten Spagat eines Kindes. Nicht Wasser muss also niederrauschen oder etwa ein Feuer alle Beteiligten verschlingen; Tanz pur schmiegt sich Ravels Komposition an und siegt einfach mit dem Werden von Talenten. Die hatten vor dem Finale reichlich Gelegenheit, technische Tricks zu servieren, von den fouettés der Mädchen bis zu einer Double-Luft-Kaskade und Seconde-Touren respektive verwirbelten Sprüngen der Jungen. Dicht ist das inszeniert, verzichtet auf methodische Chronologie zugunsten von Vielfalt fürs Auge. Kristina Bernewitz, Christoph Böhm, Khristina Fedyanina, Stojan Kissiov und Anna Svitlychenko haben die knapp 90 Schüler und Studenten aller neun Ausbildungsstufen in Form gebracht, damit ihre Zukunft wirklich beginnen kann. Kaum ist der originelle Spaß vorüber, wird es für acht junge Herren des 7. bis 9. Jahres ernst. Sie haben sich gleich anschließend in Robert Norths modernem Klassiker »Troy Game« zu bewähren, wie ihn Olaf Höfer und Christoph Böhm ihnen übertragen haben. Was mit Brunstschreien vor Kraft anhebt, sich über muskellockernde Übungen und Ertüchtigungsrituale zum veritablen Kampfspiel trojanischer Krieger auswächst, hält beides bereit: athletischen Furor und funkelnde Ironie aufs Machotum. Auch wenn den Helden gegen Schluss dieser Tour de force die Puste rar wird, haben sie das Publikum auf ihrer Seite und demonstrieren im Pendant zum fast reinen Frauenstück der Sylphiden, wie vielseitig Tanz heute, wie breit gefächert die Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin ist. ■
Die »Kindermazurka« nach Marius Petipa, getanzt von acht Paaren der Unterstufe (Foto: Konrad Hirsch)
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»Die Zukunft beginnt jetzt« Die Staatliche Ballettschule Berlin wird 60 Jahre von Jenny J. Veldhuis Zum 60. Geburtstag hätte die Staatliche Ballettschule Berlin kein schöneres Geschenk erhalten können als den wunderschönen Neubau, der nun ihr Zuhause ist. Als Gregor Seyffert 2002 die künstlerische Leitung der Schule übernahm, war ihm klar, dass eine bessere als die bisherige Unterkunft Not tat. Seyffert, selbst Absolvent der Schule, kann auf eine grandiose Tanzkarriere zurückblicken. Er war unter anderem langjähriger Solist an der Komischen Oper Berlin, erhielt 1997 den Prix Benois de la Danse als bester Tänzer und 2003 den Deutschen Tanzpreis,, seit 1996 leitet er seine eigene kleine Compagnie, mit der er regelmäßig Produktionen erarbeitet und Tourneen durchführt. Prof. Dr. Ralf Stabel, Tanzpublizist und Tanzhistoriker, studierte Choreographie und Theaterwissenschaften an der »Hans Otto«Hochschule in Leipzig, promovierte an der Universität Bremen zum »Einfluss von Politik auf die Strukturen und Inhalte von Tanzausbildung«, lehrte an der Palucca Schule in Dresden und an der »Ernst Busch«-Hochschule in Berlin. 2003 kam er als stellvertretender künstlerischer Leiter an die Staatliche Ballettschule Berlin, und seit 2007 ist er Leiter sowohl der Staatlichen Ballettschule als auch der mit ihr seit den neunziger Jahren zusammengeschlossenen Schule für Artistik. Seyffert und Stabel haben rund fünf Jahre um den neuen Schulbau kämpfen müssen – nun steht er da in seiner modernen Schönheit. Entworfen wurde die neue Unterkunft der Ballettschule und der Schule für Artistik von der Architektensozietät Gerkan, Mark und Partner (gmp), die auch den Berliner Hauptbahnhof entwarf. Mag bei einem Bahnhof die Effizienz im Vordergrund stehen, so benötigt eine Ballettschule ein Gebäude, in dem sich Kinder und Jugendliche samt ihres Traums, einmal Tänzer zu werden, gut aufgehoben fühlen. Und genau diese Atmosphäre strahlt die neue Staatliche Ballettschule Berlin aus, obwohl sie riesig ist. Zur Verfügung stehen zehn Ballettsäle, wovon einer sogar in einen Theatersaal mit rund 100 Plätzen verwandelt werden kann. An alles wurde gedacht: Stangen, Boden, Klimaanlage und Musikanlagen – alles in bester Qualität und bestens abgestimmt auf die Notwendigkeiten des Schulbetriebs. Für die 200 Schüler der Staatlichen Ballettschule gibt es große Garderoben und sogar Schubladen für die Tutus. Es gibt darüber hinaus Archiv- und Fundus-Räume, eine Mensa und bald auch ein Internat mit 70 Plätzen. Man betritt die Schule und gelangt unmittelbar in einen hohen, offenen und großzügigen Raum, der die beiden Gebäudehälften verbindet. Links, im alten (aber nicht wiederzuerkennenden) Schulteil, sind im Erdgeschoss die Verwaltung und die physiotherapeutische Abteilung untergebracht, in den Stockwerken darüber die Räume für die allgemeinschulische Ausbildung. Auf dieser Ebene geht es auch in die Säle. Das Motto der Schule lautet »Tradition bewahren, Neues wagen«. Und Neues (und Einmaliges) bietet die Staatliche Ballettschule Berlin in der Tat. Schon seit vielen Jahren verfügt sie über eine integrierte Tanz- und allgemeinschulische Ausbildung. Heute ist es ihren Studierenden nicht nur möglich, ein Abitur oder Fachabitur zu erlangen, sondern auch den Berufsabschluss »Bachelor of Arts«. Dieser zusammen mit der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« angebotene Studiengang ist einmalig in Deutschland. Abgesehen von sogenannten Kinderklassen, in denen Sechs- bis Zehnjährige einmal pro Woche unterrichtet werden, beginnt die Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin mit dem zehnten Lebensjahr, sie dauert acht bis neun Jahre. Grundlage der AusbilBallett Intern 4/2011
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dung ist die klassische Technik, aber auch Moderner Tanz, Jazz- und Charaktertanz sowie Improvisation gehören zum Lehrplan. Ebenso fester Bestandteil des Schullebens sind die zahlreichen Auftritte nicht nur in Berlin, sondern auch auf Gastspielen in Deutschland und international. Zur Einweihung des neuen Gebäudes fand im Juni 2011 ein mehrtägiges Fest statt, das ein abwechslungsreiches Programm bot. Am ersten Tag trainierten viele professionelle Tänzerinnen und Tänzer, allesamt ehemalige Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin, zusammen mit den heute Studierenden. Es war schön zu sehen, welch‘ starke Bindung die Ehemaligen noch immer zu ihrer Schule haben. Am Abend wurde im schuleigenen Theater die diesjährige SchulGala gezeigt, die wenige Wochen zuvor ihre vielbejubelte Aufführung im Berliner Schiller-Theater erlebt hatte. Petipas »Kindermazurka« wurde zunächst mit viel Stilgefühl von den Schülern der Unterstufe getanzt. Es folgte Fokines »Chopiniana« (»Les Sylphides«), in denen die Schüler nicht nur technisch beeindruckten, sondern auch den romantischen Geist des Werkes überzeugend zum Leben erweckten. Der Titel des Programms – »Die Zukunft beginnt jetzt« – spielte nicht nur auf das neue Schulgebäude an, sondern war auch der Titel eines neuen Werkes zu Maurice Ravels »Bolero«. Das hinreißend gestaltete Stück, entstanden unter der Leitung von Gregor Seyffert und in der Choreographie von Larissa Dobrozhan, zeigt in zahlreichen Sequenzen den tanztechnischen Aufbau einer Tänzerausbildung, von den Kleinen bis zu den Großen, von den spielerischen Bewegungen des Beginns bis zur Virtuosität der Absolventenklassen. Zum Schluss
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zeigten neun Jungen in Robert Norths »Troy Game« ihr Können. Am zweiten Tag war die Schule Gastgeber für andere Schulen aus Europa. Gäste und Gastgeber nahmen zusammen teil am klassischen und modernen Unterricht, und Marc Bogaerts schuf für alle eine Choreographie, die am Abend aufgeführt wurde, zusammen mit den Soli und Pas de deux, welche die internationalen Gäste »mitgebracht« hatten. An anderen Tagen des Festes waren private Ballettschulen zu Gast, gab es einen Tag der Offenen Tür samt Eignungstest für Interessierte und – hochinteressant – den »Interschulischen Ballettwettbewerb«. Er wurde geschaffen, um neben dem Tanzunterricht und den Aufführungen auch der Improvisation und Entwicklung der Kreativität der Schüler Raum zu geben. Bei diesem Wettbewerb, der vom Förderverein der Schule unterstützt wird und bei dem den Gewinnern Medaillen und Gutscheine winken, können die Schüler sowohl klassische Variationen als auch eigene Choreographien zeigen. Was es da zu sehen gab, war eine große, positive Überraschung: Ob erst Zehnjährige oder schon vor dem Ausbildungsabschluss stehende Teilnehmer, ob Soli oder Gruppenarbeit – von den Kleinsten bis in die höchsten Klassen waren die Leistungen sehr beeindruckend. Die Angehenden Tänzer dieser Schule haben nicht nur Fantasie, sondern sie lernen offensichtlich auch, eigene Ideen in Tanz und in glaubwürdige Choreographie zu übersetzen. Musikalität und Zusammenarbeit in den Gruppenstücken und viele weitere Details zeigten, dass an der Staatlichen Ballettschule Berlin den Studenten nicht nur eine ausgezeichnete Technik vermittelt wird, sondern auch ihre Kreativität und Persönlichkeit Förderung findet. Das verdeutlichte auf denkbar schöne Weise, dass an dieser Schule der Schüler im Mittelpunkt steht. Kein Wunder also, dass neunzig Prozent der Absolventen der Schule direkt ein Engagement finden. Über sechs Jahrzehnte hinweg hat die Staatliche Ballettschule Berlin gute Tänzer ausgebildet und sich einen internationalen Ruf erworben. Diese erfolgreiche Geschichte mag dazu beigetragen haben, dass die Europäische Union nicht gezögert hat, den Löwenanteil, nämlich 90 Prozent der Kosten für das neue Schulgebäude – insgesamt 24 Millionen Euro – zu finanzieren (die restlichen zehn Prozent übernahm das Land Berlin). Wie schön wäre es, könnte man aus der hochoffiziellen Förderung dieses Projektes schließen, dass der Tanz nun endlich anerkannt wird als ein »richtiges« Schulfach und als »richtige« Ausbildung. ■
»Chopiniana« vor der Kulisse des Treppenhauses zur Einweihung des neuen Schulgebäudes
Nach Alter und Farben sortiert: Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin nehmen die neuen Säle in Besitz (Fotos: Konrad Hirsch)
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8. Tanzolymp Berlin
8. Tanzolymp Berlin
Zugewinn an künstlerischem Niveau Impressionen vom 8. TANZOLYMP in Berlin von Volkmar Draeger Er dürfte der personell umfänglichste Jahrgang gewesen sein. Oleksi Bessmertni ist jedenfalls mit dem Niveau, der Atmosphäre, der Organisation dieses TANZOLYMP zufrieden. Für das 8. Internationale Jugendtanzfestival Berlin hatte er mit 1016 Betten für rund 1000 Teilnehmer so viel wie nie zuvor gebucht. Da auch Pädagogen und Betreuer zu jener Zahl rechnen, mag der reine Tänzeranteil bei rund 600 liegen. Ganz genau ist das nicht zu eruieren, denn wieder stand der TANZOLYMP auf komplett privater Basis, wieder war daher die Mannschaft aus organisierenden Enthusiasten zu klein für ein derart riesiges Unternehmen. Aus 24 Ländern von Belarus bis Venezuela, von Europa über Asien bis zu beiden Amerika-Kontinenten, kamen die Teilnehmer angereist. Zwei Gruppen hatte die Bundesrepublik Deutschland vorsorglich das Visum verweigert: Das brachte die Länder Ghana und Nepal um ihr Debüt beim TANZOLYMP. Die stärksten Fraktionen stellten Russland, Korea, Japan sowie, mit jeweils fünf Schulen, Italien und Deutschland. Wieder konnten die Wettbewerber in den vier Kategorien Klassischer/Neoklassischer Tanz, Moderner Tanz, Folklore und Poptanz/Jazztanz starten, und das in vier Altersgruppen, von 8 bis 21. Wieder auch blieb erhalten, was den TANZOLYMP so besonders macht: Private Schulen haben dort ebenso ihr Podium wie die großen staatlichen Akademien, starten allerdings, was nur recht und billig ist, in eigenem Wettbewerb. Beurteilt wurden sie alle von 14 Juroren, bei denen es Neuerungen gab. Zwei von ihnen, Tamar Ben-Ami und Kelvin O. Hardy, waren speziell auf Modernen Tanz abonniert, was den Startern dieser rege frequentierten Kategorie besondere Zuwendung sicherte. Die anderen Juroren teilten sich in zwei Gruppen auf, um die 477 Programmpunkte (abzüglich der wenigen nicht erschienenen Kombattanten) dieser drei randvollen Wettbewerbstage zu bewältigen. Auch von der Nationalität her bewies die Jury, dass Tanz ein weltweites Phänomen ist: mit einer gemeinsamen, allerorten verständlichen Sprache. So kamen Etsuko Ardachi vom Tokyo City Ballet, Steffi Scherzer von der Tanzakademie Zürich, Christina Stefanou vom Nationalballett Athen, Marisa Pivetta vom Tanzfestival »Passo de Arte« Sao Paulo. Das StanislavskiNemirovitch-Danchenko-Theater Moskau vertrat Sergej Filin, das Nationalballett der Ukraine Victor Yaremenko. Hoch war erneut der Anteil jurierender Pädagogen: Vladimir Klos von der Tanzakademie Mannheim, Tadeusz Matacz von der John Cranko Schule Stuttgart, Jan Broeckx von der Ballettakademie München, Pedro Carneiro vom Nationalen Tanzkonservatorium Lissabon, und Dinko Bogdanic pendelt als Ballettmeister aus Ljubljana eh zwischen den Fronten. Bei der Präsidentschaft gab es einen Stafettenwechsel. Vladimir Vasiliev, Vorsitzender bei allen vorherigen Editionen, reichte als nunmehriger Ehrenpräsident die Leitung an einen anderen großen, den jüngeren Namensvetter weiter: Vladimir Malakhov, bereits Schirmherr vergangener Festivals, übernahm nun auch den Juryvorsitz. Aus mindestens drei Gründen bietet das Vorteile: Der »Neue« ist ständig vor Ort und verankert so den TANZOLYMP noch mehr im Berliner Tanzgeschehen, und nebenbei spart er dem stets klammen Festival Hotelkosten. Liest man im wiederum gediegenen Programmheft, was aus einstigen Gewinnern des TANZOLYMP geworden ist, schaut diese Bilanz nicht übel aus. In Compagnien wie dem Arizona Ballet, dem Nederlands Dans Theater, dem Stuttgarter Ballett und dem Finnischen Nationalballett Helsinki tanzen sie, im Ballett Perm, dem Sta12
8. Tanzolymp Berlin
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nislavski-Nemirovich-Danchenko-Theater, sogar dem Bolschoi-Ballett Moskau. Anderen, jüngeren, öffnete der Preis, durchaus auch Bronze, die Tür in eine renommierte Ausbildungsstätte. Das passt so recht zum Geist des TANZOLYMP: Talenten von wo immer den Sprung auf das internationale »Tanzkarussell« zu bieten. Auch manchem Sieger der Ausgabe 2011 darf man eine ähnlich glanzvolle Karriere prophezeien. Meisterklassen und Workshops in Modernem respektive Klassischem Tanz stimmten sie immerhin auf die hohen Anforderungen ein. Fanden sie und auch die Wettbewerbsrunden wie stets im Haus der Russischen Wissenschaften und Kultur statt, stand den Preisträgern für die Abschlussgala mit dem Admiralspalast und seinen 1800 ausverkauften Plätzen eine so prominente wie perfekt geeignete Spielstätte zur Verfügung. Positiv schlägt ebenfalls zu Buche, dass sich die Gala in manierlichem Zeitrahmen hielt, ehe sich, wie häufig zuvor, ihr eigener Glanz ermüdet hatte. Pannen allerdings wie beim Überreichen von Trophäen, die dann fehlten, müssen künftig vermieden werden. Groß war der Andrang in der Kategorie Klassischer Tanz, bei den privaten wie den staatlichen Schulen. Gottlob blieben diesmal die Entgleisungen früherer Jahrgänge, in denen sich Frühreifchen an zu schwerem Repertoire überhoben, aus. Die Medaillen in der Altersgruppe 2 (13 bis 15 Jahre) bei den privaten Schulen gingen überwiegend an japanische Teilnehmer: Gold an Wakita Sayaka und, jedoch aus Kanada, Yoshiko Kamikusa, die beide mit ordentlich präsentierten Variationen aus dem wohl am häufigsten strapazierten Ballett, »Don Quixote«, auftraten. In die Phalanx der Mädchen konnten mit Eino Shochi (Silber) und dem Spanier Orion Pico Plaja (Bronze) wenigstens zwei Jungen einbrechen. Auch in der Gruppe 3 (16 bis 18 Jahre) wurden Medaillen mehrfach vergeben: Gold an »Gamzatti« Sarah Steele aus den USA, »Dulcinea« Sakurako Nishi und »James« Eisho Suzuki, beide Japan. Silber-Gewinner und langgedienter Tanzolymp-Starter Kilian Hoffmeyer aus Basel bot Gelegenheit, sein über die Jahre gewachsenes Potenzial zu studieren. Entschieden dünner fiel der Medaillen-Regen in Gruppe 4 (19 bis 21 Jahre) aus: kein Gold, Silber an den sehnsuchtsvollen »Amor aeternus« Akito Iwamura aus München, vier Mal Bronze. Dass den modernen Wettbewerb Korea dominierte, davon gab Won-min Shin (Gruppe 4) mit »Dream« zu Debussy-Musik einen Vorgeschmack: Gold und Spezialpreis für seine Eigen-Choreographie. Spannend freilich auch der Wettbewerbsteil staatlicher Schulen. Hier trugen Francisco Sebastiao (Gruppe 2) aus Lissabon in Variationen aus »Satanella« und »Napoli« Charme und Können Gold sowie ein Stipendium an die Cranko Schule Stuttgart ein. Auch Silber (Yuri Mastrangeli, Rom) und Bronze (Ricardo Maceido, Lissabon) blieben überraschend in Jungen-Hand. Gruppe 3 stellte mit der stilsicheren Claude Teisseyre (Paris), »Albrecht« Daisuke Sagawa (Zürich), »Talisman« Ryo Kato (Lissabon) souveräne Gold-Gewinner, in Constantine Allen auch den Grand-Prix-Sieger (siehe Kasten). Variationen aus »Paquita« und »Corsaire« trugen in Gruppe 4 Su-Jung Lim (Mannheim) ebenso zu Gold wie Variationen aus »Giselle« und »Corsaire« Andrei Cozlac (Zürich), beide einhellige Talente. Großes Interesse und Begabung der Jungen am Modernen Tanz: Maceido und Sebastiao gewannen Gold, ebenso, neben der körperplastischen Nora Lidia Pimenta Magalhaes (Mannheim), der gespannt präsente Gustavo Echevarria (Stuttgart). In Gruppe 4 hatte Korea das Sagen: Je zwei Medaillen holten Studenten der National University of Art, die ebenso auf hohem Niveau eigene Choreographien tanzten wie viele weitere ihrer Kommilitonen – man hätte neidisch werden können ob so viel Kreativität. Zwei brillante Paare lieferten sich unvorhergesehen ein Duell. Für den Grand pas de deux aus »Don Quixote« erhielten Ekaterina Olejnik (siehe Kasten) und Konstantin Geronik (Gruppe 4) aus Minsk Gold sowie den Spezialpreis von Vladimir Malakhov, Kristina Andreeva und Oleg Ivenko (Gruppe 3), etwas verhaltener noch, aus Kazan Silber. Ballett Intern 4/2011
8. Tanzolymp Berlin
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Impressionen vom 8. Tanzolymp 2011 Berlin
Die Internationale Jury des 8. Tanzolymp 2011, ganz rechts im Bild Vladimir Malakhov, Päsident der Jury
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(Fotos: Stanislav Belyaevsky)
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Was den Tanzolymp nach all den Variationen und den wenigen Pas de deux so farbig macht, entfaltete auch diesmal seinen Zauber: die Folklore-Ensembles meist aus Russland mit ihren perfekt einstudierten, mitreißend fröhlichen Choreographien voller technischer Schwierigkeiten schon für Kinder; die Versuche der Gruppen mit Modernem Tanz sowie Pop. Gold ging da verdient an Russland, Italien, Kasachstan, Brasilien. Stipendien vergaben auch die Ballettakademien Zürich und München, Geldpreise stifteten Nadja Saidakova und Elisa Carrillo Cabrera vom Staatsballett Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik für die beste tänzerische Leistung eines Studenten eines deutschen Ausbildungsinstitutes. Preise erhielten erfreulicherweise auch eine Choreographin sowie zwei Pädagogen für die Führung ihrer Gruppen. Viele also konnten zufrieden sein. Nur Direktor Bessmertni plagt ein Problem: Wohin mit der Gala im nächsten Jahr? Der Admiralspalast ist leider bereits ausgebucht. ■
Der Elegante aus Amerika Schon als er in einer Variation aus Arthur Saint-Léons »Coppélia« im Haus der russischen Wissenschaft und Kultur über die Bühne flog, perfekt drehte, so elegant wie souverän gestaltete, umwehte ihn der Hauch des Besonderen. Endgültig schrieb sich der langgliedrige Student mit der so kniffligen Variation aus Victor Gsovskys »Grand Pas Classique« dem Gedächtnis ein. Viele vor ihm waren im Wettbewerb daran gescheitert, Constantine Allen nicht. Zu Recht breitete er bei der Verbeugung, seiner sicher, die Arme strahlend in die Weite aus, auch hier ganz künftiger Kavalier von klassischem Adel. Geboren wurde er im amerikanischen Indiana, spielte erst Klavier, empfand die Ausbildung indes als zu hart. Mit sechs startete er Tanz in einer kleinen Schule auf Hawaii, wohin die Familie gezogen war. Vier Jahre besuchte er danach die von Marat Daukaev, Ex-Tänzer im Kirov-Ballett Petersburg, geleitete Kirov Academy of Ballet in Washington. Erst seit September 2010 holt er sich an der John Cranko Schule den Feinschliff bei Pjotr Pestov, wird dort auch graduieren. Gern würde er in Europa bleiben, wegen der vielen schönen Mög-
8. Tanzolymp Berlin
8. Tanzolymp Berlin
Ballerina auf dem Sprung Sie waren die Überraschung des 8. TANZOLYMP: Ekaterina Olejnik und Geronik Konstantin vom Weißussischen Großen Theater für Oper und Ballett aus Minsk. Feurig wie ein Tornado fegte ihr Grand pas de deux aus »Don Quixote« im Wettbewerb über die Bühne, perfekt in den Variationen, gespannt bis in die Haarwurzeln, eingespielt als Paar, scharfkonturig in der Rollengestaltung. Nichts ging schief an diesem Abend, nicht ihre balancen und fouettés, nicht seine Sprungkombinationen: ein Paar auf der Höhe seiner Leistungskraft. Nach den vielen Versuchen anderer Teilnehmer endlich ein Volltreffer. Nur zwei Monate danach begegnete ich Ekaterina wieder, beim 6. Gesamtrussischen Ballettfestival in Jakutsk, ganz im Osten Russlands, unendlich weit von Europa. Auch dort tanzte sie »Don Quixote«, jedoch das ganze Ballett und mit anderem Partner; auch dort rechnete die junge Ballerina aus Belarus zu den aufstrebenden Stars unter exzellenten Solisten vieler Compagnien. Ein unbeschriebenes Blatt war sie da längst nicht mehr. Hatte sie doch bereits mehrere internationale Trophäen errungen, so beim Nurejev-Wettbewerb in Budapest, 2010 den 1. Preis und Gold in Jackson. Daheim zählt sie zu den Nutznießern eines Fonds, den der Präsident zur Förderung junger Talente aufgelegt hat. Und Talent besitzt sie jede Menge. Das stellte sie in Jakutsk mit dem Grand pas de deux aus »Le Corsaire« sowie dem expressiven Monolog der Maria Stuart aus dem gleichnamigen Ballett unter Beweis, hauptsächlich aber als vor Elan überschäumende Kitri. Hier konnte sie zeigen, womit sie gesegnet ist: traumhafte Proportion, hohe Battements, atemberaubende Achse bei Pirouetten, enormer Sprung, strahlende Linie, furiose Spielfreude. Und dazu noch die schöne Frau. Dass sie so liebenswürdig bleibt, wenn sie, soviel ist sicher, international Furore macht, kann man ihr nur wünschen. ■
lichkeiten. Die sieht er für sich etwa im Ballett der Pariser Oper, das er liebt, natürlich auch im Stuttgarter Ballett. Es sind die abendfüllenden Handlungsballette, zu denen er sich hingezogen fühlt, eben das klassische Repertoire, aber auch Neoklassik und Modernes reizen ihn. Er sei Künstler und zugleich ein harter Arbeiter, attestiert ihm sein Schuldirektor Tadeusz Matacz: wie es sein soll für jemanden, der nach oben will und auch das Zeug dazu hat. Gerade 17 war Constantine zum Zeitpunkt des Wettbewerbs und gewann dort gleich zwei unabhängige Preise: den Grand Prix des diesjährigen Tanzolymp und den mit 1.000 Euro dotierten Preis für die beste tänzerische Leistung eines Studenten eines deutschen AusbildungsInstitutes des Deutschen Berufsverbands für Tanzpädagogik e. V.■
Deutscher Berufsverband
für Tanzpädagogiek e.V.
1. PREIS
Constantine Allen Für die hervorragendste Leistung eines Schülers eines professionellen Ausbildungsinstitutes für Künstlerischen Bühnentanz in Deutschland während des
TANZ OLYMP BERLIN 2011 vergibt der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik e.V. an
Constantine Allen
Constantine Allen wurde durch den Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik während des Tanzolymp 2011 in Berlin ausgezeichnet. (Foto: Günther Rebel)
Ballett Intern 4/2011
(John Cranko Schule Stuttgart) den
1. PREIS
mit einer Dotierung in Höhe von 1.000 Euro Berlin, den 19. Februar 2011 Ulrich Roehm Martin Puttke
Günther Rebel
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Tanzfotos von Yan Revazov: »Dance Nude«
Edle Tänzerkörper in plastischer Inszenierung Yan Revazovs Fotos zeigen »Dance Nude« in der Berliner Galerie »Himmelblau« von Volkmar Draeger Blau ist der Plafond tatsächlich, unter dem Yan Revazov seine großformatigen Fotos an weißer Wand zeigt. Wo sonst Malkinder und Erwachsene mit leuchtenden Gouache-Farben Fantasie ausleben dürfen, im »Himmelblau«, der erst kürzlich gegründeten Werkstatt für die Sinne, wendet sich auch die neue Ausstellung an unser sinnliches Empfinden. »Dance Nude« hält Tänzer in Momenten fest, in denen ihre Pose fast zur Skulptur gerinnt, ohne starr zu wirken. Revazov, Ballettsolist in Halle, kann auf eigene Erfahrung bauen. Sein Weg verlief über die Schule des Bolschoi-Balletts Moskau und die Stationen St. Pölten, Jeune Ballet de France, Karlsruhe. Seit dem Engagement an der Saale 2003 hat er in Choreographien von Ralf Rossa vielen Charakteren unverwechselbares Profil geliehen. Wie Tänzer »ticken«, weiß er daher von der Pieke auf. Schon als Kind, erzählt er, hat ihn die Fotografie fasziniert, ohne an den Beruf des Fotografen zu denken. Nun, da eine Operation an der Wirbelsäule ihn aufgeben lässt, fungiert das Fotografieren als Brücke ins Leben nach dem Tanz. Zugute kommen dem polyglotten, so liebenswürdigen wie smarten Künstler Anfang dreißig, von dessen vier Brüdern drei gleich ihm Tänzer geworden sind, seine internationalen Kontakte zu Kollegen. Anfangs, sagt er, seien sie skeptisch gewesen, sich nackt fotografieren zu lassen. Als sie jedoch merkten, dass es allein um die dezent lichtverhüllte Schönheit des Körpers geht, gab es keinerlei Bedenken mehr. Vier Serien ums Tänzersein plant Revazov. Die physische Arbeit des Tänzerberufs stellt der erste Teil aus, von dem die Galerie Himmelblau zehn Beispiele zeigt. Mit Gefühlen, wie man sie im Theater zu gestalten hat, befasst sich der zweite Teil, der dritte mit dem Privatleben. Der vierte begleitet den letzten Berufstag eines Tänzers: seine letzte Vorstellung, die Stunden davor und danach. Verheißungsvoller Auftakt des Zyklus sind jene edlen Aufnahmen in Schwarzweiß, die das Souterrain der Galerie in ein Mekka der Körperlichkeit verwandeln. Alle Fotos unter Glas, quer oder längs
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Tanzfotos von Yan Revazov: »Dance Nude« genutzt, rahmen Passepartouts mit weißer Innenkante, was ihnen zusätzlich eine linienhafte Grenze gibt. Kein Pathos vermitteln sie mit den ölglänzenden Körpern, wohl aber eine Leichtigkeit der physischen Präsenz, hinter der die durch tägliche Mühen errungene perfekte Form steht. Wie Bronzeplastiken füllen sie den auf die Fläche gebannten Raum des Aufnahmestudios aus, heben sich scharfkonturig vom dunklen Hintergrund ab, scheinen aus sich heraus zu funkeln. Alle sind sie auch eine Hommage an den durchtrainierten, nicht plakativ inszenierten Tänzerkörper. Solisten aus Hamburg, Wien, Gera und Halle haben sich dafür zur Verfügung gestellt. Im Belag spiegelt sich die rückgebeugte Pose einer Frau in Spitzenschuhen, deren Kopf den Boden berührt; einer anderen wölbt sich, auf halber Spitze stehend, der Rücken in die andere Richtung. In elegantem Ausfallschritt trägt ein Tänzer seine Partnerin überkopf, helles Licht lässt die Haut leuchten. Beim anderen Paar liegt sie über dem hockenden Partner wie ein sich spannender Bogen. Auf einer Hand stehend präsentiert sich ein Mann mit gespanntem Gesäßmuskel und markanter Wirbelsäule, darf seinen makellosen Leib auch im Sprung offerieren. Die beiden schönsten Exponate: zwei Sprungstudien vor strahlend hellem Hintergrund, ein ganzer Körper in der Luft, der andere angeschnitten, mit wehendem Haar und ausgebreiteten Armen. ■ Edvin Revazov (rechts), Dalier Burchanov (zweimal) und Hyona Lee (unten von links), (Fotos: Yan Revazov)
Ballett Intern 4/2011
6. Norddeutsche Tanztage Worpswede 2011
5 aus 125 Die 6. Norddeutschen Tanztage Worpswede vom 2. bis 5. Juni 2011 von Dagmar Ellen Fischer Einmal im Jahr fallen einige Hundert Kinder und Jugendliche in das verschlafene Künstlerdorf Worpswede ein und wollen nur eins: Tanzen! Zum sechsten Mal fanden 2011 die Norddeutschen Tanztage Worpswede in der Nähe von Bremen statt – und hatten einen so enormen Zulauf wie nie zuvor. Auf zwei Bereichen bietet der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik eine Fortbildung über das verlängerte Himmelfahrt-Wochenende an: Zum einen praktische Kurs-Pakete für Tanzinteressierte zwischen 8 und 20 Jahren; zum anderen das Norddeutsche Intensiv-Seminar Tanzpädagogik für Lehrende aller Tanzarten. Eines haben sämtliche Teilnehmer gemeinsam: Sie kehren nach vier Tagen um viele Erfahrungen reicher nach Hause zurück. Fünf von ihnen sollen hier zu Wort kommen. Christin-Marie und Minea sind Freundinnen geworden in Worpswede. Beide sind zehn Jahre alt, wechseln nach den Sommerferien von der Grundschule zum Gymnasium und haben ihren ersten Tanzunterricht mit dreieinhalb bekommen, die eine in Bremen, die andere in Dresden. Christin-Marie ist zum ersten Mal dabei, Minea tanzte schon 2010 in Worpswede – und beide wollen unbedingt im nächsten Jahr wiederkommen.
Drei Generationen: DBfT-Gründungsmitglied Inge Stoffers, ihre Schülerin und heutige Ballettpädagogin Sarah Ilchmann mit Schülern bei den 6. Norddeutschen Tanztagen Worpswede 2011 (Foto: Ulrich Roehm)
Ballett Intern 4/2011
6. Norddeutsche Tanztage Worpswede 2011 BALLETT INTERN: Was hat euch am besten gefallen während der vergangenen vier Tage? Christin-Marie: Das Schwimmen! Und Ballett. Aber auch, dass man so Verschiedenes kennenlernt, also Freien Tanz und Folklore. Minea: Der Freie Tanz bei Ulla und dass wir da improvisieren durften! Sie hat uns Aufgaben gegeben und die konnten wir dann selbst lösen, das war toll. BI: Und was war überhaupt nicht gut? C-M: Gar nichts. Toll war auch, dass wir eine Nacht ganz lange wach waren … M: Das Durcheinander in unserem Zimmer. Als ich ankam, habe ich aufgeräumt, aber es wurde gleich wieder chaotisch, dann habe ich ein anderes Mädchen gefragt, ob sie mit mir aufräumt, das hat dann gut geklappt. BI: Wie sieht euer Tanzunterricht zu Hause aus? C-M: Ich tanze einmal in der Woche in einer Schule in OsterholzScharmbek. M: Ich muss eine Stunde lang zu meiner Schule fahren, das mache ich zwei Mal in der Woche, da habe ich einmal Ballett und einmal Tanzen. BI: Worin unterscheidet sich das? M: Tanzen ist auf die schnellere Art. Ich habe den anderen in meiner Ballettschule vergangenes Jahr nach dem Wochenende in Worpswede gezeigt, was ich hier gelernt habe, das will ich jetzt auch wieder machen, nächste Woche. BI: Wie seid ihr überhaupt auf die Idee gekommen zu tanzen? C-M: Als ich klein war, hatte ich einen schiefen Rücken, deshalb sollte ich Ballett machen. Eigentlich nur zur Probe, aber es hat mir so gut gefallen, das ich weiter tanzen wollte. M: Als ich noch klein war, habe ich so komische Übungen gemacht – sagt meine Mama – ein Bein einfach so in die Luft gestreckt, und da kam sie auf die Idee, ich könnte tanzen.
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6. Norddeutsche Tanztage Worpswede 2011
6. Norddeutsche Tanztage Worpswede 2011 BI: Was wollt ihr später einmal werden? C-M: Ballerina. M: Tänzerin. Vielleicht gehe ich auch nach den Sommerferien auf die Palucca-Schule …
Impressionen aus Worpswede von Iris Mündörfer 2011 besuchte ich zum ersten Mal das vom Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik organisierte Tanzpädagogische Intensiv-Seminar. Ich besuche regelmäßig Tanzworkshops und Wochenend-Seminare für Kindertanz, im vergangenen Jahr habe ich eine Ausbildung als Bodymotion Pilates Trainerin für Matwork absolviert. Die Seminar-Fächer Theorie und Praxis des Tanzunterrichts im Klassischen (Prof. Martin Puttke) und im Zeitgenössischen Tanz (Jean-Hugues Assohoto) sowie Kommunikation (Günther Rebel) in der Tanzpädagogik waren sehr bereichernd. Die Kursteilnehmer kamen aus den verschiedensten Regionen Deutschlands und brachten unterschiedliche Erfahrungen mit. Die Gruppe bestand aus ganz jungen sowie sehr erfahrenen Tanzpädagoginnen und -pädagogen aus den Bereichen Klassischer Tanz, Jazzdance, Kindertanz oder sogar aus anderen Berufszweigen, die sich dazu entschlossen hatten, als Tanzpädagoge zu arbeiten. Dies führte während und außerhalb der Seminarstunden zu interessanten und äußerst heftigen Diskussionen und brachte einen sehr hilfreichen Erfahrungsaustausch hervor. Trotz der wenig homogenen Zusammensetzung der Seminargruppe ist es allen Dozenten auf motivierende, äußerst professionelle, unterhaltsame und respektvolle Weise gelungen, uns am Ende des Seminars auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, uns neue Herangehensweisen und Blickwinkel auf bestimmte Themen zu geben, wie z. B. »Schwierige Situationen mit Kindern und Eltern im Tanzunterricht« oder »Wohin steuere ich die Energie beim Pirouetten-Drehen« und »Der Bezug zwischen Körper, Raum und Zeit«. Alle Dozenten bestätigten uns in unserem bisherigen und weiteren Tun und einem Verständnis für Tanz und dessen Lehren sowie in unserer Verantwortung als Tanzlehrende. Leider hatten alle Dozenten mit dem engen Zeitfenster von 4 x 90 Minuten zu kämpfen. Dadurch fiel es einigen von uns am Anfang schwer, in den einzelnen Fächern den roten Faden zu erkennen und die Praxis-Stunden verliefen, meiner Meinung nach, dadurch zu sehr auf der theoretischen Ebene. Im Nachhinein bleibt allerdings die Freude über die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sowie die Hoffnung und Vorfreude auf weitere Seminare dieser Art. Ich würde mir eine Internet-Plattform für Tanzpädagogen und Tänzer wünschen, auf der man sich auch außerhalb des Seminars austauschen kann! Alles in allem sind die 6. Norddeutschen Tanztage Worpswede von mir als äußerst gelungen, freudvoll, gehaltvoll und hervorragend organisiert erlebt worden, in den Tanz-Theorie- und -Praxisstunden vermittelten die Dozenten viel Freude am Tanz, die Leidenschaft für ihre jeweiligen Fächer war spürbar. ■ 18
Die 6. Norddeutschen Tanztage Worpswede warteten mit einer Neuerung auf: Erstmals gab es in diesem Jahr Stipendien für förderungswürdige junge Teilnehmer. Die im obigen Interview zu Wort kommende Christin-Marie ist eine von ihnen, die 14-jährige Anna aus Kevelaer eine weitere. Auch die Jugendliche erzählte gern, wie es ihr während des ersten Aufenthalts in Worpswede erging. Bei bestem Badewetter verbrachte Anna den weitaus größten Teil des Tages in den Trainingshallen, von morgens 8.30 Uhr bis 17 Uhr am späten Nachmittag. Sie hatte das Maximal-Programm gebucht, das bedeutet neben dem dreiteiligen Basiskurs für Fortgeschrittene mit Klassischem Tanz, Repertoire und Zeitgenössischem Tanz zusätzlich Funky Jazz, Musical und Spitzentanz. »Musical war das Beste«, schwärmt Anna, »aber auch Funky Jazz«, beides bei Selatin Kara, der zum ersten Mal in Worpswede zum PädagogenTeam gehört. »Aber auch der Unterricht bei Anne-Christine Rogers war toll, sie hat mir sehr viele Tipps gegeben.« Ihre Ballettschule
zu Hause in Kevelaer hat ausschließlich Ballett im Angebot, und so mochte die begabte Jugendliche auch die Stunden bei Jean-Hugues Assohoto sehr, weil »Zeitgenössischer Tanz etwas ganz anderes ist, das kannte ich vorher gar nicht«. Das wird sie jetzt im Heimatort vermissen, wenn sie ihre drei Stunden in Klassischem Tanz pro Woche besucht – denn eigentlich tanzt sie auch HipHop furchtbar gern. Ob sie sich Tanzen als Beruf vorstellen kann, weiß sie noch nicht so recht, »eher nicht, denn ich bin in Ballett nicht so gut«, lautet die selbstkritische Antwort. Nach einer zweimaligen Teilnahme an den Seminaren in Bonn ist Worpswede ihre dritte WorkshopErfahrung, und tatsächlich traf sie Gleichgesinnte aus vorherigen Jahren. Vergleichen kann man die beiden Sommerkursangebote eigentlich nicht, in vier Tanz-Tagen müssen andere Schwerpunkte gelegt werden als in einem zweiwöchigen Zeitraum, resümiert Anna. Was hat ihr in Worpswede nicht gefallen? Vorsichtig formuliert sie ihre Antwort »die Belegung im Zimmer«. Und meint konkret: Die Mädchen waren zwar im Prinzip gleichaltrig, interessierten sich indes (noch) für ganz andere Dinge, und deshalb fühlte sie sich unwohl. Dem konnte abgeholfen werden: Nach kurzer RückspraBallett Intern 4/2011
6. Norddeutsche Tanztage Worpswede 2011
6. Norddeutsche Tanztage Worpswede 2011
che mit den Organisatoren war ein Zimmerwechsel überhaupt kein Problem. Und dann hat sich Anna mit zwei Mädchen angefreundet, mit denen sie offensichtlich noch viel mehr gemeinsam hat als die Leidenschaft fürs Tanzen – und konnte mit ihnen die verbleibende Freizeit genießen. Im 5. Norddeutschen Intensiv-Seminar Tanzpädagogik fanden sich Teilnehmer mit einer sehr unterschiedlichen Interessenlage zusammen. Eines einte sie jedoch: Sie können und wollen nicht auf Inspiration verzichten. Zwei von den insgesamt 18 Teilnehmern waren Iris Mündörfer und Inés Güttel. Beide besuchen regelmäßig Seminare zur Fortbildung, sowohl solche vom Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik als auch andere Angebote. Inés Güttel ist seit 19 Jahren Besitzerin einer Ballettschule im norddeutschen Rotenburg, ihre Ausbildung erhielt sie an der Palucca Schule Dresden, danach war sie vier Jahre als Tänzerin am Theater engagiert, bevor sie in Leipzig Choreographie studierte. »Meine Ballettschule ist mein Baby«, erzählt sie, und hier hat sie schon einige Begabungen entdeckt und verantwortungsvoll gefördert, zum Beispiel durch eine Vermittlung an die Staatliche Ballettschule Berlin oder an John Neumeiers Ballettschule des Hamburg Ballett. Bewusst hebt sich Inés Güttel und ihr Team in der Qualität des Tanzunterrichts vom Ange-
Traditionell treffen Eltern und Geschwister, Freunde und Verwandte am letzten Tag des Workshops ein, um die Abschlusspräsentation zu sehen, bevor sie ihre vom Tanz besessenen Familienmitglieder wieder mit nach Hause nehmen. 2011 kam das interessierte Publikum in Scharen – entsprechend der gewachsenen Teilnehmerzahl. Auch zwei Ehrengäste waren anwesend: FriedrichKarl Schneider, der in Vertretung des Bürgermeisters die Grüße der Gemeinde Worpswede überbrachte, und Inge Stoffers, Gründungsmitglied des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik und bis vor wenigen Jahren eine der regelmäßigen Teilnehmerinnen an Fortbildungsveranstaltungen. Neunzig Minuten dauerte die Vorstellung aller Gruppen, die natürlich den Querschnitt an Niveaus und Stilen bot, die während der vier Tage unterrichtet worden waren. Aus dem Spanischen Tanz standen Sevillana, Fandango und Farrucca auf dem Programm. Der Klassische Tanz für Kinder und Jugendliche mit guten Basiskenntnissen präsentierte sich in verschiedenen spielerischen Variationen, erarbeitet von Viktoria Zaripova; Ballett für Fortgeschrittene hatte Anne-Cristine Rogers zu anspruchsvollen musikalischen Etüden einstudiert; Ulla Wenzel begeisterte kleine und große Kinder einmal mehr für den Freien Tanz, und Jean-
bot des ortsansässigen Vereins ab – und hat damit Erfolg. Für sie ist es selbstverständlich, ihr Wissen über Tanz und dessen Vermittlung regelmäßig aufzufrischen, »ich mache mich gern nochmal klein« sagt, sie, denn man lernt nie aus. Günther Rebels Kommunikationstraining beispielsweise bereicherte sie in diesem Jahr um einen neuen Aspekt im Alltag einer Lehrenden: Als Tanzpädagogin muss man immer für andere da sein – so würden es sicher viele formulieren. Doch das ist falsch, so Günther Rebel, man muss immer zuerst an sich denken. Nur wenn man für sich selbst gesorgt hat, kann man auch geben. Ach ja, und »man« ist ohnehin ein Unwort, eines unter vielen, das grundsätzlich durch »ich« ersetzt werden sollte. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Unterrichtsinhalten konnte sehr anschaulich hergestellt werden, berichtete Inés Güttel. Iris Mündörfer leitet gemeinsam mit ihrem Mann die Kunst- und Musikschule Eppingen, zu der auch eine Tanz- und Ballett-Werkstatt gehört; sie wurde an der Amsterdamer Hoogeschool voor de Kunsten ausgebildet und erhielt im Anschluss ein Stipendium für die Alvin Ailey School in New York. (Ein persönliches Fazit von Iris Mündörfer über die 6. Norddeutschen Tanztage lesen Sie auf S. 18.)
Beim Abschluss der 6. Norddeutschen Tanztage Worpswede 2011gestaltete Günther Rebel eine improvisierte Performance: Er reagierte auf die Zurufe des Publikums (alle Fotos: Ulrich Roehm)
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Hugues Assohoto stellte für viele Ballettomanen den Erstkontakt zum Zeitgenössischem Tanz her. Funky Jazz und Musical bildeten das fetzige Finale, in Szene gesetzt von Selatin Kara. Der Publikumsrenner kam indes aus dem Unterricht im Fach Tanztheater: Die »Mittsommernacht bei Ikea«, ein witziges Lied, illustrierten die Teilnehmerinnen mit passgenau getanzten Kommentaren und urkomischen pantomimischen Gesten. Der Leiter des Kurses, Günther Rebel, ließ sich zum guten Schluss noch überreden, eine Übung aus seinem Unterricht zu demonstrieren: Er reagiert auf Ideen aus dem Publikum, die ihm Namen und Orte zurufen, in diesem Fall lief es auf »Heidi Klum im Supermarkt« hinaus – und Günther Rebel imponierte mit herrlich gezierter Körpersprache zum affektierten Gesichtsausdruck und hektische Bewegungen der Arme und Hände – der perfekte fröhliche Abschluss der Show in Worpswede. ■ 19
Akademie des Tanzes, Mannheim März 2011 Es erstaunt jedes Jahr wieder, wie hoch der Qualitätsstandard der Tanzausbildung an der Akademie in Mannheim ist. Da scheint es nur folgerichtig, dass die traditionelle Matinee im Nationaltheater unter dem Motto »Etonnez-moi« (»Bringen Sie mich zum Staunen«) stand. Mit dieser Aufforderung wandte sich einst der Kunstmäzen Serge Diaghilew an seine Künstler. Im vollbesetzten Schauspielhaus stellte Akademie-Leiterin Birgit Keil im Namen des Publikums ihre Elevinnen und Eleven vor diese Herausforderung. Anders als in den Jahren zuvor konzentrierte sich die Ballett-Matinee allein auf die Studierenden der höheren Klasse, die mit sichtlicher Begeisterung, mit Inbrunst, mit Ernst, aber auch mit Spaß vor Augen führten, was sie selbst an ihrem zukünftigen Beruf fasziniert: Lust und Leidenschaft am Tanzen. Technisch schon sehr versiert, dazu in der Lage, jederzeit eine innere Haltung ein- und eine Rolle anzunehmen, ließen sie immer wieder vergessen, dass ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen und Tanzen im Grunde Schwerstarbeit ist. Prof. Birgit Keil ist es auch immer ein großes Anliegen, ihre Studierenden frühzeitig mit den Problemen des zukünftigen Alltags bekannt zu machen. Der recht kurzfristig anberaumte Termin im Nationaltheater, die daraus resultierende einzige Bühnenprobe, dazu ein Komplettausfall (wegen Verletzung) und eine DreifachUmbesetzung nahm sie deswegen als »perfekte Vorbereitung« auf die Unwägbarkeiten im Tänzerleben. Umso dankbarer war sie Intendantin Regula Gerber und ihrem weitgehend »unkünstlerisch« eingesetzten Kollegium für den »großen Einsatz«. Knapp zwei Stunden führten 25 Tänzer und Tänzerinnen Schwer- und Höhepunkte der breit gefächerten Ausbildung vor Augen mit klassischem Ballett-Erbe, Zeitgenössischem Tanz, Folklore und sogar eigenen Kreationen der jungen Leute. Birgit Keil, die ehemalige Primaballerina von Weltklasse aus der Ära von John Cranko, übernahm selbst die Einstudierung der Klassiker und wählte das 1858 von August Bournonville choreographierte »Blumenfest von Genzano« sowie Marius Petipas »Le Corsaire« (Musik Adolphe Adam). Keil legt großen Wert darauf, dass der Tanznachwuchs außer der Beherrschung der Technik
Akademie des Tanzes, Mannheim
Impressionen von der von Sibylle Dornseiff
auch weiß, welche Rolle er verkörpert. Moeka Katsuki und Pablo dos Santos waren im »Blumenfest«, Joshua Swain und Su-Jung Lim in »Le Corsaire« nahezu perfekte Interpreten ihrer Vorstellung und b elegten einmal mehr den Ruf der Akademie als Talentschmiede. Die Klassik als Basis für die moderne Ausrichtung des Balletts – das ist die Mannheimer Philosophie, auf der zeitgenössische Choreographen trefflich aufbauen können. So geriet das vom Tanzplan Deutschland (siehe auch die Berichte über den Tanzplan Deutschland ab S. 2) geförderte »Inertial Response (Kreation)« zu einer wunderbaren Studie über die Möglichkeiten des Spitzentanzes und seiner physischen Kräfte. Die Kanadierin Shannon Moreno und der Neuseeländer Farley Johannson schufen für drei Paare ein Projekt, das neue Einblicke in die Welt der Hebungen eröffnete. Die elegante Norma Magalhaes bewies in »How to Be Myself« wie gut sich Vivaldis Musik für eine moderne Choreographie (Andrea Barbos) eignet. Ein Höhepunkt war das mehrfach preisgekrönte und auch in Mannheim umjubelte »Ballett 101« von Eric Gauthier: Ein dank der Tanzstiftung Birgit Keil ermöglichter, per Kommando angeordneter, höchst amüsanter Parforceritt durch 101 mögliche Positionen, den Florian Lochner mit Bravour meisterte. Ebenso meisterlich der Flamenco »Destino-Suerte-Fortuna« (Christine Neumeyer, Rainer Hawelka, Mario Maradei) und der von Alexandre Kalibabchuk kreierte akrobatische, temperament- und humorvolle Gopak (am Klavier David Spiegel), in dem einmal mehr Pablo dos Santos brillierte. An der Akademie des Tanzes in Mannheim wird zudem der Mut der jungen Leute gefördert, Eigenes zu schaffen. Als perfekte Interpreten ihres choreographischen Potenzials erwiesen sich Su-Jung Lim im zwischen Freude und Wehmut schwebenden »Un Amor« (Musik Gipsy Kings) und Juliano Pereira im ausdrucksstark die Seele entblößenden »Expression« (Musik aus dem Film »La Belle Dame Sans Merci«). ■
links: »Tutu«, die choreographische Masterarbeit von Florian Lochner auf Musik »Fratres« von Arvo Pärt — Mitte: Kei Tanaka in »Le Corsaire — rechts: Joshua Swain und Svitlana Gordiievska in »Grand Pas Classique« (Fotos Jochen Klenk)
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Akademie des Tanzes, Mannheim
Akademie des Tanzes, Mannheim Juli 2011 Eine Matinee im Frühjahr und ein Ballettabend im Sommer – mit diesen zwei Veranstaltungen geht die Mannheimer Akademie des Tanzes regelmäßig an die Öffentlichkeit. Im März begeisterten die Studenten mit einem Querschnitt aus Klassik, Charaktertanz, Moderne und eigenen Choreographien nicht nur im Nationaltheater, sondern auch bei Gastspielen. Auf den ersten Blick schien das Programm des Ballettabends zum Abschluss des Studienjahrs dem der Matinee zu ähneln. Doch mit einem noch tieferen Einblick in die Ausbildungsinhalte setzte es andere Schwerpunkte – die nicht minder überzeugten. So legten die Absolventen des Masterstudiengangs Tanz/Bühnenpraxis vor Publikum ihre letzte Teilprüfung im Fach »Klassischer Pas de Deux«. Allesamt mit exzellenter Technik und großer Präsentation, trotz ihrer jungen Jahre. Doch sie haben es mit der Auswahl ihrer Prüfungsaufgaben auch verstanden, ihre individuellen Talente hervorzuheben. Svitlana Gordiievska bestach im »Grand Pas Classique« durch Spritzigkeit und Balance, zuverlässig unterstützt von Joshua Swain. Dynamik und Energie waren die hervorstechenden Merkmale von Yuuri Mizutani und Yu Zeng in Boris Assafiews »Die Flammen von Paris«. Alexandra Silvey meisterte auch die schwierigsten Passagen in »Paquita« und »La Bayadère« ohne Wackler. Und in »Le Corsaire« traf die Eleganz von Eriko Yamada auf die Sprungstärke von Kei Tanaka. Wunderbar auch die Seelentiefe und die Erzählkraft, die Su-Jung Lim – ganz und gar ein überirdisches Wesen – und Florian Lochner in den zweiten Akt aus »Giselle« einbrachten. Akademie-Direktorin Birgit Keil hatte an diesem Jahrgang »ihre pure Freude«. Dass die Absolventen allesamt für die neue Saison ein Engagement sicher haben, unterstreicht das hohe Niveau in Mannheim, von dem sich Ivan Liška, Direktor des Bayerischen Staatsballetts, überzeugte. Und dass von den Bachelor-Studenten nur eine Tänzerin direkt ins Engagement geht, liegt einzig und allein daran, »dass die anderen sich alle um den Masterstudiengang bewerben«, teilte Birgit Keil hocherfreut mit. Also könnte es im kommenden Jahr ein Wiedersehen zum Beispiel mit Pablo dos Santos geben, der
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Akademie des Tanzes, Mannheim schon bei der Matinee als Solist brillierte und nun auch in unterschiedlichen Gruppen sein großes Talent unterstrich. Die Prüfungen in Klassischem Tanz standen im ersten Teil des Ballettabends im Mittelpunkt. Der zweite gehörte anderen Ausbildungsfächern. »Sie sucht ihn, er sucht sie – aber beide wollen die Falschen« lautete das Motto in der »Russischen Quadrille«, der Jahresarbeit der Klasse III im Charaktertanz. Alexandre Kalibabchuk packte viel Humor in die Choreographie, seine Schützlinge dankten es ihm mit Lebenslust pur. Wer hätte gedacht, dass Musik der isländischen Popsängerin Björk zum Fach Spanisch passt? Die Choreographin Christine Neumeyer und der Gitarrist Rainer Hawelka schon. Denn Björks »So broken« ist sozusagen die direkte Fortführung der gebrochenen Herzen im typisch spanischen Tanz. Ein weiterer Höhepunkt war »Tutu« zu Arvo Pärts Komposition «Fratres», die eindrucksvolle choreographische Masterarbeit von Florian Lochner, der ernsthaft und mit einem Augenzwinkern zugleich durch das so typische Ballett-Utensil die Lust und Härte des Tanzens thematisierte. In Su-Jung Lim, Norma Maghalaes, Juliano Pereira und Pablo dos Santos hatte er Mitstreiter auf Augenhöhe. Bei der Matinee hatte Lochner Begeisterungsstürme entfacht, als er Eric Gauthiers »Ballet 101« interpretierte. In Zukunft wird er im Gauthier-Ensemble in Stuttgart tanzen – und dort sicherlich sein schöpferisches Potenzial entfalten können. Woher diese Kreativität kommt, offenbarte sich in den aus den Fächern »Improvisation« und »Choreographie« stammenden Gruppendarbietungen »Klangerlebnis« und »Partnerarbeit« der Klassen I, II und III. Sozusagen als deren Kulmination durften einige Studenten ihre kleineren Jahresarbeiten dem Publikum vorstellen. Gisela De Paz Solvas mit »Kharma« zu Musik von Philipp Glass, Maika Ueda in »Sand« und zu Musik von Rebikov, Norma Magalhaes mit »Into the mind«, Musik Radiohead beeindruckten mit ausdrucksstarken Emotionen. Dos Santos bewegte sich mit verbundenen Augen in »Besides the Vision« und verwies umso mehr auf die Körperlichkeit des Tanzens. Luca-Andrea Tessarini schuf mit »Mensch« eine Textcollage aus Ausdrücken für Emotionen, ließ sie von seinen Mitstudenten in deren Muttersprache übersetzen, stellte diese Gefühle durch seinen Körper dar und eröffnete dem Publikum erst zum Schluss in Deutsch, was ihn umtrieb: Liebe, Leid, Einsamkeit, Hass, Wut, Schmerz, Glück, Hoffnung, Angst, Dankbarkeit – MenschLiebe, Mensch-Leid: ohne Mensch Einsamkeit. ■
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Die John Cranko Schule im Stuttgarter Opernhaus
Bezaubernde Geschichten für Groß und Klein Die Matinee der John Cranko Schule im Stuttgarter Opernhaus von Claudia Gass Dass bei der Jahrespräsentation einer Ballettschule längere, groß besetzte Choreographien zu sehen sind, ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Die John Cranko Schule hatte bei ihrer diesjährigen Matinee zum Abschluss des Schuljahres, für die wie immer das Stuttgarter Opernhaus die imposante Bühne bot, gleich zwei im Programm: John Crankos Komödie »Pineapple Poll«, die die Schule bereits 2010 gezeigt hatte, und – neu sowie eigens für die Schüler der Talentschmiede des Stuttgarter Balletts kreiert – »Karneval der Tiere« von Demis Volpi, uraufgeführt im vergangenen Dezember. John Crankos spritzige, tänzerisch äußerst anspruchsvolle Ballettkomödie »Pineapple Poll« wurde von den Schülern der beiden Akademieklassen getanzt. Die turbulente, mit typisch britischem Humor und Ironie gewürzte Handlung: Die fliegende Händlerin Poll, die sich in den flotten Kapitän Belaye verguckt hat, versucht mit List den an ihr allerdings nicht interessierten Mann ihrer Träume für sich zu gewinnen, während der schüchterne Jasper erst einmal vergebens um Poll wirbt. Die Ereignisse bis zum Happy-End erzählt Cranko mit rasantem Tempo. Da fliegen nur so die Füße in zierlichen, flinken Ballettschritten oder werden im Volkstanzstil angewinkelt, machen die schnellen, hohen Grand Jetés und die Pirouetten schon beim Zuschauen schwindelig. Es ist bewundernswert, wie professionell, technisch versiert und mit darstellerischem Ausdruck die jungen Tänzer das schon auf die Bühne zaubern. Rocio Aleman (Blanche) und Jennifer Mann (Mrs. Dimple) hat man bereits vergangenes Jahr in diesen Rollen gesehen. Die anderen Hauptrollen
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»Im Fluss«, Choreographie: Hilke Rath
(Fotos: Verena Fischer)
waren neu besetzt: Ruiqi Yang gab ihrer Poll viel Selbstbewusstsein, Kessheit und pfiffigen Charme mit; Robert Robinson fand als Captain Belaye nicht nur den richtigen präzisen Pirouettenschwung, sondern auch die zum Charakter der Figur passende Blasiertheit. Mit dem verschmähten Verehrer Jasper des Leander Rebholz litt man geradezu mit. Robinson, Aleman sowie Julia Bergua Orero, Anouk van der Weijde und Louis Stiens, die bei den Corps-de-ballet-Szenen des Stücks mitwirkten, werden in der nächsten Spielzeit Mai Aihara und Gustavo Echevarria im »Pas de deux romantique«, Choreographie: Enn Suve
Ballett Intern 4/2011
»Junge Choreographen« und die Noverre-Gesellschaft
Inspiriert von Vorbildern, doch auf eigenen Wegen »Junge Choreographen« stellen sich bei der Noverre-Gesellschaft vor von Claudia Gass
»Pineapple Poll«, Choreographie: John Cranko
als Eleven zum Stuttgarter Ballett kommen. Die Ballettpädagogin Hilke Rath hat ihre Choreographie »Im Fluss« dieses Jahr für die Klassen 1 bis 5 ausgebaut. Auch für die etwas Älteren fanden sich dabei, harmonisch ins Ganze eingefügt, die angemessenen Aufgaben in dem mit akrobatischen Elementen das Thema sehr schön aufgreifenden Stück. Mai Aihara und Gustavo Echevarria warteten im »Pas de deux romantique« mit lupenreiner Balletttechnik auf. Ein Glücksfall für die John Cranko Schule ist Demis Volpis bezauberndes »Karneval der Tiere« zur Musik von Camille Saint- Saëns. Der hochtalentierte Jungchoreograph hat seinen typischen zeitgenössisch-ziselierten Stil, der das Ballettvokabular eigenwillig aufgreift und ins Extrem treibt, wunderbar sowohl auf die jeweiligen Fähigkeiten der Schüler (es sind alle Klassen beteiligt) als auch auf die Charaktere der Tiere zugeschnitten. Es wird vorzugsweise in allen möglichen Varianten und Gruppierungen gehüpft, getrippelt, gesprungen und auf dem Boden gekrochen, aber auch klassisch getanzt. Da mischt sich der kleine Junge Tim Faske, der sich in den Aufmarsch der Tiere hineinträumt, mit kindlicher Unbekümmertheit und Neugier unter die Gestalten seiner Fantasie. Der Löwe, Theophilus Vesely, wird wie ein König von der auf allen vieren daher robbenden, in glänzende braune Samtanzüge gewandete Gruppe getragen. Bei den sechs schlüpfenden Küken ragen nur die hüpfenden Beine der kleinen Mädchen am unteren Rand der weißen, eiförmigen Ganzkörperhaube heraus. Die schnellen Tiere flitzen in hohen Jetés über die Bühne; die Schildkröte (James Fisher) kriecht in einen langen Wollschal gewickelt über den Boden; die Elefanten walzen breitbeinig in weiten Hosen daher; die farbenfroh ausstaffierten Kängurus boxen. Und wenn die in vertikaler Reihe stehende Gruppe ihre in leuchtenden bunten Trikotstoff steckenden Arme in elegantem Fluss seitlich herausschwingt, wird das Bild eines Aquariums plastisch. Die Tanzhistorie nimmt Volpi ganz nonchalant auf die Schippe: Vom berühmten Ballettsolo »Der sterbende Schwan« bleiben nur weiße Federn übrig, denn der von der Gruppe verborgene Löwe hat offensichtlich heimlich den Schwan gefressen. In Anbetracht von soviel Fantasie, Ideenreichtum und Erzählkunst mittels der reinen Bewegung, wie Demis Volpi diesen »Karneval der Tiere« inszeniert, wünscht man der John Cranko Schule, dass das Stück möglichst lange im Repertoire bleibt, ja vielleicht sogar so etwas wie ein Markenzeichen wird. ■
Ballett Intern 4/2011
Was ist wirklich neu, anders und originell? Sind Trends und Vorbilder erkennbar? Diese Fragen hat man im Hinterkopf in Anbetracht von Kreationen aufstrebender Talente, wie sie sich einmal im Jahr beim Programm »Junge Choreographen« der Stuttgarter NoverreGesellschaft vorstellen. Selbst wenn man dem Nachwuchs nicht die Erwartung aufbürden sollte, gleich Tanzrevolutionäres erfinden zu müssen – geschehen ist das ja durchaus in den über fünfzig Jahren, die der Verein eine Plattform für neue Choreographie bietet. Man denke nur an William Forsythe oder, in jüngerer Zeit, Marco Goecke. Der Stil des Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts hat bei manchem der Jungchoreographen, die sich Mitte Juli im schmucken kleinen Wilhelma Theater präsentiert haben, sichtlich beeinflussend gewirkt. So auch in »Jesus Home« von Louis Stiens. Der frisch gekürte Absolvent der John Cranko Schule hat bereits
Thomas Danhel in »Burn it Blue«, Choreographie: Flavio Salamanka (Ulrich Beuttenmüller)
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»Junge Choreographen« und die Noverre-Gesellschaft letztes Jahr beim Noverre-Abend mit seinem Stück »Mäuse« auf sich aufmerksam gemacht. Auch die Art, wie er inspiriert von Goecke, aber doch bemerkenswert eigenwillig das klassische wie das zeitgenössische Bewegungsvokabular variiert, Arme wie nicht unter Kontrolle zu halten in kleinen Motionen zucken lässt, Tanztheaterelemente blitzschnell in Balletteleganz wandelt, weist ihn als vielversprechendes Talent aus, auch wenn manches ein bisschen bedeutungsschwanger überfrachtet erscheint. Wie in die Moderne katapultierte, surreale E. T. A.-Hoffmann-Figuren muten die zwei Tänzerinnen und drei Tänzer an. In schwarze Reifröcke gewandet, schreiben sie am Ende zu Bobby Vintons Song »I‘m Mr. Lonely« Briefe in die Luft. Die Bewegung kommentiert dabei mit feiner Ironie die Musik. Konkreter als Stiens erzählt Miles Pertl, ebenfalls an der John Cranko Schule ausgebildet und seit 2010 beim Stuttgarter Ballett, in »Gern geschehen« eine Dreierbeziehungsgeschichte. Es atmet ein wenig die Atmosphäre eines Hollywood-Südstaaten- Melodrams der 1950er Jahre, wie Jelena Bushuyeva zur rauen Stimme von Tom Waits erst lasziv rauchend die, auf dem Tisch tanzend, um sie werbenden Herren (Jesse Fraser und Robert Robinson) betrachtet, sich dann Duette und Trios entspinnen. Die Tanzsprache jedoch ist modern, mischt erfrischend unverbraucht und mit dem Groove des Blues Ballett, Alltagsgesten und Zeitgenössisches. Charmant, aber doch recht brav und konventionell war die von Mikhail Soloviev entwickelte Begegnung eines Paares in »The Expected Suddenness« zum Evergreen »Cuando, Cuando«, voll Esprit interpretiert von Anais Bueno Graces und Özkan Ayik. Ebenfalls zu sehr in einem Ballettstil eines John Cranko verhaftet bleibt Brent Parolins Pas de deux »Absolute« mit den virtuosen Hebungen und Figuren, obwohl das Duett in der wunderbaren Darbietung von Hyo-Jung Kang und Alexander Jones schön anzuschauen ist. Die akrobatischen und verschlungenen Motiv und Lifts, mit denen David Moore in seinem Alessandra Tognoloni und Alexander Jones in »Hope Mountain«, Choreographie: Evan McKie (Fotos: Ulrich Beuttenmüller)
Hyo-Jung Kang und Alexander Jones in »Absolute«, Choreographie: Brent Parolin
Trio »Love your ground« insbesondere die expressive Biegsamkeit von Alicia Amatriain zelebriert, muten dagegen Kylián-inspiriert an, ohne an die Tiefe von dessen Werken heranzureichen. Getragen von einem geschmeidigen Bewegungsschwung, lässt Flavio Salamanka vom Karlsruher Ballett seine Ensemblekollegen Diego de Paula, Marcos Menha und Reginaldo Oliveira in langen glänzenden Hosenröcken über die Bühne gleiten. Bei aller Ästhetik stört der zu bemüht kunstvolle, melodramatische Gestus des Stücks. 24
Da ist Evan McKies anrührendes Duett »Hope Mountain«, in dem sich Alessandra Tognoloni und Alexander Jones kunstvoll und ausdrucksstark umeinander schlingen, ohne sich je ganz voneinander zu lösen, weniger prätentiös und wesentlich origineller. Mit Sebastian Schwab hatte sich unter die ansonsten – bis auf Flavio Salamanka – vom Stuttgarter Ballett kommenden Tänzer mit Choreographen-Ambition überraschenderweise ein Schauspieler gemischt. Sein »Mötar«, in dem sich fünf Tänzer aus Ratlosigkeit darüber, dass ihre Tanzkunst nur Buhrufe kassiert, in Rockmusikerposen retten, lebt von der schauspielerischen Pointiertheit, mit der Schwab die Situation entwickelt. Über die hübsche Idee hinaus eröffnet das allerdings keine neuen choreographischen Wege. Das würde man wiederum gerne Katarzyna Kozielska attestieren. Aber wenn man Katja Wünsche, Miriam Simon, Tomas Danhel und Demis Volpi gewollt artifiziell in puppenhafter, bizarrer und somit höchst ironischer Manier darum ringen sieht, was wohl im Tanz »Der richtige Ort« für sie ist – die Damen kunstvoll auf Spitze staksend und hüpfend – erkennt man zu deutlich die stilistischen Anleihen beim Choreographen Demis Volpi. Was schade ist, denn davon abgesehen, ist der einzigen Frau im Kreis der neun Teilnehmer ein ansprechendes und interessantes Stück gelungen. Ob einer der Teilnehmer des Noverre-Abends 2011 über soviel künstlerisches Potenzial als Choreograph verfügt wie Volpi – der seine ersten Schritte in diese Richtung vor noch gar nicht langer Zeit ebenfalls bei diesem Forum gemacht hat – wird die Zukunft weisen. Die zwei Jüngsten, Louis Stiens und Miles Pertl, sollte man jedenfalls im Auge behalten. ■ Ballett Intern 4/2011
Bundesjugendballett in Hamburg
Gymnasium Essen-Werden
Ballett braucht einen langen Atem
Tanz als Abiturfach
In Hamburg kam der Startschuss zum Bundesjugendballett
von Jenny J. Veldhuis
von Dagmar Ellen Fischer Seit 25 Jahren steht es im Vertrag zwischen John Neumeier und der Hansestadt Hamburg – doch erst jetzt wird es endlich Wirklichkeit: Ab der nächsten Spielzeit 2011/12 tanzt ein Bundesjugendballett! Acht Tänzer im Alter zwischen 18 und 23 Jahren werden die JuniorCompagnie bilden, sie sollen als eigene Organisationseinheit vor allem in Schulen, Heimen und Gefängnissen auftreten. »Ich werde die Intendanz übernehmen, ehrenamtlich«, so Ballettintendant John Neumeier. Doch nicht seine Werke, sondern die jüngerer Choreographen wird die Truppe zeigen, und obwohl in Hamburg zu Hause, soll national und international getourt werden. Als Ballettmeister steht Johann Stegli bereits fest, der Solist des Hamburg Ballett beendet seine aktive Laufbahn im Sommer 2011, die Leitung der Organisation wird Lukas Onken übernehmen. Auch die acht Tänzer wurden auf einer Audition im April in Hamburg ausgewählt und inzwischen unter Vertrag genommen. Die gute Nachricht wurde auf einer Pressekonferenz am 30. März 2011 im Ballettzentrum des Hamburg Ballett bekannt gegeben, es war eine der ersten Auftritte der neuen Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler. Neben ihr auf dem Podium waren natürlich Ballettintendant John Neumeier, der Geschäftsführende Direktor der Hamburgischen Staatsoper Detlef Meierjohann und Rüdiger Kruse, CDU-Abgeordneter im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages. Ihn überzeugte am geplanten Projekt die Balance aus einer Förderung junger Tänzer und der Verbreitung von Tanz jenseits etablierter Bühnen, und er wiederum konnte Kulturstaatsminister Bernd Neumann überzeugen. So werden aus Berlin 710.000 Euro jährlich für den Betrieb des Bundesjugendballetts bereit gestellt, die Stadt Hamburg bewilligte zunächst einmalig 50.000 Euro für Investitionen, doch ließ Frau Kisseler durchblicken, dass eine weitere Unterstützung durchaus denkbar wäre, denn dieses Bundesjugendballett sei in Deutschland eine einzigartige Einrichtung. Das auf vier Jahre angelegte Pilotprojekt wird mit Beginn der nächsten Spielzeit seine Arbeit aufnehmen, erste Vorstellungen sind für den Anfang des Jahres 2012 geplant. Und bei diesen Auftritten wird der soziale Aspekt im Vordergrund stehen, nämlich Tanz jenen Menschen nahe zu bringen, »die sich bisher kaum dafür interessieren«, so John Neumeier. Günstig (und auch kostengünstig) wirkt sich aus, dass die Infrastruktur, also auch Räume und Personal, von Oper und Ballettzentrum mitgenutzt werden kann. Für Hamburgs Ballettchef geht mit der Gründung des Bundesjugendballetts ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Ihm ist es wichtig, zunächst einmal anzufangen, und er vertraut darauf, dass sich vieles hoffentlich noch entwickeln wird, »wenn wir mit der Arbeit erst einmal angefangen haben«. Je vier Tänzerinnen und Tänzer zwischen 18 und 21 Jahren werden dem Bundesjugendballett angehören. ■ Ballett Intern 4/2011
Das Gymnasium Essen-Werden
Mitte der 1990er Jahre besuchte ich erstmals das Gymnasium Essen-Werden im Rahmen meiner Recherchen zu Tanzfachausbildungen in aller Welt. Tanz war und ist an diesem Gymnasium Abiturfach, wie in Berlin oder Dresden, wie in den Niederlanden und Belgien – Grund genug für einen erneuten Besuch und Vergleich des Abiturfaches Tanz am Gymnasium Essen-Werden. Wie bei meinem früheren Besuch erwartete ich auch diesmal, auf eine sogenannte integrierte Tanz- und allgemeinschulische Ausbildung zu stoßen – und musste feststellen, dass es sie nach wie vor nicht gibt. In den anderen genannten Schulen sind beide Ausbildungsbereiche völlig in den Stundenplan integriert, aber in EssenWerden findet der Tanz-Unterricht erst am Nachmittag statt. Seinerzeit gab es in Essen-Werden einhundert Schüler im Ausbildungsfach »Tanz«, zehn Prozent der gesamten Schülerzahl. Erst am Nachmittag, ab 14.15 Uhr, konnten sie mit ihren Pliés beginnen. Damals verfügte man über zwei Ballettsäle, einen im Hauptgebäude und einen weiteren im nebenan gelegenen Stadtbad. Und es versteht sich von selbst, dass es keine leichte Aufgabe war, mit zwei Sälen einen sinnvollen Stundenplan für einhundert Schüler und fünf Lehrer zu organisieren. Im Laufe der Jahre hat sich einiges geändert in der Welt der Tanzausbildungen. Sie ist vor allem internationaler geworden. Heute reisen Tanzschüler während ihres letzten Studienjahres durch die ganze Welt – entweder, um an einem der zahlreichen Tänzerwettbewerbe teilzunehmen, oder um zum Vortanzen bei verschiedenen Ensembles anzutreten. Durch diese Internationalisierung haben die Compagnien eine riesige Auswahl, und natürlich suchen sie nur solche Tänzerinnen und Tänzer, die praxisreif sind und nicht älter als 18 oder 19 Jahre. Darauf müssen sich auch die Tanzfachausbildungen einstellen und in den maximal acht Jahren Ausbildungszeit buchstäblich jede Minute nutzen, wenn sie ihren Schülern die bestmöglichen Aussichten auf einen Arbeitsplatz und eine Berufslaufbahn mit auf den Weg geben wollen. Da das Gymnasium Essen-Werden ein integriertes Angebot von Tanz- und allgemeinschulischer Ausbildung nicht ermöglichen kann, hat man sich für eine achtjährige (Vor-)Ausbildung entschieden – mit der Perspektive, dass die Absolventen anschließend noch zwei Vollzeit-Tanzstudienjahre absolvieren. Gerade weil der wachsende Körper während der Ausbildung sozusagen mitbestimmt, ob er die Wahl, Tänzer zu werden, unterstützt (oder nicht), ist es wichtig, einen Unterrichtsaufbau und Stundenplan anzubieten, der einen erfolgversprechenden technischen Aufbau ermöglicht. Hierzu verfügt das Gymnasium Essen-Werden heute nicht mehr nur über zwei, sondern über drei weitere Ballettsäle im alten Werdener Bahnhof, der im Jahr 2000 für die Tanzausbildung des Gymnasiums zur Verfügung gestellt und für diesen Zweck völlig umgebaut wurde. Neben den drei sehr schönen Sälen gibt es ein Dozentenzimmer, einen Ruhe- und einen Theorieraum. Auch eine Küche für das tägliche Mittagessen ist vorhanden. Die Schülerzahl hat sich auf 150 erhöht, das ermöglichte, sie in eigenen allgemeinbildenden Klassen unterzubringen. Tanz- und allgemeinschulische Ausbildung sind leider nach wie vor nicht in einem gemeinsamen Stundenplan integriert, und auch die Zahl der (Tanz-)Stunden hat sich nicht erhöht, so dass der Tanzunterricht weiterhin nur an den Nachmittagen stattfindet (nur die Abiturjahrgänge haben zweimal pro Woche auch vormittags Tanzunterricht). Dadurch sind die Unterrichtstage sehr lang. Wenn auch die Rahmbedingungen nicht ideal sind, so war ich doch sehr beeindruckt, mit welchem Einsatz alle Schüler arbeiten und jede Minute nutzen. Von derart ambitionierten und disziplinierten Schülern mag manch andere Schule träumen. Dasselbe Engagement vermitteln die Dozenten, die ungeachtet ihrer langen Arbeitstage höchsten Einsatz für ihre Schüler zeigen, egal zu welcher Uhr- oder Tageszeit. Es ist offensichtlich, dass die Tanzschüler des Gymnasiums Essen-Werden diese Schule besuchen, weil sie den Tanz lieben, und dass sie alles dafür tun, ihr Ziel zu erreichen, den Tanz zu ihrem Beruf zu machen. Schade jedoch, dass in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern der Welt, Tanz nicht in aller Konsequenz als Fach anerkannt wird, und es bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen erkennen, wie wichtig es ist, eine Tanz- und allgemeinschulische Ausbildung in integrierter Form zu ermöglichen. Unzählige Dozenten, Schüler und zukünftige Schüler in aller Welt würden es ihnen danken – und der Tanz als Kunstform. ■ 25
Elvire und Philippe Braunschweig
Im Andenken an Elvire und Philippe Braunschweig Der 39. Prix de Lausanne von Jenny J. Veldhuis Nach dem plötzlichen Tod Philippe Braunschweigs im April 2010 liegt es nahe zurückzublicken. Philippe Braunschweig war ein Industrieller mit einem großen Interesse an der Kunst. Seine Frau Elvire Krémis war Tänzerin. Beider Interesse gehörte dem Tanz – und der Ausbildung von Tänzern. Konfrontiert mit den Schwierigkeiten begabter Tanzschüler, eine wertvolle Ausbildung zu finden, die ihnen einen Weg in den Beruf öffnet, gründeten beide 1972 eine Stiftung, die es sich zum Ziel setzte, jungen Tanzstudenten aus privaten Schulen ein Studienjahr an einer renommierten Akademie zu ermöglichen. Anfangs meldeten sich nur Schüler aus der Schweiz und einige aus Frankreich. Aber die Förderung sprach sich schnell herum, und bald meldeten sich auch Schüler aus Großbritannien, Deutschland, Italien – bis schließlich Interessenten aus ganz Europa und sogar aus den damaligen Ländern des Ostblocks nach Lausanne kamen. Doch nicht nur hier gab es begabte Schüler, die einer Förderung bedurften. Also arrangierte man das Finale des Prix de Lausanne 1980 in New York, 1984 in Tokio und 1995 in Moskau: Die Kandidaten aus Lausanne wurden kurzerhand, zusammen mit der Jury, hinübergeflogen in den jeweiligen Ort, um mit den dortigen Kandidaten im Finale aufeinanderzutreffen. Daraus folgte, dass von da an vor allem Japaner den Weg nach Lausanne entdeckten, während Amerikaner, auf Grund der zahlreichen Wettbewerbe im eigenen Land, erst viel später folgten. Eine wichtige Rolle spielten dabei die sogenannten Partner-Schulen des Prix de Lausanne. Davon gibt es heute 29, darunter allein vier in den USA und eine in Kanada, eine in Russland und eine in Shanghai – aber keine in Japan. Das beschreibt, in aller Kürze, den Erfolg Philippe Braunschweigs und seiner Stiftung – dafür und für sein Verdienst, der Ausbildung von Tänzern Anerkennung und Interesse verschafft zu haben, wurde er 1997 mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet. Wie sehr sich die Dinge in der Welt des Tanzes geändert haben, seit vor bald 40 Jahren der Prix de Lausanne erstmals stattfand, ist evident. Wo gibt es heute noch eine Ballettcompanie, die nur Tänzer aus dem eigenen Land und ausgebildet im eigenen Land vorweisen kann? Wo gibt es noch eine entsprechende Tanzfachausbildung? Dies spiegelt sich natürlich auch beim Prix de Lausanne, für den sich in diesem Jahr 205 Kandidaten per DVD angemeldet hatten, von denen das künstlerische Komitee 81 auswählte, von denen wiederum 74 tatsächlich nach Lausanne kamen. Von diesen 74 Kandidaten stammten nur 22 aus Europa – was zu der Frage berechtigt, ob die Schüler der europäischen Schulen kein Interesse mehr an diesem Wettbewerb haben. Von den 22 Kandidaten aus Europa schafften es nur vier ins Finale – und nur einer von ihnen gewann letztlich einen Preis: Der Schweizer Finalist erhielt den Preis für den besten Schweizer. Gab es früher vier Stipendien für Schulen und dreimal je ein praktisches Aspiranten-Jahr in einer Companie zu gewinnen, so ist dieser Unterschied nun verschwunden, und stattdessen wurden sieben Stipendien ausgelobt, wobei die Gewinner die freie Wahl haben. Neben zwei 15-Jährigen kam die Mehrzahl der Kandidaten jedoch aus der Altersgruppe der 18- bis 19-Jährigen, was nahelegt, dass das Interesse weniger einem Stipendium und eher einem Aspiranten-Jahr gilt. Dazu kommt, dass die seit einigen Jahren existierenden Partner-Schulen es sich zur Aufgabe gemacht haben, je26
39. Prix de Lausanne nen, die nicht ins Finale kommen, einen Studienplatz anzubieten. Was aber die Preis-Stipendien betrifft, so fragt sich, weshalb ein Finalist des Prix de Lausanne den Wunsch haben sollte, die Schule, an der er seit Jahren ausgebildet wurde, zu verlassen, um es einmal woanders zu versuchen? Und wie finden das die Schulen, die mehrere Jahre in den Schüler investiert haben? Denkt der Schüler, der ein Stipendium gewonnen hat, möglicherweise, die andere Schule könne ihm mehr bieten als seine eigene? Und was, wenn es dann dort nicht klappt? Wir sprechen hier immerhin von der Umsiedlung in ein anderes Land oder gar auf einen anderen Kontinent… Ähnliches gilt es in Bezug auf die Partner-Compagnien zu fragen. Wollen sie tatsächlich nur Schüler, die anderswo ausgebildet wurden? Und haben sie keinen Kontakt zu den Schulen im eigenen Land oder gar der eigenen Stadt? Auch die Altersstruktur der Finalisten in diesem Jahr war eigenartig. Es gab, wie gesagt, nur zwei 15-Jährige (eine von ihnen erhielt einen Preis). Aber das Ziel des Wettbewerbs war immerhin, eine Studienmöglichkeit zu erhalten. Das ist aber nicht das, was die Mehrzahl der Finalisten mit ihren 18, 19 Jahren benötigt… Schönes gab es natürlich auch. Die Medaille d’Or ist nach 16 Jahren wieder zurück. Sie ging an die 16-jährige Magri Mayara aus Brasilien, die von »Danse Americain-Argentina« die Gelegenheit bekam, nach Lausanne zu kommen. Eigenartig ist, dass in all‘ den Jahren der Prix nichts unternommen hat, um die Bewertungskriterien zu präzisieren. Auf eine dem Alter angemessene Technik wird nicht geachtet, so dass 15-Jährige mit 17- bis 19-Jährigen auf derselben Unterrichtsstufe verglichen werden. Doch zwischen 15-, 17- und 19-Jährigen soll(te) nicht nur ein Unterschied in der Tanztechnik zu finden sein, sondern auch die Körper sind anders und nicht vergleichbar, ganz zu schweigen von der geistigen Entwicklung und Mentalität. Das Finale war den Braunschweigs gewidmet, inklusive eines kurzen Films, der viele Erinnerungen weckte. Die Pause, in der sich die Jury zur Beratung zurückzieht, wurde dieses Mal genutzt zur Selbstdarstellung der Partner-Schulen. Als erste stellte sich die École Superieure de Danse de Cannes/Rosella Hightower vor, in einer Choreographie von Jean-Christophe Maillot. Die John Cranko Schule zeigte drei kurze Einstudierungen, und die Schule des Hamburg Ballett wurde von zwei Tänzern vertreten, die John Neumeiers »Epilog« interpretierten. Am Anfang und am Schluss brachte Steven McRae, heute Principal Dancer des Royal Ballet, London, in Erinnerung, womit er 2003 beim Prix de Lausanne erfolgreich war: Als »freies« Solo tanzte er damals einen Tapdance – und 2011, als er ihn in einer ausgeweiteten Version erneut zeigte, hatte er damit ebenso viel Erfolg wie damals. Alles in allem kann man feststellen, dass Wim Broeckx in den drei Jahren als Künstlerischer Leiter des Prix de Lausanne vieles geschafft hat. Organisatorische Stabilität ist zurückgekehrt, und das Programm lässt bei aller Enge noch Zeit für die Kandidaten, um sich kennenzulernen und – Spaß zu haben. Im kommenden Jahr 2012 wird das 40-jährige Jubiläum des Prix de Lausanne groß gefeiert. Hoffen wir, dass auch Europa dann wieder in angemessener Zahl mit Kandidaten vertreten sein wird. ■
Jury Gaylene Stock, Direktorin Royal Ballet School Arlette van Boven, Repetitorin der Ballette von Hans van Manen und Jiri Kylian Iracity Cardos, Direktorin Danse de São Paulo Vivianne Durante, Gastsolistin Royal Ballet Madeleine Onne, Direktorin Ballett Hongkong Steffie Scherzer, Direktorin Tanz-Akademie Zürich Paul Chalmers, freischaffender Choreograph Christopher Powney, Direktor Nationale Ballett-Akademie Amsterdam Turo Shimazaki, Choreograph Japan Ballett Intern 4/2011
Peter Breuer und das Ballett des Salzburger Landestheaters
Peter Breuer Seit 20 Jahren erfolgreicher Ballettchef am Salzburger Landestheater von Ira Werbowsky Nach einer Weltkarriere als Tänzer – Peter Breuer war zu seiner Zeit der berühmteste deutsche Ballettstar mit internationalen (Gast-)Engagements beim London Festival Ballet, dem American Ballet Theatre und an der Scala di Milano – leitet er seit der Spielzeit 1991/92 die Geschicke der Ballettcompagnie am Salzburger Landestheater. Bereits mit 15 Jahren (!) im Corps de ballet an der Bayerischen Staatsoper tanzend, holte ihn Erich Walter nach Düsseldorf als Halbsolist, da war Peter Breuer gerade 17 Jahre alt. Ein Jahr später war er dort bereits Solotänzer, zwei Jahre später begann seine internationale Karriere.
Der Salzburger Ballettchef Peter Breuer (Foto: Dünhöft, Salzburger Landestheater)
lich beliebte Märchen- und Comicfiguren auf die Bühne. Für dieses Stück war eine besonders lange Vorbereitungszeit vorgesehen, da rund 30 Kinder aller Altersgruppen aus der SIBA-Ballettschule als wichtige Bühnendarsteller eingebunden waren. Zusammen mit den Tänzern des Ensembles und Statisten standen etwa 50 Personen für die Umsetzung des bekannten Märchenstoffs zur Verfügung. Die Bandbreite des Programms der Ballettwoche spiegelt die Vielseitigkeit der Salzburger Compagnie wieder: Weitere Highlights waren die Wiederaufnahme von »Carmen« und eine Aufführung von »Romeo und Julia«. Den krönenden Abschluss der Ballettwoche bildete eine Ballettgala mit Beteiligung internationaler Gäste aus Theatern, an denen Peter Breuer entweder als Tänzer oder Choreograph tätig war. Diese Gala war dem Gedenken an Breuers Mentor Erich Walter gewidmet; daher wurde als Benefizabend auch ein wichtiges caritatives Zeichen gesetzt, indem die Tänzer auf ihre Gagen verzichteten und der Erlös als Spende an die AIDS Hilfe Salzburg ging. Diese erste Ballettwoche wird eine Fortsetzung finden, hat doch Intendant Carl Philip von Maldeghem den Termin für die Ballettwoche 2012 bereits bewilligt! Mit Sasha Waltz wird dann eine choreographische Brücke von der Ballett- zur Mozartwoche geschlagen.
Unerschöpflicher Ideenreichtum
Die Ideen gehen Peter Breuer auch nach 20 Jahren noch nicht aus: »Ich habe noch Vieles in der Schublade liegen«, verrät er schmunzelnd nach seiner unerschöpflichen Kreativität befragt. Wenn ihm ein interessantes Sujet über den Weg läuft – beim Lesen, im Gespräch oder wenn er einen Film sieht – dann macht er sich sofort Ballettwoche zum Jubiläum Notizen, recherchiert genauestens, sobald die Idee konkret wird. Zuerst entsteht bei ihm der Plot im Kopf, danach ergibt sich wie 20 Schaffensjahre in Salzburg – dieses Jubiläum wurde mit einem automatisch die passende Musik dazu. Ausnahme war da SibeliBallettschwerpunkt im Januar 2011 gefeiert. Erstmals in der Geus – da war zuerst die Komposition, und das Stück entstand dazu. schichte dieser Ballett-Truppe stand eine Ballettwoche auf dem Manche Werke haben sich auch erst dann realisieren lassen, als er Programm, mit sechs Vorstellungen in acht Tagen. Eröffnet wurdie richtigen Interpreten dafür hatte, so wäre z. B. »Marilyn« nie de mit der Premiere von »Dornröschen«; die komprimierte, zweientstanden, wenn er nicht Anna Yanchuk für die Hauptrolle gehabt stündige Version mit einer Rahmenhandlung und verbindenden hätte. Für seine »Romeo und Julia«-Version kam ihm zu Gute, dass Erzählschritten sorgt nicht nur für das Einbeziehen des (jungen) er in seiner aktiven Zeit als Tänzer sechs verschiedene Versionen gePublikums, sondern bringt in dieser aktualisierten Version zusätztanzt und die drei männlichen Hauptrollen (Romeo, Mercutio, Tybalt) verkörpert hatte. So wollte er für seine Fassung Neues einbringen, mit gesellschaftskritischem Aspekt verschiedener Traditionen, indem er das Salzburgische dem türkischen Kulturkreis gegenüberstellt. Das war für ihn schon ein kleines Wagnis, wie die Zuschauer diese Form der Auseinandersetzung zweier Familien aufnehmen würden, aber die stets ausverkauften Vorstellungen haben ihn bestätigt. In vielen Fällen zeichnet Peter Breuer auch für Kostüme, Bühnenausstattung und Lichtregie verantwortlich. Die Choreographie entwickelt er im Ballettsaal mit der Inspiration durch seine Tänzer. Er weiß vorher genau, wo er eine Gruppenszene oder ein Solo möchte; aber die Details Peter Breuer in »Jeux Ballet«, Choreographie: Erich Walter, Düsseldorf 1971 (Foto: Dünhöft) entwickeln sich in der direkten Ballett Intern 4/2011
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Peter Breuer und das Ballett des Salzburger Landestheaters Erarbeitung mit den Tänzern. Sogar die Musik schneidet er oft für seine Stücke selbst am Computer, wenn es nicht ein Auftragswerk wie z. B. für »Marilyn« ist. Da konnte er sich, wie seinerzeit Marius Petipa, noch z. B. acht Takte wünschen, wenn er mit den angepeilten vier Minuten nicht auskam oder genau für den Mittelteil noch einen kräftigen Posaunenchorus benötigte. Zwei Tage später war die gewünschte Musik dann vorhanden. Was kann er eigentlich nicht? Dirigieren würde ihn reizen.
Tanz als Lebensbestimmung Eigentlich wurde er als Kind mit elf Jahren in die Ballettschule geschickt, um seine schlechte Haltung zu korrigieren. Als nach drei Monaten (!) bereits absehbar war, dass Ballett mehr sein würde in seinem Leben, waren die Eltern damit einverstanden, obwohl sie eigentlich einen »geistvollen Beruf« für ihn im Sinn hatten, damit er körperlich unabhängig blieb. Vater Peter Bruno Breuer war zu seiner Zeit ein Wunderkind, da er als Jugendlicher bereits Konzerte gab. Als er sich später als Pianist und Dirigent weigerte, vor den Nazis zu spielen, wurde ihm die Hand gebrochen und er kam ins KZ. So hat Sohn Peter nie Klavier spielen gelernt, was er bis heute bedauert. Bezüglich Tänzerkarriere hatte der Vater nur einen Wunsch an seinen Sohn: Er möge einer der Besten werden. »Klar doch«, war die Antwort des jungen Talents. Und so war es dann auch, wie es die internationalen Erfolge über Jahrzehnte zeigten. Musiktheorie und weiteres nützliches Rüstzeug bekam er hingegen als Unterstützung vom Vater mit. Die Schule absolvierte er nebenher, gewöhnte er sich doch an, z. B. zu träumen und sich den Traum zu merken, um ihn dann am nächsten Tag auf dem Schulweg im Zug als Hausaufgabe niederzuschreiben.
Choreographischer Beginn Als Peter Breuer einmal mehr eine Einladung bekam, um auf einer Gala zu tanzen, wollte er nicht schon wieder eine der bei diesen Anlässen üblichen Variationen zeigen. So entwarf er für den jungen australischen Tänzerkollegen Paul Boyd und sich eine Choreographie, die sehr positiv aufgenommen wurde: »Die Schritte sind mir einfach zugeflogen«, erinnert er sich an die Anfänge. Kurz darauf entstand
Anna Yanchuk in »Marilyn«, Choreographie: Peter Breuer
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in München eine Kreation für Yuri Vamos, Joyce Cuoco, eine weitere Tänzerin und für ihn selbst. Danach kam schon das Angebot für den »gottgeliebten« Choreographen. Und für Peter Breuer war klar, dass Choreographie seine neue Herausforderung als Bestimmung war. Motivation war bei ihm nie, es besser zu können als die Großen vom Fach, mit denen er als Tänzer zusammenarbeiten durfte, wie Walter, van Manen oder Béjart. Bei ihm steht im Vordergrund, den eigenen Weg zu finden. Als Geschichtenerzähler und Garant für Gefühle verbindet er in seinen Kreationen Klassischen Tanz mit zeitgenössischen Impulsen und ist damit stets am Puls der Zeit.
Als Bayer in Salzburg Ballettchef Dem am Tegernsee geborenen Peter Breuer gelingt es seit 20 Jahren, als Ballettchef sein Publikum zu überraschen und zu begeistern. »Ich bin akzeptiert«, meint er. »Der versteht uns«, sagt man am Theater über ihn. Sein Erfolgsrezept? »Ich habe die idealen Bedingungen dafür hier am Theater.« Vor etwa zwölf Jahren stand es auf der Kippe, ob die Compagnie weiter bestehen sollte. Mittlerweile ist eine Abschaffung Gott sei Dank kein Thema mehr, da sich der Kulturpolitiker Prof. Alfred Winter für den Erhalt des Ensembles eingesetzt hatte. Die kleine, aber feine Truppe ist fester Bestandteil am Landestheater, wo Oper, Schauspiel und Ballett eine gemeinsame Spielstätte haben. Die 16 Tänzer sind wie eine kleine Familie, es gibt keine Hierarchie – an einem Abend tanzt man Solo, am nächsten Tag ist man in der Gruppe. Die Tänzer, die sich für Salzburg bewerben, wissen, was sie erwartet und halten fest zusammen. Ein Traum wäre für Peter Breuer eine Aufstockung auf 25 Tänzer, um mehr Möglichkeiten für die Umsetzung von Stücken zu haben; durch die Gründung eines Fördervereins hofft er, dass eine Praktikantenstelle für die Compangnie finanziert werden kann. Unterstützung in der Vorbereitung der Gala bekam er auch durch seine treuen Ballettfans und den Förderverein.
Salzburg als choreographische und direktorale Wirkungsstätte Auch nach Beendigung seiner Tänzerkarriere war Müßiggang nicht seins. Die Begeisterung für den Tanz ließ ihn nicht los. So hat er
(Foto: T. Zengerle)
Ballett Intern 4/2011
Peter Breuer und das Ballett des Salzburger Landestheaters sich an den großen Theatern als Direktor beworben, wo er jahrzehntelang als Tänzer engagiert war – wie Düsseldorf, München oder Berlin, aber man bedeutete ihm, er möge doch erst mal an einem kleinen Theater zeigen, dass er das Geschäft versteht. So kam er nach Salzburg – und ist geblieben. »Salzburg hat für mich den Charme und die Vorteile einer Kleinstadt, aber den kulturellen wie künstlerischen Anspruch einer Großstadt. Ich habe hier ideale Bedingungen, so bin ich geblieben«, erklärt er seine Beweggründe zu bleiben. Er hat in den letzten Jahren viel aufgebaut, oft ernten dann die nachfolgenden Direktoren das, was geschaffen wurde; hier kann er selbst die Früchte seiner Arbeit nutznießen. »Ich bekomme gutes Feedback, das Publikum ist mit mir zufrieden und ich spüre die Begeisterung«, meint er. »Die ausverkauften Vorstellungen sprechen für sich: Besser kann man es nicht haben«.
Richtungsweisende choreographische Meilensteine Auf die Frage, welche seiner Werke er als für ihn richtungsweisend sieht, fällt es ihm schwer, eine Auswahl zu treffen, hat er doch Freude an all‘ seinen Choreographien und ist doch immer das aktuelle Stück das wichtigste. Dennoch nennt er »Der Gottgeliebte« für die Münchener Staatsoper als seine erste wichtige Kreation, die bestimmend für sein weiteres Schaffen war. Ursprünglich für 40 Minuten vorgesehen, machte er gleich 90 Minuten ohne Pause daraus und erweiterte es später zum abendfüllenden Werk, als er es 1995 für Salzburg adaptierte. Auch »Peer Gynt« war ihm besonders wichtig. Obwohl er für Salzburg bereits fast alle Ballettklassiker choreographiert hat, sind ihm auch Stücke mit psychologischem Hintergrund ein großes Anliegen. Geschichten erzählen ist ihm sehr wichtig, aber ihn faszinieren auch Charaktere aus der Literatur oder dem Leben, wie man an Werken wie »Peer Gynt«, »Carmen«, »Thérèse Raquin« und »Nomi« oder »Marilyn« sehen kann.
Ballettzukunft in Salzburg Der Unermüdliche hat bereits viele Pläne für die nächste Spielzeit, die er aber noch nicht verraten will. 2011 im Mai kam noch »Bach‘n‘Drums« auf der Probebühne Rainberg zur Uraufführung,
Das Ensemble des Balletts des Salzburger Landestheater in »Romeo und Julia«,Choreographie: Peter Breuer (Foto: Jürgen Frahm)
auf das er sich freut, weil er hier auch jungen Kollegen Gelegenheit zum Choreographieren geben kann und Musiker aus dem Mozarteum für die Percussion eingebunden sind. Auch Gastspiele sind vereinbart, es ist immer wichtig für ein Ensemble, sich auch im Ausland präsentieren zu können. Im März gab es ein Gastspiel in Velbert und Schweinfurt mit einer Wiederaufnahme von »Der Kuss«, bei dem es um Camille Claudel und Auguste Rodin geht. Darin steckt auch viel von ihm selbst. Danach wurde in Worms und Luxemburg mit »Carmen« gastiert. Für nächstes Jahr ist eine Choreographie für Karlsruhe geplant. Was hat er eigentlich noch nicht gemacht – hat er doch auch schon Erfahrung mit Musicals (»West Side Story«, »Jesus Christ Superstar«)? Wieder einmal spartenübergreifend zu arbeiten, wäre etwas für ihn: Ein Stück mit »wahnsinnigen« Tänzern und »irrsinnigen« Musikern inklusive »verrückten« Schauspielern – dazu könnte ihm viel einfallen. Auch eine Orff-Trilogie kann er sich gut vorstellen. Oper allein wäre ihm zu statisch – obwohl »Orfeo« von Monteverdi würde er sich gern noch einmal vornehmen … Pläne für die nächsten 20 Jahre sind also vorhanden. ■
Das Ensemble des Balletts des Salzburger Landestheater in »Bach‘n‘Drums«, Choreographie: Peter Breuer
Ballett Intern 4/2011
(Foto: Salzburger Landestheater)
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Ein Besuch in der nördlichsten Ballettschule Russlands
Klassischer Tanz auf Dauerfrostboden Jakutsk: Zu Gast in der nördlichsten Ballettschule Russlands von Volkmar Draeger Die Kleinen, die an der offenen Tür zum Ballettsaal vorbeigehen, knicksen höflich der Lehrerin entgegen. Achtung scheint in dieser Schule eine ganz natürlich empfundene Verhaltensweise. Weit von Europas Traditionen, Errungenschaften und Krisen steht sie: im fernöstlichen Jakutsk. Kaum 270.000 Einwohner zählt die weltweit winterkälteste Metropole, die, wie ganz Jakutien, auf dauerdickem Frostboden ruht. Deutschland hätte neun Mal Platz in der Republik Sacha mit russischem Namen Jakutien, die mit einem Fünftel den größten autonomen Teil der Russischen Föderation stellt, mit knapp einer Million Bewohnern nur schwach besiedelt ist. Russen, Ukrainer, Ewenken, Ewenen und Tataren gehören zu den 150 beheimateten Ethnien. Edelmetalle wie Gold und Platin, Erdöl, Kohle, Diamanten, Mammutknochen machen den Reichtum eines Landes aus, dessen Temperaturen von unter -50 °C bis weit über +30 °C wechseln. Keine guten Bedingungen fürs Gedeihen eines fragilen Pflänzchens wie das des europäischen Balletts. Dennoch hat es an den Ufern der Lena, 4.900 Kilometer von Moskau, Wurzeln geschlagen. Sie reichen bis 1940 zurück, als dort mit Hilfe aus Petersburg eine semiprofessionelle Gruppe gegründet wurde, die 1947 mit »Tal der Blumen« nach einer Legende das erste Nationalballett kreierte. Erste professionelle Tänzerin war Ewgenia Stepanowa, auch sie ausgebildet in Petersburg. 1981 bezog die längst professionalisierte Compagnie ihr derzeitiges Domizil, das Omolloon-Staatstheater für Oper und Ballett, benannt nach einem bedeutenden Dichter. Unter Leitung von Maria Sajdykulowa seit 1997 gehören zum Repertoire des 30 Frauen, 25 Männer zählenden Ensembles mit einem Altersdurchschnitt von 25 Jahren fast alle großen Klassiker
in »originaler« oder nach dem »Original« bearbeiteter Fassung, ebenso neue Werke wie »Die Mondprinzessin« oder »Tschurumtschuku« um einen mutigen Nationalhelden. Neuerdings wagte man den Schritt zum Zeitgenössischen Tanz: Arabisch inspiriert, stellt »À l’hombre des vents« der Französin Claude Levasseur den Tänzern ungewohnte Aufgaben in Bewegungsstil und durch teilweise musiklosen Tanz. Seit 2000 richtet auf Initiative von Lira Gabyschewa, einer ehemaligen Tänzerin, der jetzigen Leiterin des Theatermuseums, die Compagnie im Zweijahresrhythmus das »Allrussische Festival des Klassischen Tanzes« aus. »Stjerch« heißt es und benennt sich ebenso nach dem balzenden Kranich wie nach dem langbeinigen Mädchen in der Zweitbedeutung des Wortes. Als künstlerische Leiterin ist die Ex-Bolschoi-Ballerina Natalja Sadowskaja für das FünfTage-Programm in Konzeption und Besetzung verantwortlich und lädt dazu führende Tänzer anderer Theater ein, um den Zuschauern Abwechslung, der hauseigenen Compagnie Maßstäbe zu bieten. Erlesen war beim 6. »Stjerch« mit zwölf Solisten aus Moskau, Petersburg, Kasan, Minsk, Krasnojarsk, Kiew das Aufgebot. Beteiligt an den Vorstellungen, ob in »Don Quixote« oder Gala, waren auch Studenten der Jakutsker Ballettschule »A. W. Poselskaja«, die, wie oft in Russland, als »Choreographische Lehranstalt« firmiert. Studierten jakutische Tänzer bis dahin in anderen Schulen, wurde jene Einrichtung 1992 als Abteilung einer Kunstschule gegründet. Mit Unterstützung des ersten Präsidenten der nunmehr autonomen Republik erhielt sie 1995 ein neues, direkt ans Theater grenzendes Gebäude und ist jetzt eigenständig. Direktorin Natalja Poselskaja, Tochter der Namensgeberin Aksenja, kann nun in sechs Sälen unterrichten lassen, von denen der größte eine Bühne für Aufführungen besitzt. Rund 100 Studenten lernen dort, beginnen als Einführung in den Beruf mit einem Vorbereitungsjahr, dem sich bei Eignung die achtjährige Ausbildung anschließt. Seit 2011 endet sie gemäß internationalem Standard mit dem Bachelor-Status, zuvor als staatlich geprüfter Tänzer. Zehn Jahrgänge hat die Schule bislang ins Leben entlassen, wovon sechs oder sieben Klassen komplett vom Theater übernommen wurden. 90 Prozent der Ensembletänzer entstammen so jener Schule. Mittlerweile ist auch dort die
Das Ballett »Les Sylphides«, auch bekannt unter dem Titel »Chopiniana« zu Musik von Frédéric Chopin, darf auch in Jakutsk nicht fehlen, Choreographie: Michail Fokin (Foto: Ballettfestival Stjerch)
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Ballett Intern 4/2011
Ein Besuch in der nördlichsten Ballettschule Russlands
Eine Szene aus »Don Quijote« mit gelbem Amor im Mittelpunkt und unter Beteiligung der Ballettschüler, Choreographie: Marius Petipa (Foto: Ballettfestival Stjerch)
Auslese härter geworden; wer nicht in Jakutsk engagiert wird, geht an andere Häuser, in die Folklore (für die es einen eigenen Studiengang an der Schule gibt) oder studiert an der Universität Um die 20 Schüler fassen die Klassen, etwa 12, so erzählt Sinaida Popowa, graduieren dann auch. Sie, Absolventin des WaganowaInstituts Petersburg, ist eine aus dem 15-köpfigen Pädagogenteam, von denen viele noch im Ensemble aktiv sind, was Kontinuität sichert. Sie gibt den Unterricht in der besuchten 4. Mädchenklasse an einem Montag, nach dem »bösen« trainingsfreien Sonntag. Die Luft hier ist trocken, unsere Haut deshalb weniger elastisch, erläutert Popowa einen Unterschied zu Europa. Einen weiteren weist die Körperstruktur auf: Jakutische Tänzer verfügen, wie auch die Theatercompagnie zeigt, über eine kräftigere Statur, sind kleiner und nicht unbedingt langbeinig wie jenes Kranich-Mädchen. Geeignet für den klassisch-europäischen Tanz seien sie dennoch, manche sogar sehr: Wir suchen noch nach dem Schlüssel, sie zu erziehen und zu formen, sagt Popowa und weist auf die Wärme hin, die jakutische Tänzer in ihrer Begeisterung fürs Ballett ausstrahlen. Ernst absolvieren die Mädchen ihre Stunde, verwirrt auch durch den Gast aus Europa, arbeiten an der Koordination, suchen den Atem nicht zu vergessen und drehen, mutig geworden, double an der Stange. Venera, Mascha, Aina heißen sie, eine schafft sogar 16 fouettés im Raum. Einzige Ausländerin ist ein Mädchen aus Korea. Ansonsten kommen die Kinder aus dem ganzen Land, auch aus Dörfern. Angestrebt werden bei der Aufnahme je zur Hälfte Mädchen und Jungen, falls sich genügend kleine Herren der Schöpfung für Tanz interessieren und ihr Körper mitspielt, auch wegen des geringeren Wachstums. Die üblichen Fächer erwarten sie in dem schmucklosen Bau: Neben Ballett und Pas de deux auch Historischer Tanz, Ballett Intern 4/2011
Nördlicher Nationaltanz, Gymnastik, Gestaltung. Für 50 auswärtige Schüler gibt es kostenlose Plätze im unweit gelegenen Internat mit seinen geräumigen Drei-Bett-Zimmern. Spielzimmer für die Jüngsten, Musikraum mit Klavier, Bibliothek, Gemeinschaftszimmer, ein Raum zum Krafttraining für die Jungen, Physiotherapie, Zahnarzt komplettieren die Ausstattung. Auf acht Kinder kommt jeweils ein Heimpädagoge; nur für das Essen in der Kantine muss bezahlt werden: die Hälfte der Kosten. In diesem Schuljahr werden auch Moderner Tanz und Jazztanz angeboten, im Sommer besuchen die Pädagogen zumeist Kurse in Moskau, Gäste aus ganz Russland geben Meisterklassen. Einmal pro Jahr stellen sich im Theater die besten Studenten in einer Gala vor, die aus Pas de deux und Szenen berühmter Werke besteht. Dem geht ein »Kontrollkonzert« voraus, in dem jede Klasse tanzt, um jene Besten herauszufinden. Auch an Ballettwettbewerben nehmen die Studenten teil, so 2004 beim Schulwettbewerb in Athen, wo ein Drittklässler den 1. Preis gewann, und in Nagoya, 2010 im kasachischen Almaty. Beim Wettbewerb 2006 in New York errang Saryal Afanasjew, inzwischen im Theaterensemble, dort schon mit einem Preis bedacht und Aushängeschild der Schule, ein einmonatiges Stipendium für Australien. Balanchines sechsminütige »Tarantella« zu Musik von Gottschalk bewältigte er im »Stjerch«-Finale überaus leichtfüßig, straff und dabei fröhlich. Von den vier umgebenden Schulen, zu denen auch die in Krasnojarsk rechnet, pflegen die Jakutsker besonders mit Nowosibirsk und dem burjatischen Ulan Ude Kontakte, beteiligen sich jedes Jahr am renommierten Festival in Kasan. Dass Natalja Poselskaja zudem die Abteilung Ballett im 2001 gegründeten Staatlich-Arktischen Institut der Künste und Kulturen leitet, zeigt, welche Entfernung die Liebe zum Ballett mühelos überbrückt. ■ 31
Evelyn Téri und Karl Musil
Ein perfektes (Pädagogen-)Paar In Wien ergänzen sich Evelyn Téri und Karl Musil seit Jahrzehnten aufs Beste von Dagmar Ellen Fischer Aus der Perspektive von Schülern ist die beste Motivation, Tanz zu unterrichten, sicher die, eigene Erfahrungen weitergeben zu wollen. Aber welche eigenen Erfahrungen kann man überhaupt auf andere übertragen? Oder: Was für den einen Körper richtig ist, kann für den nächsten schädlich sein. Evelyn Téri und Karl Musil, zwei Tänzer, die sich nach ihrer aktiven Laufbahn sowohl als Pädagogen als auch bei Wettbewerben in ihrer (Wahl-) Heimat Wien für den Ballettnachwuchs einsetzen, haben diese Fragen zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht. Das Paar arbeitet und lebt seit zwei Jahrzehnten zusammen – und stellt sich immer wieder neuen Herausforderungen auf diesem Gebiet. Erst vor kurzem, im Juni 2011, organisierte Prof. Karl Musil die »ÖTR Ballett-Tage 2011«, ein Festival österreichischer und internationaler Ballettschulen und Tanzstudios, das er in seiner Funktion als Präsident des Österreichischen Tanzrates begleitete. Das ist das jüngste Projekt, das er verstanden wissen will als »eine neue Initiative des österreichischen Tanzrates für die Entwicklung und Förderung des Tanzes«. Bis zum Jahr 2009 war Musil Leiter der Ballettabteilung des Konservatoriums der Stadt Wien, bis heute ist er Präsident des Österreichischen Tanzrates. »Wir haben den ÖTR Contest (Österreichischen Tanzrat Wettbewerb, Anm. d. Red.) ins Leben gerufen. Mit der ganz großen Hilfe von Prof. Evelyn Téri, die den Contest jahrelang geleitet hat, ist er zu einem international anerkannten
Karl Musil als Romeo in »Romeo und Julia« (Wien 1975). Er nannte sich selbst den »sechsfachen Romeo«, weil er diese Rolle in sechs Versionen des Balletts tanzte.
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Karl Musil und Evelyn Téri
(Foto: Privatarchiv Téri/Musil)
Wettbewerb geworden.« So spricht einer, der die Ballettgeschichte Wiens mitgestaltete, über seine Berufs- und Lebenspartnerin, mit der er dies seit vielen Jahren gemeinsam tut. Kurz nach Beginn des zweiten Weltkriegs wurde Karl Musil in Wien geboren, am 3. November 1939, Bombenangriffe und Not prägten seine Kindheit. Die Türen zur Ballettschule der Wiener Staatsoper öffnete dem kleinen Karl Großcousine Julia Drapal, selbst Tänzerin. Dass man an dieser renommierten Institution Schüler war und Unterricht erhielt, ob singend, tanzend oder musizierend, durfte man durchaus unter seinesgleichen zur Verbesserung des Ansehens verbreiten; aber Tänzer galt in der Nachkriegszeit nicht nur als gar kein richtiger Beruf, sondern hatte tatsächlich einen anrüchigen Ruf. Karl Musil setzte sich dennoch durch, wurde Erster Solist der Wiener Staatsoper und war auch als Gasttänzer international äußerst erfolgreich. John Neumeier kreierte für ihn die Rolle des Engels in seiner »Josephs Legende«, George Balanchine arbeitete mit ihm individuell an der Rolle des Apollo, obwohl das so viele Jahre nach Entstehung des Balletts »Apollon Musagète« eigentlich nur noch Probenleiter erledigten. Und unter persönlicher Anleitung von Rudolf Nurejew erarbeitete er sich den Prinzen Siegfried in dessen Choreographie von »Schwanensee«. Nurejew, der legendäre Tänzer und Choreograph, kam 1964 erstmals nach Wien, war dem Ballett der Staatsoper während vieler Jahre verbunden Evelyn Téri (links) bei ihrem Ballettunterricht. (Fotos: Privatarchiv Téri/Musil) und reihte sich unter die Gäste auf Ballett Intern 4/2011
Evelyn Téri und Karl Musil Karl Musils Hochzeit in den 1960er Jahren. Große Namen finden sich auch unter seinen Tanzpartnerinnen, Margot Fonteyn, Svetlana Beriosova, Irina Borowska, Gisela Cech und Susanne Kirnbauer. Der Tanzrat in Österreich ist auf dem besten Weg, ein Gütesiegel für Ballettschulen zu erarbeiten und zu vergeben, »um eine Verbesserung des methodischen Unterrichtsaufbaus zu gewährleisten«, so Musil über eine weitere Linie, die er verfolgt. In dieser Angelegenheit müsste noch ein Landesgesetz verabschiedet werden, immerhin 30 Jahre kontinuierliche Vorarbeit hat der engagierte Musil dafür bereits geleistet. »Es ist nun in Italien fast so weit, dass so ein Gesetz beschlossen wird – und ich hoffe, dass es dann auch in Österreich folgt«, resümiert Karl Musil. Im Jahr 2009, anlässlich seines 70. Geburtstages, veröffentlichte Karl Musil seine Memoiren, die sehr persönliche Erinnerungen im ursprünglichen Sinn des Wortes geworden sind. Seine Motivation erläutert er mit seinem größten Wunsch, dass nämlich »das Thema Ballett wieder in die Öffentlichkeit getragen wird«. Ebenfalls nach ihren Wünschen befragt, antwortete Evelyn Téri: »Politik für den Tanz in der Zukunft!« Da wundert es nicht, dass die beiden nicht nur beruflich, sondern auch privat seit Jahrzehnten ein Paar sind, das an einem Strang zieht und sich mit ähnlicher Intensität für verschiedene Belange des Balletts einsetzt, die von gesellschaftlicher Relevanz sind. Als Pädagogin hat Téri an der Wiener Staatsoper und am Konservatorium Wien gearbeitet, doch auch in Deutschland und Japan unterrichtet. Trainingsleiterin war sie an der Royal Ballet School in London und an renommierten Institutionen in Stockholm, Düsseldorf, Tokio und Rom. Ihr pädagogisches Rüstzeug verdankt sie in erster Linie Ursula Bormann und Olga Lepeschinskaja, doch auch von Anne Woolliams, Boris Kniaseff und Viktor Gsovsky habe sie Wichtiges gelernt, erzählt die Tänzerin, Choreographin und Pädagogin, die seit über 50 Jahren in der Ballettwelt aktiv ist, nicht zuletzt auch als begehrte Jurorin in zahlreichen internationalen Ballettwettbewerben und als Autorin in Tanzmagazinen. In Budapest geboren, wurde sie am Staatlichen Ungarischen Ballettinstitut ausgebildet. 1959 erhielt sie ihr erstes Engagement im Ballett der Ungarischen Staatsoper, 1965 wechselte sie zum Stuttgarter Ballett. Als Erste Solistin tanzte sie in Hamburg, Kiel, Mannheim, beim Grand Ballet Classique de France und beim Tokyo City Ballet; in der Stuttgarter Zeit arbeitete sie neben John Cranko mit Kenneth MacMillan und Peter Wright zusammen, in Hamburg mit George Balanchine und in Monte Carlo mit John Taras, doch auch mit Peter van Dyck und Anton Dolin machte sie bereichernde Erfahrungen. Große Ballerinnen-Rollen wie die der Julia, Giselle, Odette/Odile und La Sylphide hat sie verkörpert; solche Klassiker gehören weiterhin auch in Wien zum Repertoire, insofern ist sie bestens geeignet, die sogenannte Theaterklasse zu betreuen: Das ist eine Art Praktikumsgruppe, die jungen talentierten Tänzern und Tänzerinnen als Sprungbrett zur Aufnahme ins Ballett der Wiener Staatsoper oder der Volksoper dient. Bis heute steht Evelyn Téri in Kontakt mit vielen ehemaligen Schülern, sie rufen an, fragen sie um Rat, und sie hilft gern. Zu den bekanntesten von ihr ausgebildeten Tänzern zählen sicher Rainer Krenstetter, Sandra Mühlbauer und Jörg Mannes, seit 2006 Choreograph und Ballettdirektor in Hannover. Eine Art Credo, das auf besondere Weise den Bogen zwischen Tänzern und Pädagogen schlägt, hat Evelyn Téri anlässlich ihres 50. Berufsjubiläums formuliert: »Wenn keine Energie zwischen dem Publikum und dem Tänzer fließt, ist irgendwo ein Fehler. Die Tänzer werden krank, weil ihr Körper ihr Instrument ist, und dieses muss positiv geladen sein. So ein Austausch muss auch im Ballettsaal zwischen den Tänzern und dem Ballettmeister oder dem Choreographen stattfinden, denn nur eine solche Vibrationsgefühlsskala führt zu Kreativität.« Dies wäre der ideale Ansatz, um Tanzpädagogen zu motivieren – falls Evelyn Téri ihren vielfältigen Aufgaben die Unterweisung von Lehrenden hinzufügen wollte. ■ Ballett Intern 4/2011
Ballett-Tage des Österreichischen Tanzrats
Ein vitales Lebenszeichen Die ersten Ballett-Tage des Österreichischen Tanzrats in Wien von Ira Werbowsky Seit vielen Jahren unterstützt der österreichische Tanzrat ÖTR den Ballettnachwuchs mit der alljährlichen Durchführung des ÖTR-Contests, bei dem heutige international bekannte Tänzer wie z. B. Daniil Simkin, Iana Salenko (Deutscher Tanzpreis »Zukunft« 2009) oder Marian Walter (Deutscher Tanzpreis »Zukunft« 2007) als Sieger Furore machten. 2011 wurde erstmals mit der Einladung zu den ÖTR-Ballett-Tagen am 14. und 15. Juni ein Tanzfest für die Talente der Zukunft ins Leben gerufen. Der engagierte Einsatz zahlreicher Persönlichkeiten der österreichischen Tanzszene machten diesen zweitägigen Austausch von Tanzjugend für Tanzjugend möglich: Neben Karl Musil als Präsident des ÖTR und Evelyn Téri als international tätiger Pädagogin stellten sich auch Peter Rille als Koordinator sowie Eva Petters und Gregor Hatala als künstlerische Leiter in den Dienst der guten Sache. Ort der Veranstaltung war das Odeon Wien. Ursprünglich beheimatete dieser klassizistische Bau aus dem 19. Jahrhundert die Wiener Getreidebörse, doch der große Handelssaal wurde 1945 gegen Ende des Krieges durch einen Brand stark zerstört und war daher jahrzehntelang unbenutzbar. Seit 1988 ist dieser Spielort
Karl Musil und Evelyn Téri nehmen Polina Semionova (Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2005) in ihre Mitte (Foto: Privatarchiv Téri/Musil)
künstlerische Heimat des »Serapions Ensembles« unter der Leitung von Erwin Piplits. Er wurde doch durch diese Initiative zu einem außergewöhnlichen Theaterraum umfunktioniert. Eine interessante Bühne ohne Vorhang wird an den Längsseiten von griechischen Säulen gerahmt, an der Frontseite befindet sich die Zuschauertribüne. Diese offene Bühnensituation bietet den idealen Rahmen für kulturelle Produktionen wie Konzert, Tanz oder Theater. Erfreulich war die sorgsame Auswahl der gezeigten Choreographien: Die Mitwirkenden wurden entsprechend ihrer jeweiligen Fähigkeiten bestmöglich präsentiert. Trotz unterschiedlicher technischer Niveaus und verschieden gestalteter Ansprüche war bei al33
Ballett-Tage des Österreichischen Tanzrats Vladimir Malakhov im Gespräch mit Evelyn Téri und Karl Musil (Foto: Ringelhannl)
len die große Freude am Tanz zu spüren, waren doch alle mit viel ernsthaftem Bemühen sehr ambitioniert am Werk. Die euphorische Begeisterung für den Tanz übertrug sich auch auf das Publikum. Groß war der Eifer aller Beteiligten, lang die Dauer der Vorstellung, wollten doch alle ihr Bestes geben. In 3 ¾ Stunden (!) zeigten die Vertreter von 24 (!) internationalen Instituten bzw. privaten Ballettschulen ihr breit gestreutes Können. Renommierte Ballettausbildungsstätten aus Stuttgart, Budapest, Györ, Antwerpen, Bratislava oder Prag entsandten Jungtänzer, ebenso gab es Gäste aus Italien, Frankreich, Japan. Gastgeber Österreich war nicht nur durch die Ballettschule der Wiener Staatsoper und die Privatuniversität Konservatorium Wien vertreten, sondern auch durch eine ganze Reihe privater etablierter Ballettschulen aus verschiedenen Bundesländern. Von den üblichen klassischen Variationen bis zur Präsentation zeitgenössischer Choreographien sowie Anklängen an Musicaltanz bis zu irischem Stepptanz reichte die Bandbreite. Herausragend die beiden Burschen der John Cranko Schule Stuttgart: Gustavo Echevarria und Theophilus Vesely begeisterten mit »Porto que sinto« (Choreographie: Catarina Antunes Moreira); spannend auch die Darbietung der Gruppe der Royal Ballet School of Antwerp, die mit »Bound« eine Kreation von Michael Shannon zeigte. Auf dem klassischen Sektor schon ausgereift Réka Sári und Gergely Leblanc im Pas de deux aus »Esmeralda« sowie Lilla Purszky und Gento Yoshimoto mit einem Pas de deux aus »Le Corsaire« – alle vier von der Hungarian Dance Academy. Alain Michigants »The queen died young and beautiful« für die Mädchen der Schule für Tanz und Bildende Künste aus Györ gefiel ebenso wie die beiden Auftritte »Origin« und »Memory of Lemon« von Tamaki Mizuno (Mizuno Seiko Dancing Kids Studio, Japan), in denen bereits viel Persönlichkeit und Seele lag. Andere interessante Beiträge fügten sich zu einem bunten Bogen an verschiedenen Tanzinterpretationen. Wenn vielleicht auch nicht alle hier vertretenen jungen Künstler künftig ihren Berufsweg in einer Tanzkarriere finden werden, so waren diese beiden Veranstaltungen doch ein vitales Lebenszeichen für die Begeisterung der Jugend für den Tanz. ■
Vladimir Malakhov als Ehrengast bei den Österreichischen Tanztagen mit der Leiterin des ÖTR-Contests und der Ballettgala, Evelyn Téri (Foto: Ringelhannl)
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Karl Musil: »Kleiner Mann, wie hoch das Bein« Karl Musils Autobiographie »Kleiner Mann, wie hoch das Bein«, die 2010 im Böhlau Verlag erschienen ist, versammelt Erfahrungen, Erinnerungen und Anekdoten aus dem Leben des einstigen Solotänzers der Wiener Staatsoper. Dass Karl Musil durchaus nicht anstrebt, die Literaten-Laufbahn einzuschlagen, bekennt er gleich zu Beginn. Ebenso nennt er Gründe, die ihn zum Schreiben bewogen – eine Erinnerung als Widmung an meinen Enkel Philipp – und gibt beinahe entschuldigend Hinweise, wie seine Anthologie zu lesen sei: Wählen Sie aus und lassen Sie aus, was Sie nicht interessiert. Dankeschön! Zunächst schildert Musil in distanzierter Erzählform in der dritten Person politische und familiäre Hintergründe der Kriegsjahre 1939 bis 1945, die von Bedrohung und Not geprägt waren, sowie seine ersten Berührungspunkte mit dem Tanz, ehe er mit seinem Gottfried im Lohengrin zur persönlicheren Ich-Erzählform übergeht. Für alle auswählenden, blätternden Leser gliedert Musil seine Sammlung thematisch wie folgt: Das erste Kapitel endet mit Anekdoten des jungen Tänzers Musil in Wien. Es folgen zwei Interregna, eines gespickt mit Erzählungen über unterschiedliche Ballettmeister und Choreographen in Wien, das andere über Musils Erfahrungen an anderen Häusern. Wollte man den Inhalt der anderen Kapitel nüchtern zusammenfassen, so könnte man wohl sagen, es geht im Grunde um Geschichtchen und kurzweilige Exkurse über Dirigenten, Ballerinen, Ballettlehrer, Choreographen sowie um andere interessante und amüsante Schwänke aus Musils Leben. Besonders bewegend und zur Reflexion anregend sind die beiden letzten Kapitel, in denen der Autor unter den schlichten Überschriften Diverse Gedanken und Resumée abschließend gesellschaftliche und tanzpolitische Überlegungen anstellt. Den Abschluss der Sammlung bilden sodann seine Biographie und sein Repertoire an der Wiener Staatsoper – jeweils tabellarisch aufgeführt. Durch die umfangreiche Fotosammlung (67 Seiten) werden den Erinnerungen des ersten Solotänzers der Wiener Staatsoper neues Leben eingehaucht. Während der Lektüre erhält der Leser durch den warmherzigen und sehr persönlichen Duktus Karl Musils unentwegt das Gefühl, der Professor höchstselbst sitze gegenüber und zwinkere ihm nach der einen oder anderen Begebenheit gutmütig zu. Die in keiner Weise chronologische Zusammenstellung tut dabei dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Allein sich dadurch wiederholende Elemente provozieren das Erinnerungsvermögen des Lesers, bisweilen allerdings fehlt ihm sogar das Verständnis für einige Begebenheiten, erklären sich diese doch erst bei fortgeschrittener Lektüre. Insgesamt kann man jedoch festhalten: Karl Musils Erinnerungen sorgen für kurzweiliges Lesevergnügen. Jens Siebeneicher Karl Musil: »Kleiner Mann, wie hoch das Bein«. Der Erste Solotänzer der Wiener Staatsoper erinnert sich. Wien: Böhlau Verlag, 2010. 268 Seiten, ca. 80 schwarz-weiß Abbildungen. ISBN 978–3-205–78385-5. 35 Euro.
Ballett Intern 4/2011
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Postkartensammlung der Palucca Schule Anlässlich des 85. Geburtstages der Palucca Schule Dresden bringt der Verein der Freunde und Förderer der Palucca Schule Dresden e. V. einen Folder mit 30 Postkarten rund um die Schule heraus. Die Motive der 30 Postkarten, aus Tausenden von Fotos ausgewählt, führen durch die Geschichte und Entwicklung der inzwischen einzigen eigenständigen Hochschule für Tanz, auch wenn sie nur einen Bruchteil der Geschichte widerspiegeln können. Die frühesten Motive stammen aus dem Jahr 1930, die aktuellsten sind im Jahr 2011 aufgenommen, sie zeigen Gret Palucca selbst, Proben und Trainingsszenen sowie Bilder verschiedener Vorstellungen mit Schülern der Hochschule. Die Auswahl ist eine unverzichtbare Sammlung für Fans und Liebhaber von Palucca und ihre Schule und lädt zum Erinnern ein. Katharina Szöke Bestellen kann man die Postkartensammlung direkt beim Verein der Freunde und Förderer der Palucca Schule Dresden e. V. Basteiplatz 4 in 01277 Dresden oder unter
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Jo Ann Endicott: »Warten auf Pina« Die Tänzerin Jo Ann Endicott erzählt eigentlich nicht so gern. Bei Lesungen zu ihrem ersten Buch Ich bin eine anständige Frau! war aber gerade das erforderlich: Erzählen. Geschichten aus ihrem Leben, Tanztheater-Geschichten, Pina Bausch-Geschichten. Welch’ Glück, dass sie diese auch aufgeschrieben hat. Entstanden sind daraus die Aufzeichnungen einer Tänzerin: »Warten auf Pina«. Dabei geht es nicht nur darum, wie Pina Bausch arbeitet oder ihr zu huldigen. Vielmehr erlangt der Leser einen Einblick in den Alltag der Tänzerin Endicott – berühmt im Tanztheater Wuppertal – ungekannt in dem Ort Ballett Intern 4/2011
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nahe Karlsruhe, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Und dieser Alltag einer Tänzerin ist keineswegs auf Rosen gebettet. Es geht um den Widerstreit zwischen Beruf und Familie, um Arbeitslosigkeit und um den alternden Körper einer Tänzerin. Fragen also, die für alle Tanzenden früher oder später von Bedeutung sind. Neben diesem Einblick in das Leben einer Tänzerin, einem Blick hinter die Kulissen, der dem Zuschauer sonst verwehrt bleibt, ist das Buch allerdings von etwas ganz Besonderem geprägt. Von der Beziehung zwischen Pina Bausch und Jo Ann Endicott. Endicott, die bereits 1973 zum Tanztheater Wuppertal kam und auch heute noch in der Probenleitung mitarbeitet, weiß als Tänzerin der ersten Stunde viel von der Arbeit mit Pina Bausch zu berichten. Doch es ist ihre unbekümmerte und persönliche Art, Dinge auszusprechen, den Leser anzusprechen, die das Buch zu einem kurzweiligen Lesegenuss machen. Die Aufrichtigkeit, mit der sie Pina Bausch eben nicht glorifiziert und lobpreist, berührt den Leser und lässt ihn mitfühlen, welche Leidenschaft und Selbstaufgabe ein jedes Bausch-Stück auch von den Tänzerinnen und Tänzern erforderte. Weder Memoiren noch analytische Selbstreflexionen können diese Wirkung hervorrufen. Nur die in Worte gefassten Gefühle Endicotts lassen erahnen, welche Faszination und Attraktivität von Pina Bausch und ihrer Arbeit ausgingen, die ihre Tänzer immer wieder an den Rand der Selbstaufopferung brachten. Neben der metaphorischen Sprache der Autorin sorgen zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos für eine angemessene Anschaulichkeit der 126 Seiten umfassenden Lektüre. Am 17. Februar 2009 erschien im Henschel Verlag das zweite Buch Endicotts mit dem Titel »Warten auf Pina« – einige Monate vor dem Tod Pina Bauschs. Jens Siebeneicher Jo Ann Endicott: Warten auf Pina. Aufzeichnungen einer Tänzerin. Leipzig: Henschel, 2009. 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen. ISBN 978–3-89487–631-9. 16,90 Euro.
L`Arche (Hrsg.): »Kontakthof with Ladies and Gentlemen over ›65‹» Es mutet ein wenig seltsam an, dieses Kontakthof-Buch: ein französischer Verlag, ein englischer Titel, dazu geht es um ein Stück von Pina Bausch, mit DVD. Auch nach längerem Suchen bleibt der Autor unauffindbar. Worum geht es also auf den 136 Seiten Kontakthof, dem bekannten Stück von Pina Bausch? Nach einem eindrucksvollen, fast lyrisch anmutenden Vorwort Pina Bauschs über die Entstehung und das Verständnis der Choreographin des Kontakthof werden sämtliche Dialoge des Stücks aufgeführt. Im Anschluss daran berichtet Jo Ann Endicott, die als Probenleiterin sehr intensiv mit den älteren Kontakthöflern gearbeitet hat, wie sie die Entstehung und Entwicklung des Stückes erlebt hat, woraufhin Karlheinz Buchwald zu Wort kommt – einer der Tänzer des so erfolgreichen Wuppertaler Ensembles, das sich die Kunst des Tanzens und die Ehre der Zusammenarbeit mit Pina Bausch so hart erarbeitet hat. Abschließend finden sich noch einige interessante Dokumente, wie Notizen einer 35
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Tänzerin zum Stück, die eine gewisse Intimität zwischen Leser und Tanzensemble zulassen. Das Besondere dieser Texte ist der einmalige und ehrliche Einblick in diese außergewöhnliche Zusammenarbeit. Wenn eine professionelle, ehrbare Tänzerin mit Laien, deren angejahrte Körper zunächst die Bewegungen weder behalten, geschweige denn kontrollieren können, zusammenarbeitet, so ergeben sich interessante und reizvolle Situationen: während der Proben, vor der Premiere, während der Gastspielreise, nach Erfolgen, Ausfällen und Neubesetzungen. Die ehrliche und berührende Sicht Endicotts und Karlheinz Buchwalds hinter die Kulissen dieses weltweit erfolgreichen und einzigartigen Projekts ist informativ und unterhaltsam zugleich. Lediglich 30 Seiten dieses Buches sind in deutscher Sprache verfasst. Die Übersetzungen ins Englische, Französische und Italienische füllen die übrigen Seiten. Man könnte gar behaupten, es sei eine willkommene, weil erklärende und informative Zugabe zur DVD. Trotz der überraschenden Kürze unterhält auch die Textversion des Kontakthof, wobei besonders die Filmaufnahme auf der beiliegenden DVD den Kauf des Buches rechtfertigt. Jens Siebeneicher L’Arche (Hrsg.): Kontakthof mit Damen und Herren ab »65«. Paris: L´Arche Éditeur, 2007. 137 Seiten, DVD inklusive. ISBN 978– 2-85181–649-8. 39 Euro.
Dieter Blum: vladimir malakhov In diesem einzigartigen Kunstbildband im XXLFormat über Vladimir Malakhov stellt der Fotograf Dieter Blum (Spiegel, Time, Vanity Fair) seine Fähigkeiten ganz in den Dienst des begnadeten Tänzers und Choreographen. Der heute 43-jährige Malakhov ist die große Ausnahmeerscheinung im Ballett der vergangenen 25 Jahre. Bereits als Vierjähriger begann er seine Ausbildung. Mit zehn wechselte er an die Choreographische Akademie des Bolschoi-Theater und wurde 1986 jüngster Solist an renomierten klassischen Ballett Moskaus. Von da führte ihn sein Weg an die internationalen Bühnen und über New York, Wien und Stuttgart schließlich als künstlerischer Leiter und Erster Solist ans Staatsballet Berlin. Dieter Blums Fotografien sind exakte Studien, in denen er die Plastizität des meisterhaft geschulten menschlichen Körpers in seiner Kraft und Geschmeidigkeit vor Augen führt. Schon nach Vorlage erster Ergebnisse genoss er das volle Vertrauen Malakhovs und seines Ensembles: Ihm allein wurde es erlaubt, die Tänzer auch nackt abzulichten. Dieter Blum: Vladimir Malakov. Der Band ist als Art Edition in einer limitierten und nummerierten Weltauflage von 499 Exemplaren, signiert von Vladimir Malakhov und Dieter Blum sowie mit einem Spezial-Fotoprint, oder als Collector’s Edition (limitierte und nummerierte Auflage 1.500 Exemplare) erhältlich. 33 × 42 × 9 cm, Festeinband mit bedrucktem Leinen und Kassette auch Buchleinen mit einem Übersetzungsbuch (Deutsch, Französisch, Spanisch); H.F.ullmann Publishing, ISBN 978-3-83315-419-5, Collectro’s Edition € 400, Art Edition € 1.500. 36
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Kerstin Zillmer: »Hinter den Linden – Das Berliner Staatsballett« Der Titel dieses Fotobuches spricht Bände: Hinter den Linden – Das Berliner Staatsballett. Im Juni 2010 wurde mit den Sanierungsarbeiten der Berliner Staatsoper Unter den Linden begonnen – bis 2014 sollen diese noch andauern. Es ist von Grundinstandsetzung die Rede und von Grundsanierung. Eine Erneuerung, die auch Abschied ist, für das Berliner Staatsballett von seiner Intendanz und Spielstätte. Doch wie sah es eigentlich aus hinter der Fassade der Staatsoper? Hinter den Linden? Bevor das erste Foto des Bandes gezeigt wird – Vladimir Malakhov im Apollosaal, Sandalen an den Füßen tragend, mit verschränkten Armen und überkreuzten Beinen nachdenkend – stimmen einführende Worte Jutta Voigts den Leser auf die kommenden Impressionen ein. Dann also die Bilder von Kerstin Zillmer, Meisterschülerin von Arno Fischer, die in Berlin lebt und arbeitet. Das Sujet der Bilder ist von Abschied und Verlassenheit geprägt. Und von dem Paradoxon aus Glanz und Glamour auf der Bühne und Verschleiß und Schäbigkeit fernab von Applaus und Scheinwerfern – Vervollkommnung und Verkommenheit. Zugleich sind diese Bilder allerdings auch Zeugnis für die Arbeit und den Schweiß, die diese Kunst so sehr einfordert. Nahezu jedes Bild zeigt entweder eine der großen Persönlichkeiten des Staatsballets in der Umgebung der sich im Verfall befindlichen Staatsoper, oder aber ein Charakteristikum des Klassischen Tanzes, wie beispielsweise das Tutu oder aber auch die Spitzenschuhe. Eben diese Verbindung des Alltäglichen, nüchtern Wirklichen mit der Formvollendung des Klassischen Tanzes zeichnet diese Fotos aus und gibt ihnen diese wunderbare Tiefe. Weiterhin korrespondiert die Verborgenheit der Fotos, die durch die Fototechnik der latenten Bilder entsteht, mit der Verborgenheit des Tanzes. Ein rein affirmatives Verständnis vernachlässigte wohl seine Versuchung und seinen Reiz. Jutta Voigts literarisches Essay trifft die Stimmung der Fotos. Weniger kann man von einer Ergänzung denn von einer Untermalung der Fotos sprechen. So ergeben sich auch mit jedem Lesen, der Aufnahme dieser geschmückten Sprache Voigts, neue Blickwinkel und Erklärungen für die Fotos. Dass die poetischen Bilder Kerstin Zillmers einzigartige Momentaufnahmen vom Abschiednehmen des Staatsballetts von seiner Stattsoper sind, steht außer Frage. Aber auch das Arrangement in diesem Bildband überzeugt. Der Essay von Jutta Voigt und Zillmers Bilder gehen wunderbar zusammen und laden immer wieder dazu ein, das Buch aufzuschlagen, in den Bildern zu verweilen und sich von den reichen Informationen der Berliner Autorin inspirieren zu lassen. Jens Siebeneicher Kerstin Zillmer: »Hinter den Linden – Das Berliner Staatsballett«. Berlin: Edition Braus, 2010. 104 Seiten, 60 Abbildungen. ISBN 978-3-89466-298–0. 45 Euro.
Ballett Intern 4/2011
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Ria Schneider (Hg.): »Erinnerungen an José de Udaeta«
Bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2006 an Reid Anderson gratulierte José de Udaeta auf seine ganz besondere Art. (Foto: Ursula Kaufmann)
Niemand, der ihm einmal begegnete, wird ihn je wieder vergessen (können): José de Udaeta hatte jenes Charisma, das nicht erlernbar ist. Darin sind sich sämtliche Autoren einig, die in einer von Ria Schneider initiierten Publikation ihre Erinnerungen bündeln. Und so heißt das Buch denn auch: »Erinnerungen an José de Udaeta«, und es versteht sich als Gedenkbuch an den am 14. September 2010 verstorbenen Grande des spanischen Tanzes. Das mitunter sehr Persönliche hat – wie so oft – zwei Seiten: Einerseits kommt es charmant und liebevoll und mit viel Herzblut daher, andererseits eben nicht unbedingt professionell. Die Beiträge reichen von knappen zwei Zeilen über Erinnerungen wie Tagebucheinträge bis hin zu mehrseitigen Memoiren. Persönlichkeiten wie die Tänzerinnen Nina Corti und Konstanze Vernon sowie die Sängerin Montserrat Caballé und der Pantomime Samy Molcho schreiben darin neben (hierzulande) unbekannten Mitarbeitern José de Udaetas. Insgesamt 88 Wegbegleiter – unter ihnen auch Ulrich Roehm, Martin Puttke, Klaus Geitel und Horst Koegler – lassen nicht nur den Tänzer wieder lebendig werden, der als die männliche Hälfte des Duos »Susana y José« eine internationale Karriere machte, sondern auch den Pädagogen, der auf unzähligen Seminaren sein Wissen vital weitergab. Zahlreiche Schüler, Pädagogen und Tänzer pilgerten alljährlich nach Sitges zu den von José de Udaeta begründeten Sommerkursen, allein aus dieser Fan- und Schülerschar stammen bemerkenswerte Beiträge. Und nicht zuletzt wird José, der Kastagnetten-Virtuose gewürdigt, der in den letzten Jahrzehnten erfolgreich Konzerte gab – und natürlich auch auf diesem Gebiet unterrichtete. Ergänzt wird die Sammlung persönlicher Gedanken um einen biographischen Abriss, einen Pressespiegel, Auszügen aus einem Interview und weiteren kurzen Kapiteln. Das Spannendste in dieser Publikation sind indes die Fotos, die aus allen Lebensphasen des schillernden Künstlers stammen: José als junger Tänzer am Anfang seiner Karriere, José im Kostüm des Don Quixote, José beim Unterricht während der Internationalen Sommerakademie des Tanzes in Köln und natürlich als Partner von Susana – auch seine langjährige, im Januar 2010 verstorbene Tanzpartnerin, erinnert sich: »Bei ernsthaften Auseinandersetzungen, endlosen Lachern, den gemeinsamen Triumphen und den vielen weiten Reisen, immer haben wir uns gemocht. Und heute, 25 Jahre später, in denen wir jeder eine eigene Karriere absolviert haben, sehe ich, dass wir immer noch miteinander verbunden sind. Es sind Freundschaftsbande, die bis an unser Ende reichen. Stets voller Liebe. Susana.« Stellvertretend für alle, ob sie sich nun in diesem Buch äußern oder unveröffentlicht erinnern, scheint ein Satz zu stehen: »Es gibt immer Menschen, die in unserem Leben Spuren hinterlassen …« das
schreibt die Pianistin Marina Rodríguez, die 2004 José de Udaetas Abschiedskonzert begleitete. In diesem Buch kann man immer wieder auf Spurensuche gehen. Dagmar Ellen Fischer Ria Schneider (Hg.): Erinnerungen an José de Udaeta, Verlag Ulrich Steiner, Hardcover, 170 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-92495320-1, Bestellungen an Ria Schneider 02203–591362 oder per Mail:
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Fonds Darstellende Künste (Hg.): Report Mit seinem zweiten Buch legt der 1985 gegründete Fonds Darstellende Künste einen komplexen Report zur wirtschaftlichen, sozialen und arbeitsrechtlichen Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland – im Kontext zu internationalen Entwicklungen – vor. Dieser Report bezieht sich auf den Künstlerreport von Forbeck/ Wiesand (1975) und den Bericht der Enquêtekommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages (2007). Der Fonds, das Internationale Theaterinstitut (ITI) und der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien veranstalteten zu diesem Thema gemeinsam mit anderen Partnern im Mai 2009 ein internationales Symposium in der Berliner Akademie der Künste. Davor initiierte der Fonds umfangreiche Erhebungen sowie Studien und gewann dafür Wissenschaftler, die Verbände Freier Theater, spartenspezifische Fachverbände und das ITI. Die Ergebnisse des Symposiums und der nationalen wie internationalen Studien bilden die Grundlagen des Reports. Bundesweit beteiligten sich 4.400 Theater- und Tanzschaffende aller Sparten an der Fragebogenaktion und 175 qualitativen Interviews. Im Kontext zu den empirischen Ergebnissen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Theater- und Tanzschaffenden widerspiegeln, werden im Buch alle vorhandenen Kultur- und Kreativwirtschaftsberichte der Bundesländer und Kommunen sowie die Auswertung amtlicher Statistiken unter dem Aspekt berufsspezifischer Risiken auf den Arbeitsmärkten der Darstellenden Künste diskutiert. Die aktuelle umfassende Untersuchung unternehmerischer Kulturförderung in Deutschland durch den Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI komplettiert die Studien des Reports. Fonds Darstellende Künste / Günter Jeschonnek: Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, 723 Seiten, € 24,80, Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0473-6 37
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Helga Thalhofer: Anmut und Disziplin
Choreografischer Baukasten
Nein, mit der Erläuterung zu Joan Mirós »Porträt einer Tänzerin« aus dem Jahr 1928 bin ich nicht einverstanden – viel zu eng gedeutet, das kann eine Tanzende durchaus anders sehen. Und genau deshalb ist »Anmut und Disziplin« das vielleicht beste Buch über Tanz in der Bildenden Kunst: Es regt an. Und es geht – im Gegensatz zu den meisten anderen Sammlungen – nicht chronologisch vor, sondern bündelt die Abbildungen im großformatigen Band thematisch: Ein Kapitel bildet den Spanischen Tanz ab, ein anderes widmet sich Totentanzdarstellungen, ein weiteres stellt Tänzerporträts zusammen. Zu Künstlern, die sich mehr als andere mit Motiven aus der Tanzwelt befasst haben, wie beispielsweise Pablo Picasso oder Henri Matisse, gibt es kurze Informationen zur Person. Dennoch umfasst der Bild ein historisches Spektrum von frühen Terrakotta-Plastiken bis zu Fotografien heute existierender Compagnien und Plakaten, mit denen zum Beispiel die Merce Cunningham & Dance Company ihre Gastspiel publik machten. Doch das Besondere: Sparsam, aber gezielt erläutern Texte die jeweiligen Abschnitte. Beispiel: Das Gedicht »Bar« von Gottfried Benn leitet das Kapitel »Nachtcafé und Varietè« ein, es folgt eine kurze Einführung in die Zwanziger Jahre und schließlich Abbildungen, die Atmosphäre und Geist jener Zeit spiegeln – erneut bereichert um Zitate und Bildbeschreibungen – mit denen man keinesfalls einverstanden sein muss, die aber umso mehr zur Auseinandersetzung einladen – auf der textlichen, bildlichen und eben auch der körperlichen, tänzerischen Erfahrungs-Ebene. Dagmar Ellen Fischer Helga Thalhofer, Anmut und Disziplin – Tanz in der Bildenden Kunst, Wienand Verlag Köln, 286 Seiten mit 163 farbigen und 36 s/w Abb. ISBN 978-86832-011-4, 39,80 Euro
Die fünf Modulhefte zu den Praxisfeldern »Formgebung«, »Zusammenarbeit«, »Generierung«, Spielweisen« und »Komposition« vermitteln in einem offenen und variablen System das Handwerkszeug, um Themen zu entwickeln, Arbeitsweisen zu erproben und einen choreographischen Prozess zu gestalten. Der Umgang mit den Modulen ist in vielfältigen Formen und Kombinationen möglich und offen für unterschiedliche ästhetische Positionen sowie Bewegungs- und Tanztechniken. Beispiele und Praxiskarten bieten Anregungen zu einer praktischen Anwendung. Der beiliegende Textband zur »Zeitgenössischen Choreographie« beinhaltet neben einem Essay zur Choreographie die Gebrauchs- und Literaturhinweise sowie Interviews mit Jonathan Burrows, Anna Huber, Nik Haffner, Thomas Kampe, Hubert Machnik, Martin Nachbar und Jochen Roller. Gabriele Klein, Gitta Barthel, Esther Wagner: Choreografischer Baukasten, 564 S., Kasten mit Modulheften, Praxiskarten und einem Buch, zahlr. Abb., 44,80 €, Transcript-Verlag, ISBN 978-3-8376-1788-7
Konstantin Tsakalidis: ChoreographieHandwerk und Vision Konstantin Tsakalidis (geb. 1966), selbst langjähriger freischaffender Choreograph, hat ein Fachbuch für Tänzer, Choreographen, Regisseure, Performer, Quereinsteiger und Lehrer geschrieben, in dem vielfältige Betrachtungen, Methoden und Strategien zu dem Thema Choreographie aufgezeigt werden. Ein derartiges Fachbuch, in einer solchen Komplexität, ist im deutschsprachigen Raum einzigartig. Detailliert und systematisch zeigt er in elf Kapiteln verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu dem Thema, aus denen sich Tänze gestalten, entwickeln und analysieren lassen. Dies geschieht wertfrei und Tanztechniken übergreifend. Mona Brandenburg Konstantin Tskalidis: Choreographie – Handwerk und Vision. Stage Verlag, 383 Seiten, Festeinband, kostenlose Lieferung möglich, 29,80 Euro Exclusiv für BALLETT-INTERN-Leser: gegen eine Versand- und Verpackungspauschale von 9 € versendet der Stage Verlag, Schnecken burgstr.11, 78467 Konstanz, Fax: 07531/8029353,
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Nachruf auf Franz Baur-Pantoulier
Franz Baur-Pantoulier Ein Nachruf von Hans Herdlein Franz Baur-Pantoulier, Solotänzer und Choreograph, ist am 27. April 2011 gestorben. Geboren am 13. Februar 1931 in München, begann er sein Tanzstudium von 1935 bis 1941 in der KinderBallettschule der Bayerischen Staatsoper. Er wechselte 1941 in die Elevenklasse über, der er bis 1947 angehörte. In dieser Zeit leiteten Pia und Pino Mlakar das Ballett der Bayerischen Staatsoper. Schon bald wurden sie auf die außergewöhnliche Begabung des jungen Tanzeleven aufmerksam und förderten seine Entwicklung. Erste Auftritte in Solorollen folgten als Clown in »Feuerwerk«, als Mohr in »Scheherazade«. 1950 erhielt er einen Vertrag als 1. Solotänzer in zwei glanzvollen Spielzeiten unter der Ballettleitung von Victor Gsovsky. In ihrem Werk »Unsterblicher Theatertanz – 300 Jahre Ballettgeschichte der Oper in München von 1860 bis 1967« schreiben Pia und Pino Mlakar: »Der erste Ballettabend – Victor Gsovskys Debut in München –, war vorbildlich konzipiert. Im Mittelpunkt des Abends stand die Uraufführung von »Hamlet«. Alles daran war ein Wagnis: das berühmte Drama Shakespeares zu ‚vertanzen’, einen noch nicht arrivierten Tänzer zum Träger der Titelrolle zu machen und gleichzeitig eine moderne Musik (Boris Blacher) uraufzuführen und ihr choreographisch voll zu entsprechen«. Der Ballettkritiker Otto Friedrich Regner schrieb dazu: »Franz Baur-Pantoulier tanzt den Dänenprinzen mit solcher Kraft des Erlebens, dass man darüber die Vorbilder der Sprechbühne vergessen mag«. Unter der Ballettdirektion von Alan Carter setzte sich seine Erfolgsserie fort. Am 23. Dezember 1955 fand Carters Uraufführung »Mister Scrooge« (Der bekehrte Geizhals) statt. Ballettkritiker O. F. Regner hob in seiner Rezension hervor: »Franz Baur-Pantoulier gestaltete den alten Geizhals Scrooge mit schauspielerischer Besessenheit. Wie er der skurrilen Maske eines Typus die Individualität zu geben weiß, wie er das Komische und das Tragische der Gestalt gleichermaßen realisiert, wie er das Mimische und das Tänzerische beides in höchster Virtuosität zum zwingenden Ausdruck seines Wesens macht, ist das Signum des großen Tänzermimen«. Alan Carters Anliegen war auch die Förderung des Choreogra phennachwuchses. »Er sähe es gerne, wenn aus den Reihen des Münchener Ballettensembles bald junge Choreographen hervorgehen würden«. Interesse für solche Aufgaben zeigte Franz Baur-Pantoulier. Sein erstes eigenes Ballett konnte er für das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth choreographieren: »Dorfmusikanten« zeigte er in der Fränkischen Festwoche 1956. Bald folgten weitere Cho-
Nachruf auf Franz Baur-Pantoulier reographien: Im Mai 1958 ein allegorisches Festspiel »Der Triumph der Liebe«, eine Textdichtung der Markgräfin Wilhelmine. »Weitere Arbeiten für Bayreuth bewiesen seine choreographischen Fähigkeiten«, beschreiben die Mlakars seine weitere Karriere. Nach dem Weggang von Alan Carter stand Franz Baur-Pantoulier vor einer neuen Situation. Die Chance, sich hier weiterhin mit Ballettlibretti und Choreographie befassen zu können, ließ ihn zunächst an der Bayerischen Staatsoper bleiben. Er erhielt Aufträge, Operntänze zu choreographieren und einzustudieren. Eine weitere große Aufgabe war die große Tanzszene in der Münchener Erstaufführung von Modest Mussorgskys Oper »Die Fürstin Chowansky«. Choreographien an der Bayerischen Staatsoper, am Münchener Residenzthater und an den Münchener Kammerpielen wurden ihm übertragen. Nach weiteren Aufträgen dieser Art entschied er sich, das Staatsopernballett zu verlassen, um eine selbständigere Position anzustreben. Dies erreichte er mit der Übertragung der Ballettleitung des Staatstheaters am Gärtnerplatz, die er von 1963 bis 1971 inne hatte. Hinzu kamen Tourneen in Nah-, Mittel- und Fernost für das Goethe-Institut. In diese Zeit fielen auch Aufträge als Chefchoreograph und Regisseur bei den Internationalen Festspielen in Baalbeck (Libanon). Als Höhepunkt dieser außergewöhnlichen Karriere wurden ihm von 1971 bis 1972 die künstlerische Leitung der Olympischen Spiele in München und Montreal übertragen. Am 3. Dezember 1973 verlieh ihm, in Anerkennung seiner Verdienste, der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann das Bundesverdienstkreuz am Bande. Franz Baur-Pantoulier war nicht nur ein begnadeter Tänzer und Choreograph. Seine didaktische Begabung befähigte ihn auch, von 1971 bis 1990 seine jahrzehntelange Berufserfahrung als Lehrbeauftragter am Mozarteum Salzburg weiterzugeben. So hat er sich über die Bayerische Staatsoper in München hinaus in die Tanzgeschichte eingeschrieben. ■
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»Ballet Helps Japan«
Palucca Mittelschule hat die Besten
Eine Charity-Gala in Berlin
Zum dritten Mal in Folge gehören Palucca Mittelschüler in diesem Jahr zu den besten Sachsens. Mit Maria Wolf (Foto) verlässt wiederum eine Schülerin mit der Note »Ausgezeichnet« die 10. Klasse, hat also nur Einsen auf ihrem Zeugnis. Maria Wolf gehört damit zu den 43 von insgesamt 12.500 sächsischen Mittelschülern, die im Sächsischen Landtag von Kultusminister Roland Wöller besonders geehrt wurden. Bernd Hähnel, Rektor der Palucca-Mittelschule: »Die Anforderungen an unsere Schülerinnen und Schüler sind enorm hoch, denn sie werden explizit nach dem Sächsischen Lehrplan ausgebildet, in den die Tanzausbildung zusätzlich integriert wird. Die wiederholt guten Ergebnisse machen deutlich, dass die individuelle Förderung jedes Einzelnen an unserer Schule ein erfolgreiches Modell ist.« »Das zeigt einmal mehr, dass die Palucca Hochschule für Tanz eine Ausbildungsstätte ist, in der die Studierenden die Chance haben, ihr gesamtes Potenzial auszuschöpfen«, ergänzt Prof. Jason Beechey, der Rektor der Hochschule. Bereits in den vergangenen beiden Jahren wurden vier Mittelschulabgängerinnen der Palucca Hochschule für Tanz in diesem Rahmen ausgezeichnet (2010: Shirley Cordula Meissner und LenaMaria Fistarol, 2009: Luisa Werner und Larissa Potapov). Die Palucca Hochschule für Tanz bietet für Studierende, die eine professionelle Tanzkarriere anstreben, eine neunjährige Ausbildung an, die eine sechsjährige Mittelschulausbildung mit integrierter Tanz ausbildung sowie ein intensives dreijähriges Bachelorprogramm beinhalten. ■
von Volkmar Draeger Dass die Woge der Hilfsbereitschaft auch den Tanz erfasst hat, ist nicht nur ein gutes, sondern auch ein notwendiges Zeichen. Denn kaum eine Nation hängt dem Ballett mit größerer Inbrunst an als Japan. Mehr als billig also, dass die dort so sehr gefeierten Stars aus Europa nun ihre Solidarität mit den Erdbebenopfern – vielleicht ihren potenziellen Bewunderern – bekunden. Initiiert und organisiert hat die mehrstündige Gala »Ballet Helps Japan« Oleksi Bessmertni, der umtriebige Direktor des alljährlichen Kinder- und Jugendfestivals TANZOLYMP, der dafür im Admiralspalast die geeignete Spielstätte fand. In Vladimir Malakhov, Intendant des Staatsballetts Berlin, wiederum fand er den würdigen künstlerischen Leiter schlechthin: ist Malakhov doch im Land Nippon so etwas wie ein Ballett-Heiliger. Nur verständlich, dass er viele Solisten seines Ensembles für die solidarische Teilnahme an der Gala gewinnen konnte. So zeigten Beatrice Knop und Leonard Jakovina ein Duett aus »Caravaggio«, Nadja Saidakova und der Ex-Forsythe-Tänzer Noah Gelber »Herman Schmerman«, Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin »Fanfaren LX«. Miteinander praktizierten Ibrahim Önal aus Berlin und, vom Tokyo Ballet, Ueno Mizuka in Alberto Alonsos »Carmen«. Seinen modernen »Sterbenden Schwan« tanzte Malakhov. Dann das Defilee illustrer Gäste. Aus Wien kamen Ludmila Konovalova und Alexander Shishov mit Petipas »La Gioconda«, aus Kiew Kateryna Kukhar und Oleksandr Stoianov mit »Diana und Aktäon«, vom Stanislavskyund Nemirovich-Danchenko-Musiktheater Moskau Kristina Kretova und Semen Chudin mit einer Choreographie von Jorma Elo, von Het Nationale Ballet Amsterdam Michele Marie Jimenez und Jozef Varga, vom Bolschoi Moskau Dmitry Gudanov. Deutschland vertraten Yumiko Takeshima und Raphael Coumes-Marquet aus Dresden mit einer Choreographie von David Dawson, Anna Polikarpova und Ivan Urban aus Hamburg mit John Neumeiers »Adagietto«, Lucia Lacarra und Marlon Dino aus München mit Roland Petits »Thais«. Was die hehre Kunst frisch durchwehte, waren Kindergruppen aus Moskau, Ekaterinburg und die Brüder Kopilevich aus Barnaul, auch sie mit brillanter Folklore. Dem Helfenwollen schlossen sich ebenso Studenten an: Norma Lidia Magalhaes aus Mannheim, Gustavo Echevarria und TANZOLYMP-Grand-Prix-Gewinner Constantine Allen, beide Stuttgart. Ehe Ikue Shiga und Huang Kai vom Tokyo City Ballet mit dem Grand Pas de deux aus »Der Nussknacker« Finalglanz verbreiteten, ließ Dinu Tamazlacaru aus Berlin in »Les Bourgeois« tänzerisch die Korken knallen. Beides, Glanz und Lebensfreude, wünscht man den betroffenen Japanern von Herzen. Der ans dortige Rote Kreuz überwiesene Gala-Erlös in Höhe von 7.000 Euro ist dazu ein kleiner Beitrag. ■
Das »Dance Institute Hamburg« Nur wenige Tanzpädagogen verlieren in der Flut neuer Begriffe und stilistischer Richtungen im internationalen Feld des Tanzes nicht die Übersicht: Was verbirgt sich eigentlich hinter »Tutting«? Wie tanzt man »Bhangra HipHop«? Und je von »Burlesque Jazz« gehört? Um exotische Varianten, angesagte tänzerische Experimente oder auch inzwischen – wenn auch nicht unbedingt in Deutschland – etablierte stilistische Fusionen kümmert sich das »Dance Institute Hamburg«, seit 18 Jahren bekannt unter »Gina Workshops«. Regelmäßige Winter- und Sommertanztage mit international renommierten Dozenten sowie Fortbildungen inklusive Zertifikat beinhaltet das Angebot des Instituts. Infos unter www.ginaworkshops.de ■
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Deutscher Tanzpreis 2012 4. Februar 2012 – Aalto Theater Essen
37. Mitgliederversammlung des DBfT e.V. 4./5. Februar 2012 Termine vormerken! 40
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Twyla Tharp wird 70 70 Jahre alt wurde die amerikanische Tänzerin Twyla Tharp am 1. Juli 2011. In Portland geboren und in Kalifornien aufgewachsen, ging sie nach der Schule zum Studium nach New York. Dort nahm sie Unterricht bei Martha Graham, Erick Hawkins und beim American Ballet Theater. Zwei Jahre gehörte sie zur Company von Paul Taylor, 1965 gründete sie ihre eigene Truppe. In Zusammenarbeit mit dem Regisseur Milos Forman entstand 1979 »Hair«, mit der Choreografie im Film gelang ihr der internationale Durchbruch. Es folgten weitere erfolgreiche Filmprojekte mit Forman wie »Ragtime«, »Amadeus« und »White Nights«, darin übernahm Michail Baryshnikov eine zentrale Rolle, zusammen mit Gregory Hines und Isabella Rosselini. In den 1980er Jahren choreographierte Tharp auch am Broadway, die traditionelle Grenze zwischen E- und UTanz, zwischen Ballett und Musical hob sie in vielen ihrer Werke bewusst auf. David Byrne und Philip Glass komponierten für sie, 1992 erschien ihre Autobiografie »Push comes to shove«. ■
Lucia Lacarra zur »Tänzerin des Jahrzehnts« gekürt Lucia Lacarra wurde 2011 der Titel »Tänzerin des Jahrzehnts« verliehen. Die Erste Solistin im Bayerischen Staatsballett schaffte in diesem Jahr die Rückkehr auf die Bühne, nachdem eine schwere Knie-Verletzung ihre Karriere beeinträchtigt hatte. 1978 in San Sebastian geboren, erhielt sie ihre Ausbildung an der Schule von Victor Ullate in Madrid. In dieser neoklassischen Compagnie, dem Ballett Victor Ullate, erhielt sie auch ihr erstes Engagement. Ab 1994 war sie beim Ballet National de Marseille unter Roland Petit engagiert, 1997 wechselte sie als Erste Solistin zum San Francisco Ballet, sie übernahm klassische Hauptrollen wie Giselle, Odette/Odile und Aurora. Beim Bayerischen Staatsballett tanzte sie, noch vor ihrem offiziellen Antritt als Erste Solistin zu Beginn der Spielzeit 2002/03, im Juni 2002 in Jerome Robbins’ »In the Night«. Ihr Partner war ihr Lebensgefährte Cyril Pierre, der mit ihr als Erster Solist zum Bayerischen Staatsballett kam. Im Dezember 2002 erhielt Lucia Lacarra in Monte Carlo den Nijinsky Award 2002 in der Kategorie »Beste Tänzerin«, im Frühjahr 2003 wurde sie in Moskau mit dem Prix Benois ausgezeichnet. Sowohl 2004 als auch 2005 wurde sie für den Münchener Merkur-
BALLETT
INTERN
Herausgeber: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V. – Heft 98/34. Jg. – Nr. 4/September 2011 – ISSN 1864–1172
BALLETT INTERN ISSN 1864–1172 ist die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik e. V. (DBfT) und erscheint fünf Mal im Kalenderjahr (Februar, April, Juni, August und Dezember). Die Zeitschrift geht den Mitgliedern des Verbandes kostenlos zu. Nichtmitglieder können BALLETT INTERN abonnieren: Deutschland € 40,00, europäisches Ausland € 60,00 (jeweils inkl. Porto/Versand und MWSt.) pro Jahresabonnement.
Redaktion dieser Ausgabe: Ulrich Roehm (verantwortl.), Dagmar Ellen Fischer (
[email protected]), Frank Münschke dwb Autoren dieser Ausgabe: Sibylle Dornseiff (Mannheim), Volkmar Draeger (Berlin), Dagmar Ellen Fischer (Hamburg), Claudia Gass (Stuttgart), Hans Herdlein (München), Bernd Neumann (Berlin), Günther Rebel (Münster), Jenny J. Veldhuis (Amsterdam), Dorion Weickmann (Berlin), Ira Werbowsky (Wien) »Karneval der Tiere«, Choreographie: Demis Volpi , aus der Matinee der John Cranko Schule im Stuttgarter Opernhaus (Foto: Verena Fischer)
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redak tion oder des Herausgebers wieder. Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist ohne ausdrückliche Genehmigung der Redaktion nicht gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und für Terminangaben wird keine Gewähr übernommen. Die Redaktion behält sich das Recht vor, Leserbriefe zu kürzen. Manuskripte gehen in das Eigentum er Redaktion über.
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Theaterpreis nominiert. Geehrt wurde sie auch mit dem spanischen Premio Nacional de Danza 2005; der mit 30.000 Euro dotierte Preis gilt als eine der höchsten Auszeichnungen, die der spanische Staat vergibt. Im Frühjahr 2007 wurde Lacarra zur kulturellen Botschafterin und Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt San Sebastián ernannt. 2008 verlieh ihr Kunstminister Dr. Goppel den Titel »Bayerische Kammertänzerin«. Nach der Trennung von ihrem Partner und Kollegen Cyril Pierre heiratete Lucia Lacarra Marlon Dino, ebenfalls Erster Solist beim Bayerischen Staatsballett. ■
CID-Sektion Deutschland feiert in Münster Die seit 1973 bestehende Einrichtung des »Conseil International de la Danse«, der Welttanzrat der UNESCO mit Sitz in Paris, ruft seit 1982 alljährlich zum Begehen des Welttanztages auf: Der 29. April ist der Geburtstag des Tänzers, Choreographen und Ballettreformers Jean-Georges Noverre. Begangen wird der Welttanztag von 31 Sektionen, rund 700 Institutionen und über 4.000 Einzelmitgliedern in 168 Staaten. In diesem Jahr feierte erstmals die deutsche Sektion mit: In Münster – Sitz der frisch gegründeten Organisation – lockten Günther Rebel, Ingeborg Kölling und Heidi Sievert Tanzinteressierte mit einem umfangreichen Angebot. ■
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Umschlagabb.: »Karneval der Tiere«, Choreographie: Demis Volpi (Foto: Verena Fischer)
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Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V., (DBfT) Hollestraße 1, D–45127 Essen – E-Mail:
[email protected] Tel.: +49(0)201 228883 Fax: +49(0)201 61616181 Internet: www.dbft.de – www.ballett-intern.de
Bankverbindung: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V., Sparkasse Essen (Bankleitzahl: 360 501 05) – Konto-Nr.: 26802927 IBAN DE 20 3605 0105 0000 2680 29 Ulrich Roehm, Frank Münschke dwb Gestaltung: Realisation und Gesamtausstattung: Klartext Medienwerkstatt GmbH 45327 Essen, Bullmannaue 11 – www.k-mw.de –
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Impressionen von der Gala der John Cranko Schule Stuttgart
(Foto: Verena Fischer)
Tanz und Psychologie
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Tanzen ist Denken von Manuela Lenzen Bielefelder Forscher haben Tanz und Biomechanik zusammengebracht und daraus ein neues Forschungsfeld gemacht. Ihre Erkenntnis: Eine Bewegung, die man sich nicht präzise vorstellen kann, kann man auch nicht präzise ausführen. Durch Denken lernt man Tanzen – und vielleicht auch durch Tanzen Denken. Die beiden jungen Tänzer bewegen sich ein wenig unsicher. Erst nach ein paar vorsichtigen Schritten ist klar: Die kugeligen Reflektoren, die Bettina Bläsing vom Arbeitsbereich Neurokognition und Bewegung der Universität Bielefeld ihnen an Bauch und Rücken, Armen, Beinen, Händen, Füßen und auf dem Kopf befestigt hat, stören nicht weiter. Souverän zeigen sie Sprünge und Schritte des klassischen Balletts, später werden sie sie noch mit einer an einem Fahrradhelm befestigten Kamera zur Beobachtung der Augenbewegungen plus aufgeschnalltem Datenrucksack wiederholen. Im Biomechaniklabor im wenig gemütlichen Keller der Bielefelder Universität wirken die eleganten Bewegungen merkwürdig exotisch. Auch das Publikum ist ungewöhnlich: Sportwissenschaftler, Biomechanikexperten und Kognitionsforscher stehen um die kleine, von zwölf Infrarotkameras umgebene und mit Kraftmessplatten ausgestattete Tanzfläche. Ein Tanzpädagoge ist ebenfalls dabei: Martin Puttke, ehemaliger Direktor des »Aalto Ballett Theater Essen«, der die Tänzer mitgebracht hat. Zusammengeführt hat sie ihr Interesse an menschlicher Bewegung: Wie entsteht Bewegung,wie funktioniert sie, und wie wird sie gelernt und wahrgenommen? Die Antwort der Forscher könnte die klassische Ballettpraxis auf den Kopf stellen: Tanzen lernen heißt denken lernen, fasst Puttke ihre Einsichten zusammen. Die ungewöhnliche Kooperation begann, als die Biologin und Sportwissenschaftlerin Bettina Bläsing Anfang 2007 professionelle Tänzer für eine Untersuchung zum Bewegungsgedächtnis suchte. Bläsing, die selbst klassischen Tanz trainiert hat, hatte für ihre Doktorarbeit über Bewegungskontrolle bei Insekten geforscht und sich nebenbei immer wieder gewundert, dass es so gut wie keine Ansätze gibt, die wissenschaftliche Analyse auch auf den Tanz anzuwenden. »Wenn ich etwa bei meinen Kollegen mal das Thema Tanz angesprochen habe, wurde das belächelt. Dann kamen immer die Klischees: Tänzer denken nicht, das sind Hupfdohlen. Und wenn ich im Bereich Tanz unterwegs war, gab es wenig Wissen über Wissenschaft – und wenn, dann immer zur Kulturwissenschaft, zur Geschichte des Tanzes.« Und das, obwohl Tänzer und Tanzpädagogen sich von Berufs wegen mit genau den Problemen befassen, die in der Kognitionswissenschaft derzeit ganz oben auf der Agenda stehen: Bewegungslernen, Bewegungskontrolle, die Bedeutung von Kommunikation über Bewegung. »Es gibt eigentlich keinen Bereich, der das besser abbildet«, so Bläsing: »Tänzer lernen ihr ganzes Leben lang immer wieder neue Bewegungen, sie haben ein riesiges Repertoire an Bewegungen im Kopf, das sie bei Bedarf abrufen und so automatisiert ausführen können, dass sie damit auch gestalten, mit dem Partner, der Musik interagieren, improvisieren können. Das macht Tänzer für die Kognitionsforschung noch viel interessanter als Leistungssportler.« Auf ihrer Suche nach Versuchspersonen geriet Bläsing an den renommierten Tanzpädagogen Martin Puttke. Er arbeitete daran, die Ausbildung klassischer Tänzer zu erneuern, und erhoffte sich Unterstützung aus der Wissenschaft. Die Chemie stimmte: In nur drei Jahren ist es beiden gelungen, eine internationale und interdisziplinäre wissenschaftliche Community zusammenzubringen und maßgeblich zur Gründung eines schwungvollen neuen Forschungsfelds beizutragen, das sie neurocognition of dance nennen. Ballett Intern 4/2011
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Die klassische Ballettausbildung besteht vor allem aus einem: üben, üben, üben, zuschauen, nachmachen, immer wieder. Rund 450 einzelne Bewegungselemente müssen Ballettschüler lernen, aus denen Choreografen dann Szenen zusammensetzen. Nicht,dass sie mit diesem klassischen Drill keine Spitzenleistungen erbringen könnten, die Geschichte des Balletts beweist das Gegenteil. Doch was, wenn ein begabter und motivierter Tänzer es trotz des intensiven Übens nicht schafft, eine Pirouette zu drehen? Dann ist die klassische Nachahmungsmethode nicht nur am Ende, sie macht alles nur noch schlimmer,denn jeder neue Versuch verfestigt nur die falsche Bewegungsfolge. Martin Puttke probierte bei seinem Schüler eine andere Strategie: Er forderte den Tänzer auf, sich auf den Boden zu legen, die Augen zu schließen und sich die Bewegung, die nicht gelingen wollte, im Detail vorzustellen und zu beschreiben. Dies gelang, bis er an die kritische Stelle, den »Abdruck« kam. Hier geriet der Tänzer ins Stottern: »Ich sehe nichts, ich habe einen Blackout!« Puttke erklärte dem Tänzer die Bewegung erneut und übte mit ihm, der immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag, die Bewegung im Kopf durchzuspielen und zu verbalisieren. Erst als dies gelang, durfte er sich aufsetzen, die Simulation im Sitzen wiederholen, dann noch einmal im Stehen. Als er schließlich zur echten Bewegung ansetzte, gelang ihm die erste technisch saubere Pirouette seines Lebens. Durch Denken statt durch klassischen Drill. Im Leistungssport ist dieses mentale Training schon lange üblich. Thomas Schack, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Bielefeld, hat ein System zur Bewegungsanalyse entwickelt, bei dem die Vorstellung von der Bewegung die zentrale Rolle spielt. Schack filmt die Bewegungen von Sportlern und teilt sie in ihre wichtigsten Bestandteile, die Knotenpunkte ein. Mithilfe einer Clusteranalyse genannten Methode kann er bestimmen, wie diese Knotenpunkte im Gedächtnis des Sportlers sortiert sind. Anhand dieser Analyse kann er sehen, wie gut ein Sportler eine Bewegung verstanden hat. Typischerweise sind die Bewegungen im Gedächtnis von Experten klarer strukturiert als bei Anfängern oder naiven Zuschauern. Der Aufschlag beim Tennis etwa gliedert sich bei Profis klar in Vorbereitungs-, Schlag- und Nachschwungphase, bei Anfängern ist kaum eine Struktur zu erkennen. Die so analysierte Gedächtnisstruktur lässt besser auf die Qualität einer Bewegung schließen als die Anzahl der Trainingsstunden, die jemand auf seine Sportart verwandt hat, so Schack. Und sie zeigt auf, wo jemand Probleme hat: Verlegt ein Sportler etwa ein Element aus der Vorbereitungsphase in die Ausführungsphase, kann der Trainer sich genau dieses verkehrt einsortierte Bewegungselement vornehmen und mit dem Sportler die richtige Reihenfolge durchsprechen. Dabei ist er oft erfolgreicher als ein Trainer, der nach dem bloßen Augenschein urteilt. Bettina Bläsing hat diese Methode in ihrer Gedächtnisstudie erfolgreich auf Tänzer übertragen: Sie untersuchte,wie Profitänzer, Amateure und Nichttänzer die Pirouette en dehors und den Pas assemblé im Kopf strukturieren. Sie entdeckte zum Beispiel, dass Amateure erst kurz vor dem Abdruck zur Pirouette die Aufmerksamkeit auf die Stabilisierung der Körperachse richten, wogegen Profis diese ständig im Blick haben – und daher müheloser und virtuoser drehen. Beim Pas assemblé neigen Amateure dazu, das Herausschleifen des Beins für eine zusätzliche Bewegung zu halten statt für das Schwungholen zum Absprung. Entsprechend mickrig fällt dann der Sprung aus. Wieder sitzt das Problem im Kopf: Solange den Tänzern die Funktion der Bewegung nicht klar ist,wird sie sich nicht verbessern. Und solange sie ihnen nicht erklärt wird, bleibt es dem Zufall überlassen, ob sie sie durch pures Nachahmen selbst herausfinden. Ein Risiko, das Leistungssportler schon lange nicht mehr eingehen müssen. Ist Tanzen also ein Leistungssport? Natürlich nicht nur, sagt Bläsing, die Tänzer selbst würden dies weit von sich weisen. Die körper43
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Tanz für die Forschung: Ge vorg Asoyan vom Staatsballett und Bewegungsforscherin Bettina Bläsing von der Universität Bielefeld
liche Perfektion ist erst die Basis, auf die der künstlerische Ausdruck aufbaut. Aber Tänzer haben mit Leistungssportlern viel gemeinsam, die körperliche Anstrengung, Bewegungsprobleme, auch den körperlichen Verschleiß. »Tänzer neigen dazu, diesen Aspekt kleinzureden«, so Bläsings Erfahrung. Dabei sieht sie gerade dort viel Verbesserungspotenzial durch die biomechanische Bewegungsanalyse: »Das klassische Training wird vielen Körpern nicht gerecht«, berichtet die Forscherin von ihren Gesprächen mit Tanzpädagogen. »Auch von den überlieferten Anweisungen und verbalen Korrekturen sind viele weder für die Bewegungsausführung noch für den Körper besonders förderlich.« Dazu zählt etwa, dass der Tänzer bei Sprüngen zuerst die Knie und dann die Füße strecken soll. »Wie soll man denn so springen?«, fragt Bläsing. »Schüler, die versuchen, das umzusetzen, springen auf eine bestimmte Weise, aber sie springen nicht gut, und es ist wahnsinnig ungesund für die Knie.« Zudem, betont Martin Puttke, sind die Schüler von den vielen Anweisungen so überladen, achten auf Finger, Ellenbogen, Handgelenke, dass sie den Kern einer Bewegung gar nicht mehr ausführen können. Schließlich geht es nicht darum, Füße und Knie zu strecken, sondern um das Springen. Der klassischen Ausbildung zufolge ist der Unterricht umso besser, je besser der Lehrer vortanzt. Doch das stimmt nicht, meint Puttke. Zum einen werden dabei die Unterschiede zwischen den Körpern vernachlässigt. Dass sich ein zehn- oder zwölfjähriger Ballettschüler anders bewegt als sein Lehrer, ist ganz natürlich. Zum anderen fehlt das Verstehen. Die Tänzer müssen die Bedeutung ihrer Bewegungen in der Bewegungslehre des klassischen Balletts, aber ebenso ihre biomechanische Struktur kennen. Viele Tänzer hassen es, aber sie müssen auch lernen, die Struktur ihrer Bewegung zu verbalisieren. Sie müssen wissen, warum sie bestimmte Bewegungen ausführen, sonst haben sie keinen Sinn. Stückchenweise die einzelnen Komponenten zu üben, als könnten sie wie ein Kinderpuzzle zusammengesetzt werden, hält Puttke für fatal: Auch im Tanz ist das Ganze mehr als die Summe der Teile, und diese Zerstückelung bringt den Tanz um seine Seele. Neurokognition und Biomechanik sollen nun helfen, eine Methode zu finden, die den Körpern der Tänzer ebenso gerecht wird wie den künstlerischen Erfordernissen. Dazu hat Puttke mithilfe biomechanischer Analysen aus den zahlreichen Bewegungen des klassischen Balletts sieben Elemente, er nennt sie »Morpheme«, herausgefiltert, die die Basis für alle anderen Bewegungen darstellen und die es dem Tänzer erleichtern sollen, die Bewegungen zu verstehen. Zudem erhofft sich der Tanzpädagoge von der Kooperation mit Neurowissenschaften, Psychologie und Biomechanik eine Überwindung des ewigen Gegensatzes von klassischem und modernem Tanz, denn seine sieben Elemente sind so basal, dass sie in beiden Tanzformen Anwendung finden. 44
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Wenn das Nachdenken die Bewegung verbessert, verbessert Bewegung auch das Nachdenken? Die israelisch-amerikanische Tänzerin und Pädagogin Galeet BenZion hat den Beweis angetreten: Sie benutzt den Tanz, um Lernschwierigkeiten wie Dyslexie und Dysgrafie zu therapieren. Betroffene Kinder lernen nur mit Mühe lesen und schreiben, verwechseln Buchstaben und Zahlen und können sich die Reihenfolge der Buchstaben in einem Wort nicht merken. Häufig führt diese Störung selbst bei Kindern mit hohem IQ zu vorzeitigem Schulabbruch. BenZion entwickelt für jedes einzelne Wort ein Muster auf dem Boden, eine Art kinematische Eselsbrücke. Die Kinder tanzen dann, eingebettet in eine Geschichte, die Reihenfolge der Buchstaben in einem Wort – mit deutlich messbarem Erfolg. Werden Schriftbilder mit Bewegungen im Raum verbunden, können viele Kinder sie sich leichter merken. Das gilt auch für die Geometrie. Lässt man die Kinder die Figuren tanzen, verstehen sie die Zusammenhänge leichter, als wenn sie nur mit dem Geodreieck auf Papier hantieren. »Begriffe sind eben für Kinder leichter zu verstehen, wenn sie das tun dürfen, was sie sowieso gerne tun, nämlich herumspringen und sich bewegen«, kommentiert Bettina Bläsing. Der Tanz ist für BenZion ein Werkzeug, um die Gehirnstrukturen zu überlisten, die den Kindern Probleme machen. Was dabei genau im Gehirn passiert, ist allerdings noch nicht geklärt, die Wissenschaft ist noch weit entfernt davon, den Praktikern konkrete Rezepte an die Hand geben zu können. Die kognitive Tanzforschung steht erst ganz am Anfang, gerade sind die Berührungsängste überwunden. »Es gibt jetzt sehr viele neue Ansätze, etwa in der Tanzmedizin und in der Ästhetik«, berichtet Bläsing. Im englischen Projekt Watching Dance etwa untersuchen Forscher mit den Methoden der Neurowissenschaften, wie Zuschauer den Tanz wahrnehmen, wie weit sie ihn in ihrem eigenen motorischen System spiegeln. Kinästhetische Empathie nennen die Forscher das. Die Londoner Neuropsychologin Beatriz Calvo-Merino wählte für ihre Studien Experten in klassischem Ballett und dem brasilianischen Kampftanz Capoeira aus. Sie zeichnete die Gehirnaktivität der Probanden mit Magnetresonanztomografie auf, während diese kurze Filmsequenzen beider Tanzstile betrachteten. Sahen die Versuchspersonen den Tanzstil, den sie selbst praktizierten, zeigte sich in ihrem Gehirn eine erhöhte Aktivität der Regionen, die für Bewegungen zuständig sind, wogegen bei der Betrachtung der anderen Stilrichtung vor allem die visuellen Zentren aktiv waren.Die Geübten tanzten also in Gedanken mit. Im Bielefelder Biomechaniklabor werden derweil die Bewegungen der Tänzer von allen Seiten beobachtet, aufgezeichnet und berechnet. So können für das bloße Auge schwer erkennbare Momente wie die Verlagerung des Gewichts vom einen Bein aufs andere oder die genaue Neigung der Körperachse festgehalten, analysiert und korrigiert werden. Bläsing liebt besonders die Pirouetten:« Die sind für Tänzer schwierig auszuführen, und zugleich sind sie gut zu beschreiben. Da ist so viel Koordination nötig, das ist ein dankbares Thema für unsere Analysen.« Analysen, die nicht für den Elfenbeinturm gedacht sind: »Unsere Hauptadressaten sind die Tanzpädagogen, die Tänzer selbst kommen selten und stellen Fragen, sie sind ja auch sehr jung und haben einfach zu viel zu tun.« Außer denen, die im Biomechaniklabor für die Wissenschaft tanzen: »Ich habe noch nie so detailliert über meine Bewegungen nachgedacht«, bestätigt eine Tänzerin nach ihrem Auftritt. »Ich bin gespannt, ob sich das beim nächsten Training auswirkt.« ■ Literaturhinweis: Bettina Bläsing, Martin Puttke, Thomas Schack (Hg.): The neurocognition of dance. Mind, movement, and motor skills. Psychology Press, New York 2010 Entnommen aus: »Psychologie Heute«, Dezember 2010. Die Redaktion bedankt sich für die Abdruckgenehmigung.
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Tanzstadt Münster 1. Welttanztag der ersten deutschen Sektion von CID UNESCO von Günther Rebel Die seit 1973 bestehende Einrichtung »Conseil International de la Danse«, der Welttanzrat) der UNESCO mit Sitz in Paris, deren erster Präsident Kurt Jooss war und die seit sieben Jahren von Prof. Alkis Raftis (Athen) geleitet wird, veranstaltet seit 1982 jährlich am 29. April den Welttanztag. Er erinnert an den Geburtstag des Choreographen und Ballettreformers Jean-George Noverre (1727– 1810). Unter dem Dach der UNESCO wird dieser Tag gegenwärtig von 31 Sektionen, ca. 700 Institutionen und über 4000 Einzelmitgliedern in 168 Ländern gefeiert. Auf Initiative des Tanzpädagogen und Choreographen Günther Rebel (was dann???) (Präsident of Muenster Section CID-UNESCO), Ingeborg Kölling und Heidi Sievert (Vize-Präsidentin) ist nun auch Deutschland nicht nur mit Einzelmitgliedern, sondern auch als Gremium in dieser Organisation vertreten. Die Münsteraner konnten an diesem Apriltag von 10 bis 23 Uhr ein vielfältiges Programm genießen, und aufs Neue die in Deutschland sicher einmalige Zusammenarbeit unterschiedlichster Institutionen bewundern. Nicht nur, dass seit 20 Jahren ca. 12 bis 15 miteinander konkurrierende Ballettschulen und Tanzensembles jährlich ein gemeinsames Tanzfestival feiern, sondern seit dem Gründungstag der Münster Sektion CID-UNESCO ziehen auch Hochschulen und Bühnen an diesem gemeinsamen Strang. Ein Blick in den Tagesplan, der auch von der Presse ganzseitig und kostenlos unterstützt wurde, zeigte die Vielfalt der tanzkünstlerischen Möglichkeiten dieser Stadt. Alle Veranstaltungen konnten kostenlos besucht werden und waren nur möglich, weil alle Beteiligten den Welttanztag ehrenamtlich gestalteten. Der Tag begann mit Günther Rebels Training für Sänger und Musiker in der Musikhochschule; Daniel Goldin präsentierte in den Städt. Bühnen mit zwölf Tänzern seines Tanztheaters Ausschnitte seines neuesten Stückes »Isola« und der Dramaturg des Tanztheaters, Ardan Hussain, erläuterte in einem Nachgespräch eindrucksvoll die vielschichtige Entstehungsgeschichte dieser Choreographie. Den ganzen Nachmittag über gab es dann im Theater im Pumpenhaus, eine beliebte und hochgelobte Bühne der Freien Ensembles aus aller Welt, im Halbstundenrhythmus ein ganz breites Spektrum von Workshops: Kinderballett bot die Ballettschule Heidi Sievert; Zeitgenössischen Tanz die Ballettschule Tenbrock; Tanztherapie zum Thema »ADHS« Prof. Dr. Yolanda Bertolaso von der UNI-Münster; HipHop die Ballettschule Rebeltanz; Indischen Tanz Prof. Dr. Kulkanti Barboza von der FH-Münster; Nicole Hohmeister-Kölling begeisterte mit einer Choreographischen Werkstatt und Günther Rebel beschloss den Reigen mit einem Jazz/Musical Angebot. Nach einer kurzen Atempause und Zeit für Publikumsgespräche wurde der Welltanztag mit einem grandiosen Feuerwerk an Beispielen aus dem Repertoire der Beteiligten Institutionen und einer Party beschlossen. Zufällig waren an diesem Tag Studierende des MA-Studiengangs Tanztherapie aus ganz Deutschland in Münster. Diese Tanz-und Tanzpädagogik-Profis waren von dieser CID-Idee dermaßen begeistert, dass sie die Idee des Welttanztages gerne in ihre Städte zur Nachahmung mitnahmen. »Nach« dem Welttanztag ist »vor« dem nächsten in 2012 und so werden jetzt schon neue Ideen für die Tanzstadt Münster zwischen den CID-Mitgliedern ausgetauscht und Aktionen vorbereitet. ■
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